18
Ray half seiner Mutter ins Badezimmer. Kurz danach hörte ich die Toilettenspülung und seine gemurmelten Trostworte und Zusicherungen, als er sie ins Bett brachte. Während ich darauf wartete, daß er sie zur Ruhe bettete, sammelte ich den Inhalt der Kramschublade wieder ein und schob die Lade wieder an ihren Platz. Ich richtete Rays Stuhl auf und ließ mich schließlich auf Hände und Füße hinab, um nach Gilberts Pistole zu suchen. Wohin war das verdammte Ding verschwunden? Ich reckte mich wie ein Präriehund, musterte die Stelle, wo er gestanden hatte, und versuchte zu ermessen, wie die Flugbahn wohl verlaufen sein mußte, als die Waffe durch den Raum geflogen war. Indem ich mir vorsichtig meinen Weg durch die Glasscherben bahnte, kroch ich zur nächstgelegenen Ecke und arbeitete mich an der Fußleiste entlang. Ich fand die Waffe schließlich, eine Colt-Pistole, Kaliber 45 mit Automatik und Walnußgriff, die hinter dem Eastlake-Schränkchen klemmte. Ich angelte sie mit einer Gabel hervor, wobei ich versuchte, keine frischen Fingerabdrücke zu verwischen. Wenn die Polizei von Louisville Gilbert überprüfte, könnte ja ein offener Haftbefehl gegen ihn auftauchen und ihnen einen Grund für seine Verhaftung liefern — natürlich nur, wenn sie ihn finden konnten.
Ich legte die Pistole auf den Küchentisch und ging auf Zehenspitzen zur Schlafzimmertür. Ich klopfte, und einen Moment später öffnete Ray die Tür einen Spaltbreit. »Wir müssen die Polizei anrufen«, sagte ich. Ich wollte an ihm vorbei zum Telefon schlüpfen, aber er legte mir eine Hand auf den Arm.
»Tun Sie das nicht.«
»Warum nicht?« Seiner Mutter zuliebe, die für den heutigen Tag genug mitgemacht hatte, sprachen wir mit leiser Stimme.
»Passen Sie auf, ich komme in einer Minute heraus, sowie sie eingeschlafen ist. Wir müssen miteinander reden.« Er wollte die Tür schon wieder schließen.
Ich legte meine Hand auf die Tür. »Was gibt’s denn da zu reden? Wir brauchen Hilfe.«
»Bitte.« Er hielt eine Hand in die Höhe und nickte, um zu bekräftigen, daß wir das gleich besprechen würden. Dann drückte er mir direkt vor der Nase die Tür zu.
Widerwillig kehrte ich in die Küche zurück, um auf ihn zu warten. Ich fand Besen und Kehrschaufel hinter der Tür zum Geräteraum und rückte der Unordnung zu Leibe. Irgend jemand war durch die zerbrochene Schüssel mit den Süßkartoffeln spaziert. Überall waren kleine, kartoffelige Fußabdrücke, wie von Hundekacke. Ich holte den Abfalleimer unter der Spüle hervor und begann vorsichtig Glas- und Porzellanscherben aufzusammeln. Mit einem feuchten Papierhandtuch wischte ich den Rest der verschütteten Masse auf.
Spüle und Arbeitsfläche waren dort mit Glasscherben übersät, wo das Fenster durch den Schuß zersprungen war. Ich konnte nicht fassen, daß die Nachbarn nicht angelaufen gekommen waren. Nun blies kalte Luft herein, aber dagegen konnte ich nichts tun. Ich zerrte den Uralt-Staubsauger hervor und befestigte die Polstermöbeldüse am Schlauch. Dann stellte ich ihn an und verbrachte mehrere Minuten damit, jede Scherbe in Sichtweite aufzusaugen. Zwischen Jagen und Gejagtwerden hatte ich, seit ich von zu Hause weggefahren war, nichts anderes getan, als Staub zu wischen und zu saugen. Einmal legte ich mein Ohr an die Schlafzimmertür und hätte schwören können, daß Ray telefonierte. Aha. Vielleicht hatte er schließlich doch auf meinen Rat gehört.
Ray kam in die Küche zurück und schloß die Schlafzimmertür hinter sich. Er ging direkt in die Speisekammer, holte eine Flasche Bourbon heraus, stellte zwei kleine Marmeladengläser auf den Tisch und schenkte uns beiden einen steifen Drink ein. Er reichte mir ein Glas und stieß dann mit seinem dagegen. Während ich meines noch beäugte, legte er den Kopf nach hinten und kippte seinen Drink in einem Schluck. Ich holte tief Luft und schüttete mir meinen die Kehle hinunter, ohne auf das bösartige Feuer vorbereitet zu sein, das meine Speiseröhre attackierte. Ich spürte, wie mir die Hitze ins Gesicht stieg, während in meinem Magen die Flammen aufloderten. Danach merkte ich, wie sämtliche Anspannung von mir wegtrieb wie Rauch. Ich schüttelte den Kopf und schauderte, als sich ein Wurm des Ekels meinen Körper hinabwand. »Igitt. Ich hasse das Zeug. Ich könnte nie zur Säuferin werden. Wie bringen Sie es fertig, das einfach so hinunterzustürzen?«
»Das braucht Übung«, sagte er. Er goß sich ein weiteres Glas ein und kippte es dem ersten hinterher. »Das ist etwas, was ich im Gefängnis vermißt habe.«
Er entdeckte den Colt, den ich auf den Tisch gelegt hatte, nahm ihn wortlos in die Hand und steckte ihn sich in den Hosenbund.
»Danke, Ray. Jetzt haben Sie sämtliche Fingerabdrücke ruiniert.«
»Kein Mensch wird ihn auf Fingerabdrücke untersuchen«, sagte er.
»Tatsächlich. Wie kommen Sie darauf?«
Er ignorierte meine Frage. Dann ging er ins Eßzimmer, schnappte sich einen Pappkarton, den er zuerst ausleerte, dann flach zusammenlegte und damit die zerbrochene Fensterscheibe ersetzte, indem er die Pappe mit Gilberts Isolierband befestigte. Der Lichteinfall von draußen wurde schwächer, und die Kälte drang nach wie vor herein, aber wenigstens wären Vögel und kleine UFOs daran gehindert, durch das klaffende Loch hereinzufliegen. Während ich ihm zusah, begann er die Spüle von ihren Bergen aus Pfannen und Töpfen zu befreien, stellte sie ordentlich auf die eine Seite und bereitete den Abwasch vor. Ich liebe es, Männern bei der Hausarbeit zuzusehen.
»Ich habe Sie telefonieren hören. Haben Sie die Polizei gerufen?«
»Ich habe Maria angerufen, weil ich wissen wollte, wie es ihr geht. Gilbert hat sie böse zusammengeschlagen. Sie sagt, er hätte ihr die Nase gebrochen, aber sie will ihn nicht anzeigen, solange er Laura in seiner Gewalt hat.«
»Sie könnten 911 anrufen«, sagte ich. Vielleicht hatte er mich nicht richtig verstanden?
Ich schaltete den Staubsauger wieder an und saugte die blinkenden Glassplitter auf. Ich wartete darauf, daß er das Thema wieder zur Sprache brachte, aber er vermied es geflissentlich. Schließlich stellte ich das Gerät ab und sagte: »Was ist eigentlich los? Warum rufen wir nicht die Polizei? Laura ist entführt worden. Ich hoffe, Sie bilden sich nicht ein, daß Sie damit allein fertig würden.«
»Ich habe es Ihnen doch gesagt. Maria ist nicht daran interessiert. Sie hält es für voreilig.«
»Ich spreche nicht von Maria. Ich spreche von Ihnen.«
»Suchen wir erst mal nach dem Geld. Wenn wir in einem Tag nichts auftreiben, können wir immer noch die Bullen verständigen.«
»Ray, Sie sind verrückt. Sie brauchen Hilfe.«
»Ich komme schon klar.«
»Das ist doch Schwachsinn. Er wird sie umbringen.«
»Nicht, wenn ich das Geld finde.«
»Wie wollen Sie das anstellen?«
»Das weiß ich noch nicht.«
Er band sich eine Schürze um die Taille. Dann steckte er den Stöpsel in den Abfluß und drehte das heiße Wasser auf. Er nahm das Spülmittel und spritzte eine ordentliche Menge in das Becken, wobei er seine verletzten Finger vom Wasser fernhielt. Ein Berg weißen Schaums wuchs empor, in den er Teller und Besteck tauchte. »Ich habe mit sechs Jahren abspülen gelernt«, sagte er beiläufig und nahm eine Bürste mit langem Griff zur Hand. »Man hat mich auf einen leeren Milchkasten gestellt und mir beigebracht, wie man es richtig macht. Von da an war es meine Aufgabe. Im Gefängnis haben sie diese großen Industriespülmaschinen, aber das Prinzip ist das gleiche. Wir alten Zuchthäusler wissen alle, wie wir uns nützlich machen können, aber diese jungen Taugenichtse, die in den Bau kommen, können rein gar nichts außer Stunk machen. Drogenfuzzis und Vergewaltiger. Grusliger Haufen.«
»Ray.«
»Erinnern mich an Kampfhähne... total aufgeblasen und aggressiv. Denen ist alles scheißegal. Diese Jungs sind zum Sterben geboren. Sie haben weder Hoffnungen noch Aussichten. Nur ihre Einbildung. Nichts als Einbildung. Fordern Respekt, ohne je etwas getan zu haben, um ihn zu verdienen. Die Hälfte von ihnen kann nicht einmal lesen.«
»Worauf wollen Sie hinaus?« fragte ich.
»Auf gar nichts. Ich habe das Thema gewechselt. Der Punkt ist, daß ich die Bullen nicht rufen will.«
»Spricht irgend etwas dagegen?«
»Ich mag keine Bullen.«
»Ich verlange ja auch nicht von Ihnen, eine dauerhafte Beziehung mit ihnen einzugehen«, sagte ich. Ich beobachtete ihn. »Was ist denn? Da ist doch noch etwas anderes.«
Er spülte einen Teller und stellte ihn auf den Geschirrständer, wobei er meinem Blick auswich. Ich nahm ein Geschirrtuch und begann abzutrocknen, während er spülte. »Ray?«
Er stellte einen weiteren Teller in den Ständer. »Ich habe einen Verstoß begangen.«
Ich überlegte, was für einen Verstoß. Dann fragte ich: »Wogegen?«
Er zuckte kaum merklich die Achseln.
Dann fiel der Groschen. »Die Bewährungsauflagen? Sie haben gegen die Bewährungsauflagen verstoßen?«
»Etwas in der Richtung.«
»Aber was genau?«
»Tja, ehrlich gesagt, >genau< heißt, daß ich davonspaziert bin.«
»Geflüchtet?«
»Geflüchtet würde ich es nicht nennen. Es war ein offenes Haus.«
»Aber Sie hätten nicht gehen dürfen. Sie waren nach wie vor Häftling? Oder nicht?«
»He, da war kein einziger Zaun. Wir waren auch nachts nicht in unseren Zellen eingeschlossen. Wir hatten nicht einmal Zellen. Wir hatten Zimmer«, sagte er. »Es ist also eher so, daß ich mich unerlaubt entfernt habe. Ja, so ungefähr.«
»Oh, Mann«, sagte ich. Ich stieß einen tiefen Atemzug aus und erwog die Konsequenzen. »Woher haben Sie dann einen Führerschein?«
»Hab’ ich nicht. Ich habe keinen.«
»Sie sind ohne gefahren? Wie haben Sie es geschafft, ohne Führerschein ein Auto zu mieten?«
»Hab’ ich nicht.«
Ich schloß die Augen und wünschte, ich könnte mich auf den Boden legen und ein Nickerchen machen. Ich schlug die Augen wieder auf. »Sie haben den Mietwagen gestohlen?« Ich konnte es nicht ändern. Ich wußte, daß meine Stimme vorwurfsvoll klang, aber das lag in erster Linie daran, daß ich ihm etwas vorwarf.
Rays Mundwinkel verzogen sich nach unten. »Ich schätze, so könnten Sie es nennen. Es wird also folgendermaßen laufen: Wir rufen die Bullen, sie überprüfen mich, und ich wandere wieder zurück. Tolle Sache.«
»Sie würden das Leben Ihrer Tochter aufs Spiel setzen, damit Sie nicht zurück ins Gefängnis müssen?«
»Es ist nicht nur das.«
»Was noch?«
Er drehte sich um und sah mich an, seine haselnußbraunen Augen glasklar. »Wie soll ich mit Gilbert fertig werden, wenn ich eine Horde Bullen auf dem Hals habe?«
»Ray, Sie müssen mir vertrauen. Das ist es nicht wert. Sie wandern für den Rest Ihres Lebens hinter Gitter.«
»Was für einen Rest? Ich bin fünfundsechzig Jahre alt. Wieviel bleibt mir dann noch?«
»Stellen Sie sich nicht dumm. Ihnen bleiben noch einige Jahre. Sehen Sie nur Ihre Mom an. Sie werden hundert. Vermasseln Sie sich das nicht.«
»Kinsey, hören Sie mal. Ich sage Ihnen die Wahrheit«, erklärte er. »Wenn wir die Bullen rufen, wissen Sie, was dann passiert? Wir fahren zum Gefängnis. Wir füllen Formulare aus. Sie stellen uns einen Haufen Fragen, die ich nicht beantworten will. Entweder überprüfen sie mich oder nicht. Wenn sie mich überprüfen, bin ich weg vom Fenster, und damit ist Laura erledigt. Und wenn sie mich nicht überprüfen, was ändert das schon groß’? Wir sind trotzdem geliefert. Die Stunden vergehen, und was dann? Es wird sich herausstellen, daß die Bullen keinen Furz zustande bringen. Oh, das tut uns aber leid. Und wir stehen wieder auf der Straße und haben immer noch keinen blassen Schimmer, wo das Geld steckt. Glauben Sie mir. Wenn Gilbert uns wieder auf den Pelz rückt, will er keine Ausreden hören. Was sollen wir ihm auch sagen? >Tut uns leid, daß wir das Geld noch nicht gefunden haben. Wir wurden auf der Polizeiwache aufgehalten, und die Zeit ist uns davongelaufen.<«
»Sagen Sie ihm, daß Sie daran arbeiten. Sagen Sie ihm, Sie haben das Geld und wollen sich irgendwo mit ihm treffen. Dann können ihn die Bullen abholen.«
Ray blickte gelangweilt drein. »Sie haben zuviel ferngesehen. In Wirklichkeit vermasseln die Bullen die Hälfte aller Fälle, bei denen sie eingreifen. Der Verbrecher wird festgenommen, und das Opfer kommt ums Leben. Und wissen Sie, was als nächstes passiert? Riesenverhandlung. Medienwirbel. Ein Staranwalt kommt daher und schwatzt von der problematischen Jugend eines Kidnappers. Davon, daß er geistig gestört ist und daß das Opfer ihn beleidigt hat und er die Entführung nur zur Selbstverteidigung unternommen hat. Tausende und Abertausende von Dollars werden verschleudert. Die Jury kann sich nicht einigen, und der Kerl geht seiner Wege. In der Zwischenzeit ist Laura tot, und ich sitze wieder im Knast. Wer trägt also den Sieg davon? Ich nicht, und sie garantiert auch nicht.«
Ich merkte, wie die Wut in mir anschwoll. Ich warf das Geschirrtuch beiseite. »Wissen Sie, was? Sie können machen, was Sie wollen. Es ist weiß Gott nicht mein Problem. Sie wollen also die Polizei nicht rufen. Gut. Das ist Ihre Sache. Ich verschwinde.«
»Zurück nach Kalifornien?«
»Wenn ich es schaffe«, sagte ich. »Natürlich nehme ich an, daß Sie mir jetzt, nachdem Gilbert die acht Riesen hat, den Rückflug nicht bezahlen werden, so wie Sie es versprochen haben, aber das tut nichts zur Sache. Ich habe nicht genug Geld für ein Taxi zum Flughafen, daher wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie mich hinfahren würden. Das ist das mindeste, was Sie tun können.«
Seine Wut schwoll proportional zu meiner an. »Sicher. Kein Problem. Lassen Sie mich noch die Küche aufräumen, dann machen wir uns auf den Weg. Wenn Laura stirbt, haben Sie sie auf dem Gewissen. Sie hätten helfen können. Sie haben >nein< gesagt. Damit müssen Sie ebenso leben wie ich.«
»Ich? Sie haben das verursacht. Ich fasse es nicht, daß Sie jetzt versuchen, es mir in die Schuhe zu schieben. Sie klingen genau wie Gilbert.«
Er streckte eine Hand aus und faßte nach meiner. »He. Ich brauche Hilfe.« Einen Moment lang trafen sich unsere Blicke. Dann sah ich beiseite. Sein Tonfall schlug um. Er versuchte, mich zu beschwatzen. »Lassen wir uns etwas einfallen. Wir beide. Weiter verlange ich nichts. Sie haben noch Stunden bis zu Ihrem Flug...«
»Was für ein Flug? Ich habe zwar reserviert, aber ich habe kein Ticket, und ich bin völlig pleite.«
»Was macht es Ihnen dann aus, hierzubleiben und zu helfen?«
»Nun, das kann ich Ihnen erklären«, sagte ich. »Es sind noch zwei Tage bis Thanksgiving. Ich nehme an diesem Tag an einer Hochzeit teil, deshalb muß ich wieder zurück. Zwei sehr liebe Freunde von mir heiraten, und ich bin Brautjungfer, klar? Die Flughäfen werden unter dem Feiertagsansturm aus allen Nähten platzen. Ich kann nicht einfach bei den Fluglinien anrufen und mir irgendeinen x-beliebigen Flug aussuchen. Ich hatte schon Glück, daß ich diesen hier bekommen habe.«
»Aber Sie können ihn nicht bezahlen«, erinnerte mich Ray.
»Das weiß ich!«
Er legte sich einen Finger an die Lippen und blickte bedeutungsvoll zum Schlafzimmer, wo seine Mutter schlief.
»Ich weiß, daß ich ihn nicht bezahlen kann. Ich versuche ja schon, diesen Aspekt zu klären«, sagte ich in einem heiseren Flüsterton.
Ray zog seinen Geldscheinclip hervor. »Wieviel?«
»Fünfhundert.«
Er steckte das Geld unberührt wieder ein. »Ich dachte, Sie hätten Freunde. Jemanden, der bereit ist, Ihnen die Kohle zu leihen.«
»Die habe ich, wenn ich an ein Telefon komme. Ihre Mutter schläft.«
»Sie wird gleich wieder aufstehen. Sie ist alt. Sie schläft nachts nicht viel, statt dessen macht sie kleine Nickerchen. Sowie sie aufwacht, können Sie in Kalifornien anrufen. Vielleicht kann Ihr Freund ja Ihr Flugticket auf eine Kreditkarte buchen lassen, und Sie bekommen diesen Flug doch noch. Passen Sie auf. Ich werfe einen Blick hinein und sehe nach, was sie macht. Was meinen Sie dazu?« Er ging zum Schlafzimmer und machte einen Riesenzauber daraus, die Tür einen Spaltweit zu öffnen. »Sie kommt jeden Moment heraus. Ich verspreche es. Ich kann sehen, wie sie sich herumwälzt.«
»Oh, gut.«
Er schloß die Tür wieder. »Aber helfen Sie mir dabei, herauszufinden, wo das Geld versteckt ist. Reden wir ein bißchen darüber. Das ist alles, was ich will.«
Er streckte eine Hand aus und zeigte auf einen Stuhl am Tisch.
Ich starrte ihn an, da hatten wir es, Leute. Altruismus und Eigennutz lieferten sich ein Kopf-an-Kopf-Rennen. Würde ich den edelmütigen oder den niederen Weg einschlagen? Wußte ich momentan überhaupt, welcher welcher war? Bislang war fast alles, was ich getan habe, illegal gewesen, außer dem Staubsaugen: in Hotelzimmer einbrechen sowie entlaufene Strafgefangene unterstützen und ihnen Beihilfe leisten. Vermutlich hatte ich sogar mit dem Staubsaugen gegen irgendein Gewerkschaftsabkommen verstoßen. Warum sollte ich so spät noch zimperlich werden? »Sie sind ein solcher Schwätzer«, sagte ich.
Er zog einen Stuhl heraus, und ich setzte mich. Ich kann es nicht fassen, daß ich das tat. Ich hätte zum Supermarkt an der Ecke marschieren und mir ein Münztelefon suchen sollen, aber was kann ich schon sagen? Ich hatte mich auf diesen Mann eingelassen, auf seine Tochter und auf seine alte, Nickerchen machende Mutter. Wie auf ein Stichwort kam sie aus dem Schlafzimmer hervor, mit wäßrigen Augen und voller Tatendrang. Sie hatte kaum fünfzehn Minuten gelegen und wollte gleich wieder aktiv werden. Er zog ihr einen Stuhl heran. »Wie fühlst du dich?«
»Gut. Wesentlich besser«, sagte sie. »Was ist los? Was machen wir?«
»Versuchen, herauszufinden, wo Johnny das Geld versteckt hat«, sagte Ray. Er hatte seiner Mutter vermutlich alles gestanden, da sie weder das Thema noch seine Beziehung dazu in Frage stellte. Mit fünfundachtzig hatte sie vermutlich keine Angst mehr davor, ins Gefängnis zu wandern. Von irgendwoher tauchten noch ein Stift und ein Schreibblock auf. »Wir können uns Notizen machen. Oder ich kann es«, sagte er, als er meinen Blick auffing. »Sie möchten wahrscheinlich zuerst telefonieren. Der Apparat ist dort drin.«
»Ich weiß, wo das Telefon ist. Ich bin gleich wieder da«, sagte ich. Mit Hilfe meiner Kreditkarte meldete ich ein weiteres Gespräch bei Henry an. Wie das Schicksal es wollte, war er immer noch nicht zu Hause. Ich hinterließ eine zweite Nachricht auf seinem Anrufbeantworter, in der ich ihm erklärte, daß mein Rückflug aufgrund eines finanziellen Engpasses meinerseits in Frage stand. Ich nannte erneut Helens Telefonnummer und bat ihn eindringlich darum, mich anzurufen, um zu erfahren, ob er eine Lösung dafür wußte, daß ich doch noch wie geplant das Flugzeug besteigen konnte. Da ich schon dabei war, wählte ich noch die Nummer von Rosie’s Restaurant, bekam aber lediglich ein Besetztzeichen zu hören. Ich ging wieder in die Küche.
»Wie ist es gelaufen?« fragte Ray beflissen.
»Ich habe Henry eine Nachricht hinterlassen. Ich hoffe, daß er mich im Laufe der nächsten Stunde oder so zurückruft.«
»Jammerschade, daß Sie ihn nicht erreicht haben. Ich glaube, es hat wohl keinen Sinn, zum Flughafen hinauszufahren, bevor Sie mit ihm gesprochen haben.«
Ich setzte mich an den Tisch und ignorierte sein Mitgefühl, das eklatant unecht war. Ich sagte: »Fangen wir mit den Schlüsseln an.«
Ray machte sich eine Notiz auf dem Block. Sie lautete »Schlüssel«. Dann zog er einen Kreis darum und blinzelte nachdenklich. »Was kümmern uns die Schlüssel, solange Gilbert sie hat?«
»Sie sind immerhin der einzige greifbare Anhaltspunkt, den wir haben. Schreiben Sie einfach auf, was wir noch wissen.«
»Was denn? Ich weiß nichts mehr.«
»Also, der eine war aus Eisen. Etwa fünfzehn Zentimeter lang, ein altmodischer Buntbartschlüssel, Marke Lawless. Der andere war ein Master...«
»Moment mal. Woher wissen Sie das?«
»Ich habe sie mir angesehen«, antwortete ich. Ich wandte mich an Helen. »Haben Sie ein Telefonbuch? Ich habe dort drinnen keines gesehen, und wir werden vermutlich eines brauchen.«
»Es ist in der Kommodenschublade. Warten Sie einen Augenblick. Ich hole es«, sagte Ray und erhob sich. Dann verschwand er im Schlafzimmer.
Ich rief ihm nach: »Haben Sie je von Lawless gehört? Ich habe mir gedacht, es könnte ein lokaler Hersteller sein.« Ich sah zu Helen hinüber. »Sagt Ihnen das irgend etwas?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nie gehört.«
Ray kam mit zwei Telefonbüchern in der Hand zurück, den Privatanschlüssen von Louisville und den Gelben Seiten. »Wie kommen Sie darauf, daß es eine lokale Marke ist?«
Ich nahm die Gelben Seiten an mich. »Ich bin Optimistin«, sagte ich. »Bei meiner Arbeit fange ich immer mit dem Offensichtlichen an.« Er legte das andere Telefonbuch auf einen freien Stuhl. Ich blätterte die Seiten durch, bis ich die Rubrik »Schlosser« fand. Es war kein »Lawless« zu finden, aber die Louisville Locksmith Company erschien mir vielversprechend. Die große, auffällige Anzeige wies darauf hin, daß die Firma seit 1910 existierte. »Wir könnten es auch in der Stadtbibliothek versuchen. Die Telefonbücher aus den vierziger Jahren könnten aufschlußreich sein.«
»Sie ist Privatdetektivin«, sagte Ray zu seiner Mutter. »So ist sie in die Sache hineingeraten.«
»Hm, ich habe mich schon gefragt, wer sie ist.«
Ich legte das Telefonbuch auf den Tisch, aufgeklappt auf der Seite, wo die Schlosser standen. Ich zeigte auf die Anzeige der Louisville Locksmith Company. »Wir rufen gleich dort an«, erklärte ich. »Wo waren wir stehengeblieben?« Ich warf einen Blick auf seine Notizen. »Ach ja, der andere Schlüssel war ein Master. Ich glaube, sie stellen nur Vorhängeschlösser her, aber das können wir auch fragen, wenn wir mit dem Fachmann sprechen. Folgendes ist die Frage: Suchen wir nach einer großen und dann einer kleineren Tür? Oder einer Tür und dann einem Schränkchen oder einem Schließfach — irgend etwas in der Richtung?«
Ray zuckte die Achseln. »Vermutlich ersteres. Damals in den vierziger Jahren gab es diese Schließfachanlagen zur Selbstbedienung, die man heute hat, noch gar nicht. Wo auch immer Johnny das Geld gelagert hat, er mußte sichergehen, daß es nicht aufgespürt würde. Es kann kein Banksafe sein, weil der Schlüssel nicht danach aussieht. Außerdem hat der gute Mann Banken gehaßt. Dadurch ist er ja überhaupt erst in Schwierigkeiten geraten. Er wird wohl kaum mit der Beute aus einem Bankraub in eine Bank spazieren, stimmt’s?«
»Ja, stimmt. Außerdem werden Banken abgerissen oder renoviert oder zu anderen Geschäften umgebaut. Wie wäre es mit einem anderen öffentlichen Bau? Das Rathaus oder das Gerichtsgebäude? Die Schulbehörde, ein Museum?«
Ray wiegte den Kopf. Der Gedanke gefiel ihm nicht besonders. »Ist doch dasselbe, meinen Sie nicht? Irgendein Stadtplaner kommt daher und erachtet es als erstklassiges Grundstück. Ganz egal, was darauf steht.«
»Wie sieht’s mit anderen Orten in der Stadt aus? Historische Stätten. Wären die nicht geschützt?«
»Darüber muß ich nachdenken.«
»Eine Kirche«, sagte Helen plötzlich.
»Das wäre möglich«, meinte Ray.
Sie zeigte auf seinen Block. »Schreib es auf.«
Ray machte sich eine Notiz in puncto Kirchen. »Da wäre das Wasserwerk am Fluß. Schulhäuser. Churchill Downs. Das werden sie nie abreißen.«
»Was ist mit irgendeinem großen Anwesen hier in der Gegend?«
»Das ist eine Idee. Früher gab es hier jede Menge. Ich war jahrelang weg, daher weiß ich nicht, was noch steht.«
»Wenn er vor der Polizei auf der Flucht war, hat er einen Ort gebraucht, der leicht zugänglich war«, sagte ich. »Und relativ sicher vor Eindringlingen.«
Ray runzelte die Stirn. »Wie konnte er sicherstellen, daß es niemand anderer finden würde? Das ist ein tierisches Risiko. Große Leinensäcke mit Geld irgendwo stehenlassen. Woher soll man wissen, daß nicht irgendein Kind beim Ballspielen darüber stolpert?«
»Kinder spielen heutzutage nicht mehr Ball. Sie machen Videospiele«, wandte ich ein.
»Dann eben ein Bauarbeiter oder ein neugieriger Nachbar. Und der Ort mußte trocken sein, meinen Sie nicht auch?«
»Wahrscheinlich«, sagte ich. »Zumindest lassen die zwei Schlüssel vermuten, daß das Geld nicht vergraben ist.«
»Es paßt mir nicht, daß Gilbert diese Schlüssel in die Finger gekriegt hat. Damit ist er im Vorteil, wenn wir den Ort herausfinden.«
»Machen Sie sich darüber keine Sorgen. Ich habe eine Reihe Dietriche, die ich brav überall mit mir herumschleppe. Wenn wir die richtigen Schlösser finden, sind wir dabei.«
»Wir können die Schlösser auch allemal aufbrechen«, schlug Ray vor. »Das habe ich im Gefängnis gelernt — unter anderem.«
»Sie haben ja eine ganz schöne Bildung.«
»Ich bin ein guter Schüler«, sagte er bescheiden.
Wir schwiegen alle drei einen Moment lang und versuchten, unsere Phantasie in Gang zu bringen.
Ich sprach als erste wieder. »Wissen Sie, der Schlosser, der als erster den großen Schlüssel gesehen hat, meinte, er könne zu einem Tor gehören? Was halten Sie also von folgender Theorie? Vielleicht hatte Johnny Zugang zu einem alten Landsitz. Der große Schlüssel paßte zum Tor und der kleinere zum Vorhängeschloß an der Haustür.«
Ray schien das nicht besonders froh zu machen. »Woher sollte er wissen, daß das Anwesen nicht verkauft oder abgerissen werden würde?«
»Vielleicht war es eine historische Stätte. Von Denkmalschützern gehütet.«
»Und wenn sie auf die Idee gekommen wären, das Anwesen zu restaurieren und Eintrittsgeld zu verlangen? Dann könnte jeder Hinz und Kunz dort herumspazieren.«
»Stimmt«, sagte ich. »Trotzdem würde niemand, auch wenn noch so viele hineinkämen, das Geld offen herumliegen sehen. Es muß versteckt sein.«
»Womit wir wieder am Anfang wären«, sagte er.
Wir schwiegen erneut.
Ray sagte: »Was mich beschäftigt, ist, daß es hier um eine große Menge geht. Sieben oder acht große Leinensäcke voller Bargeld und Schmuck. Die Dinger waren schwer. Wir waren große, stämmige Kerle damals, allesamt jung. Sie hätten uns ächzen und stöhnen sehen sollen, als wir versucht haben, sie in den Kofferraum des Autos zu wuchten.«
Ich sah ihn interessiert an. »Was war denn ursprünglich geplant? Wenn die Polizei nicht aufgetaucht wäre? Was hatte Johnny in diesem Fall mit dem Geld vor?«
»Dasselbe, nehme ich an. Er hat immer gesagt, daß Bankräuber deswegen gefaßt werden, weil sie losziehen und das Geld viel zu schnell ausgeben. Weil sie anfangen, Silber und Schmuck zu versetzen, während die Polizei Informationen über den Umfang der Beute zirkulieren läßt. So kommt man ihnen leicht auf die Spur.«
»Auf jeden Fall hat er den Plan, wie immer er auch lautete, eine Zeitlang im voraus ausgetüftelt«, sagte ich.
»Mußte er ja.«
Darüber dachte ich nach. »Wo wurde er gefaßt?«
»Das habe ich vergessen. Vor der Stadt. Auf der Landstraße, irgendwo in dieser Richtung.«
»Ballardsville Road«, sagte Helen. »Ich weiß nicht warum, aber das ist mir im Gedächtnis geblieben. Weißt du das nicht mehr?«
Ray lief vor Freude rot an. »Sie hat recht«, sagte er. »Wie kommt es, daß du das noch weißt?«
»Ich hab’s im Radio gehört«, sagte sie. »Ich hatte solche Angst. Ich dachte, daß du bei ihm wärst. Ich wußte ja nicht, daß ihr zwei euch getrennt hatte, und ich war überzeugt, daß du gefaßt worden bist.«
»Bin ich auch. Nur zufälligerweise woanders«, sagte er.
»Wie schnell nach dem Raub ist Johnny gefaßt worden?«
Rays Blick ruhte auf meinem. »Sie glauben, er hat die Sachen irgendwo zwischen der Bank in der Innenstadt und der Stelle, wo er gefaßt wurde, verstaut?«
»Es sei denn, er hatte Zeit, in eine andere Stadt zu fahren und wiederzukommen«, sagte ich. »Es ist wie bei diesem Spruch, daß man etwas immer an der Stelle findet, wo man zuletzt sucht. Ich meine, es liegt doch auf der Hand. Wenn man erst einmal gefunden hat, was man sucht, sucht man nicht mehr woanders. Das letzte Mal, als Sie ihn gesprochen haben, hatte er die Säcke voller Geld. Als er festgenommen wurde, waren sie weg. Deshalb muß das Geld irgendwann in der Zeit dazwischen versteckt worden sein. Übrigens haben Sie nicht gesagt, wie lang der Zeitraum war.«
»Einen halben Tag.«
»Also ist er vermutlich nicht weit gekommen.«
»Ja, das stimmt. Ich habe auch immer gedacht, daß das Geld irgendwo hier in der Stadt sein muß. Ich bin nie auf den Gedanken gekommen, daß er weggefahren und wiedergekommen sein könnte. Herrje. Ich schätze, es könnte überall im Umkreis von hundert Meilen sein.«
»Wir sollten davon ausgehen, daß es hier in Louisville ist. Ich möchte nicht ganz West-Kentucky abgrasen müssen.«
Ray sah auf seine Notizen hinab. »Was haben wir sonst noch? Das hier sieht nicht nach viel aus.«
»Warten Sie. Versuchen Sie’s mal damit. Der kleine Schlüssel hatte eine Zahl eingraviert. Das ist mir gerade wieder eingefallen«, sagte ich. »M550. Das ist quasi mein Geburtsdatum, ich habe ihn nämlich am fünften Mai.«
»Und was hilft uns das?«
»Wir könnten zum Schlosser gehen und uns einen schleifen lassen.«
»Und ihn wo verwenden?«
»Tja, das weiß ich nicht, aber wenigstens haben wir dann einen der Schlüssel in unserem Besitz.«
Ray sagte: »Für mich hinkt das. Wir klammern uns im Grunde an Strohhalme.«
»Ray, kommen Sie schon. Man arbeitet mit dem, was man hat«, sagte ich. »Glauben Sie mir, ich habe schon mit weniger angefangen und es trotzdem geschafft.«
»In Ordnung«, sagte er skeptisch. Er notierte sich die Adresse der Schlosserei. Dann griff er nach seiner Jacke, die über dem Stuhl hing.
Ich stand gleichzeitig mit ihm auf und knöpfte meinen Blazer zu, um es wärmer zu haben. »Was ist mit Ihrer Mutter? Ich finde, daß wir sie nicht hier allein lassen sollten.«
Allein der Gedanke ließ sie schon aufschrecken. »O nein. Ich bleibe nicht allein hier«, sagte sie heftig. »Nicht solange dieser Kerl frei rumläuft. Was, wenn er zurückkommt?«
»Gut. Wir nehmen dich mit. Du kannst im Auto warten, während wir unsere Besorgungen erledigen.«
»Und bloß dasitzen?«
»Warum nicht?«
»Hm, ich kann schon dasitzen, aber nicht unbewaffnet.«
»Ma, ich lasse dich nicht mit einer geladenen Schrotflinte im Auto sitzen. Wenn die Bullen vorbeikommen, werden sie denken, wir überfallen den Laden.«
»Ich habe einen Baseballschläger. Das war Freidas Idee. Sie hat einen Louisville Slugger gekauft und ihn unter meinem Bett versteckt.«
»Mein Gott, diese Freida ist ein richtiger Artillerist.«
»Artilleristin«, verbesserte seine Mutter keß.
»Hol deinen Mantel«, sagte er.