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Jemanden mit einem einzigen Auto zu verfolgen, ist meist Zeitverschwendung, vor allem bei Nacht, wo ein zweites Paar Scheinwerfer im Rückspiegel des Betroffenen auffällt. In diesem Fall glaubte ich allerdings, daß der Kerl — egal, was er im Schilde führte — keine Ahnung hatte, daß ich ihm folgte. Als er aus Johnnys Garagenwohnung gekommen war, hatte er weder wachsam noch vorsichtig gewirkt, und ich durfte annehmen, daß eine Beschattung das letzte war, womit er rechnete. Ich hatte selbst nicht damit gerechnet, und so war ich mindestens genauso erstaunt wie er. Er unternahm auf der Autobahn nichts — keine trickreichen Spurwechsel, keine plötzlichen Ausfahrten — , was darauf hingewiesen hätte, daß er von meiner Anwesenheit wußte. Die Silhouette des Stetson lieferte mir ein hübsches optisches Merkmal im Kontrast zu der Flut entgegenkommender Scheinwerfer. Er nahm die Ausfahrt an der oberen State Street, und ich ordnete mich hinter ihm ein. Während ich mit der linken Hand lenkte, wühlte ich mit der rechten in meiner Handtasche nach einem Stück Papier und einem Stift. Ich konnte zumindest seine Autonummer aufschreiben, solange er in Sichtweite war. Das Kennzeichen ließ darauf schließen, daß es sich um einen Mietwagen handelte. Ein weiterer Hinweis war die Aufschrift von Penny-Car-Rental auf der Umrandung des Nummernschilds. Ganz toll. Ich notierte mir die Nummer auf der Rückseite eines alten Einkaufszettels. Später würde ich mir jemanden suchen, der die Unterlagen der Autovermietung durchging.
Es war 7.17 Uhr, als der weiße Taurus in den gekiesten Hof des Capri einbog, eines Motels mit zehn Einheiten neben der Parallelstraße. Der Parkplatz wurde von einer durchhängenden Kette elektrischer Christbaumkerzen umgrenzt, die zwischen zwei Pfosten aufgespannt worden war. Das Motel selbst bestand aus zwei Reihen kleiner Holz- und Schindelhäuschen, jedes mit einem Autostellplatz an der Seite. Die Dunkelheit hatte die Fassaden in genügend Schatten getaucht, um die abblätternde Farbe, die verzogenen Fliegenfenster und die Billigbauweise zu verbergen. Die meisten Häuschen schienen leerzustehen: unbeleuchtete Fenster, keine Autos auf den Stellplätzen. Vor einer Einheit stand ein zu klein geratener U-Haul Transporter. Die ersten beiden Häuschen zur Linken waren bewohnt, ebenso wie das zweite auf der rechten Seite, wo mittlerweile der Taurus geparkt hatte.
Der Fahrer verschloß seinen Wagen und betrat die kleine Betonveranda des Häuschens, deren Beleuchtung vierzig Watt Helligkeit spendete. Ich wartete, bis er das Häuschen aufgeschlossen hatte und hineingegangen war, bevor ich meinen VW langsam auf dem gekiesten Parkplatz zu einer der unbeleuchteten Hütten gegenüber rollen ließ. Ich fuhr rückwärts auf die Stellfläche, machte die Scheinwerfer aus und drehte das Fenster herunter. Die Stille wurde vom Ticken des abkühlenden Metalls meines Motors durchbrochen. Außerdem von einer versagenden grünen Christbaumkerze, die irgendwo über meinem Kopf flackerte und brummte wie eine fröhliche grüne Biene. Ich saß in der Dunkelheit und überlegte, wie lange ich zu warten bereit war, bevor ich nach Hause fuhr. Die arme Nell mußte sich fragen, wie weit der Supermarkt entfernt lag. Ich hatte ihr rasche Erledigung versprochen — höchstens fünfzehn Minuten. Mittlerweile war ich schon doppelt so lange weg. Ich hatte ein zappeliges Gefühl in der Magengrube, ein seltsames emotionales Gebräu aus Angst und Erregung. Was befand sich in dem Matchsack, den der Typ mitgenommen hatte? Könnte Einbrecherwerkzeug sein. Ich ging von der Annahme aus, daß es derselbe Kerl war, der die Bude schon einmal auf den Kopf gestellt hatte, obwohl ich mir nicht vorstellen konnte, was es wert war, noch einmal zu kommen. Ray Rawson hatte ja einen Verdacht, wer der Einbrecher gewesen sein könnte, aber er hatte keinerlei Hinweis darauf geliefert, weshalb sich jemand die Mühe machen sollte. Jetzt wünschte ich, ich hätte ihm diese Information abgerungen. Auf jeden Fall war die Sache es wert, ein Weilchen zu warten. Wenn mir die Geduld ausging, würde ich mir die Adresse des Motels notieren und morgen früh mit Hilfe eines Telefontricks herausfinden, wer sich dort eingemietet hatte.
Ich sah erneut auf die Uhr. Nun war es 7.32 Uhr. Der Knabe war seit etwa einer Viertelstunde in dem Häuschen. Wollte er die Nacht dort verbringen? Ich konnte wirklich nicht ewig hier herumsitzen, und ich hielt es nicht für erfolgversprechend, um die Hütte herumzuschleichen und zu versuchen, in die Fenster zu spähen. Womöglich reiste der Typ mit einem übellaunigen Köter, der einen Riesenstunk machen würde. Das hier war genau die Art von Etablissement, das Kinder und abartige Haustiere aufnehmen mußte. Wie sollten sie sonst Kundschaft bekommen, außer durch Zufall?
Als ich gerade meine Zelte abbrechen wollte, sah ich eine Bewegung auf der Veranda des Häuschens. Der Mann kam in Begleitung einer Frau heraus, die nun den Matchsack trug. Er hatte noch immer den Hut auf und schleppte einen Koffer, den er im Kofferraum verstaute. Sie reichte ihm den Matchsack, und er legte ihn neben den Koffer. Dann öffnete er die Autotür und half ihr beim Einsteigen auf der Beifahrerseite. Mir fiel auf, daß sie sich nicht die Mühe mit irgendwelchen Abreiseformalitäten machten. Entweder fuhren sie nur kurz weg, oder sie verschwanden, ohne zu bezahlen. Er ging hinüber zur Fahrertür. Ich ließ meinen Wagen im gleichen Moment an wie er seinen und nutzte seinen Lärm als Tarnung für meinen. Seine Heckscheinwerfer gingen an, und über die zwei leuchtendroten Flecken legte sich das Weiß der Rückfahrscheinwerfer.
Ich ließ meine Scheinwerfer ausgeschaltet und wartete, bis der Taurus rückwärts herausgefahren war und nach rechts auf die Straße bog. Er fuhr in Richtung Landstraße, und ich folgte ihm in diskretem Abstand. Ich war nicht glücklich über diese Anordnung. Auf der Straße war nicht viel Verkehr, und wenn ich mich auf Dauer an den Kerl anhängen mußte, würde ich Ärger bekommen. Glücklicherweise bog er auf die Autobahnauffahrt Richtung Norden ein, und als ich mich hinter ihm einordnete, befanden sich genügend Autos auf der Straße, um meine Anwesenheit zu verbergen.
Der Fahrer des Taurus blieb auf der rechten Spur und passierte zwei Ausfahrten, bis er schließlich dort abbog, wo es zum Flughafen und zur Universität ging. Angesichts der beiden Gepäckstücke in ihrem Kofferraum nahm ich nicht an, daß sie zu einer Abendvorlesung an der UCST unterwegs waren. Die Abzweigung zog sich nach oben und weiter nach links und verbreiterte sich auf sechs Spuren. Ein Taxi kam von einer Zubringerstraße, und ich nahm den Fuß ein wenig vom Gas, damit es sich zwischen uns schieben konnte. Der Taurus blieb auf der rechten Spur und bog bei Rockpit ab. Am Stopschild bog er ein weiteres Mal rechts ab. Ich hielt mich im Windschatten, als zuerst der Taurus und dann das Taxi zum Flughafen abbogen.
Ich beobachtete, wie der Taurus auf die linke Spur wechselte und am Parkscheinautomaten für den Kurzzeitparkplatz anhielt. Die Sperre ging nach oben wie ein automatischer Salut. Unterdessen hielt das Taxi sich rechts und blieb am Standplatz stehen, wo zwei Fahrgäste mit ihrem Gepäck ausstiegen. Ich wartete, bis der Taurus auf die Parkfläche einbog, bevor ich weiterfuhr. Der Ticketautomat summte, und ein Parkschein schob sich aus dem Schlitz wie eine Zunge. Ich packte ihn und rollte weiter auf die Parkfläche.
Der Taurus war in die erste Gasse links eingebogen und parkte nun in der vordersten Reihe, nahe bei der Straße. Ich erhaschte noch einen Blick auf das Paar, als sie zur Abfertigungshalle hinübergingen. Er trug sowohl den Koffer als auch den Matchsack. Sie trug einen Regenmantel, den sie, um sich zu wärmen, eng um sich gewickelt hatte. Ich taxierte die freien Plätze und fuhr in den erstbesten. Ich stellte mein Auto ab, schloß zu und trottete hinter ihnen her. Die beiden waren ins Gespräch vertieft, und keinem von ihnen schien meine Gegenwart aufzufallen.
Mittlerweile war es vollkommen dunkel geworden, und das Flughafengebäude leuchtete wie eine dieser Miniaturhütten, die man sich unter den Weihnachtsbaum stellt. Am Randstein standen zwei Gepäckträger und klebten Etiketten auf die Koffer der beiden Reisenden, die das Taxi ausgespuckt hatte. Das Paar betrat das Flughafengebäude. Ich bemerkte, daß sie an den Büros der Autovermietungen vorbeigingen. Wollten sie abhauen? Ich verdoppelte mein Tempo, und die Schultertasche schlug mir gegen die Hüfte, als ich den kurzen Weg zum Eingang im Laufschritt zurücklegte. Am Terminal des Santa Teresa Airports sind lediglich sechs Flugsteige in Betrieb.
Die im linken Flügel gelegenen Flugsteige i, z und 3 bedienten den Pendlerluftverkehr: die Klapperkisten, die die Kurzstrecken von und nach Los Angeles, San Francisco, San José, Fresno, Sacramento und anderen Orten im Umkreis von vierhundert Meilen flogen. In der Haupthalle teilte sich United Airlines einen Schalter mit American. Ich verschaffte mir rasch einen Überblick und betrachtete die Passagiere, die in verschiedenen Gruppierungen auf miteinander verbundenen Polsterstühlen saßen. Mit dem Stetson hätte der Typ eigentlich leicht auszumachen gewesen sein sollen, aber das Pärchen war nirgends zu sehen.
Die meisten abfliegenden Passagiere wurden an Flugsteig 5 abgefertigt, der auf der anderen Seite der kleinen Halle deutlich sichtbar war. Zu dieser späten Stunde herrschte nicht mehr viel Flugverkehr, und ein Blick auf den Monitor, der die Abflüge anzeigte, sagte mir, daß nur zwei Flüge anstanden. Einer davon ging mit einem Propellerflugzeug von United nach Los Angeles und der andere mit American Airlines nach Palm Beach, mit einem Zwischenstop in Dallas/Fort Worth. Direkt vor mir lag Flugsteig 4, der die hier landenden Flüge von United bediente. Bogenfenster gingen auf eine kleine Rasenfläche hinaus, die von Außenlampen markiert und von einer gekalkten Mauer umgrenzt wurde, auf der ein ein Meter hoher Schutzrand aus Fensterglas angebracht war. Ich konnte das hohe Röhren eines Kleinflugzeugs hören, das auf der Rollbahn näherkam. Ich ging auf die Doppeltür zu und musterte den Hof. Dort standen etwa sechs oder acht Leute herum: eine Frau mit einem Kleinkind, drei Studenten, ein älteres Paar mit einem Hund an der Leine. Keine Spur von dem Pärchen, das ich suchte.
Als ich durch die Haupthalle auf den Pendlerflügel zuging, sah ich auf einmal den Stetson, schwarzer Filz mit einem breiten Rand und einem hohen, weichen Kopf. Der Typ stand im Geschenkeladen und bezahlte gerade mehrere Illustrierte. Ich sah ihn nur im Profil, doch die Beleuchtung war hervorragend. Als wollte er mir einen Gefallen tun, nahm er den Hut ab und zerzauste sich das Haar, bevor er sich den Hut im richtigen Winkel wieder aufsetzte. Ich musterte ihn aufmerksam, damit ich ihn später identifizieren konnte, falls es jemals soweit kam. Er sah aus wie Ende fünfzig und hatte kleine dunkle Augen in einem hageren Raubvogelgesicht und einen buschigen graumelierten Schnurrbart. Was unter der Straßenlampe wie ein dunkler Wuschelkopf ausgesehen hatte, war — wie ich nun sehen konnte — von zahlreichen silberfarbenen Strähnen durchzogen. Er trug Cowboystiefel und eine schwere, schwarze Wolljacke. Ich schätzte ihn auf einen Meter achtzig, obwohl ihn die Stiefel um einige Zentimeter größer gemacht haben könnten, und etwa fünfundsiebzig bis achtzig Kilo. Er schob die Zeitschriften unter den Arm und stopfte das Wechselgeld in seine Jackentasche. Ich entfernte mich von der Tür, als er auf mich zukam.
Hinter mir stand eine Reihe Münztelefone. Teils zur Tarnung und teils aus Verzweiflung drehte ich mich zu dem ersten Telefon um und wuchtete das Telefonbuch nach oben, das an das metallene Bord darunter angekettet war. Ich suchte hastig nach Buckys Nummer, während der Kerl hinter mir aus dem Laden herauskam. Von der Seite beobachtete ich ihn, wie er die Halle durchquerte und sich zu der Frau gesellte, die jetzt mit dem Rücken zu mir am Ticketschalter stand, den Matchsack zu ihren Füßen. Woher war sie gekommen? Vermutlich von der Damentoilette. Sie hatte ihren Regenmantel ausgezogen, der ihr nun zusammengefaltet über den Arm hing. Der Passagier vor ihr hatte seine Angelegenheiten erledigt, und sie ging an den Schalter, wo sie einen großen, weichen Koffer auf die Waage stellte. Sie streckte einen Fuß nach hinten und schob den Matchsack vorwärts, bis er neben ihr am Schalter lehnte.
Die Schalterangestellte begrüßte sie, und die beiden wechselten ein paar Worte. Während die Angestellte auf ihrer Computertastatur herumtippte, griff die Frau an ihr vorbei und nahm sich aus einem Behälter auf der Theke einen kartonierten Gepäckanhänger. Sie füllte ihn aus und reichte ihn dann der Schalterangestellten, die gerade dabei war, das Ticket auszustellen. Die Frau legte ein Bündel Geldscheine hin, die die Angestellte zählte und verstaute. Sie brachte den Gepäckanhänger sowie einen Abholaufkleber am Koffer der Frau an und legte ihn dann auf das Förderband. Das fahrende Gepäckstück wurde durch eine kleine Öffnung weggeschafft wie ein Sarg auf dem Weg in die Flammen. Die beiden brachten ihre Transaktion zum Abschluß, und die Schalterdame reichte der Frau den Umschlag mit den Tickets über die Theke.
Als die Frau sich zu ihrem Begleiter umdrehte, konnte ich erkennen, daß sie im sechsten oder siebten Monat schwanger war. War sie seine Tochter? Sie war wesentlich jünger als der Mann neben ihr: Anfang bis Mitte Dreißig, mit grell kastanienrotem Haar, das sie oben zu einem wirren Knoten aufgetürmt trug. Ihr Teint besaß die käsige Färbung von zuviel Make-up, das mit einem Hauch Puder überstäubt war, wodurch ihr Gesicht leicht schmutzig wirkte. Ihre Umstandskluft war eines dieser übergroßen blaßblauen Jeanskleider mit kurzen Ärmeln und einer tief angesetzten Taille, unter der sich ihr Bauch abzeichnete. Unter dem Kleid hatte sie ein riesiges weißes T-Shirt mit langen Ärmeln an. Dazu trug sie rot-weiß gestreifte Strümpfe und rote Tennisschuhe mit hohem Schaft. Das Kleid hatte ich schon einmal in einem Gartenartikelkatalog gesehen. Dieser Stil war beliebt bei ehemaligen Hippies, die Drogen und Gruppensex gegen organisches Gemüse und Kleidung aus Naturfasern eingetauscht hatten.
Der Typ nahm den Matchsack, und die beiden schritten beiseite, als der nächste Passagier aus der Reihe an den Schalter trat. Er stellte den Matchsack wieder ab, und sie blieben auf der Seite stehen und machten einsilbige Bemerkungen. Die beiden würden gleich ein Flugzeug besteigen, und was sollte ich nun tun? Eine vorläufige Festnahme als Privatperson vorzunehmen, erschien mir reichlich heikel. Ich konnte nicht einmal beschwören, daß eine Straftat begangen worden war. Aber andererseits — was hatte dieser Typ sonst in Johnny Lees Wohnung zu suchen? Ich war lange genug bei der Polizei gewesen, um einen Riecher für solche Dinge zu haben. Allem Anschein nach sollte der Matchsack aus dem Bundesstaat gebracht werden. Ich hatte keine Ahnung, ob das Pärchen vorhatte, nach Santa Teresa zurückzukehren, oder eine gesetzwidrige Flucht plante.
Ich wandte mich wieder dem Telefonbuch zu, blätterte aufgeregt durch die Seiten und sprach mit mir selbst. Komm schon, komm schon. Lawrence. Laymon. Ich fuhr mit dem Finger die Spalten entlang. Leason. Leatherman. Leber. Aha. Fünfzehn Eintragungen unter Lee, aber nur einer in der Bay Street. Bucyrus Lee. Bucky hieß Bucyrus? Ich fand einen Vierteldollar in meiner Jackentasche, warf ihn in den Schlitz und wählte die Nummer. Der Hörer wurde beim zweiten Klingeln abgenommen. »Hallo, Bucky?«
»Hier ist Chester. Wer spricht?«
»Kinsey...«
»Scheiße. Sie kommen besser gleich her. Hier ist der Teufel los.«
»Was ist denn passiert?«
»Wir sind von Rosie’s zurückgekommen und haben Ray Rawson gefunden, wie er die Einfahrt entlangkroch. Das Gesicht voller Blut und die Hand auf die Größe eines Baseballhandschuhs angeschwollen. Zwei seiner Finger stehen seitlich ab und Gott weiß was noch alles. Irgend jemand ist noch einmal eingebrochen und hat den Hohlraum unter dem Küchenschränkchen aufgerissen...«
Über die Lautsprecheranlage ertönte eine Durchsage über einen Flug der American Airlines. »Einen Moment bitte«, sagte ich. Ich legte die Hand über die Sprechmuschel. Ich hatte keine Einzelheiten mitbekommen, aber es mußte der Aufruf für die Passagiere des Fluges nach Palm Beach sein. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie der Typ den Matchsack nahm und zusammen mit der schwangeren Frau die Schalterhalle verließ und nach links auf den Flugsteig von American Airlines zuging. Ich merkte, wie mir das Herz klopfte. Ich wandte meine Aufmerksamkeit wieder Chester zu. »Ist Rawson außer Lebensgefahr?«
»He, hier wimmelt es von Streifenwagen, und die Sanitäter sind schon unterwegs. Er sieht nicht besonders gut aus. Was ist denn da für ein Lärm? Ich kann Sie kaum verstehen.«
»Deshalb rufe ich ja an. Ich bin am Flughafen«, sagte ich. »Ich habe einen Kerl mit einem Matchsack aus der Wohnung kommen sehen. Es sieht ganz danach aus, als wollten er und irgendeine Frau gleich in ein Flugzeug steigen. Ich habe ihn bis hierher verfolgt, aber wenn wir erst einmal diesen Sack aus den Augen verlieren, steht mein Wort gegen seines.«
»Warten Sie dort. Ich schnappe mir Bucky und komme raus. Bleiben Sie ihm auf den Fersen, bis wir da sind.«
»Chester, der Flug ist bereits aufgerufen. Wissen Sie, was er mitgenommen hat?«
»Ich habe keine Ahnung. Ich kann nicht einmal hinein, bis sie dort fertig sind. Wie steht’s mit den Wachleuten am Flughafen? Können die Ihnen nicht helfen?«
»Was für Wachleute? Es ist kein einziger in Sicht. Ich bin hier ganz allein.«
»Mann, verflucht noch mal, tun Sie etwas.«
Ich ließ hastig die Möglichkeiten Revue passieren. »Garantieren Sie mir, daß Sie das Ticket bezahlen, dann folge ich ihm«, sagte ich.
»Wohin?«
»Der Flug geht nach Palm Beach mit einem Zwischenstop in Dallas. Entscheiden Sie sich, in zwei Minuten ist er nämlich von hier verschwunden.«
»Machen Sie’s. Wir einigen uns später. Rufen Sie mich an, sobald es geht.«
Ich knallte den Hörer auf und überflog im Vorbeigehen den Monitor. Neben der angezeigten Abflugzeit für den American-Airlines-Flug 508 blinkte fröhlich das Wort abflugbereit. Die wartenden Passagiere hatten die Schalterhalle verlassen und sammelten sich nun vor dem Flugsteig. Ich trottete durch die Halle zum Ticketschalter von American Airlines. Eine der beiden Angestellten war mit einem Kunden beschäftigt, doch die andere bemerkte mich. »Sie können gern zu mir kommen.«
Ich ging an ihren Schalter. »Gibt es in der Maschine nach Palm Beach noch freie Plätze?« Ich hatte keine Ahnung, ob das Pärchen nach Dallas oder nach Palm Beach unterwegs war, mußte aber letzteres annehmen, wenn ich vorhatte, ihnen auf den Fersen zu bleiben.
»Lassen Sie mich nachsehen, was wir haben. Ich weiß, daß der Flug nicht ausgebucht ist.« Sie begann rasch etwas in die Computertastatur vor ihr einzugeben und hielt inne, um die auf dem Bildschirm erscheinenden Daten abzulesen. »Wir haben siebzehn freie Plätze... zwölf in der Touristenklasse und fünf in der ersten Klasse.«
»Was kostet ein Ticket in der Touristenklasse?«
»Vierhundertsiebenundachtzig Dollar.«
Das war nicht schlecht. »Und das ist hin und zurück?«
»Einfach.«
»Vierhundertsiebenundachtzig Dollar einfach?« Meine Stimme quiekte, als wäre ich soeben erst in die Pubertät gekommen.
»Ja, Ma’am.«
»Ich nehme es«, sagte ich. »Lassen Sie den Rückflugtermin offen. Ich weiß noch nicht, wie lange ich bleiben werde.« In Wirklichkeit wußte ich nicht einmal, wohin das Pärchen wollte. Ihr eigentliches Ziel könnte Mexiko, Südamerika oder weiß Gott was sein. Ich hatte zwar keine Pässe über die Theke wandern sehen, aber ich konnte die Möglichkeit nicht ausschließen. Da dies nicht dieselbe Angestellte war, die die Schwangere abgefertigt hatte, war es zwecklos, sie zu befragen. Ich holte meine Brieftasche hervor und entnahm ihr eine Kreditkarte, die ich auf die Theke legte. Sie schien die Klugheit meines impulsiven Entschlusses nicht in Frage zu stellen. O Mann. Chester mußte einfach dafür aufkommen, sonst war ich ruiniert.
»Möchten Sie am Gang oder am Fenster sitzen?«
»Am Gang. Möglichst weit vorne.« Das Pärchen könnte ja als erstes aussteigen, und dann wollte ich bereit sein, ihnen unverzüglich zu folgen.
Sie gab noch etwas ein und tippte entspannt vor sich hin. »Haben Sie Gepäck?«
»Nur Handgepäck«, antwortete ich. Ich wollte sie anschreien, daß sie sich beeilen sollte, aber es war zwecklos. Der Ticketdrucker begann zu rattern und zu brummen und produzierte mein Ticket, die Bordkarte und die Kreditkartenquittung, die ich an der bezeichneten Stelle unterschrieb. Ich merkte, wie ich leicht zu schielen begann, als ich sah, was ich bezahlt hatte. Das Ticket für Hin- und Rückflug in der Touristenklasse hatte mich ohne Vielfliegerbonus oder Vorverkaufsrabatt 974 Dollar gekostet. Ich überschlug rasch alles im Kopf. Das Limit für diese Kreditkarte lag bei 2500 Dollar, und ich zahlte immer noch Einkäufe ab, die ich im Sommer getätigt hatte. Meinen Berechnungen zufolge hatte ich jetzt noch ungefähr vierhundert Dollar übrig. Sei’s drum. Es war ja nicht so, daß ich nicht noch Geld auf meinem Sparbuch gehabt hätte. Ich kam nur zu dieser späten Stunde nicht dran.
Ich nahm den Umschlag mit meinem Ticket, dankte der Angestellten und eilte vorne aus der Schalterhalle heraus und weiter zu Flugsteig 6, wo ich meine Handtasche auf das Förderband stellte, das sie durch das Röntgengerät schleuste. Ich nahm Johnnys Schlüssel aus meiner Hosentasche und steckte ihn in die Handtasche. Ohne Zwischenfall passierte ich den Metalldetektor und nahm meine Tasche auf der anderen Seite wieder entgegen. Passagiere der ersten Klasse und Eltern mit kleinen Kindern waren zuerst abgefertigt worden und hatten das Flughafengebäude bereits verlassen. Ich konnte sehen, wie sie über den Asphalt auf das wartende Flugzeug zuschlenderten. Mittlerweile war das Einsteigen in vollem Gange, und ich stellte mich ans Ende der sich langsam vorwärts bewegenden Schlange. Der Mann im Stetson war deutlich zu sehen.
Etwa sechs Passagiere vor mir stand das Pärchen nebeneinander und sprach wenig oder gar nichts. Sie hielt mittlerweile die Illustrierten, und er trug den Matchsack. Ihr Verhalten zueinander wirkte angespannt, und ihre Gesichter waren leblos. Ich sah keine Anzeichen für Zuneigung, abgesehen von dem Bauch, der zumindest auf eine Runde Intimität vor sechs oder sieben Monaten schließen ließ. Vielleicht waren sie wegen des Babys gezwungen gewesen, zu heiraten. Was auch immer die Erklärung dafür war, die emotionale Dynamik zwischen ihnen schien abgestorben zu sein.
Als sie am Flugsteig angekommen waren, reichte der Mann ihr den Matchsack und sagte etwas. Sie murmelte ohne ihn anzusehen eine Antwort. Sie wirkte abwesend, und ihre Reaktion auf ihn war unübersehbar frostig. Er legte ihr einen Arm um die Schulter und gab ihr einen Kuß auf die Wange. Dann trat er zurück, steckte die Hände in die Taschen und sah zu, wie sie jemandem vom Bodenpersonal ihre Bordkarte gab und mit dem Matchsack in der Hand hinausging. Oh-oh, was nun? Er wartete vor dem Flugsteig, bis sie nicht mehr zu sehen war. Ich zögerte und erwog meine Alternativen. Ich konnte immer noch ihn verfolgen, aber der Punkt war der Matchsack, zumindest bis ich wußte, was darin steckte. Wenn die Beute erst einmal weg war, wie sollte man sie dann jemals zu ihrem Ursprung zurückverfolgen?
Der Mann drehte sich in meine Richtung um und ging auf den Ausgang zu. Er fing ganz kurz meinen Blick auf, bevor ich wegsehen konnte. Ich sah ihn noch einmal an und machte eine mentale Fotografie seines mißmutigen Gesichts und der Narbe am Kinn, einer tief eingegrabenen weißen Linie, die an seiner Unterlippe begann und sich seinen Hals hinabzog. Entweder war er durch ein Fenster gefallen, oder jemand hatte ihm das Gesicht aufgeschlitzt.
Jemand vom Bodenpersonal nahm mein Ticket entgegen und reichte mir den Abschnitt meiner Bordkarte zurück. Wenn ich noch aussteigen wollte, dann jetzt. Vor mir, auf der anderen Seite des schlecht beleuchteten Asphaltstreifens, sah ich, wie die Schwangere oben an der fahrbaren Treppe anlangte und durch die Tür ins Flugzeug stieg. Ich holte tief Luft und schritt auf den Asphalt hinaus, wo ich die freie Fläche zur Treppe überquerte. Die Luft war frisch, und der ständige Wind, der die Rollbahn entlangwehte, schnitt durch den Stoff meines Tweedblazers. Ich stieg die fahrbare Treppe hinauf, und dabei klirrten meine Schuhe auf den Metallstufen.
Ich war schon froher gestimmt, nachdem ich die Schwelle zu der 737 überschritten hatte und in die erleuchtete Wärme ihres Inneren getreten war. Ich warf einen Blick auf die drei Passagiere der ersten Klasse, doch die Schwangere war nicht unter ihnen. Ich sah nach der Platznummer auf dem Abschnitt meiner Bordkarte: 10D, vermutlich über der Tragfläche auf der linken Seite des Flugzeugs. Während ich darauf wartete, daß die Passagiere vor mir ihre Reisetaschen verstauten und es sich auf ihren Sitzen gemütlich machten, gelang es mir, meine Blicke über die ersten Reihen der Touristenklasse schweifen zu lassen. Sie saß acht Reihen weiter hinten auf einem Fensterplatz auf der rechten Seite. Sie hatte eine Puderdose herausgeholt und äugte in den Spiegel. Dann zog sie ein Fläschchen Make-up hervor, schraubte es auf und tupfte sich Beige auf die Wangen, das sie anschließend verteilte.
Die meisten der auf Augenhöhe gelegenen Gepäckfächer standen offen. Ich bewegte mich vorwärts und wartete darauf, daß der Student vor mir eine Leinentasche von den Ausmaßen eines Sofas in das Fach legte. Als ich an der achten Reihe vorbeikam, sah ich den Matchsack, halb verborgen vom zusammengelegten Regenmantel der Schwangeren, wobei beide Stücke zwischen einen prallvollen Kleidersack aus Segeltuch, eine Aktentasche und ein Gepäckwägelchen gequetscht waren — genau die Gegenstände, die dazu prädestiniert waren, bei der Landung herauszufallen und einem auf den Kopf zu donnern. Wenn ich die Nerven gehabt hätte, hätte ich den Matchsack einfach herausgezogen, mitgeschleppt und unter meinen Sitz gestopft, bis ich Zeit gehabt hätte, seinen Inhalt zu untersuchen. Die Schwangere blickte in meine Richtung. Ich wandte mich ganz beiläufig von ihr ab.
Ich nahm meinen Platz ein und schob meine Umhängetasche unter den Sitz vor mir. Die beiden Plätze neben mir waren frei, und ich sandte kleine fluglinienartige Gebete nach oben, daß ich die Reihe für mich behalten würde. Notfalls konnte ich die Armlehnen hochklappen und mich zu einem Nickerchen ausstrecken. Genau in diesem Moment erhob sich die Schwangere und trat auf den Gang hinaus, wo sie ins Gepäckfach griff. Sie schob den Kleidersack beiseite und kramte ein gebundenes Buch aus einer Außentasche des Matchsacks. Die Stewardeß ging hinter ihr den Gang entlang und schloß sämtliche Gepäckfächer mit einer Reihe kleiner Knalle.
Kurz nachdem die Türen geschlossen worden waren, stellte sich die Stewardeß vor die Versammelten und gab detaillierte Anweisungen, einschließlich einer praktischen Demonstration, wie die Sicherheitsgurte zu schließen und zu öffnen seien. Ich fragte mich, ob sich irgend jemand unter den Anwesenden befand, den das noch beeindruckte. Außerdem erklärte sie, was zu tun war, wenn wir davorstanden, zertrümmert, zermalmt und verbrannt zu werden, weil wir bei hoher Geschwindigkeit aus unserer Flughöhe von achttausend Metern geradewegs nach unten auf die Erdoberfläche stürzten. Mir erschien die kleine herabhängende Sauerstoffmaske bedeutungslos, aber offenbar fühlte sie sich besser, wenn sie uns Tips für die Anwendung dieses Dings gab. Um uns von der Möglichkeit unseres Ablebens unterwegs abzulenken, versprach sie uns einen Getränkewagen und einen Happen zu essen, wenn wir erst einmal in der Luft wären.
Das Flugzeug rollte vom Flughafengebäude weg und hinaus auf die Rollbahn. Nach einer Pause begann die Maschine vorwärtszubrausen und gewann ganz zielstrebig an Geschwindigkeit. Wir rumpelten und ruckelten, was das Zeug hielt. Das Flugzeug erhob sich in den Nachthimmel, und die Gebäude unter uns wurden rasch kleiner, bis nur noch ein planloses Lichtgitter zurückblieb.