|201|Teil 4

Zehn Leserfragen zum Harvard-Konzept

|203|Fragen über Fairness und »sachgerechtes« Verhandeln

Frage 1: »Macht Feilschen um Positionen jemals Sinn?«

Das Feilschen um Positionen ist einfach; daher überrascht nicht, dass die Leute es oft praktizieren. Es erfordert keine Vorbereitung, ist überall verständlich (manchmal kann man sogar die Hände einsetzen, wenn beide Seiten keine gemeinsame Sprache haben), und in manchen Kulturen ist es verwurzelt und wird es erwartet. Im Gegensatz dazu erfordert die Suche nach Interessen hinter den Positionen, das Entwickeln von Optionen zum beiderseitigen Vorteil und das Finden und Anwenden objektiver Kriterien harte Arbeit und, wenn die Gegenseite nicht mitzieht, Beherrschung der Gefühle und Reife.

In nahezu jedem Fall wird bei sachbezogenem Verhandeln das Ergebnis für beide Seiten besser sein. Die Frage ist, ob dies den Extraeinsatz wert ist. Hier sind einige Fragen, die berücksichtigt werden sollten.

Wie wichtig ist es, ein willkürliches Ergebnis zu vermeiden?

Wenn Sie wie der Bauherr in Kapitel 4 des 2. Teils darüber verhandeln, wie tief die Fundamente Ihres Hauses sein sollen, wollen Sie nicht um willkürliche Positionen streiten, auch wenn es viel einfacher wäre, eine Einigung zu erreichen. Sogar wenn Sie um den Preis für ein Einzelstück eines antiken Nachttopfs verhandeln, wo objektive |204|Maßstäbe kaum zu finden sind, sind die Erforschung der Interessen des Händlers und die Suche nach kreativen Entscheidungsmöglichkeiten wahrscheinlich sehr sinnvoll. Ein weiterer Faktor bei der Wahl eines Verhandlungsansatzes besteht darin, wie viel Ihnen an einer Lösung des Problems gelegen ist, die entsprechend der Sachlage sinnvoll ist. Die Ansprüche wären erheblich höher, wenn Sie über Fundamente für ein Bürohaus verhandeln anstatt für einen Werkzeugschuppen. Sie werden auch höher sein, wenn dieses Geschäft einen Präzedenzfall für zukünftige Geschäftsverbindungen darstellt.

Wie komplex sind die Fragestellungen?

Je komplexer der Streitgegenstand, um so unklüger ist es, um Positionen zu feilschen. Komplexität erfordert zunächst sorgfältige Analyse der Interessen, die man teilt oder in Übereinstimmung gebracht werden können, und dann Brainstorming. Beides wird um so leichter sein, je mehr sich beide Parteien um gemeinsame Problemlösungen bemühen.

Wie wichtig ist die Aufrechterhaltung einer guten Arbeitsbeziehung?

Ist die andere Seite ein wertvoller Kunde oder Auftraggeber, kann die Erhaltung Ihrer laufenden Beziehung wichtiger für Sie sein als das Ergebnis einer einzelnen Verhandlung. Dies bedeutet nicht, dass Sie Ihre Interessen weniger hartnäckig verfolgen sollen, aber es empfiehlt sich, Taktiken wie Drohungen oder Ultimaten zu vermeiden, die das große Risiko einer Schädigung der Beziehung in sich bergen. Verhandlung nach Sachlage hilft, die Wahl zwischen Nachgeben oder Verärgerung der anderen Seite zu vermeiden.

Bei Verhandlungen um einen einzelnen Gegenstand unter Fremden, bei denen der Aufwand für die Erforschung der Interessen |205|groß ist und wo beide Seiten durch konkurrierende Möglichkeiten geschützt sind, mag das einfache Feilschen um Positionen gut funktionieren. Aber wenn die Diskussion langsam stecken bleibt, seien Sie darauf vorbereitet, einen anderen Gang einzuschalten. Beginnen Sie, die zugrunde liegenden Interessen zu klären.

Sie sollten auch den Einfluss dieser Verhandlung auf Ihre Beziehung zu anderen berücksichtigen. Wird diese Verhandlung wahrscheinlich Ihren Ruf als Verhandlungspartner beeinflussen und demzufolge auch die Art und Weise, wie andere mit Ihnen verhandeln? Wenn dies der Fall ist, welchen Einfluss wünschen Sie sich?

Welche Erwartungen hat die Gegenseite, und wie schwierig würde deren Änderung sein?

Bei vielen Tarifauseinandersetzungen und anderen Situationen durchleben die Parteien eine lange Geschichte erbitterten und fast rituellen Feilschens um Positionen. Jede Seite sieht die andere als »den Feind« und die Situation als Nullsummenspiel an, wobei sie die enormen gemeinsamen Kosten von Streiks, Aussperrungen und feindseligen Gefühlen ignoriert. In diesen Situationen ist eine gemeinsame Problemlösung nicht leicht, obwohl sie um so wichtiger sein mag. Sogar zur Änderung bereite Parteien finden es in der Praxis schwierig, alte Gewohnheiten über Bord zu werfen: zuzuhören statt zu attackieren, gemeinsam nachzudenken statt zu streiten und die Interessen zu erkunden, bevor sie sich festlegen. Manche Parteien bewegen sich in so eingefahrenen Bahnen, dass sie unfähig scheinen, alternative Ansätze zu berücksichtigen, bis sie an den Rand gegenseitiger Vernichtung gelangen, und manche nicht einmal dann. In solchen Situationen wird man einen realistischen Zeitplan für Änderungen einführen, der mehrere komplette Verhandlungen umfassen kann. General Motors und seine Gewerkschaft, die United Auto Workers, benötigten vier Verträge zur Änderung der grundlegenden Struktur ihrer Verhandlungen, und auf jeder Seite |206|gibt es immer noch Leute, die mit der neuen Regelung nicht zufrieden sind.

Wo stehen Sie in der Verhandlung?

Das Feilschen um Positionen verhindert leicht die Suche nach gemeinsamen Vorteilen. Bei vielen Verhandlungen kommen Ergebnisse zustande, die »eine Menge Gold auf dem Tisch liegen lassen«. Das Feilschen um Positionen richtet den geringsten Schaden an, wenn es auftritt, nachdem Sie die Interessen beider Seiten identifiziert, Entscheidungsmöglichkeiten zum beiderseitigen Vorteil entwickelt und relevante Maßstäbe für Fairness erörtert haben.

Frage 2: »Was kann man tun, wenn die Gegenseite einen anderen Maßstab für Fairness hat?«

Bei den meisten Verhandlungen wird es keine »richtige« oder »fairste« Lösung geben; die Leute werden unterschiedliche Maßstäbe nennen, nach denen beurteilt werden soll, was fair ist. Aber die Anwendung externer Kriterien verbessert das Streiten auf dreifache Weise: Ein Ergebnis auf der Basis sogar entgegengesetzter Kriterien der Fairness und allgemeiner Praxis ist wahrscheinlich klüger als ein willkürliches Ergebnis. Die Anwendung von Standards verringert die Kosten des »Klein-Beigebens« – es ist leichter zuzustimmen, einem Grundsatz oder einem unabhängigen Standard zu folgen, als den Positionsforderungen der anderen Seite nachzugeben. Und schließlich sind einige Kriterien, anders als willkürliche Positionen, überzeugender als andere.

Zum Beispiel wäre es in einer Verhandlung zwischen einem jungen Anwalt und einer Anwaltskanzlei der Wall Street absurd, wenn der Vertreter der Kanzlei sagen würde: »Ich nehme nicht an, dass Sie sich für klüger halten als mich, daher wollen wir Ihnen das gleiche |207|Gehalt anbieten, das ich bei meinem Berufsstart vor vierzig Jahren erhielt – 4000 Dollar.« Der Junganwalt würde auf den Einfluss der Inflation in den verflossenen Jahren hinweisen und ein zurzeit übliches Gehalt vorschlagen. Wenn die Kanzlei das gegenwärtige Gehalt für Junganwälte in Dayton oder Des Moins vorschlagen würde, würde der junge Anwalt darauf hinweisen, dass das Durchschnittsgehalt für Junganwälte in Anwaltsbüros von Manhattan mit ähnlichem Prestige ein angemesseneres Kriterium wäre.

Gewöhnlich wird ein Kriterium überzeugender sein als ein anderes, weil es der Sachlage genauer entspricht, anerkannter und in Bezug auf Zeit, Ort und Umstände unmittelbar relevanter ist.

Ein Übereinkommen entsprechend dem »besten« Kriterium ist nicht notwendig

Unterschiede in Wertvorstellungen, Kultur, Erfahrung und Wahrnehmungen können durchaus dazu führen, dass miteinander streitende Parteien bezüglich des relativen Wertes verschiedener Kriterien unterschiedlicher Meinung sind. Wenn es notwendig wäre, dass beide Seiten darin übereinstimmen, welcher Standard der »beste« ist, könnte der Abschluss einer Verhandlung unmöglich sein. Aber die Zustimmung zu Kriterien ist nicht erforderlich. Kriterien sind nur ein Mittel, das den Parteien helfen kann, zu einem Übereinkommen zu gelangen, das für beide Seiten besser ist als kein Übereinkommen. Die Heranziehung externer Standards hilft oft, die Spannweite der Meinungsverschiedenheiten einzuengen, und kann dazu beitragen, den Bereich potenzieller Zustimmung zu erweitern. Wenn Standards bis zu dem Punkt verfeinert wurden, dass eine überzeugende Argumentation, ein Standard sei eher anwendbar als ein anderer, schwierig ist, dann können die Parteien Tauschgeschäfte erkunden oder zu fairen Verfahren greifen, die verbliebenen Meinungsverschiedenheiten auszuräumen. Sie können eine Münze werfen, einen Schlichter hinzuziehen oder sogar die Differenz untereinander aufteilen.

|208|Frage 3: »Soll ich fair sein, wenn ich es nicht sein muss?«

Das Harvard-Konzept ist keine Predigt über die Moralität von Richtig und Falsch; es ist ein Buch über das richtige Verhalten bei Verhandlungen. Wir schlagen nicht vor, dass Sie um des Gutseins willen gut sind (wir halten Sie aber auch nicht davon ab).3

Wir schlagen nicht vor, dass Sie das erste halbwegs faire Angebot annehmen, noch sind wir dafür, dass Sie nie mehr verlangen, was ein Richter oder eine Jury für fair halten könnten. Wir vertreten nur den Standpunkt, dass die Nutzung unabhängiger Kriterien für die Diskussion der Fairness eines Vorschlags eine Idee ist, die Ihnen helfen kann zu bekommen, was Sie verdienen, und Sie davor zu bewahren, hereingelegt zu werden.

Wenn Sie mehr wollen, als Sie als fair rechtfertigen können, und wenn Sie feststellen, dass Sie andere regelmäßig überzeugen können, es Ihnen zu geben, dann mögen Sie manche Vorschläge in diesem |209|Buch nicht sonderlich hilfreich finden. Aber die Verhandlungsführer, denen wir begegnet sind, fürchten viel öfter, in einer Verhandlung weniger zu bekommen, als ihnen zusteht, oder eine Beziehung zu schädigen, wenn sie fest auf dem bestehen, was sie verdienen. Die Ideen zu diesem Buch sollen Ihnen zeigen, wie Sie erhalten, wozu Sie berechtigt sind, während Sie weiterhin mit der Gegenseite zurechtkommen.

Trotzdem könnten Sie manchmal eine Gelegenheit haben, mehr zu bekommen, als Ihrer Meinung nach fair ist. Sollen Sie es annehmen? Unserer Meinung nach nicht ohne sorgfältiges Nachdenken. Es steht mehr auf dem Spiel als nur eine Entscheidung über Ihre moralische Selbstdefinition. (Dies verdient wahrscheinlich ebenfalls sorgfältiges Nachdenken, aber in diesem Bereich einen Rat zu geben ist nicht der Zweck dieses Buches.) Angesichts der Möglichkeit, mehr zu erhalten, als Ihrer Ansicht nach fair ist, sollten Sie die möglichen Nutzen gegenüber den potenziellen Nachteilen abwägen, die das Akzeptieren des unverhofften Glücksfalls haben könnte:

Wie viel ist Ihnen der Unterschied wert?

Was ist das Höchste, das Sie sich selbst gegenüber als fair rechtfertigen könnten? Wie wichtig ist Ihnen das, was darüber hinausgeht? Stellen Sie diesen Nutzen dem Risiko gegenüber, dass einige der unten angeführten Nachteile eintreten, und dann überlegen Sie, ob es nicht bessere Alternativen gibt. (Könnte zum Beispiel das vorgeschlagene Geschäft so strukturiert sein, dass die Gegenseite meint, Ihnen einen Gefallen zu tun, statt ausgenommen zu werden?)

Es wäre auch klug zu überlegen, wie sicher Sie sich dieser potenziellen Nutzen sind. Könnten Sie etwas übersehen? Ist die andere Seite wirklich so blind? Viele Verhandlungspartner sind übermäßig optimistisch bei der Annahme, dass sie cleverer sind als die anderen.

|210|Wird das unfaire Ergebnis von Dauer sein?

Kommt die Gegenseite später zu dem Schluss, dass ein Abkommen unfair ist, könnte sie nicht bereit sein, es auszuführen. Was würde der Versuch kosten, das Abkommen mit Gewalt durchzusetzen oder es zu ersetzen? Gerichte könnten sich weigern, ein Abkommen, das für »maßlos« gehalten wird, zu erzwingen.

Sie sollten auch überlegen, wo Sie bei der Verhandlung stehen. Ein äußerst günstiges vorläufiges Abkommen ist wertlos, wenn die Gegenseite aufwacht und es zurückweist, bevor es endgültig geworden ist. Und wenn die andere Seite aufgrund dieses Vorfalls zu dem Schluss gelangt, dass Sie ein Rüpel sind, dem man nicht vertrauen kann und der darauf aus ist, sie zu übervorteilen, können die Schäden sich auch auf andere Abkommen auswirken.

Welchen Schaden könnte das unfaire Ergebnis dieser oder anderen Beziehungen zufügen?

Wie wahrscheinlich ist es, dass Sie noch einmal mit der gleichen Partei verhandeln müssen? Wenn dies der Fall ist, worin könnten die Risiken für Sie bestehen, wenn die Gegenseite »auf Rache aus ist«? Wie steht es mit Ihrem Ruf bei anderen Leuten, insbesondere mit Ihrer Reputation als fairer Verhandlungspartner? Könnte sie stärker negativ beeinflusst werden, als Ihr unmittelbarer Gewinn aufwiegen würde?

Ein einmal etablierter Ruf für faires Verhandeln kann ein außerordentlicher Aktivposten sein. Er öffnet einen weiten Bereich kreativer Abkommen, die unmöglich wären, wenn andere Ihnen nicht vertrauen würden. So eine Reputation kann viel leichter zerstört als aufgebaut werden.

|211|Werden Sie Gewissensbisse haben?

Werden Sie wahrscheinlich das Abkommen später bereuen, da Sie glauben, jemanden unfair übervorteilt zu haben? Denken Sie zum Beispiel an einen Touristen, der einen wundervollen Kaschmirteppich von der Familie kaufte, die ein volles Jahr daran gearbeitet hatte. Clever bot er an, in Deutscher Mark zu bezahlen, und gab dann wertloses Geld aus der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg. Erst als er zu Hause schockierten Freunde die Geschichte erzählte, begann er darüber nachzudenken, was er dieser Familie angetan hatte. Mit der Zeit drehte sich ihm bei dem bloßen Anblick des schönen Teppichs der Magen um. Wie dieser Tourist stellen viele Leute fest, dass sie sich im Leben um mehr sorgen als um Geld und die Gegenseite zu »schlagen«.