|89|Entwickeln Sie Entscheidungsmöglichkeiten (Optionen) zum beiderseitigen Vorteil

Die zitierten Verhandlungen zwischen Israel und Ägypten über die Frage, wer wie viel von der Sinai-Halbinsel behalten dürfe, weist sowohl auf ein Hauptproblem aller Verhandlungen hin wie auf eine Schlüsselchance zur Lösung.

Das Problem ist allgemeiner Natur. Es scheint zunächst keinen Weg zu geben, die Gesamtmaterie so aufzuschlüsseln, dass beide Seiten zufrieden sind. Oft geht es bei Verhandlungen quasi eindimensional zu, bewegt sich alles in eine Richtung – wie bei Gebietsansprüchen, dem Verkaufspreis eines Autos, der Mietdauer für eine Wohnung oder der Höhe einer Provision. Ein andermal stehen Sie vielleicht vor einer Entweder-oder-Entscheidung: Wie die Wahl auch ausfällt, sie ist entweder nur für Sie oder für die Gegenseite vorteilhaft. Wer zum Beispiel bekommt bei einer Scheidungsauseinandersetzung das Haus? Wer bekommt das Sorgerecht? Jeder sieht das Ganze als Gewinnen oder Verlieren – und natürlich will keiner der Verlierer sein. Aber wenn man gewinnt und den Wagen für 12 000 Euro bekommt, den Mietvertrag auf fünf Jahre, das Haus, das Sorgerecht etc. – auf jeden Fall beschleicht einen das ungute Gefühl, dass die Gegenseite einem das heimzahlen wird. Wie auch immer die Lage ist – die Wahlmöglichkeiten scheinen begrenzt.

Das Beispiel der Sinai-Verhandlungen macht nun die möglichen Chancen klar. Ein fantasievoller Ausweg, wie der vom entmilitarisierten Sinai, schafft oft den entscheidenden Unterschied zwischen Scheitern und Übereinkommen. Ein mit uns befreundeter Rechtsanwalt führt seine Erfolge unmittelbar auf seine Fähigkeit zurück, |90|Lösungen zu finden, die sowohl für seine Klienten als auch für die Gegenseite vorteilhaft sind. In gewisser Weise vergrößert er den Kuchen, ehe er ihn teilt. Gewandtheit bei der Entwicklung von Wahlmöglichkeiten gehört zu den nützlichsten Attributen eines erfolgreich Verhandelnden.

Allzu oft geht es Verhandlungspartnern jedoch so wie den beiden sprichwörtlichen Schwestern, die über eine Orange stritten. Nachdem sie schließlich übereingekommen waren, die Frucht zu halbieren, nahm die erste ihre Hälfte, aß das Fleisch und warf die Schale weg; die andere warf stattdessen das Innere weg und benutzte die Schale, weil sie nämlich lediglich einen Kuchen backen wollte. Allzu oft lassen die Verhandlungspartner sozusagen »Geld auf dem Tisch liegen« – sie kommen zu keiner Übereinstimmung, oder die Übereinstimmung hätte für alle Seiten besser aussehen können. Viel zu viele Verhandlungen enden mit der halben Orange für jede Seite anstatt der ganzen Frucht für die eine und der ganzen Schale für die andere. Warum?

Diagnose

Obwohl es nützlich ist, wenn verschiedene Wahlmöglichkeiten bestehen, sehen nur wenige Menschen in Verhandlungen die Notwendigkeit dazu ein. Bei einer Auseinandersetzung glauben die Leute meist, dass sie die richtige Antwort schon kennen, und wollen, dass ihre Sicht der Dinge die Oberhand behält. Bei Vertragsverhandlungen glauben alle, dass ihr Angebot vernünftig ist und angenommen werden sollte, eventuell mit einer kleinen Korrektur. Alle brauchbaren Antworten scheinen dabei auf einer geraden Linie zwischen der Position der Gegenseite und ihrer eigenen zu liegen. Der einzige kreative Weg, der dabei dann mitunter aufscheint, besteht darin, die Differenz zu halbieren.

Bei den meisten Verhandlungen zeigen sich vier Haupthindernisse |91|hinsichtlich der Entwicklung einer Vielfalt von Entscheidungsmöglichkeiten: 1. vorschnelles Urteil, 2. Suche nach »der« richtigen Lösung, 3. die Annahme, dass der »Kuchen« begrenzt sei, 4. die Vorstellung, dass die anderen ihre Probleme gefälligst selbst lösen sollen. Damit man solche Sperren überwinden kann, muss man sie zuerst verstehen.

Vorschnelles Urteil

Die Entwicklung von Wahlmöglichkeiten kommt nicht von selbst. Nichtentwicklung von Optionen ist, auch wenn Stress dabei keine Rolle spielt, der Normalfall. Wenn Sie gefragt werden, wer als Einziger in der Welt den Friedensnobelpreis verdient, sind bei jeder Antwort, die Sie auch geben mögen, wohl auch Ihre Zweifel und Unsicherheiten miteingeschlossen. Wie können Sie sicher sein, dass diese Person den Preis am meisten verdient? Vielleicht fällt Ihnen gar niemand ein, oder Sie geben mehrere Antworten, die herkömmlicherweise üblich sind: »Der Papst oder der Präsident.«

Nichts schadet der Erfindungskraft so sehr wie kritischer Sinn, der nur darauf wartet, die Kehrseite jeder neuen Idee vorzuführen. Urteile behindern den Einfallsreichtum.

Unter dem Druck einer bevorstehenden Verhandlung ist Ihr kritischer Sinn oft noch mehr geschärft als sonst. Praktische Verhandlungsführung besteht in praktischem Denken und nicht in der Produktion wilder Gedanken.

Oft schränkt auch die Anwesenheit der »Gegenseite« die Kreativität ein. Sie verhandeln zum Beispiel mit Ihrem Chef über das Gehalt im kommenden Jahr. Sie haben eine Erhöhung von monatlich 800 Euro vorgeschlagen, er hat 300 Euro angeboten – was Sie als unzureichend bezeichnet haben. In einer derart gespannten Situation können Sie kaum den Einfallsreichtum für eine entsprechende Lösung entwickeln. Sie fürchten etwa, dass Sie als Trottel dastehen, wenn Sie irgendeine unausgegorene Idee präsentieren, zum Beispiel |92|die Hälfte als Gehaltserhöhung und die andere Hälfte als Sonderzulagen auszuweisen. Ihr Chef sagt vielleicht: »Seien Sie nicht kindisch. Sie wissen doch genau, dass das nicht geht. Es brächte unsere ganze Firma durcheinander. Ich bin überrascht, dass gerade Sie so etwas vorschlagen.« Wenn Sie spontan eine realistische Möglichkeit vorschlagen, etwa eine progressive Gehaltserhöhung im Laufe der Zeit, wird er das eventuell als Verhandlungsangebot annehmen: »Darauf können wir aufbauen.« Besteht Gefahr, dass er alles, was Sie sagen, als verbindlich auffasst, sollten Sie alles doppelt überdenken, ehe Sie überhaupt irgendetwas sagen.

Möglicherweise haben Sie auch Angst, dass Sie durch die Entwicklung bestimmter Optionen Ihre sonstige Stellung gefährden. Sollten Sie zum Beispiel vorschlagen, dass die Firma Ihnen bei der Finanzierung eines Hauskaufes hilft, schließt Ihr Chef eventuell daraus, dass Sie auf alle Fälle bei der Firma bleiben wollen und am Ende auch jedes Angebot annehmen werden, das er hinsichtlich der Gehaltserhöhung macht.

Die Suche nach »der« richtigen Lösung

In der Vorstellung vieler Menschen gehört die Entwicklung von Alternativen überhaupt nicht zum Verhandlungsprozess. Die Menschen sehen ihre Aufgabe oft darin, die Kluft zwischen den Positionen zu verkleinern, anstatt die verfügbaren Optionen zu erweitern. Ihre Gedanken lauten dabei oft: »Es ist schwer genug und zeitraubend dazu, eine Übereinkunft wie diese zu schaffen. Was wir jetzt überhaupt nicht brauchen können, ist ein Haufen unterschiedlicher Ideen.« Solange man sich als Endprodukt der Verhandlung eine einzige Entscheidung vorstellt, fürchten natürlich alle, dass eine frei verlaufende Diskussion nur verzögert oder durcheinanderbringt.

Wenn das erste Hindernis kreativen Denkens vorschnelles Urteilen ist, dann besteht das zweite in der vorschnellen Einengung. Wenn Sie von Anfang an auf die »einzige«, die »beste« Lösung starren, |93|brechen Sie leicht einen Prozess ab, der Ihnen die Auswahl einer großen Anzahl möglicher Lösungen gestatten würde.

Die Annahme, dass der »Kuchen« begrenzt sei

Eine dritte Erklärung dafür, dass oft so wenig gute Wahlmöglichkeiten auf den Tisch kommen, liegt darin, dass alle Seiten die Situation als Entweder-Oder begreifen – entweder ich bekomme das Fragliche oder du kriegst es. Solche Verhandlungen stellen sich oft dar als ein Spiel um »feste Summen«: 250 Euro mehr für dich auf den Gesamtpreis des Wagens bedeuten 250 Euro weniger für mich. Warum soll ich mich anstrengen und Optionen entwickeln, wenn sie alle eindeutig darauf hinauslaufen, dich nur auf meine eigenen Kosten zufrieden zu stellen?

Die Vorstellung, dass die anderen ihre Probleme selbst lösen sollen

Das letzte große Hindernis für die Entwicklung realistischer Optionen ist die Beschäftigung jeder Seite nur mit den eigenen unmittelbaren Interessen. Will ein Verhandlungspartner bei einer Übereinkunft seine Eigeninteressen wahren, muss er sich um eine Lösung bemühen, die auch die Interessen der anderen berücksichtigt. Emotionale Probleme der einen Seite hinsichtlich einer Lösung erschweren die Ungezwungenheit, die man braucht, um vernünftige Wege zur Wahrung der Interessen beider Seiten zu finden: »Wir haben genug eigene Probleme; sollen sie sich um die ihren kümmern.« Oft herrscht auch ein psychologischer Widerwille dagegen, die Legitimität des Standpunkts der Gegenseite anzuerkennen. Man kommt sich fast verräterisch gegen sich selbst vor, wenn man über Wege nachsinnt, die auch die anderen befriedigen. Kurzsichtige Beschäftigung nur mit sich selbst bringt einen Verhandlungspartner aber schließlich nur dazu, |94|dass auch er nur einseitige Positionen, einseitige Argumente und einseitige Lösungsvorschläge entwickelt.

Rezepte

Wer kreative Wahlmöglichkeiten entwickeln will, muss

  1. den Prozess des Findens von Optionen von der Beurteilung eben dieser Optionen trennen;

  2. danach trachten, die Zahl der Optionen eher zu vermehren als nach der »einen« Lösung zu suchen;

  3. nach Vorteilen für alle Seiten Ausschau halten;

  4. Vorschläge entwickeln, die den anderen die Entscheidung erleichtern.

Diese Schritte sollen nun dargestellt werden.

Bei der Entwicklung von Vorstellungen auf ihre Beurteilung verzichten

Da die kritische Beurteilung jegliche Fantasie behindert, muss man den kreativen vom kritischen Prozess trennen; man muss das Ausdenken möglicher Entscheidungen vom Vorgang der Beurteilung dieser Entscheidungen abspalten. Erst erfinden, dann entscheiden.

Wenn Sie verhandeln, werden Sie schon aus purer Notwendigkeit für sich selbst allerhand erfinden. Das ist nicht leicht. Die Erfindung neuer Ideen bedeutet ja per definitionem, dass Sie über Dinge nachdenken müssen, die noch gar nicht in Ihrem Kopf sind. Erstrebenswert ist deshalb, dass Sie mit einigen Freunden oder Kollegen eine Sitzung zum Zusammentragen von Ideen, ein »Brainstorming«, arrangieren. Damit kann man die Entwicklung von Ideen sehr wirkungsvoll vom Entscheidungsprozess abkoppeln.

|95|Ein solches Brainstorming sollte so viele Ideen wie möglich produzieren, die einer Lösung des anstehenden Problems dienlich sein können. Die Grundregel ist dabei, jegliche Kritik und Bewertung von Ideen hintanzustellen. Die Gruppe erfindet ausschließlich Ideen und unterbricht niemals, um zu beurteilen, ob diese Ideen gut oder schlecht, realistisch oder unrealistisch sind. Wenn man das konsequent durchführt, dann provoziert die eine Idee die nächste, und sie explodieren wie Knallfrösche hintereinander.

Bei einem Brainstorming muss keiner der Teilnehmer Angst haben, dass er dumm dasteht, denn die Entwicklung noch so wilder Ideen wird ja gerade angeregt. Und weil gleichzeitig auch die Gegenseite nicht dabei ist, muss sich auch niemand vorsehen, dass nicht irgendwelche vertraulichen Informationen oder unausgegorenen Vorstellungen (etwa als verbindliche) Vorschläge weitergereicht werden.

Es gibt keine allgemeinverbindliche Form des Brainstorming. Man sollte es auf die eigenen Bedürfnisse und Möglichkeiten zurichten. Dabei können unter Umständen die folgenden Richtlinien nützlich sein.

Vor dem Brainstorming

1. Bestimmen Sie den Zweck Überlegen Sie, was Sie mit dem Brainstorming erreichen wollen.

2. Wählen Sie einige Teilnehmer dazu aus Die Gruppe sollte groß genug sein, dass gegenseitige Befruchtung erfolgt, aber auch klein genug, um jeden persönlich mitmachen zu lassen und der Erfindungsgabe freien Raum zu geben. Fünf bis acht Personen bilden gewöhnlich eine gute Gruppengröße.

3. Sorgen Sie für Tapetenwechsel Die Sitzung sollte zeitlich und örtlich möglichst klar von den Verhandlungen selbst getrennt sein. Je mehr sich das Brainstorming von den Arbeitstreffen unterscheidet, |96|um so leichter können die Teilnehmer kritische Haltungen gegenüber neuen Ideen abbauen.

4. Sorgen Sie für eine informelle Atmosphäre Sehen Sie zu, dass dies für Sie und die anderen zum Ausdruck kommt: Treffen Sie sich zu einem Drink, an einem malerischen Ausflugsort, oder ziehen Sie Jackett und Krawatte während des Brainstormings aus und reden Sie sich mit dem Vornamen an.

5. Wählen Sie einen Moderator Einer aus der Gruppe sollte moderieren – damit auch alle mitmachen, damit jeder zu Wort kommt, die Regeln eingehalten werden und die Diskussion durch eine grundsätzliche Fragehaltung angeregt wird.

Während des Brainstormings

1. Setzen Sie die Teilnehmer nebeneinander und markieren Sie das Problem in irgendeiner Weise auf der gegenüberliegenden Seite Diese physische Anordnung wirkt für die psychische Seite verstärkend. Wenn man körperlich nebeneinander sitzt, wird die geistige Bereitschaft erklärt, ein gemeinsames Problem miteinander anzugehen. Wenn man stattdessen einander gegenübersitzt, neigt man eher zu persönlichen Antworten, zum Dialog und zum Argumentieren. Sitzt man aber in einem Halbkreis und blickt auf eine Tafel oder Pinnwand, so reagiert man eher auf das dort angeschlagene Problem.

2. Erklären Sie die Regeln und dabei auch das Verbot der Kritik Wenn die Teilnehmer sich gegenseitig nicht alle schon kennen, sollten sie sich zu Anfang rundum bekannt machen. Dann werden die Regeln erläutert. Negative Kritik wird als unerwünscht erklärt.

Dieses gemeinsame Erfinden bringt deshalb neue Ideen hervor, weil wir normalerweise alle nur innerhalb der Grenzen unserer |97|Grundannahmen etwas entwickeln. Wenn Ideen niedergemacht werden, sofern sie nicht allen gefallen, so stellt man sich darauf ein, nur solche Ideen zu entwickeln, die eben nicht niedergemacht werden. Wenn aber andererseits alle denkbaren, auch wilde Ideen angeregt werden, selbst wenn sie außerhalb jeglicher Realisierungschance liegen, so kann die Gruppe von solchen ganz irrealen Ausgangspunkten Optionen entwickeln, die dann tatsächlich möglich sind und auf die sonst niemand gekommen wäre.

Als weitere Grundregel können Sie auch einführen, dass die gesamte Sitzung ohne vorbereitetes Konzept bleibt und dass alle Ideen ohne Zuordnung zu einem bestimmten Teilnehmer festgehalten werden.

3. Beginnen Sie mit dem Brainstorming Lassen Sie Ihrer Fantasie freien Raum, sobald der Zweck der Sitzung allen klar ist. Legen Sie möglichst viele Ideen vor. Gehen Sie die Frage von jeder nur möglichen Seite an.

4. Zeigen Sie die gesamte Ideenfülle auf Wenn Sie alle Gedanken auf einer Tafel oder, besser noch, auf einer Pinnwand oder Zeitungsfahnen aufzeichnen, bekommt die Gruppe einen sinnlichen Eindruck von der gemeinsamen Leistung. Das bekräftigt auch die Regel von der Enthaltung jeglicher Kritik, bewahrt vor unnötigen Wiederholungen und provoziert schließlich auch weitere Ideen.

Nach dem Brainstorming

1. Markieren Sie die aussichtsreichsten Ideen Nach dem Brainstorming sollten Sie das Verbot der kritischen Einwände etwas mildern, damit nun die aussichtsreichsten Ideen herausgefiltert werden können. Noch sind Sie aber nicht in der Phase des Entscheidens: Sie benennen nur die Ideen, die für die weitere Entwicklung geeignet sind. Markieren Sie die Ideen, die die Gruppe für die besten hält.

|98|2. Suchen Sie nach Wegen, die aussichtsreichen Ideen weiter zu verbessern Nehmen Sie eine der vielversprechenden Ideen und suchen Sie nach Möglichkeiten, sie zu verbessern und realistisch zu machen, und denken Sie sie bis zum Ende durch. Auf dieser Etappe ist das Ziel, die Idee so attraktiv wie nur möglich zu machen. Animieren Sie konstruktive Kritik der Art: »Was mir am besten an dieser Idee gefällt, ist.« »Könnte man das nicht noch verbessern, indem.?«

3. Entscheiden Sie, wann die Ideen bewertet werden und wann über sie entschieden werden soll Ehe Sie den Vorgang des Gewichtens beenden, zeichnen Sie eine Auswahlliste der Gedanken aus dieser Sitzung auf und geben einen Zeitpunkt bekannt, wann darüber entschieden wird, welche dieser Ideen in anstehenden Verhandlungen weiter verfolgt werden und wie dies geschehen soll.

Ziehen Sie auch ein Brainstorming mit der Gegenseite in Betracht

Brainstorming mit der Gegenseite ist natürlich viel schwieriger als mit den eigenen Leuten. Trotzdem kann es außerordentlich wertvoll sein. Schwieriger ist es wegen der erhöhten Gefahr, dass trotz der ausdrücklich festgelegten Regeln für das Brainstorming eine Ihrer Äußerungen als Vorentscheidung verstanden wird. Möglicherweise rutscht Ihnen eine vertrauliche Information heraus, oder die Gegenseite missversteht eine bloße Wahlmöglichkeit schon als konkretes Angebot. Nichtsdestoweniger hat ein gemeinsames Brainstorming den großen Vorteil, dass hier Ideen produziert werden, die den Interessen aller Beteiligten Rechnung tragen und eine Atmosphäre gemeinsamer Problemlösung hervorrufen, und dass dabei gegenseitige Informationen über die einzelnen Probleme ausgetauscht werden können.

Sie können sich einigermaßen vor negativen Folgen schützen, wenn Sie das gemeinsame Brainstorming mit der Gegenseite ausdrücklich |99|von den Verhandlungssitzungen trennen, in denen die Teilnehmer ihre offiziellen Standpunkte darlegen und vorbereitete Statements abgeben. Die meisten Menschen sind derart auf das Ziel angestrebter Übereinkünfte eingeschworen, dass man ihnen alles andere ausdrücklich deutlich machen muss.

Das Risiko, durch irgendeine von Ihnen vorgestellte Idee schon festgelegt zu werden, können Sie dadurch mindern, dass Sie grundsätzlich immer zwei Alternativen zur gleichen Zeit entwickeln. Oder Sie legen Vorstellungen dar, die Sie ganz offensichtlich selbst ablehnen. »Ich könnte Ihnen ja das Haus umsonst geben, oder Sie könnten mir auch zwei Millionen in bar dafür geben, oder.« Da Sie nun offensichtlich keine dieser beiden Möglichkeiten als solche anbieten, wird man auch diejenigen, die Sie nun folgen lassen, als bloße Möglichkeiten und nicht als konkrete Angebote einordnen.

Wir wollen Ihnen einmal den Eindruck von einem gemeinsamen Brainstorming vermitteln. Wir nehmen dazu an, dass die örtlichen Gewerkschaftsführer sich mit dem Management eines Kohlebergwerks treffen, um per Brainstorming herauszufinden, wie man die wilden Ein- oder Zwei-Tage-Streiks vermindern kann. Zehn Leute – fünf von jeder Seite – sind dabei, sitzen halb um einen Tisch herum mit Blickrichtung zur Wandtafel. Ein neutraler Moderator fragt die Teilnehmer nach ihren Ideen und schreibt sie auf die Tafel.

 

Moderator: Gut, wir wollen zuerst einmal sehen, welche Vorstellungen Sie über dieses Problem der wilden Arbeitsniederlegungen haben. Versuchen wir, innerhalb von fünf Minuten zehn Ideen auf die Tafel zu kriegen. Fangen wir an. Tom?

Tom (Gewerkschafter): Die Vorarbeiter müssen die Beschwerde eines Gewerkschaftsmitglieds auf der Stelle klären können.

Moderator: Gut, ich habe es notiert. Jim, du hast die Hand gehoben.

Jim (Management): Gewerkschaftsmitglieder müssten mit ihren Vorarbeitern sprechen, ehe sie irgendeine Aktion…

Tom (Gewerkschafter): Das tun sie ja, aber die Vorarbeiter hören ihnen ja nicht zu.

|100|Moderator: Tom, bitte, jetzt wird noch nicht kritisiert. Wir waren alle damit einverstanden, dass das später kommt. O.k.? Jerry, was meinst du? Du siehst aus, als hättest du eine Idee.

Jerry (Gewerkschafter): Wenn es nach einem Streik aussieht, sollten die Gewerkschaftsmitglieder die Erlaubnis bekommen, sich sofort im Umkleideraum zu treffen.

Roger (Management): Das Management könnte die Umkleideräume für Gewerkschaftertreffen zur Verfügung stellen und die Ungestörtheit der Arbeiter dadurch garantieren, dass die Türen verriegelt und die Vorarbeiter ausgeschlossen werden.

Carol (Management): Könnte man es nicht zur Regel machen, dass es keinen Streik gibt, ehe die Gewerkschaftsführer und das Management nicht die Möglichkeit hatten, das Problem unmittelbar zu lösen?

Jerry (Gewerkschafter): Könnte man nicht die Beschwerdeprozedur beschleunigen und ein Treffen innerhalb von 24 Stunden zulassen, wenn die Vorarbeiter und das Gewerkschaftsmitglied die Sache nicht unter sich bereinigen?

Karen (Gewerkschafter): Jawohl. Und wie wäre es mit einem gemeinsamen Training der Gewerkschaftsmitglieder und der Vorarbeiter, wie man Probleme miteinander löst?

Phil (Gewerkschafter): Wenn einer gut arbeitet, sollte man ihm das auch bestätigen.

John (Management): Gute Beziehungen zwischen den Gewerkschaften und dem Management herstellen.

Moderator: Das klingt vielversprechend, John, aber könnten Sie das noch etwas genauer darlegen?

John (Management): Wie wäre es mit einer gemeinsamen Volleyballmannschaft aus Gewerkschaftern und Angehörigen des Managements?

Tom (Gewerkschafter): Und einen Kegelclub dazu.

Roger (Management): Und wie wäre es mit einem jährlichen gemeinsamen Picknickausflug zusammen mit allen Familienmitgliedern?

 

|101|Und so weiter, die Teilnehmer produzieren ganze Berge von Ideen. Viele davon wären niemals außerhalb dieses Brainstormings zustande gekommen, und manche davon werden möglicherweise tatsächlich bei der Reduzierung wilder Streiks helfen. Die Zeit des gemeinsamen Brainstormings gehört sicherlich zu den bestangelegten Zeiten während einer Verhandlung.

Ob Sie nun miteinander Brainstorming betreiben oder nicht – bei jeder Verhandlung ist es von großem Nutzen, den Akt der Entwicklung von Optionen vom Vorgang der Entscheidung zwischen diesen Optionen zu trennen. Zielvorstellungen zu diskutieren oder Positionen einzunehmen, ist etwas ganz anderes. Die Position der einen Seite wird immer mit der der anderen in Konflikt stehen – Optionen bringen stattdessen andere Optionen hervor. Schon alleine die Sprache, die Sie dabei verwenden, ist ganz anders. Sie besteht in Fragen, nicht in Versicherungen, ist offen, nicht geschlossen. »Eine Vorstellung besteht darin, dass. An welche anderen Optionen haben Sie gedacht?« »Was ist, wenn wir zustimmen?« »Wie wäre es, wenn wir so vorgingen?« »Wie kann das funktionieren?« »Was könnte daran schlimm sein?« Suchen Sie, ehe Sie entscheiden.

Verbreitern Sie die Basis Ihrer Wahlmöglichkeiten

Auch wenn die Vorsätze hervorragend sind: meist arbeiten Teilnehmer selbst in einer Brainstorming-Sitzung in der Annahme, dass sie in Wirklichkeit nach der einen besten Antwort suchen; das ist wie die berühmte Suche nach der Stecknadel im Heuhaufen, wo man schließlich jeden Halm umdrehen muss.

An diesem Punkt der Verhandlungen sollten Sie jedoch noch nicht nach dem richtigen Weg schauen. Sie entfalten gerade erst den Raum, innerhalb dessen Sie verhandeln. Aber Raum können Sie nur entfalten, wenn Sie eine nennenswerte Anzahl deutlich unterschiedlicher Ideen haben – Ideen, auf denen Sie und die Gegenseite später in der |102|Verhandlung aufbauen können und unter denen Sie dann gemeinsam wählen können.

Ein Weinbauer wählt für einen guten Wein seine Trauben aus einer Anzahl verschiedener Sorten aus. Eine Fußballmannschaft, die neue Stars sucht, wird Talentsucher sowohl zu den regionalen Ligen wie zu den anderen Mannschaften im ganzen Land senden. Genau dasselbe gilt auch für Verhandlungen. Der Schlüssel für kluges Entscheiden – ob bei der Weinherstellung, beim Fußball oder beim Verhandeln – liegt in der Auswahl aus einer großen Zahl verschiedener Optionen.

Wenn Sie also gefragt werden, wer dieses Jahr den Friedensnobelpreis bekommen sollte, antworten Sie am besten: »Gut, wir wollen einmal darüber nachdenken« und listen hundert und mehr Namen aus dem diplomatischen Dienst, dem Geschäftsleben, Journalismus, Religion, Rechtsprechung, Landwirtschaft, Politik, Wissenschaft, Medizin und anderen Gebieten auf, wobei Sie ganz sicher eine Menge wilder Vorstellungen produzieren. Aber ziemlich sicher werden Sie dabei zu einer besseren Entscheidung kommen, als wenn Sie das Ganze gleich vom Fleck weg entscheiden wollen.

Ein Brainstorming gibt den Menschen die Freiheit zu kreativem Denken. Ist die Freiheit einmal da, braucht man nun auch Wege, auf denen man über die Probleme nachdenken und konstruktive Lösungen entwerfen kann.

Vervielfältigen Sie die Optionen, indem Sie zwischen Besonderem und Allgemeinem pendeln: Das Kreisdiagramm

Vier verschiedene Denkweisen liegen der Entwicklung von Optionen zugrunde. Die erste bezieht sich auf ein besonderes Problem – etwa darauf, dass über Ihr Gebiet ein schmutziger, stinkender Fluss fließt, der Sie stört. Die zweite Denkweise besteht in der beschreibenden Analyse. Sie diagnostizieren in ganz allgemeinen Begriffen eine bestehende Situation. Dabei sortieren Sie die Probleme in bestimmte |103|Kategorien und stellen Vermutungen über die Ursachen an. Das Flusswasser hat möglicherweise einen hohen Chemikalienanteil oder zu wenig Sauerstoff. Vielleicht verdächtigen Sie schon einige flussaufwärts liegende Industrieanlagen. Die dritte Denkweise sucht, wieder in allgemeinen Begriffen, nach dem, was möglicherweise zu tun ist. Aufgrund der erstellten Analyse sehen Sie sich nach Rezepten um, nach denen zumindest theoretisch der Chemikalienausfluss oder die Wasserableitung reduziert oder frisches Wasser aus anderen Flüssen zugeführt werden kann. Die vierte und letzte Denkweise zielt darauf, eine Reihe spezifischer und realisierbarer Vorschläge für künftiges Handeln aufzubauen. Wer zum Beispiel könnte morgen etwas tun, um die allgemeinen Überlegungen in die Tat umzusetzen. So könnte beispielsweise die staatliche Umweltbehörde der flussaufwärts gelegenen Industrieanlage Auflagen hinsichtlich der erlaubten Einleitung chemischer Stoffe erteilen.

Das auf Seite 104 abgebildete Kreisdiagramm illustriert diese vier Denkweisen und stellt sie als Schritte dar, die man nacheinander vollziehen muss. Wenn alles nach Plan abläuft, können Sie mit der spezifischen Lösungsweise auch Ihre Probleme entsprechend behandeln.

Das Kreisdiagramm bietet ein einfaches Verfahren, um mithilfe einer guten Idee andere Ideen hervorzubringen. Wenn Sie eine sinnvolle Handlungsidee vor sich haben, können Sie (oder eine Gruppe, mit der Sie Brainstorming betreiben) zum Beispiel zurückgehen und den generellen Ansatz herausfinden, von dem die Handlungsidee lediglich eine konkrete Anwendung darstellt. Dann können Sie sich auch andere Handlungsideen ausdenken, die auf demselben Grundansatz beruhen. Analog dazu können Sie auch noch einen Schritt zurückgehen und fragen: »Wenn mir dieser Ansatz nützlich erscheint – Welche Diagnose liegt ihm dann schon vorher zugrunde?« Haben Sie die Diagnose dann ausgemacht, so können Sie wieder andere Ansätze für die Behandlung von Problemen erstellen, die in derselben Weise diagnostiziert wurden, und diese neuen Ansätze in die Praxis umsetzen. Eine gute Option eröffnet also die Möglichkeit |104|zur Erkenntnis der Theorie, nach der diese Option gut ist; und diese Theorie wiederum wird zum Auffinden weiterer Optionen verwendet.

Zur Illustration ein Beispiel: Nehmen wir als gute Ausgangsidee den Vorschlag, dass während des Konflikts in Nordirland katholische und protestantische Lehrer ein gemeinsames Schulbuch über die Geschichte Nordirlands erstellen, das in den Unterklassen beider Schulsysteme verwendet werden soll. Das Buch würde die Geschichte |105|Nordirlands von verschiedenen Gesichtspunkten aus zeigen und den Kindern Übungen ermöglichen, mit denen sie sich in Rollenspielen an die Stelle der jeweils anderen setzen können. Zur Produktion weiterer Ideen sollten Sie mit dem Vorstellen dieser Aktion beginnen und dann nach dem theoretischen Ansatz suchen, der ihr zugrunde liegt. Sie werden dann wohl so allgemeine Vorstellungen herausfinden wie:

  • »Es sollte wenigstens einige gemeinsame Bildungsinhalte in den beiden Schulsystemen geben.«

  • »Katholiken und Protestanten sollten in bescheidenen, aber immerhin handhabbaren Projekten zusammenarbeiten.«

  • »Gegenseitiges Verständnis sollte bei den Kindern gefördert werden, ehe es zu spät ist.«

  • »Geschichte sollte so unterrichtet werden, dass Einseitigkeiten als solche deutlich werden.«

Aufgrund solcher theoretischer Aussagen können Sie dann weitere Handlungsvorschläge entwickeln, wie etwa gemeinsame Filmprojekte von Katholiken und Protestanten, die die Geschichte Nordirlands von beiden Standpunkten aus beleuchten. Auch ein Lehreraustauschprogramm oder gemischte Einschulungsklassen von Kindern beider Systeme sind denkbar.

Betrachten Sie die Suche vom Standpunkt verschiedener Experten

Ein anderer Weg zu vielfältigen Wahlmöglichkeiten besteht darin, das Problem von der Perspektive verschiedener Experten und Deutungsschemata zu sehen.

Wenn Sie nach möglichen Lösungen beim Streit über das Sorgerecht für Kinder suchen, betrachten Sie das Problem von der Warte eines Erziehers, eines Bankiers, eines Psychiaters, eines Rechtsanwalts, eines Ministers, eines Ernährungsfachmannes, eines Arztes, |106|einer Feministin, eines Fußballtrainers oder sonstwie. Wenn Sie über einen Geschäftsvertrag verhandeln, suchen Sie nach Wahlmöglichkeiten, die einem Bankier, einem Erfinder, einem Laborleiter, einem Immobilienspekulanten, einem Börsenmarkler, einem Volkswirtschaftler, einem Steuerfachmann oder einem Sozialisten einfallen könnten.

Das Kreisdiagramm können Sie mit dieser Idee verbinden. Überlegen Sie nacheinander, wie jeder der Experten die Lage diagnostizieren würde, welche Ansätze jedem einfallen würden und welche praktischen Vorschläge daraus folgen.

Suchen Sie nach Problemlösungen mit unterschiedlichem Wirkungsgrad

Die Anzahl möglicher Übereinkünfte kann man auch dadurch vermehren, dass man »weichere« Möglichkeiten in Betracht zieht, falls die gewünschte Übereinkunft nicht in Sicht kommt. Manchmal kann man auch eine Übereinstimmung hinsichtlich des Verfahrens erreichen, wenn man schon in der Materie nicht zusammenkommt. Wenn eine Schuhfabrik sich mit einem Großhändler bezüglich einer Sendung schadhafter Schuhe nicht einigen kann, so können beide doch darin übereinkommen, dass der Fall einem Schlichter übergeben wird. Ähnlich kann vielleicht eine vorläufige Übereinkunft erzielt werden, wo eine dauerhafte Lösung (noch) nicht möglich ist. Schließlich kann man dort, wo man nicht zu einer Einigung gelangt, normalerweise zu einer Übereinkunft zur Meinungsverschiedenheit kommen – das heißt man einigt sich darüber, wo man nicht einer Meinung ist, sodass beide die Streitpunkte nun kennen (die keineswegs immer offensichtlich sind). Nachfolgend sind mögliche Übereinkünfte mit unterschiedlichem Wirkungsgrad paarweise aufgelistet:

Verändern Sie die Reichweite der vorgeschlagenen Übereinkunft

Ziehen Sie auch die Möglichkeit in Betracht, nicht nur den Wirkungsgrad der Übereinkunft zu verändern, sondern auch ihre Reichweite. Sie können zum Beispiel Ihr Problem auch aufspalten in kleinere und darum vielleicht handlichere Einheiten. Schlagen Sie beispielsweise dem vorgesehenen Verleger Ihres Buches vor: »Vereinbaren wir zunächst einmal für das erste Kapitel 500 Euro und sehen dann, wie die Sache läuft.« Übereinkünfte können durchaus nur Teillösungen beinhalten, weniger Parteien betreffen als ursprünglich beabsichtigt, nur bestimmte ausgewählte Bereiche abdecken, sich nur auf ein bestimmtes geografisches Gebiet beziehen oder nur für eine bestimmte Zeitspanne gelten.

Manchmal fördert es die Verhandlungen, wenn man überlegt, ob die Gesamtmaterie nicht vergrößert werden kann, gleichsam als »Verzuckerung« des Ganzen, damit die Einigung attraktiver wird. Die Auseinandersetzung zwischen Indien und Pakistan über das Wasser des Indus kam einer Lösung näher, als die Weltbank in die Gespräche mit einbezogen wurde. Die Parteien wurden zur Ausarbeitung neuer Begradigungs- und Eindämmunganlagen sowie anderer Bauprojekte aufgefordert, was beiden Nationen zugute kam – alles mithilfe der Weltbank.

|108|Suchen Sie nach Vorteilen für beide Seiten

Die dritte große Hemmschwelle zur kreativen Problemlösung liegt in der Annahme, dass der »Kuchen« begrenzt sei. Dadurch entsteht eine Haltung »Der kleine Teil für dich, der größere für mich.« Dabei stimmt diese Annahme nur selten. Zuerst einmal können am Ende immer beide Seiten schlechter dastehen als vorher. Schach zum Beispiel wird allgemein als Nullsummenspiel betrachtet; wenn der eine verliert, gewinnt der andere – bis ein Hund daherkommt, den Tisch umwirft, das Bier verschüttet und beide schlechter als vorher aussehen.

Ganz abgesehen davon, dass beide das gemeinsame Interesse haben, nichts zu verlieren, gibt es nahezu immer die Möglichkeit, Vorteile für beide Seiten zu entwickeln. Das kann in Form einer gegenseitig förderlichen Beziehung geschehen oder auch als gemeinsame Interessenbefriedigung mithilfe einer kreativen Lösung.

Finden Sie die gemeinsamen Interessen heraus

Rein theoretisch ist es offensichtlich, dass gemeinsame Interessen bei der Herstellung von Übereinkünften hilfreich sind. Wenn man eine Idee austüftelt, die die Interessen zusammenbringt, so ist das per definitionem gut für Sie wie für die Gegenseite. Praktisch sieht die Sache allerdings weniger klar aus. Bei Verhandlungen über einen bestimmten Preis sind gemeinsame Interessen meist nicht sichtbar und offenbar nicht relevant. Wie kann die Suche nach gemeinsamen Interessen dennoch hilfreich sein?

Nehmen wir ein Beispiel. Stellen Sie sich vor, Sie seien der Manager einer Ölraffinerie. Nennen wir diese Townsend Oil. Der Bürgermeister von Pageville – dem Ort, in dem die Raffinerie liegt – hat Ihnen erklärt, dass er die Steuer für die Gesellschaft von einer Million auf zwei Millionen jährlich erhöhen will. Sie haben ihm mitgeteilt, dass Ihrer Meinung nach eine Million völlig genügt. An dieser |109|Stelle bewegt sich nun derzeit die Verhandlung: Er möchte mehr, Sie möchten die bisherige Steuerhöhe beibehalten. Wo kommen bei einer solchen durchaus typischen Verhandlung gemeinsame Interessen ins Spiel?

Werfen wir einen genaueren Blick auf die Wünsche des Bürgermeisters. Er möchte Geld – sicherlich um städtische Dienstleistungen zu bezahlen, beispielsweise um ein neues Gemeindezentrum zu bauen, und um die anderen, kleinen Steuerzahler zu entlasten. Aber die Stadt kann nicht jetzt und in alle Zukunft ihre Geldbedürfnisse nur durch Townsend Oil befriedigen. Sie wird zum Beispiel auch Geld von der petrochemischen Industrie am Ort fordern, und fernerhin auch von den neuen Geschäften und den schon bestehenden Firmen, die expandieren. Der Bürgermeister ist selbst Geschäftsmann und wird wohl die industrielle Entwicklung fördern und neue Geschäfte an den Ort locken, die neue Arbeitsplätze schaffen und die Wirtschaft des Ortes ankurbeln.

Welche Interessen haben Sie mit Ihrer Ölgesellschaft? Die Technologie im Ölgeschäft ändert sich schnell und Ihre Raffinerie ist veraltet, weshalb Sie derzeit eine größere Modernisierung und Vergrößerung der Firma planen. Sie haben Angst, dass die Stadt alsbald den Realwert der ausgebauten Firma höher ansetzen und danach auch die Steuern erhöhen wird. Sie haben überdies ein Kunststoffwerk an den Ort geholt, das Ihren Rohstoff verarbeitet; und natürlich müssen Sie fürchten, dass diese Firmen sich ebenfalls über die wachsende Steuerlast Gedanken machen.

Nun werden die gemeinsamen Interessen zwischen Ihnen und dem Bürgermeister schon deutlicher. Sie stimmen beide darin überein, dass man industrielle Expansion fördern und neue Industrien ermutigen sollte. Wenn Sie nun diese gemeinsamen Interessen unter einen Hut bringen und entsprechende Zielsetzungen entwickeln wollen, werden Sie wohl zu einer Reihe von Ideen kommen: Steuerfreiheit von sieben Jahren für neu angesiedelte Industrieanlagen; eine gemeinsame Werbungskampagne mit der Handelskammer, um neue Firmen anzuziehen; Steuererleichterung für expansionswillige |110|Industriefirmen. Solche Ideen können Ihnen helfen, Geld zu sparen, während gleichzeitig die Steuersäckel der Stadt gefüllt werden. Verschlechtern sich stattdessen aber die Beziehungen zwischen Ihrer Firma und der Stadt so werden beide die Verlierer sein. Sie Ihrerseits werden möglicherweise Ihre Spenden für soziale Belange und für sportliche Angelegenheiten verringern. Die Stadt wiederum wird vielleicht die Bauvorschriften und andere Anordnungen verschärfen. Auch Ihre persönlichen Beziehungen zu den politischen und geschäftlichen Führungspersönlichkeiten der Stadt werden getrübt. Das Verhältnis beider Seiten zueinander, das häufig einfach vorausgesetzt oder einfach übersehen wird, wiegt oft genug schwerer als das Ergebnis irgendeines besonderen Streitfalles.

Als Verhandlungspartner wird man fast immer nach Lösungen suchen, die die Gegenseite möglichst zufriedenstellen. Wenn sich der Käufer geprellt fühlt, hat der Verkäufer einen Fehler begangen. Er verliert möglicherweise einen Kunden und noch dazu leidet sein guter Ruf. Ein Ergebnis, bei dem die Gegenseite absolut keinen Gewinn hat, ist ungünstiger für Sie, als wenn die anderen zufriedengestellt sind. In nahezu jedem Fall wird Ihre eigene Befriedigung davon abhängen, wie zufrieden die Gegenseite mit dem Ergebnis ist, mit dem sie ja auch leben möchte.

Drei Punkte sollten Sie sich hinsichtlich gemeinsamer Interessen in Erinnerung halten.

  1. Gemeinsame Interessen gibt es, vielleicht auch verborgen, bei jeder Verhandlung. Sie sind vielleicht nicht sofort einsichtig. Fragen Sie sich: Haben wir ein gemeinsames Interesse am Erhalt unserer Beziehung? Welche Möglichkeiten ergeben sich für Kooperation und gegenseitigen Gewinn? Was kostet es uns, wenn die Verhandlungen abgebrochen würden? Gibt es allgemeine Prinzipien, etwa einen fairen Preis, die wir beide gleichermaßen anerkennen können?

  2. Gemeinsame Interessen sind Möglichkeiten, nicht Gottgegebenheiten. Damit sie Ihnen nützen, müssen Sie erst etwas daraus machen. |111|Sinnvollerweise sollten Sie gemeinsame Interessen ausdrücklich benennen und als gemeinsame Ziele darstellen. Mit anderen Worten: Konkretisieren Sie die gemeinsamen Interessen und weisen Sie damit in die Zukunft. Mit dem Bürgermeister von Pageville könnten Sie sich als Manager von Townsend Oil das gemeinsame Ziel setzen, innerhalb von drei Jahren fünf neue Industriefirmen an den Ort zu bringen. Die Steuerbefreiung für Neuansiedler würde dann nicht eine Konzession des Bürgermeisters darstellen, sondern eine Aktion zur Realisierung des gemeinsamen Ziels.

  3. Wenn Sie die gemeinsamen Ziele unterstreichen, werden möglicherweise die Verhandlungen flüssiger und freundlicher. Die Insassen eines Rettungsbootes auf dem offenen Meer, die nur begrenzte Lebensmittelvorräte besitzen, werden ihre Differenzen hinsichtlich der Essensverteilung hinter dem gemeinsamen Ziel zurückstellen, sobald wie möglich an Land zu kommen.

Verschmelzen Sie unterschiedliche Interessen

Erinnen Sie sich an die beiden Schwestern, die über die Orange stritten. Jede wollte sie haben, also haben sie sie geteilt, ohne zu bedenken, dass die eine nur das Fleisch essen und die andere nur die Schale zum Backen haben wollte. Dieser Fall ist recht häufig. Er kann zufriedenstellend gelöst werden, weil jeder Partner etwas anderes möchte. Genau betrachtet ist das wohl etwas überraschend. Normalerweise nimmt man ja an, dass die Differenzen zwischen zwei Parteien das Problem schaffen. Aber Differenzen können genauso gut zu einer Lösung führen.

Übereinstimmung beruht oft auf Nicht-Übereinstimmung. Es ist absurd, wenn man beispielsweise vorgeht wie jener Aktienkäufer, der den Verkäufer davon zu überzeugen trachtet, dass die Kurse wahrscheinlich steigen werden. Wenn beide darin übereinstimmen, dass die Kurse wohl steigen werden, wird der Verkäufer sicherlich nichts hergeben.

|112|Der Handel wird erst dann klappen, wenn der Käufer glaubt, dass die Aktien steigen und der Verkäufer denkt, dass sie fallen. Diese unterschiedlichen Meinungen sind die Basis für den Handel.

Viele kreative Übereinkünfte spiegeln dieses Prinzip wider. Unterschiede in Interessen und Überzeugungen ermöglichen oft einen Konnex zwischen großem Nutzen für den einen und geringen Kosten für den anderen. Ein Kinderreim sagt:

 

Jack Sprat konnt niemals Fettes essen

Und seine Frau nichts Mageres

So taten sie sich schnell zusammen

und aßen den Teller leer!

 

Am besten lassen sich diejenigen Unterschiede nutzen, die sich auf die Interessen, die Überzeugung und die Wertschätzung hinsichtlich zeitlicher Abläufe, Prognosen und Risikobereitschaft beziehen.

 

Bestehen Interessenunterschiede? Die nachfolgende kurze Checkliste weist auf die häufigsten Möglichkeiten hin, die man beachten sollte:

|113|Unterschiedliche Überzeugungen? Wenn ich im Recht zu sein glaube und Sie auch, können wir aus diesem Überzeugungsunterschied Nutzen ziehen: Wir können dann nämlich beide einen unabhängigen Schiedsrichter in der Streitsache anrufen. Beide glauben wir ja an einen Sieg. Wenn zwei Fraktionen der Gewerkschaft sich nicht über eine Lohnforderung einigen können, können sie sich einer Abstimmung seitens aller Mitglieder unterwerfen.

 

Zeitabhängige unterschiedliche Wertschätzung? Ihnen erscheint vielleicht die Gegenwart wichtiger, während sich die Gegenseite mehr Gedanken um die Zukunft macht. In der Geschäftssprache heißt das, Sie diskontieren Zukunftswerte zu unterschiedlichen Sätzen, Ratenzahlungen funktionieren nach diesem Prinzip. Der Käufer ist bereit, mehr zu bezahlen, wenn er das erst später tun muss. Der Verkäufer akzeptiert spätere Bezahlung, wenn er dadurch einen höheren Preis erzielt.

 

Unterschiedliche Prognosen? Bei den Gehaltsverhandlungen eines Fußballstars mit einem Bundesligaclub erwartet der Spieler, dass die Mannschaft durch ihn viele Spiele gewinnt. Der Manager glaubt das aber nicht. Aus diesen unterschiedlichen Prognosen ziehen beide für die Verhandlung Nutzen: Sie einigen sich auf ein Grundgehalt von 500 000 Euro im Jahr plus 180 000 Euro, wenn der Spieler in der Gesamtsaison mehr als 15 Tore in den Bundesligaspielen schießt.

 

Unterschiedliche Risikobereitschaft? Schließlich noch eine andere kapitalisierbare Differenz: die Risikobereitschaft. Nehmen wir zum Beispiel den Streit um den Abbau von Bodenschätzen auf dem Meeresgrund im Rahmen der Seerechtsverhandlungen. Wie viel sollten die Schürfgesellschaften der internationalen Gemeinschaft für die Abbaurechte bezahlen? Die Bergwerksgesellschaften sorgen sich mehr darum, große Verluste zu vermeiden als darum, hohe Gewinne zu machen. Für sie bedeutet das Schürfen auf dem Meeresgrund jedoch hohe Investitionen. Sie wollen das Risiko möglichst niedrig |114|halten. Die internationale Gemeinschaft andererseits interessiert sich für Einkünfte. Wenn irgendeine Minengesellschaft großen Profit aus dem »gemeinsamen Erbe der Menschheit« zieht, möchte der Rest der Welt einen hohen Anteil bekommen.

In diesem Unterschied liegt der Grundstock für einen beiderseits vorteilhaften Handel. Das Risiko kann gegen Einkünfte aufgerechnet werden. Der Vertrag sieht daher, unter Einbezug der unterschiedlichen Risikobereitschaft, für die Gesellschaften niedrige Abgaben für die Zeit vor, in denen sie ihre Investitionen noch nicht hereingewirtschaftet haben – mit anderen Worten, solange sie ein hohes Risiko tragen – und große Zahlungen unmittelbar danach, sobald das Risiko entsprechend niedrig ist.

Erkunden Sie die Hauptanliegen der Gegenseite

Ein Weg, die Interessen zu beiderseitigem Nutzen zusammenzubringen, besteht darin, mehrere Wahlmöglichkeiten zu finden, die Ihnen alle gleichermaßen akzeptabel erscheinen, und die Gegenseite zu fragen, welche davon sie bevorzugen würde. Sie fragen dabei nicht unbedingt danach, was akzeptabel erscheint, sondern was man bevorzugen würde. Dann können Sie mit der gewählten Option weiterarbeiten, wiederum zwei oder mehr Varianten vorstellen und wieder nach den Präferenzen fragen. Auf diese Weise können Sie, noch ehe irgendjemand etwas entschieden hat, einen Plan entwerfen – so lange, bis Sie keinen weiteren gemeinsamen Nutzen finden können. Der Agent des Fußballstars fragt beispielsweise den Club-Manager: »Was käme Ihnen mehr entgegen, 500 000 Euro im Jahr, bei einer Vertragsdauer von vier Jahren, oder 600 000 Euro pro Jahr, aber auf drei Jahre? Letzteres? Gut. Was sagen Sie dann zu dem Vorschlag, dass er 550 000 im Jahr, immer noch bei drei Jahren Dauer, kriegt und noch 170 000 dazu, wenn er mehr als 15 Tore in der Saison schießt?«

Für eine Nutzenteilung gehen Sie am besten so vor, dass Sie nach |115|Punkten suchen, die Sie selbst wenig kosten und den anderen große Vorteile bringen, und umgekehrt. Nutzenteilung wird überall möglich, wo es unterschiedliche Interessen, Prioritäten, Überzeugungen, Prognosen und Risikobereitschaften gibt. Das Motto eines Verhandlungspartners könnte also auch sein: »Es lebe der Unterschied!«

Erleichtern Sie der Gegenseite die Entscheidung

Da Ihr Erfolg bei Verhandlungen davon abhängt, dass die Gegenseite Entscheidungen in Ihrem Sinn trifft, sollten Sie alles in Ihren Kräften Stehende tun, um diese Entscheidungen zu erleichtern. Machen Sie die Dinge für die Gegenseite niemals schwierig, sondern konfrontieren Sie sie mit einer Wahl, die möglichst schmerzlos ist. Da die meisten Leute ganz mit ihren eigenen Problemen beschäftigt sind, achten sie zu wenig auf Möglichkeiten, ihre eigenen Vorteile durch die Beachtung von Interessen der Gegenseite zu fördern. Am besten versetzen Sie sich, zur Überwindung der Kurzsichtigkeit allzu ichbezogener Denkweise, einfach in die Lage der anderen. Ohne eine auch für die Gegenseite günstige Wahlmöglichkeit wird es kaum eine Übereinkunft geben.

Mit wem verhandeln?

Wollen Sie einen einzelnen Vertragspartner, einen abwesenden Chef, ein Komitee oder eine kollektiv entscheidende Körperschaft beeinflussen? Man kann nicht erfolgreich mit abstrakten Gebilden wie etwa »München« oder der »Hamburger Universität« verhandeln. Sie sollten nicht versuchen, »die Versicherungsgesellschaft« von einer Entscheidung zu überzeugen, sondern sich darauf konzentrieren, einem zuständigen Mitarbeiter der Versicherung eine entsprechende Empfehlung zu geben. Wie kompliziert der Entscheidungsprozess auf der Gegenseite auch sein mag, Sie verstehen das Ganze besser, wenn |116|Sie sich eine Person – am besten die, mit der Sie verhandeln – herausholen und zusehen, wie sich für diese Person das Problem darstellt.

Wenn Sie sich auf eine Person konzentrieren, so vernachlässigen Sie deshalb keineswegs die Komplexität der Dinge. Stattdessen bekommen Sie die Gegenseite in den Griff dadurch, dass Sie erkennen, wie die Person, mit der Sie verhandeln, ihrerseits beeinflusst wird. Sie werden alsbald Ihre eigene Rolle bei der Verhandlung neu einschätzen und Ihre Aufgabe beispielsweise dann darin sehen, dass Sie die Position des Ansprechpartners stärken, indem Sie ihm Argumente an die Hand geben, die er wiederum zur Überzeugung anderer in seiner Gruppe braucht. Ein britischer Botschafter beschrieb einmal seine eigene Aufgabe als »Hilfe für mein Gegenüber, neue Anweisungen zu erhalten«. Wenn Sie sich selbst in die Lage Ihres Gegenübers versetzen, werden Sie seine Probleme erkennen und verstehen, welche Optionen eben diese Probleme lösen können.

Welche Entscheidung ist wünschenswert?

Wir haben im ersten Kapitel des 2. Teils untersucht, wie man durch die Analyse der von der Gegenseite wahrgenommenen Wahlmöglichkeiten ihre Interessen erkennen kann. Nun müssen Sie Optionen entwickeln, die die Wahlmöglichkeiten der Gegenseite ändern, sodass sie in einer Sie befriedigenden Weise entscheidet. Ihre Aufgabe besteht jetzt darin, nicht mehr Fragen aufzuwerfen, sondern Antworten zu finden, die die anderen nicht vor eine schwierige, sondern vor eine leichte Entscheidung stellen. Dabei ist es grundsätzlich wichtig, dass Sie Ihre Aufmerksamkeit auf den Inhalt der Entscheidung selbst konzentrieren, denn diese wird oft durch Unschlüssigkeit behindert.

Meist möchte man natürlich so viel wie möglich herausschlagen; aber wie viel das ist, weiß man eben nicht so genau. Da ist man versucht zu sagen: »Machen Sie einen Vorschlag, und ich sage Ihnen dann, ob es reicht.« Das erscheint Ihnen vielleicht vernünftig, aber wenn Sie das von der Gegenseite her betrachten, wird Ihnen klar, |117|dass Sie wohl eine sinnvollere Frage stellen sollten. Denn was immer die anderen auf ein solches Ansinnen auch antworten – Sie werden es immer nur als Grundlage akzeptieren und mehr fordern. Auch wenn Sie die Gegenseite bitten, mehr zu bieten, wird das kaum eine Entscheidung in Ihrem Sinn provozieren.

Viele Verhandelnde sind sich auch nicht darüber im Klaren, ob sie nun nur Verhandlungsangebote wollen oder präzise Leistungen. Wünschen Sie eine konkrete Leistung, dann sollten Sie keinen »Verhandlungsspielraum« vorgeben. Wenn Sie wollen, dass ein Pferd über ein Hindernis springt, erhöhen Sie ja auch nicht das betreffende Hindernis. Und wenn Sie mit Ihrem Automaten ein Getränk für 80 Cent verkaufen wollen, geben Sie ja auch nicht den Preis mit 1 Euro an, um noch Verhandlungsspielraum zu haben.

In den meisten Fällen zielt man auf ein Versprechen ab – ein Abkommen. Nehmen Sie Papier und Kugelschreiber und versuchen Sie einige mögliche Absprachen zu fixieren. Man kann in einer Verhandlung nie zu früh damit anfangen – es ist immer eine Hilfe für klares Denken. Bereiten Sie die verschiedensten Versionen vor, beginnen Sie dabei mit den einfachsten. Welche Bedingungen könnte die Gegenseite unterschreiben, die auch für Sie attraktiv sind? Können Sie die Anzahl der Leute reduzieren, deren Zustimmung dafür nötig ist? Können Sie eine Übereinkunft formulieren, die für die Gegenseite leicht realisierbar ist? Die anderen werden Schwierigkeiten beim Aushandeln einer Übereinkunft in Rechnung ziehen; das sollten auch Sie tun.

Normalerweise ist es leichter, eine bisher unterbliebene Handlung auch weiterhin zu unterlassen, als sie auszusetzen, wenn sie schon begonnen hat. Und es ist einfacher, mit etwas aufzuhören, als noch mal ganz von vorne anzufangen. Wenn Arbeiter bei ihrer Tätigkeit Musik hören wollen, ist es für die Firmenleitung leichter, wenn sie ein von den Arbeitern selbst organisiertes Experiment für einen bestimmten Zeitraum zulässt, als von vornherein ein ganzes Problem zu billigen.

Viele Leute sind sehr stark von ihrer Vorstellung von Rechtmäßigkeit |118|beeinflusst. Ein effektiver Weg zur Lösung solcher Probleme besteht daher darin, alles so zu organisieren, dass die Sache unbedingt legitim erscheint. Die Gegenseite wird Lösungen um so leichter zustimmen, wenn es den Anschein hat, dass man das Rechte tut – recht im Sinne von fair, legal, ehrenhaft und so weiter.

Kaum etwas erleichtert Verhandlungen so wie ein Präzedenzfall. Suchen Sie danach. Suchen Sie nach einer Entscheidung oder einem Kernsatz, den die Gegenseite in einer ähnlichen Situation geäußert hat und bauen Sie darauf Ihren Vorschlag für die Übereinkunft auf. Das verschafft Ihnen eine objektive Ausgangslage für Ihren Antrag und erleichtert den anderen das Mitziehen. Stellen Sie den vermuteten Wunsch der Gegenseite nach Beständigkeit in Rechnung und klären Sie, was früher getan oder gesagt wurde. Das hilft Ihnen bei der Entwicklung von Optionen, die Sie akzeptieren können und die gleichzeitig den Standpunkt der anderen mit einbeziehen.

Drohungen helfen nicht

Sie sollten nicht nur über die Inhalte der von Ihnen gewünschten Entscheidungen nachdenken, sondern auch vom Standpunkt der Gegenseite aus die daraus folgenden Konsequenzen bedenken. Wenn Sie die anderen wären, welche Ergebnisse würden Sie am meisten fürchten? Worauf würden Sie hoffen?

Oft versuchen wir andere durch Drohungen und Warnungen vor möglichen Konsequenzen im Ablehnungsfall zu beeinflussen. Positive Angebote sind jedoch viel effektiver. Konzentrieren Sie sich darauf, die Konsequenzen einer Zustimmung zu Ihrem Vorschlag deutlich zu machen, und erhöhen Sie die Wirkung noch, indem Sie sich dabei auf den Standpunkt der Gegenseite stellen. Wie können Sie Ihre Angebote noch glaubwürdiger machen? Welche speziellen Dinge würden den anderen wohl gefallen? Würde es ihnen entgegenkommen, den abschließenden Vorschlag selbst zu unterbreiten, oder das Ganze der Öffentlichkeit vorzustellen? Was kann man sich |119|ausdenken, das für die Gegenseite attraktiv ist und Sie gleichzeitig wenig kostet?

Zur Einschätzung einer Wahlmöglichkeit vom Standpunkt der Gegenseite her überlegt man am besten, in welcher Weise die Verhandlungsführer im Falle der Annahme kritisiert würden. Formulieren Sie für sich einige Sätze, mit denen die Gegenseite die von Ihnen gewünschte Entscheidung am heftigsten kritisieren könnte. Dann notieren Sie ein paar Sätze, mit denen die Gegenseite, nun zur eigenen Verteidigung, auf Kritik antworten könnte. Das hilft Ihnen zur Einschätzung der Einschränkungen, unter denen die Gegenseite verhandelt. Und es hilft bei der Entwicklung von Optionen, die gleichermaßen die Interessen der Gegenseite in Rechnung stellt, sodass diese ihrerseits in Ihrem Sinne entscheiden kann. Ein abschließender Test für eine Option besteht darin, sie in Form eines Vorschlags niederzuschreiben, sodass zur Antwort der Gegenseite ein schlichtes »Ja« ausreichend, realistisch und grundlegend für die Zusammenarbeit wäre. Wenn das möglich ist, dann haben Sie das Risiko einer allzu starken Selbstbezogenheit hinreichend reduziert und die Interessen der anderen entsprechend in Ihr Kalkül einbezogen.

In einer komplexen Situation ist kreatives Erfinden eine absolute Notwendigkeit. Das öffnet Türen bei jeder Art von Verhandlung und schafft Übereinkünfte, die beide Seiten zufriedenstellen. Deshalb sollten Sie möglichst viele Optionen produzieren, ehe Sie unter diesen auswählen. Erst erfinden, dann entscheiden. Halten Sie Ausschau nach gemeinsamen Interessen ebenso wie nach unterschiedlichen, die man aber zu beiderseitigem Nutzen verwenden kann. Und trachten Sie danach, der Gegenseite die Entscheidungen zu erleichtern.