|154|Und wenn die anderen nicht mitspielen?

Wenden Sie das Verhandlungs-Judo an

Nun ist das Gespräch über Interessen, Wahlmöglichkeiten und Kriterien ein kluges, wirkungsvolles und friedliches Spiel – was aber, wenn die Gegenseite nicht mitmacht? Möglicherweise legen die anderen ihre Position in unzweideutigen Rahmenbedingungen fest, während Sie über Interessen sprechen. Während Sie sich um die Entwicklung möglicher Übereinkünfte zu beiderseits größtmöglichem Nutzen kümmern, greifen die anderen Ihre Vorschläge mit dem Ziel an, für sich selbst alleine den großen Gewinn herauszuschlagen. Sie gehen das Problem sachbezogen an, die Gegenseite greift Sie persönlich an. Wie können Sie die anderen vom reinen Positionskampf wegbringen, hin zur Beschäftigung mit den Sachinhalten?

Es gibt drei Ansätze, mit denen man die anderen zur Konzentration auf die Inhalte bringen kann. Der erste bezieht sich auf das, was Sie dazu beitragen können. Sie können sich Ihrerseits auf die Sachgehalte konzentrieren statt auf die eingenommenen Positionen. Diese Methode – über die dieses Buch ja handelt – wirkt allgemein ansteckend. Sie öffnet allen, die über Interessen, Optionen und Kriterien sprechen wollen, den Weg zum Erfolg. Tatsächlich kann man ein Spiel auch dadurch ändern, indem man ein neues beginnt.

Hilft das nichts und die Gegenseite feilscht weiter um Positionen, können Sie Zuflucht zu einer zweiten Strategie nehmen – diese konzentriert sich auf die Handlungen der Gegenseite. Sie kontert die grundlegenden Bewegungen beim Feilschen um Positionen, indem sie die Aufmerksamkeit auf die sachliche Ebene lenkt. Diese Strategie nennen wir das Verhandlungs-Judo.

|155|Der dritte Ansatz bezieht sich auf das, was Dritte tun können. Wenn die Gegenseite weder durch sachbezogenes Verhandeln noch durch das Verhandlungs-Judo zum Mitspielen zu bewegen ist, sollten Sie Dritte einbeziehen, die Übung im Umlenken der Diskussion auf Interessen, Optionen und Kriterien haben. Das wahrscheinlich wirkungsvollste Mittel für eine solche dritte Partei bei einem derartigen Unterfangen ist das »Ein-Text-Verfahren«.

Der erste Ansatz – sachbezogenes Verhandeln – wurde bereits dargelegt. In diesem Kapitel geht es um das Verhandlungs-Judo und um das Ein-Text-Verfahren. Das Kapitel schließt mit einem Dialog zwischen einem Mieter und einem Vermieter, der illustrieren soll, wie man eine Partei zum Mitspielen bringt, die das gar nicht will; und zwar mithilfe einer Kombination aus sachbezogenem Verhandeln und Verhandlungs-Judo.

Verhandlungs-Judo

Sobald die Gegenseite eine feste Position einnimmt, sind Sie natürlich versucht, diese Position zu kritisieren und zurückzuweisen. Wenn die anderen Ihren Vorschlag bemäkeln, sind Sie versucht, diesen zu verteidigen und sich auf Ihre Position zurückzuziehen. Wenn Sie angegriffen werden, schreiten Sie zur Gegenattacke. Kurz gesagt: Wenn die anderen kräftig zuschlagen, werden Sie zu einer ebenso kräftigen Antwort neigen.

Aber wenn Sie so reagieren, werden Sie schließlich selbst beim Feilschen um Positionen enden. Weisen Sie die Position der anderen zurück, dann schließen Sie sie darin ein. Verteidigen Sie Ihren eigenen Vorschlag, fesseln Sie sich selbst. Und wenn Sie sich selbst verteidigen, gerät die Verhandlung alsbald auf das Nebengleis persönlicher Angriffe. Sie finden sich plötzlich in einem Teufelskreis von Angriff und Verteidigung und werden eine Menge Zeit und Energie auf nutzlose Kämpfe und Raufereien verschwenden.

Wenn aber Zurückschlagen fruchtlos ist, was hilft dann? Wie kann |156|man die Spirale aus Aktion und Reaktion vermeiden? Ganz einfach: Schlagen Sie eben nicht zurück. Wenn die anderen ihre Position bekräftigen, lassen Sie sie, weisen Sie nichts zurück. Wenn Ihre eigenen Vorstellungen von der Gegenseite angegriffen werden, verteidigen Sie sich nicht. Und wenn Sie persönlich angegriffen werden, gehen Sie nicht zur Gegenattacke über. Durchbrechen Sie den Teufelskreis, indem Sie sich weigern, auf die Aktion mit einer Reaktion zu antworten. Schlagen Sie nicht zurück, sondern gehen Sie einen Schritt zur Seite und lenken Sie den Angriff auf das Problem. Vermeiden Sie, genauso wie beim Judokampf, Ihre Kräfte unmittelbar gegen die Kraft der anderen zu setzen. Nutzen Sie Ihre Wendigkeit, springen Sie zur Seite und lassen Sie den Stoß der anderen ins Leere laufen. Halten Sie nicht gegen die Gewalt der anderen, kanalisieren Sie sie lieber zur Erkundung der Interessen, indem Sie Optionen zu beiderseitigem Nutzen entwickeln und unabhängige Kriterien suchen.

Wie sieht dieses »Verhandlungs-Judo« in der Praxis aus? Wie entgehen Sie dem Angriff und lenken ihn auf das Problem um?

Üblicherweise wird der »Angriff« der Gegenseite aus drei Manövern bestehen: Sie wird ihre eigene Position mit aller Macht vorbringen, sie wird Ihre Vorstellungen angreifen, und sie wird die Auseinandersetzung auf der persönlichen Ebene, also gegen Sie gerichtet, führen. Sehen wir einmal, wie einer, der sachbezogen verhandelt, mit jedem dieser Manöver fertig werden kann.

Greifen Sie nicht die Position der anderen an, werfen Sie lieber einen Blick dahinter

Wenn die Gegenseite ihre Position vorbringt, sollten Sie das weder zurückweisen noch akzeptieren. Nehmen Sie es als eine der möglichen Optionen. Sehen Sie hinter die Position auf die darunter verborgenen Interessen, fahnden Sie nach den Prinzipien, die dadurch sichtbar werden, und überlegen Sie, wie man sich diese zunutze machen könnte.

|157|Nehmen wir an, Sie vertreten eine Gewerkschaft, die für höhere Löhne und für das Alter als einziges Kriterium bei Entlassungen kämpft. Die Firmen haben eine Lohnerhöhung von 4 Prozent angeboten, wollen aber das Recht beibehalten, einseitig über die Entlassungen entscheiden zu können. Nun bohren Sie nach, welche Interessen hinter dieser Position stehen. »Aus welchen Gründen wollen Sie die Tarife nur um 4 Prozent heben?« »Aufgrund welcher Notwendigkeiten glauben Sie, alleine über Entlassungen entscheiden zu müssen?«

Tun Sie so, als wäre jede Position, die die Gegenseite vertritt, ein aufrichtiger Versuch, die Grundbedürfnisse beider Seiten in Betracht zu ziehen; und fragen Sie nach, wie die Gegenseite sich dies vorstellt. Behandeln Sie die Position der Gegenseite als eine mögliche Option und untersuchen Sie sie daraufhin, wie weit sie den Interessen beider Seiten gerecht wird. »Wenn Sie die Löhne generell nur um 4 Prozent anheben wollen, wie sollen wir da die Qualität unserer Arbeitskraft bewahren, wenn in allen anderen Branchen erheblich mehr zugelegt wird?« »Wie können Sie langfristig die guten Arbeiter halten, wenn Sie die Entlassungen willkürlich festlegen? Sicher, Sie sind ein fairer Mann, aber wenn Sie einmal nicht mehr hier sind? Schließlich steht unser Lebensunterhalt und damit das Wohl unserer Familien auf dem Spiel. Wie können wir das einer willkürlichen Entscheidung überlassen?«

Finden Sie die Prinzipien heraus, die der gegnerischen Position zugrunde liegen. »Auf welcher Basis scheint Ihnen eine Lohnerhöhung von 4 Prozent ein faires Angebot? Nehmen Sie andere Betriebe als Vergleichsmaßstab oder die Leistung anderer Branchen?« »Sollen Ihrer Meinung nach zuerst die Arbeiter mit der geringsten Erfahrung entlassen werden oder die mit der größten – die natürlich höhere Gehälter haben?«

Sie können die Aufmerksamkeit auf die Entwicklung von Optionen lenken, indem Sie mit der Gegenseite rein hypothetisch einmal durchsprechen, was passiert, wenn deren Position akzeptiert würde. 1970 interviewte ein amerikanischer Anwalt den ägyptischen Präsidenten Nasser über den arabisch-israelischen Konflikt.

|158|Er fragte Nasser: »Was sollte Ministerpräsidentin Golda Meir Ihrer Auffassung nach tun?«

Nasser: »Ihre Truppen abziehen!«

»Abziehen?«

»Ja, von jedem Quadratmeter arabischen Bodens.«

»Ohne Gegenleistung Ihrerseits?«, fragte der Amerikaner ungläubig.

»Ja. Es ist unser Land. Sie sollte versprechen, dass sie ihre Truppen abzieht«, antwortete Nasser.

Der Amerikaner fragte weiter: »Was würde wohl geschehen, wenn Frau Golda Meir morgen im israelischen Rundfunk verkünden würde: ›Im Namen des israelischen Volkes verspreche ich hiermit, dass wir uns von jedem Quadratmeter des 1967 besetzten Landes zurückziehen: vom Sinai, dem Gaza-Streifen, der West-Bank, aus Jerusalem, den Golan-Höhen. Und ich gebe weiter bekannt, dass die Araber keinerlei Gegenleistung erbringen.‹«

Nasser brach in Lachen aus. »Oh, da hätte sie wohl allerhand Schwierigkeiten in ihrem Land!«

Nasser verstand es, welche unrealistische Option Ägypten hier Israel angeboten hatte, und das mag dazu beigetragen haben, dass er etwas später an demselben Tag einer Feuereinstellung im Abnutzungskrieg zustimmte.

Verteidigen Sie nicht Ihre Vorstellungen, laden Sie die Gegenseite zu Kritik und Ratschlag ein

Eine Menge Zeit wird bei Verhandlungen auf das Kritisieren verwendet. Widersetzen Sie sich dem nicht; im Gegenteil, laden Sie die Gegenseite dazu ein. Fragen Sie nicht, ob die eine oder andere Ihrer Vorstellungen angenommen oder abgelehnt wird – fragen Sie, was daran nicht gut ist. »Was stört Sie an dem Vorschlag derart, dass Sie ihn nicht in Betracht ziehen?« Untersuchen Sie die ablehnenden Urteile der anderen und finden Sie dabei die dahinter liegenden Interessen |159|heraus. Verbessern Sie Ihre Vorstellungen vom gegnerischen Standpunkt aus. Überarbeiten Sie Ihre Ideen im Lichte dessen, was Sie von der Gegenseite erfahren. Auf diese Weise verwandeln Sie die Kritik vom prozeduralen Hindernis zum wesentlichen Bestandteil bei der Entwicklung einer Übereinkunft. »Wenn ich Sie richtig verstanden habe, dann haben Sie gesagt, mehr als 4 Prozent Lohnerhöhung bei insgesamt 750 Beschäftigten sei aus Gründen des Firmenhaushalts nicht möglich. Wenn wir das nun akzeptieren, mit der Maßgabe, dass mögliche Einsparungen an der Gesamtzahl von 750 Beschäftigten als Bonus auf alle dann noch Angestellten umgelegt werden – was würden Sie dazu sagen?«

Kritik kann auch noch in anderer Weise in eine konstruktive Richtung gelenkt werden: Drehen Sie den Spieß um und fragen Sie die Gegenseite, was sie tun würde, wenn sie in Ihrer Position wäre. »Was würden Sie tun, wenn es um Ihre Arbeitsplätze ginge? Unsere Verbandsmitglieder fühlen sich so verunsichert hinsichtlich ihrer Arbeitsplätze und so frustriert über das sinkende Realeinkommen, dass sie schon daran denken, sich künftig von radikalen Gruppen vertreten zu lassen. Was würden Sie denn tun, wenn Sie unseren Verband führen müssten?« Auf diese Weise bringen Sie die Gegenseite dazu, sich auch Ihrer Sicht der Dinge anzunehmen. Dann werden auch die anderen eine Lösung finden wollen, die Ihre Anliegen berücksichtigt. »Ein Teil des Problems ist offenbar: Unsere Arbeiter haben den Eindruck, dass niemand auf sie hört. Könnten wir nicht regelmäßige Treffen zwischen Arbeitern und Firmenleitung arrangieren?«

Gestalten Sie persönliche Angriffe in sachbezogene Auseinandersetzungen um

Wenn die Gegenseite Sie persönlich angreift – wie das häufig geschieht –, dann sollten Sie der Versuchung widerstehen, sich zu verteidigen oder Ihrerseits die Gegenseite anzugreifen. Lehnen Sie sich |160|statt dessen in Ihrem Stuhl zurück und gestatten Sie den anderen, ihren Dampf abzulassen. Hören Sie ihnen zu, zeigen Sie, dass Sie sie verstehen, und lenken Sie danach die persönlichen Angriffe auf eine sachliche Auseinandersetzung mit dem Problem. »Sie sagen, dass ein Streik zeigt, wie wenig wir uns um die Firmenbelange kümmern. Ich ersehe daraus, dass es Ihnen um das Wohl der Firma geht. Sie dürfen sicher sein, dass wir diese Sorge gemeinsam haben. Und darum möchten wir den Ausstand auch so schnell wie möglich beenden, damit wir weiterarbeiten können. Was also können wir gemeinsam unternehmen, damit wir baldigst ein Übereinkommen erreichen?«

Stellen Sie Fragen und nutzen Sie auch die Macht des Schweigens

Beim Verhandlungs-Judo verwendet man zwei grundlegende Mittel. Erstens verwendet man Fragen anstelle von Statements. Statements provozieren Widerstand, Fragen dagegen Problemlösungsvorschläge. Fragen gestatten der Gegenseite, ihre Absichten zu überprüfen, und ermöglichen Ihnen, sie zu verstehen. Sie stellen Herausforderungen dar und leiten die Partner an, sich dem Problem zu stellen. Sie bieten keine Gelegenheit zur Verweigerung und keine Zielscheibe für Angriffe. Fragen kritisieren nicht, sondern erziehen. »Meinen Sie, es wäre für alle besser, wenn sich die Arbeiter am Entscheidungsprozess beteiligt fühlen, oder wenn sie meinen, dass ihre Anliegen nicht berücksichtigt werden, weil man ihnen die Anordnungen einfach diktiert?«

Schweigen ist eine Ihrer besten Waffen. Benutzen Sie es. Wenn die Gegenseite einen unvernünftigen Vorschlag gemacht oder Sie in ungerechtfertigter Weise angegriffen hat, bleiben Sie am besten sitzen und sagen kein Wort.

Wenn Sie eine angemessene Frage gestellt haben und die anderen haben nur unzureichend geantwortet, warten Sie einfach. Die |161|meisten Menschen fühlen sich unbehaglich, wenn alles schweigt, ganz besonders, wenn sie selbst am Wert dessen zweifeln, was sie gerade gesagt haben. Der Verbandssprecher sagt: »Warum sollen die Arbeiter bei Entlassungen nicht mitsprechen dürfen?« Der Delegierte der Firma darauf: »Entlassungen sind ausschließlich Sache der Geschäftsleitung. Gut, die Arbeiter haben natürlich ein Interesse an der Frage der Entlassungen, aber sie haben ja wohl nicht den Überblick darüber, was Not tut. Ich möchte damit sagen.«

Schweigen vermittelt den anderen oft den Eindruck, als sei nun alles festgefahren, und sie fühlen sich irgendwie gedrängt, diese Situation zu überwinden (Ihr Schweigen zu brechen), indem sie doch noch Ihre Frage beantworten oder einen Vorschlag bringen. Am besten machen Sie nach jeder Frage eine Pause. Lassen Sie sie nicht entwischen, indem Sie gleich eine neue Frage stellen oder einen Kommentar zur vorangegangenen abgeben. Sie werden manchmal dann am erfolgreichsten verhandeln, wenn Sie schweigen.

Das Ein-Text-Verfahren

Wahrscheinlich werden Sie Dritte anrufen, wenn Ihre eigenen Versuche, das Spiel vom Feilschen um Positionen zum sachbezogenen Verhandeln umzuwandeln, fehlgeschlagen sind. Das nun entstehende Problem soll durch die einfache Geschichte von einem Ehepaar, das ein Haus zu bauen plant, illustriert werden.

Die Frau stellt sich ein zweigeschossiges Haus mit offenem Kamin und einem Erker vor. Der Mann stattdessen denkt eher an ein modernes Haus im ländlichen Stil mit Hobbyraum und einer Garage, in der man viel lagern kann. Während die beiden miteinander verhandeln, gibt es eine Menge Fragen, etwa: »Wie stellst du dir das Wohnzimmer vor?« und: »Möchtest du das unbedingt so haben?« Indem jeder dem anderen ständig antwortet, kommen am Ende zwei getrennte und voneinander verschiedene Pläne heraus, die völlig festgelegt sind. Nun beauftragen beide jeweils einen Architekten, zuerst |162|einen ganz allgemeinen und danach einen detaillierteren Plan auszuarbeiten – und graben sich dabei immer mehr in ihre jeweilige Position ein. Wenn die Frau ihren Mann bittet, doch nicht so unflexibel zu sein, reagiert er damit, dass er seine Garage um zwanzig Zentimeter kleiner projektieren lässt. Umgekehrt beantwortet seine Frau die Bitte um Konzessionen damit, dass sie mit dem Wegfall einer Säulenveranda einverstanden ist – die aber sowieso auf ihrem Plan gar nicht eingezeichnet war. Jeder kämpft nun um seine eigene Vorstellung. Dabei werden Gefühle verletzt, die Kommunikation wird immer schwieriger. Im Grunde will keiner Zugeständnisse machen, denn das würde zu immer weiteren Forderungen führen.

Das ist ein klassisches Beispiel für das Feilschen um Positionen. Wenn Sie nun den Prozess nicht hinleiten können zu sachbezogenen Lösungen, vermag vielleicht eine dritte Partei zu helfen. Ein Vermittler kann leichter als die direkt Beteiligten die Menschen von den Problemen trennen und die Diskussion auf Interessen und Optionen lenken. Der oder die Dritte kann darüber hinaus unparteiische Grundlagen für die Lösung von Differenzen vorschlagen. Er oder sie kann auch das Ausdenken von Lösungsvorschlägen von den Entscheidungen abtrennen, die Anzahl der für die Übereinkunft notwendigen Entscheidungsvorgänge reduzieren und beiden Parteien zum Verständnis der Folgen aus der jeweiligen Entscheidung verhelfen. Ein Vorgehen, das dies alles umfasst, ist unter dem Begriff »Ein-Text-Verfahren« bekannt.

Bei der Verhandlung um die Hausentwürfe zwischen Ehefrau und Ehemann wird nun ein unabhängiger Architekt dazugerufen. Man zeigt ihm den letzten Stand der Pläne, der die gegenwärtigen Positionen der beiden darstellt. Nun wird sich nicht jeder klug verhalten, den man als Dritten dazunimmt. Mancher Architekt wird beipielsweise die beiden um nähere Erklärungen ihrer jeweiligen Positionen bitten, sie zu einer ganzen Reihe von Konzessionen drängen – und legt sie damit zu immer stärkerer Fixierung auf spezielle Positionen fest. Das Ein-Text-Verfahren fordert stattdessen ein völlig anderes Verhalten. Der Architekt wird die Eheleute nicht nach |163|ihren Positionen befragen, sondern nach ihren Interessen: nicht wie groß das Erkerfenster werden soll, sondern warum die Frau es gerne haben möchte. »Soll es Morgen- oder Abendsonne bekommen? Soll es zum Hinein- oder zum Hinausschauen sein?« Er fragt dann den Mann: »Wozu brauchen Sie eine Garage? Was möchten Sie denn lagern? Was wollen Sie mit dem Hobbyraum? Darin lesen? Fernsehen? Freunde empfangen? Wann wollen Sie den Hobbyraum benutzen? Tagsüber? Am Wochenende? Am Abend?« Und so weiter.

Der Architekt macht deutlich, dass er keinen der beiden zur Aufgabe von Positionen auffordert. Eher schon wendet er sich den Möglichkeiten für eine Empfehlung an die beiden zu – aber auch das ist nicht sehr wahrscheinlich. In dieser Phase versucht er vor allem Informationen über die Bedürfnisse und Interessen der beiden zu erhalten.

Danach entwirft der Architekt eine Liste dieser Anliegen beider Ehepartner (»Morgensonne, offener Kamin, bequemer Platz zum Lesen, Raum für einen kleinen Laden, Lagerfläche für einen Schneeräumer und einen Mittelklassewagen« usw.). Nacheinander bittet er beide, die Liste kritisch durchzusehen und zu ergänzen oder zu verbessern. Konzessionen zu machen fällt immer schwer; kritisieren ist leichter.

Einige Tage später kommt der Architekt wieder und hat einen groben Entwurf mitgebracht. »Ich selbst bin noch nicht recht zufrieden damit, aber bevor ich weitermache, hätte ich gerne Ihre Kritik dazu.« Der Mann sagt dann etwa: »Was mir daran nicht gefällt? Also zuerst, das Badezimmer ist zu weit vom Schlafraum entfernt. Und für meine Bücher habe ich wohl auch nicht genug Platz. Und wo sollen Gäste hier übernachten?« Danach befragt der Architekt auch die Frau nach ihren Einwänden zu diesem Erstentwurf.

Kurze Zeit später kommt der Architekt wieder, mit einem zweiten Vorschlag, und wieder bittet er um Kritik. »Ich habe die Sache mit dem Badezimmer und mit den Büchern zu lösen gesucht, und die Anregung aufgenommen, dass man das separate Zimmer auch mal als Gästezimmer nutzt. Was meinen Sie dazu?« Je mehr der Plan |164|Gestalt annimmt, um so mehr wird jeder der Ehepartner die neuen Lösungsvorschläge im Zentrum sehen, und nicht die einen oder anderen unwichtigen Details. Die Frau möchte zum Beispiel sicher sein, dass der Architekt ihre wichtigsten Bedürfnisse voll versteht – ohne dass sie deshalb nachgeben muss. Das Selbstwertgefühl keines der Beteiligten – auch nicht des Architekten – ist an den Plan gebunden. Die Ausarbeitung des bestmöglichen Interessenausgleichs im Rahmen der finanziellen Möglichkeiten ist dabei völlig getrennt von den späteren Entscheidungen und somit frei von der Angst vor übereilter Bindung. Frau und Mann müssen ihre Positionen nicht räumen, aber nun sitzen sie nebeneinander, zumindest symbolisch, und kritisieren gemeinsam die Pläne, während diese Form annehmen, und helfen dem Architekten bei der Vorbereitung einer möglichen späteren Empfehlung.

Das geht dann so weiter, ein dritter Plan entsteht, ein vierter, ein fünfter. Wenn der Architekt dann eines Tages merkt, dass Verbesserungen nicht mehr möglich sind, sagt er: »Das ist das Beste, was ich erarbeiten konnte. Ich habe Ihre verschiedenen Interessen nach bestem Können unter ein Dach zu bringen versucht. Vieles habe ich durch übliche architektonische und bautechnische Verfahren gelöst, und nach meinem Fachurteil ist das das Beste. Hier haben Sie alles. Ich würde empfehlen, dass Sie sich für diesen Plan entscheiden.«

Nun braucht jeder der beiden Ehepartner nur eine einzige Entscheidung zu treffen: Ja oder Nein. Sie wissen jetzt genau, wozu sie sich entscheiden. Sie können ihr jeweiliges Ja auch von dem Ja des anderen Partners abhängig machen. Das Ein-Text-Verfahren wendet die Verhandlung nicht ab vom Feilschen um Positionen, sondern vereinfacht in erheblichem Maß auch den Prozess, Wahlmöglichkeiten zu entwickeln und eine Entscheidung zu treffen.

Wer könnte nun in Ihren Verhandlungen die Rolle des Architekten spielen? Sie können beispielsweise eine dritte Partei zur Vermittlung einschalten. Oder etwa bei Verhandlungen mit mehr als zwei Parteien könnte ein Teilnehmer der natürliche »Dritte« sein, wenn sein Hauptinteresse mehr im Zustandekommen einer Einigung |165|überhaupt und weniger in der Gestaltung der konkreten Bedingungen liegt.

Bei vielen Verhandlungen können Sie selbst dieser Dritte sein. Nehmen wir an, Sie seien Vertreter einer Kunststofffirma, die mit einem Großhersteller von Plastikflaschen über einen umfangreichen Auftrag verhandelt. Der Kunde wünscht dabei ein spezielles Material, das nur für ihn gefertigt wird, aber die von Ihnen vertretene Firma sträubt sich, die dafür notwendigen Geräte anzuschaffen. Ihre Aufgabe besteht dann eher darin, eine Übereinkunft zwischen Ihrem Kunden und der Produktionsleitung Ihrer Firma herzustellen, als die Bedingungen auszuhandeln. Oder nehmen wir an, Sie sind Rechtsberater eines Abgeordneten, dem es eher um die Verabschiedung eines Bewilligungsgesetzes geht als um die Frage, ob dabei zehn oder elf Millionen bewilligt werden. Oder nehmen wir an, Sie sind Manager und haben eine Streitfrage zwischen zwei Mitarbeitern zu entscheiden. Sie müssen sich eher um eine Entscheidung kümmern, mit der beide leben und weiter arbeiten können, als darum, welche Alternative am Ende zum Tragen kommt. In jedem dieser Fälle mag es, auch wenn Sie unmittelbar aktiv Beteiligter sind, in Ihrem vollen Interesse liegen, sich als Vermittler zu engagieren und die Ein-Text-Verfahrensweise anzuwenden. Bilden Sie das Bindeglied in Ihrer eigenen Verhandlung.

Der vielleicht berühmteste Gebrauch vom Ein-Text-Verfahren wurde von den Vereinigten Staaten in Camp David im September 1978 bei der Vermittlung zwischen Ägypten und Israel gemacht. Die USA hörten sich beide Seiten an, entwickelten Entwürfe, an die noch niemand gebunden war, bis die Vermittler sahen, dass eine weitere Verbesserung nicht mehr möglich war. Nach dreizehn Tagen und dreiundzwanzig Entwürfen war der Text zur Empfehlung reif. Präsident Carter gab die Empfehlung, Israel und Ägypten nahmen an. Für ein fast mechanisches Verfahren zur Beschränkung der Anzahl notwendiger Entscheidungen, zur Reduzierung der Unsicherheiten bei jeder dieser Entscheidungen und zur Vorbeugung gegen wachsendes Gefangensein in den eigenen Positionen hat dieses Verfahren Bemerkenswertes geleistet.

|166|Das Ein-Text-Verfahren ist bei zweiseitigen (bilateralen) Verhandlungen mit einem Vermittler eine große Hilfe. Aber auch bei multilateralen Verhandlungen kann es Bedeutendes zustande bringen. Hundertfünfzig Nationen zum Beispiel können nicht auf konstruktive Weise hundertfünfzig verschiedene Vorschläge diskutieren. Sie können auch nicht auf Konzessionen hinarbeiten, die wiederum von jedem der Beteiligten abhängen. Man braucht dazu eine Methode zur Vereinfachung des Entscheidungsprozesses. Das Ein-Text-Verfahren dient dazu.

Sie brauchen von niemandem eine Zustimmung, wenn Sie damit beginnen. Bereiten Sie einfach einen Vorschlag vor und erbitten Sie Kritik. Auf diese Weise ist es wiederum möglich, ein Spiel einfach dadurch zu verändern, dass Sie ein neues beginnen. Wenn eine Partei nicht mit Ihnen direkt sprechen will (oder umgekehrt), kann ein Dritter oder eine dritte Partei den Entwurf herumreichen.

Bringen Sie die anderen zum Mitspielen: Die Auseinandersetzung zwischen der Immobilienfirma Jones und Frank Turnbull

Das folgende authentische Beispiel einer Verhandlung zwischen einem Vermieter und einem Mieter soll Ihnen einen Eindruck davon geben, wie man mit einem Gegenüber umgeht, der sich gegen sachbezogenes Verhandeln sperrt. Es illustriert auch, was es heißt, ein Spiel durch den Start eines neuen Spiels abzuändern.

Der Fall: Frank Turnbull mietete im März eine Wohnung von der Immobilienfirma Jones für 600 Dollar monatlich. Als im Juli Turnbull und sein Zimmergenosse Paul ausziehen wollten, erfuhren sie, dass die Wohnung der Mietpreisbindung unterlag. Die erlaubte Miete lag bei höchstens 466 Dollar monatlich – also 134 Dollar weniger, als sie bezahlt hatten.

Turnbull rief, ärgerlich über diese Überteuerung, Frau Jones von der Immobilienfirma an, um mit ihr über die Sache zu sprechen. Frau |167|Jones war zunächst unzugänglich, fast feindselig. Sie behauptete im Recht zu sein, und warf Turnbull Undankbarkeit und Erpressung vor. Nach einer langen Reihe von Verhandlungen wurde jedoch die Differenz an Turnbull und seinen Zimmerkameraden zurückerstattet. Am Ende war der Ton von Frau Jones wesentlich ruhiger und eher entschuldigend.

Während der gesamten Zeit benutzte Turnbull die Methode des sachbezogenen Verhandelns. Im Folgenden führen wir eine Reihe von Veränderungen an, die sich im Laufe der Auseinandersetzungen ergaben. Jede dieser Wandlungen wird eingeleitet von einer Grundformel, die ein sachbezogen Verhandelnder in ähnlichen Situationen verwenden sollte. Dann folgt jeweils die Analyse der Gründe, die zu dieser Veränderung führten.

»Korrigieren Sie mich, wenn etwas falsch ist«

Turnbull: Frau Jones, eben erfahre ich – bitte korrigieren Sie mich, wenn etwas falsch ist –, dass unsere Wohnung der Mietpreisbindung unterliegt. Wir haben gehört, dass die gesetzlich vorgeschriebene Höchstmiete 466 Dollar im Monat ist. Sind wir da falsch informiert?

 

Analyse: Grundlage des sachbezogenen Verhandelns ist das Offenbleiben und Sich-überzeugen-Lassen durch objektive Faktoren und Prinzipien. Turnbull gibt nun die objektiven Fakten unter Vorbehalt weiter und setzt damit einen Dialog mit Frau Jones in Gang, indem er um Korrektur bittet. Er animiert sie, an dem Prozess teilzuhaben, indem sie den objektiven Tatsachen entweder zustimmt oder diese zurechtrückt. Dieser Spielzug macht sie zu zwei Kollegen, die Tatsachen feststellen wollen. Hätte Turnbull die Fakten einfach als solche wiedergegeben, hätte sich Frau Jones bedroht und in die Defensive gedrängt gefühlt. Sie hätte möglicherweise die Tatsachen einfach geleugnet. Die Verhandlungen hätten nicht konstruktiv begonnen.

|168|Ist Turnbull wirklich einem Irrtum aufgesessen, so macht seine Bitte um Korrektur eine Richtigstellung von vornherein leichter. Würde er Frau Jones nur einfach sagen, so und so sehe die Sache aus, und er würde erfahren, dass das nicht stimmt, so würde er sein Gesicht verlieren. Und in Zukunft würde Frau Jones ein Fragezeichen hinter alles setzen, was er sagt; mit ihr zu verhandeln wäre von da an schwierig.

Diese Offenheit gegenüber Korrektur und Überzeugung ist ein Eckpfeiler des sachbezogenen Verhandelns. Die andere Seite wird Ihren Kriterien und den von Ihnen eingebrachten objektiven Tatsachen gegenüber nur dann offen sein, wenn Sie sich selbst der Gegenseite offen präsentieren.

»Wir erkennen durchaus an, was Sie für uns getan haben«

Turnbull: Paul und ich meinen, dass sie uns wirklich einen Gefallen mit der Vermietung dieser Wohnung getan haben. Es war sehr nett von Ihnen, dass Sie da für uns Zeit und Mühe aufgewendet haben, und das erkennen wir an.

 

Analyse: Persönliche Anerkennung gegenüber der Person auf der anderen Seite ist entscheidend für die Trennung der Menschen von den Problemen – indem man die Beziehungen von den Sachgehalten scheidet. Turnbull betont seine Wertschätzung für die guten Taten der Frau Jones und drückt dabei tatsächlich Folgendes aus: »Wir haben nichts gegen Sie persönlich. Wir sind der Meinung, dass Sie großzügig sind.« Er stellt sich damit auf ihre Seite. Er vermeidet jede Bedrohung ihres Selbstwertgefühls.

Lob und Anerkennung fördern auch weiteres Dienlichsein des Betreffenden. Frau Jones möchte nach diesem Lob rein emotional Turnbulls Anerkennung weiter behalten. Darum wird sie in der weiteren Verhandlung aufgeschlossener sein, denn nun hat sie etwas zu verlieren.

|169|»Alles, was wir wollen, ist Fairness«

Turnbull: Wir möchten nur sicher sein, dass wir nicht mehr bezahlt haben, als wir müssen. Wenn wir davon überzeugt sind, dass die bezahlte Miete fairerweise der abgewohnten Zeit entspricht, ist alles in Ordnung und wir ziehen aus.

 

Analyse: Hier stellt sich Turnbull auf ein Prinzip und zeigt seine Absicht, davon auszugehen. Man kann ihn nur auf der Basis dieses Kriteriums überzeugen. Gleichzeitig lässt er Frau Jones seine Offenheit gegenüber Überzeugungsarbeit erkennen – sofern diese das Prinzip anerkennt. Daher hat sie kaum andere Möglichkeiten, als mit ihm über Interessen zu verhandeln. Turnbull nimmt hier nicht nur seinen prinzipienbezogenen rechtschaffenen Standpunkt mit aller zur Verfügung stehenden Kraft ein: Nicht nur sein Ziel ist sachbezogen, sondern auch die Wege, die er einschlägt. Sein Ziel, so erklärt er, ist ein fairer Ausgleich zwischen der bezahlten Miete und der im Appartement gewohnten Zeit. Wenn er davon überzeugt ist, zieht er aus. Wenn zu viel bezahlt wurde, ist es nur fair, wenn er in der Wohnung bleibt, bis die Miete und die abgewohnte Zeit ausgeglichen sind.

»Wir wollen unsere Einigung nicht auf Eigennutz und Macht aufbauen, sondern auf einer sachlichen Grundlage«

Frau Jones: Lächerlich, dass Sie Fairness ins Spiel bringen. Denn tatsächlich sagen Sie doch, dass Sie und Paul Geld von uns wollen, und dass Sie Vorteile aus der Tatsache ziehen wollen, dass Sie noch immer in der Wohnung sind. Darüber bin ich verärgert. Wenn es nach mir ginge, würden Paul und Sie heute aus der Wohnung hinausfliegen.

Turnbull (unterdrückt unverhohlen seinen Ärger): Ich muss mich wohl nicht deutlicher ausdrücken. Natürlich wäre es schön, wenn Paul und ich Geld bekommen würden. Natürlich könnten wir auch versuchen, so lange in |170|der Wohnung zu bleiben, bis Sie uns herauswerfen lassen. Aber das ist doch nicht der Punkt, Frau Jones.

Für uns geht es weniger um die paar Dollar, sondern mehr darum, dass wir uns fair behandelt sehen wollen. Keiner fühlt sich gern betrogen. Wenn wir uns darum schlagen, wer die Macht hat und wann wir ausziehen, müssen wir vor Gericht gehen, verlieren eine Menge Zeit und Geld, und das Ganze endet mit Kopfschmerzen. Für Sie übrigens auch. Wer mag das schon?

Nein, Frau Jones, wir wollen dieses Problem fair und aufgrund entsprechender Kriterien behandeln und nicht als Frage von Macht oder Eigennutz.

 

Analyse: Frau Jones lehnt sachbezogenes Verhalten ab – sie hält es für eine Scharade. Für sie ist das alles eine Frage der Willenskraft, und ihr Wille ist es, Turnbull und seinen Kameraden so bald wie möglich vor die Türe zu setzen. Beinahe hätte Turnbull darüber seine Geduld verloren – und damit die Kontrolle über die Verhandlung. Am liebsten würde er zurückschlagen: »Sie wollen uns rauswerfen. Dann gehen wir vor Gericht. Und wir werden dafür sorgen, dass Sie Ihre Lizenz verlieren.« Dann würde die Verhandlung abgebrochen. Turnbull würde eine Menge Zeit, Energie und Gemütsruhe verlieren. Aber statt hart zu reagieren, behält Turnbull doch noch die Geduld und wendet die Verhandlung wieder aufs Problem. Ein gutes Beispiel für Verhandlungs-Judo: Er weicht dem Angriff von Frau Jones aus, macht ihre falschen Vorstellungen dafür verantwortlich und sucht sie von seinen aufrichtigen Sachinteressen zu überzeugen. Seine eigenen Interessen und auch seinen Rechtsvorteil verbirgt er dabei keineswegs; im Gegenteil, beides bringt er ausdrücklich ins Spiel. Wenn er sie erst einmal zur Geltung gebracht hat, kann er sie im Weiteren aus dem Streit heraus halten.

Gleichzeitig betont Turnbull, dass das sachbezogene Verhalten sein Grundprinzip ist – nach dem er stets handelt. Und er bezieht all das nicht auf hehre Motive – die immer suspekt erscheinen müssen –, sondern schlicht auf das Eigeninteresse.

|171|»Vertrauen steht hier gar nicht zur Debatte«

Frau Jones: Trauen Sie mir nicht? Nach all dem, was ich für Sie getan habe?

Turnbull: Frau Jones, was Sie für uns getan haben, schätzen wir sehr wohl. Aber Vertrauen steht hier gar nicht zur Debatte. Hier geht es um Grundsätzliches. Haben wir mehr bezahlt als erlaubt ist? Nach welchen Vorstellungen sollten wir das Ihrer Meinung nach entscheiden?

 

Analyse: Frau Jones sucht Turnbull in die Ecke zu drängen. Entweder bleibt er hartnäckig, dann sieht es aus, als misstraue er der Frau, oder er zeigt, dass er ihr traut, und gibt nach. Aber Turnbull entschlüpft dieser Falle, indem er zunächst noch einmal seine Anerkennung ausdrückt und dann feststellt, dass die Frage des Vertrauens sich hier nicht stellt. Während er seine Hochschätzung für Frau Jones wiederholt, bekräftigt er gleichzeitig, dass er auf dem Sachbezug besteht. Mehr noch: Turnbull weicht der Frage des Vertrauens nicht aus, aber er lenkt die Diskussion ganz ausdrücklich zur Sache zurück, indem er Frau Jones fragt, welche Vorstellungen nach ihrer Meinung relevant wären.

Turnbull bleibt sachlich, ohne gegen Frau Jones irgendwelche Vorwürfe zu erheben. Er fragt nicht: »Haben Sie einen Vorteil aus uns gezogen?«, sondern fragt unpersönlich: »Haben wir mehr bezahlt als hätte sein müssen?« Selbst wenn er ihr misstraut wäre es eine schlechte Strategie, sie das fühlen zu lassen. Sie käme in die Defensive und würde sich ärgerlich auf eine harte Position versteifen oder die Verhandlungen insgesamt abbrechen. Sätze wie »Das ist nicht eine Frage des Vertrauens« sind sehr hilfreich, wenn man Ablenkungsmanöver wie das von Frau Jones umgehen will.

»Kann ich Ihnen einige Fragen über die mir zugänglichen Fakten stellen?«

Turnbull: Kann ich Ihnen einige Fragen über die mir zugänglichen Fakten stellen?

|172|Steht die Wohnung tatsächlich unter Mietpreiskontrolle?

Ist die Höchstmiete wirklich 466 Dollar im Monat?

Paul fragt mich, ob wir aufgrund des Mietvertrags alle zusammen das Gesetz übertreten haben?

Hat jemand Paul bei Vertragsunterzeichnung darüber informiert, dass die Wohnung unter Mietpreiskontrolle steht und dass die Höchstmiete 134 Dollar niedriger als die von ihm akzeptierte ist?

 

Analyse: Die Feststellung von Tatsachen kann bedrohlich wirken. Wo immer möglich, versuchen Sie lieber zu fragen.

Turnbull hätte auch erklären können: »Die gesetzliche Miete ist 466 Dollar. Sie haben damit das Gesetz übertreten. Schlimmer noch, Sie haben auch uns in den Gesetzesbruch hineingezogen, ohne uns etwas davon zu sagen.« Frau Jones hätte das wahrscheinlich zu einer harten Reaktion veranlasst. Sie hätte es vorwiegend als verbalen Angriff aufgefasst, mit dem Turnbull Punkte sammeln wollte.

Da er aber jede Definition als Frage verkleidet, kann Frau Jones am Gespräch teilnehmen, diese Informationen aufnehmen, abschätzen und akzeptieren oder zurückweisen. Turnbull lässt ihr die gesamte Information genau so zukommen – nur in einer viel weniger bedrohenden Art und Weise. Er mindert die Drohung noch weiter, indem er eine spezielle Frage auf seinen nicht anwesenden Zimmerkollegen bezieht.

Im Endeffekt lenkt Turnbull Frau Jones hin zu einer Basis von nichtstrittigen Fakten, auf der dann eine sachbezogene Lösung aufgebaut werden kann.

»Aufgrund welcher Kriterien haben Sie das gemacht?«

Turnbull: Mir ist nicht klar, warum Sie 600 Dollar monatlich verlangt haben. Welche Gründe hatten Sie für eine derart hohe Miete?

 

Analyse: Wer sachbezogen verhandelt, akzeptiert weder die Position seines Gegenüber noch weist er sie zurück. Damit bleibt der Dialog |173|sachlich. Turnbull fragt Frau Jones nach den Gründen für ihre Position. Er fragt nicht, ob sie überhaupt irgendwelche Gründe dafür hatte. Er setzt voraus, dass es gute Gründe gibt. Solch schmeichelhafte Annahme lässt die Gegenseite eifrig nach möglichen Gründen suchen, auch wenn gar keine vorliegen; und wieder bleibt die Verhandlung sachbezogen.

»Wir wollen einmal sehen, ob ich Sie richtig verstehe«

Turnbull: Wir wollen einmal sehen, ob ich Sie richtig verstehe. Sie meinen, die Miete sei so hoch, weil Sie eine Menge Reparaturen seit der letzten Mietpreisfestsetzung in der Wohnung ausgeführt haben. Es war Ihnen nicht der Mühe wert, die Mietpreisbehörde über den Wertzuwachs wegen der paar Monate, die Sie an uns vermietet haben, zu befragen.

Sie haben, sagen Sie, die Wohnung eigentlich nur Paul zu Gefallen vermietet. Und nun befürchten Sie, dass wir ungerechte Vorteile aus der Angelegenheit ziehen wollen und Geld für unseren Auszug von Ihnen verlangen. Habe ich etwas ausgelassen oder falsch verstanden?

 

Analyse: Sachbezogenes Verhandeln setzt gute Verständigung voraus.

Bevor Turnbull Frau Jones antwortet, wiederholt er in positiven Redewendungen, was er von ihr gehört hat. Damit versichert er sich, dass er sie wirklich richtig verstanden hat.

Fühlt sich Frau Jones verstanden, kann sie das Problem nun beruhigt weiterdiskutieren. Sie kann nun seine Argumente nicht damit abweisen, dass sie angeblich nicht all das einbeziehen, was Frau Jones an Informationen besitzt. Daher wird sie nun eher zuhören und besser aufnehmen. Indem er ihren Standpunkt zusammenfasst beginnt Turnbull ein kooperatives Spiel, das beide über sein Verständnis der Tatsachen versichert.

|174|»Wann kann ich Sie wieder aufsuchen?«

Turnbull: Ich glaube, dass ich Ihren Standpunkt jetzt verstanden habe. Ich würde jetzt gern mit meinem Mitbewohner sprechen – und ihm das auseinandersetzen. Kann ich Sie morgen wieder aufsuchen?

 

Analyse: Ein guter Verhandlungspartner entscheidet nur selten auf der Stelle. Der psychische Druck, nett zu sein und nachzugeben ist dann zu groß. Etwas Zeit und etwas Abstand helfen dabei, die menschlichen von den sachlichen Problemen getrennt zu halten.

Ein guter Verhandelnder hat schon vor Gesprächsbeginn einen glaubwürdigen Grund bereit, um zu gehen, wann er will. Ein derartiger Aufbruchsgrund darf aber nicht Passivität oder Entscheidungsunfähigkeit andeuten. Turnbull zeigt hier, dass er genau weiß, was er tut, und er vereinbart gleichzeitig, dass er die Verhandlungen zu einer bestimmten Zeit fortsetzen wird. Er legt dabei nicht nur Entschiedenheit an den Tag, sondern beweist auch seine Kontrolle über den Verlauf der Verhandlung.

Ist er dann weg vom Verhandlungsort, kann er seine neuen Informationen überprüfen und seinen »Auftraggeber« konsultieren, in diesem Falle Paul. Er kann über die Entscheidung nachdenken und sich versichern, dass er nichts aus den Augen verloren hat.

Wenn man zu lange am Verhandlungstisch kleben bleibt, ist das mitunter nicht zuträglich für das sachbezogene Verhandeln. Kommt Turnbull dann mit neuen Lösungsvorschlägen zurück, kann er nett zu Frau Jones sein, ohne in der Sache weich zu werden.

»Ich möchte Sie auf Schwierigkeiten hinweisen, die für mich entstehen, wenn ich Ihrem Gedankengang folge«

Turnbull: Ich möchte Sie darauf hinweisen, dass ich mit einigen Ihrer Begründungen für die 134 Dollar Mehrpreis Schwierigkeiten habe. Der eine Grund waren die Reparaturen und die Verschönerungen der Wohnung. |175|Die Mietpreisbehörde sagte mir nun, dass das Verschönerungen für mehr als 15 000 Dollar sein müssten, wenn 134 Dollar pro Monat Steigerung gerechtfertigt wären. Wie viel haben Sie denn für die Verschönerungen ausgegeben?

Ich muss zugeben, dass das nicht nach Wertsteigerungen von 15 000 Dollar aussieht, so wie Paul und ich die Sache einschätzen. Das Loch im Linoleum, das Sie ausbessern wollten, wurde niemals repariert, auch nicht das im Wohnzimmerboden. Die Garderobe brach immer wieder herunter. Und das sind nur einige der Mängel und Defekte, die wir gefunden haben.

 

Analyse: Beim sachbezogenen Verhandeln sollten Sie zuerst alle Ihre Gründe nennen, bevor Sie einen Vorschlag machen. Wenn Sie Ihre Entscheidungsprinzipien erst nachher einbringen, erschienen diese nicht als die objektiven Kriterien, die jeder Vorschlag erfüllen sollte – sondern nur noch als Rechtfertigungen für eine willkürliche Position.

Turnbull zeigt durch die Darlegung seiner Gründe zu Beginn, dass er gegenüber überzeugender Argumentation offen ist und weiß, dass es notwendig ist, Frau Jones zu überzeugen. Hätte er zuerst seinen Vorschlag unterbreitet, hätte sich Frau Jones wahrscheinlich kaum mehr die Mühe gemacht, den dann folgenden Gründen zuzuhören. Sie wäre mit ihren Gedanken woanders gewesen und hätte wohl darüber nachgedacht, was sie gegen den Vorschlag einwenden und welche Gegenvorschläge sie machen kann.

»Eine faire Lösung wäre möglicherweise ...«

Turnbull: Wenn man all das in Betracht zieht, was wir besprochen haben, könnte eine faire Lösung für mich und Paul sein, dass wir das über den gesetzlichen Mietpreis hinaus bezahlte Geld zurückerstattet bekommen. Fänden Sie das auch fair?

 

Analyse: Turnbull stellt den Vorschlag nicht als seine Vorstellung hin, sondern als eine faire Wahlmöglichkeit, die sie beide in Betracht ziehen sollten. Er behauptet nicht, dass es die einzig faire Lösung |176|wäre, aber dass es eine faire Lösung sei. Er wird konkret, ohne sich deshalb in einer bestimmten Position einzugraben und Ablehnung zu provozieren.

»Was geschieht, wenn wir uns einigen ... was, wenn nicht?«

Turnbull: Wenn Sie und ich uns jetzt einigen, ziehen Paul und ich sofort aus. Der Mann von der Mietpreisbehörde hat vorgeschlagen, dass wir, wenn wir zu keiner Übereinkunft kommen, in der Wohnung bleiben und die Miete zurückhalten und/oder Sie auf Rückzahlung, Schadenersatz und gesetzliche Nebenforderungen verklagen. Paul und ich sträuben uns sehr, diesen Weg einzuschlagen. Wir sind zuversichtlich, dass wir mit Ihnen die Sache fair und auch zu Ihrer und unserer Zufriedenheit lösen können.

 

Analyse: Turnbull will Frau Jones das Ja zu seinem Vorschlag leicht machen. So beginnt er damit, dass nur das Einverständnis von ihr vonnöten ist, um das Problem zu lösen.

Der kniffligste Teil der Botschaft, die er da überreicht, ist die Alternative – was geschieht, wenn man nicht zur Übereinkunft gelangt. Wie kann er das klarmachen, damit sie es in ihre Entscheidung einbezieht, ohne die Verhandlungen zu gefährden? Er gründet die Alternative auf einen Sachbezug, der sich auf eine juristische Autorität bezieht – den Mann von der Mietpreisbehörde. Damit kann er sich persönlich von dem Vorschlag distanzieren. Er muss auch nicht einen solchen Schritt definitiv ankündigen. Stattdessen bleibt dies als Möglichkeit im Raum und betont gleichzeitig seine Abneigung gegenüber jeglichem drastischen Schritt. Schließlich bekräftigt er noch seine Zuversicht, dass ein beiderseitig zufrieden stellendes Übereinkommen erreicht wird.

Turnbulls Beste Alternative zur Verhandlungsübereinkunft ist wahrscheinlich weder das Verbleiben in der Wohnung noch der Gang zum Gericht. Er und Paul haben bereits eine andere Wohnung gemietet und würden daher besser sofort ausziehen. Ein Prozess |177|wäre schwierig, und selbst wenn sie gewinnen würden, wäre es kaum möglich, das Geld einzutreiben. Turnbulls Beste Alternative ist wahrscheinlich wirklich, auszuziehen und die zu viel gezahlten 670 Dollar abzuschreiben. Seine Beste Alternative ist schlechter als Frau Jones denkt, und darum gibt Turnbull sie auch nicht preis.

»Wir richten uns ganz nach Ihnen«

Frau Jones: Wann wollen Sie denn ausziehen?

Turnbull: Wenn wir uns über die angemessene Miete für die Wohnung geeinigt haben, würden wir uns gern ganz nach Ihnen richten. Wann würde es Ihnen denn am besten passen?

 

Analyse: Turnbull spürt die Möglichkeit zum gemeinsamen Vorteil und zeigt daher seine Bereitschaft, auch auf die Interessen von Frau Jones einzugehen. Wie es aussieht, haben er und Frau Jones das gemeinsame Interesse, dass Turnbull so bald wie möglich auszieht.

Die Einbeziehung ihrer Interessen in die Übereinkunft fördert nicht nur ihre Bereitschaft dazu, sondern gestattet ihr auch, ihr Gesicht zu wahren. Einerseits kann sie ein gutes Gefühl bei der Einwilligung in ein faires Abkommen haben, auch wenn es ihr Geld kostet. Andererseits kann sie sich sagen, dass sie auf diese Weise die Mieter sehr schnell aus der Wohnung bekommen hat.

»Es war uns eine Freude, mit Ihnen zu verhandeln«

Turnbull: Wir schätzen sehr, Frau Jones, was Sie alles für uns getan haben und ich bin sehr erfreut, dass wir auch dieses letzte Problem freundlich und gütlich gelöst haben.

Frau Jones: Vielen Dank, Herr Turnbull. Alles Gute!

 

Analyse: Turnbull beendet die Verhandlung mit einer abschließenden versöhnlichen Geste gegenüber Frau Jones. Da sie das Problem erfolgreich |178|behandelt haben, und zwar unabhängig von ihrer persönlichen Beziehung, fühlt sich keiner von ihnen betrogen, und keiner wird wohl die Übereinkunft unterlaufen oder brechen. Eine gute Beziehung kann damit auch in Zukunft erhalten bleiben.

Ob Sie sachbezogen verhandeln oder das Verhandlungs-Judo benutzen, wie hier Frank Turnbull, oder ob Sie eine dritte Partei in den Verhandlungsprozess einbeziehen – das Ergebnis bleibt gleich: Normalerweise können Sie die Gegenseite dazu bringen, beim sachbezogenen Verhandeln mitzuziehen, auch wenn sie auf den ersten Blick ganz und gar nicht dazu bereit zu sein scheint.