Jahr Zwei, 28. Oktober, Nachmittag II

»Was passiert jetzt?«, fragte der Marschall.

»Na ja, sie sterben«, antwortete Doktor Newark nüchtern und hob die Schultern.

»Das sehe ich auch. Und dann?«

»Abwarten. Wenn unser Serum greift, haben Sie die Supersoldaten, die Sie wollten. Wenn nicht, nun ja, dann haben wir ein Dutzend mies gelaunter Zombies hier im Raum.«

Mittlerweile zeigten alle Geräte die bei Medizinern gefürchtete Flatline. Der Professor ging zu den Probanden und überzeugte sich noch einmal per Augenschein von ihrem Zustand. Völlig unnötig hörte er sie mit einem Stethoskop ab, dann nickte er.

Etwa zwei Minuten lang geschah nichts. Die Körper, aus denen jedes Leben entwichen war, hingen schlaff und regungslos in ihren Fixierungen. Die Farben der Gesichter und Hände verblassten zusehends und wurden nach und nach durch ein stumpfes Grau ersetzt. Doktor Newark fand es seltsam und gleichzeitig befremdlich, wie schnell ein lebloser Körper jegliche Menschlichkeit verlor und zu einem Klumpen Fleisch und Knochen verkam. Die Gesichtszüge der Toten erschlafften und veränderten deren Aussehen völlig. Seelenlose Augen starrten ins Nirgendwo, Kinnladen sanken nach unten, im Zeitlupentempo. Doktor Newark wurde sich nunmehr sehr deutlich der Tatsache bewusst, dass sie und ihr Kollege diese zwölf Männer ermordet hatten. Auch wenn diese sich zehnmal freiwillig gemeldet hatten, Mord blieb Mord. Ihre bisherigen Zweifel an der Sache verschärften sich mit jeder Sekunde zusehends.

»Bringen Sie die Sicherungen an, Professor!«

Der Angesprochene bohrte jedem der Probanden ein fingerdickes Loch in die Schläfe und setzte eine Kapsel ein, die eine daumengroße Sprengvorrichtung beinhaltete. Jede dieser Kapseln konnte per Fernzünder zur Detonation gebracht werden und zerstörte dabei unweigerlich den Kopf. Marschall Gärtner hatte sich diese Sicherung einfallen lassen, falls es mit der Folgsamkeit seiner Nephilim doch nicht so weit her sein sollte wie erhofft. Als der Professor diese Arbeiten abgeschlossen hatte, kehrte er zum ersten Probanden zurück und kontrollierte die Anzeigen der Geräte.

»Da!«, rief Marschall Gärtner überrascht aus und deutete auf Proband Nummer eins. Dessen Finger zuckten, ein kaum merklicher Greifreflex wurde sichtbar. Doktor Newark sah den Professor fragend an.

»Rigor Mortis?«

»Nein, auf keinen Fall. Nicht so früh«, entgegnete er, »außerdem bewirkt die Starre für gewöhnlich keine Kontraktion. Das ist …«

Den Rest sprach er nicht aus, denn er wich entsetzt von dem Probanden zurück, an dessen Seite er gestanden hatte. Der Körper bäumte sich auf, als hätte man ihm einen Starkstromschlag verpasst.

Der Rücken bog sich, dass man befürchten musste, er würde durchbrechen, die Augen und der Mund öffneten sich weit und aus der Kehle rollte ein gurgelnder Schrei, der für jede Geisterbahn als Hauptattraktion die erste Wahl gewesen wäre. Dann wurde der Körper des Probanden extrem durchgeschüttelt, er warf sich in den Gurten und Manschetten hin und her.

Auch die Körper der anderen Probanden verhielten sich so und ähnlich. Die Halterungen schepperten, und das Geschrei der eigentlich toten Soldaten machte jede Unterhaltung unmöglich. Plötzlich und abrupt stoppte der Lärm.

Die Körper der Probanden blieben still in ihrer leicht aufgerichteten Position liegen, die EKG-Automaten reagierten nicht. Doch auf den Monitoren der EEG-Schreiber gab es Veränderungen. Die Thetawellen zeigten synchron einen geringen Anstieg mit Spitzen im Bereich von 4,7 Hertz, während die Betawellen hoch bei 38 Hertz und die Gammawellen extrem hoch bei über 80 Hertz lagen, was auf die Transformation und die neuronale Reorganisation des Gehirns hindeutete.

Man konnte förmlich dabei zusehen, wie die Denkmuster der Probanden von dem Virus neu geschrieben wurden.

»Was passiert?«, wollte Gärtner wissen.

Doktor Newark antwortete ihm. Sie wirkte völlig geistesabwesend, ihr Blick blieb fest auf den Monitoren an der Raumdecke haften.

»Wie es aussieht, wird das Gehirn der Probanden vom Virus zuerst reaktiviert. Im Todeskampf hat der Körper große Mengen an Endorphinen ausgeschüttet, die das Virus nutzt, um den Reorganisationsprozess zu starten. Das ist wie die Defragmentierung einer Festplatte. Die Krämpfe dienten offensichtlich der Verbreitung des Virus im Zwischenzellbereich. Da wir keinen Herzschlag messen, muss das Virus andere Wege gefunden haben, sich im liquiden System zu verbreiten, ich vermute, es nutzt das endoplasmatische Retikulum als Pumpe.«

»Das was?« Der Marschall verstand lediglich Bahnhof und Kofferholen, was ihm einen kurzen, aber zutiefst verächtlichen Blick der Doktorin einbrachte.

»Na ja«, erläuterte sie, »da das Herz nicht schlägt, wird das Virus durch diese Zuckungen im Körperwasser verbreitet. Jede infizierte Zelle wird dann zu einer Art Pumpe umfunktioniert, so dass der Grad der Infektion sich exponentiell erhöht. Deshalb konnte diese Zombie-Apokalypse auch so unglaublich schnell über uns hereinbrechen. Wenn das Virus erst einmal im Körper ist, verbreitet es sich wie ein Buschfeuer.«

Der Professor beobachtete noch immer die Anzeigen ganz genau. Buschfeuer war wohl das richtige Wort, denn die Körpertemperatur der Probanden sank nicht etwa, sie erhöhte sich sprunghaft auf über zweiundvierzig Grad Celsius. Als der Gammawellenwert des ersten Probanden auf unter siebzig sank, rief er:

»Da! Es beginnt! Er, nein, Es erwacht!«

Und tatsächlich, die entgleisten Gesichtszüge festigten sich, die Augäpfel richteten sich unter flatternden Lidern aus, der Mund klappte zu. Die Hände griffen ins Leere, aber durch diese Bewegung wurden nun auch die Muskeln des Unterarms aktiviert. Sodann setzte ein überraschender Effekt ein, der den Marschall an das eine oder andere Marvel-Kinoabenteuer erinnerte: Sämtliche Muskeln des Probanden begannen anzuschwellen, und das in einer Geschwindigkeit, die niemand für möglich gehalten hätte. Auch den anderen Körpern erging es so, man konnte bereits erste Kleidernähte reißen hören.

»Ja! Es funktioniert!«, rief der Marschall erfreut aus.

Die Körper wuchsen auf die doppelte Masse an, keiner der Anwesenden hatte auch nur den Hauch einer Ahnung, wie das wirklich vonstattenging. Doktor Newark vermutete vage, dass diese Kreaturen – als nichts anderes konnte man sie bezeichnen – sich quasi zum Teil selbst verdauten und unnötige, nutzlos gewordene Organe in Muskelzellen umwandelten. Der gesamte Körper wurde in Minutenfrist gewissermaßen biologisch komplett entkernt und neugestaltet.

Doktor Newark hatte in ihrem Leben noch nichts Vergleichbares gesehen, und sie war sicher, den anderen Personen im Raum ging es ebenso.

Die Arme und Beine poppten auf wie die des Hulk oder des Mister Hyde, aus den ohnehin schon kräftigen Soldaten wurden vor den Augen der drei Menschen Wesen mit wahrlich gigantischen Muskelsträngen.

Einige der künstlichen Zeds knurrten, andere grunzten, zwei oder drei zerrten wie wild an den Fesseln. Ihre inzwischen stark verbreiterten Köpfe hämmerten auf die Unterlage, sie schüttelten sich, und einer versuchte sogar, nach dem Professor zu schnappen, der sich gerade noch rechtzeitig in Sicherheit bringen konnte.

In diesem Moment donnerte Marschall Gärtners Stimme durch den Raum. »Aaaaachtung!«

Schlagartig änderte sich das Verhalten der Zeds. Sie erstarrten in einer straffen Haltung. Marschall Gärtner ging die Reihe ein Mal ab und sprach dann zu den Toten, die seinem Marsch mit wachen Augen gefolgt waren.

»Ihr seid die Nephilim. Meine Nephilim. Die Besten der Besten, meine Leibgarde. Ihr werdet mir gehorchen, sonst niemandem. In euren Schädeln befindet sich eine Bombe. Ich habe den Zünder. Ich kann jeden von euch sofort ausknipsen. Und wenn ich an meinem Computer nicht alle vierundzwanzig Stunden einen bestimmten Code eingebe, werden die Bomben explodieren. Bei euch allen. Das solltet ihr wissen, bevor ihr euren Dienst antretet. Zum Beweis eine Demonstration.«

Er drückte einen Knopf auf einer Fernbedienung, die er hochhielt, und bei Proband Nummer zwölf am Ende des Raumes platzte der Kopf wie eine reife Wassermelone, die eine Schrotladung abbekam.

»Klar soweit? Machen Sie sie los, Professor.«

»Wirklich? Sollten wir nicht noch detaillierte Untersuchungen …?«

»Ich habe keinen Vorschlag gemacht.«

Gärtner stand noch immer mitten im Raum und hielt die Fernbedienung demonstrativ in die Höhe.

»Ja. Natürlich. Zu Befehl.«

Der Professor und die Doktorin schnallten alle verbliebenen elf Zeds von den Haltevorrichtungen los. Dann sahen die beiden zu, dass sie möglichst viel Raum zwischen sich und die Untoten brachten. Marschall Gärtner bellte erneut im allerbesten Barras-Ton:

»Nephilim. Vortreten!«

Die Monster erhoben sich und traten in einer Reihe vor die Haltevorrichtungen, in denen sie eben noch gefesselt gelegen hatten. In der nächsten Sekunde würde sich entscheiden, ob das Experiment geglückt war.

»Achtung! Stillgestanden!«

Die Nephilim traten auf der Stelle und knallten die Hacken zusammen, Hände an den zum Teil zerfetzten Hosennähten.

»Rechts um!«

Synchron schwenkten die Zeds herum.

»Die Augen links!«

Alle Zombies blickten den Marschall an. Mit sichtlicher Genugtuung besah sich Marschall Gärtner seine Garde. Er hätte beinahe im Kreis gegrinst, wenn ihm nicht die Ohren dazwischengekommen wären. Dies war der Anfang eines großen Planes, an dessen Ende die Unsterblichkeit und das Erwachen einer neuen Herrenrasse standen. Die beiden Wissenschaftler hatten es tatsächlich geschafft, die ersten von Menschen erzeugten Struggler befanden sich in diesem Labor – die Unbesiegbaren.

Die Nephilim.

 

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