Jahr Zwei, 10. Oktober, Nachmittag

Das Dröhnen der Turboprop-Maschine, die in niedriger Höhe flog, machte jede Verständigung unmöglich. Die Leutnants Morosow und Koroljow verharrten in der Eishöhle direkt am Eingang und warteten darauf, dass die Maschine weiter in Richtung Rungholt flog.

Es war nun insgesamt bereits der dritte Anflug auf diesen Absetzpunkt und die Mannschaft hatte sich auf fünfunddreißig Mann vergrößert. Wenn alles glatt lief und nichts dazwischen kam, würden sie heute noch ein gutes Dutzend Mäuler mehr zu stopfen haben.

Mit dem dritten Transport sollten auch weitere Verbrauchsgüter abgeworfen werden, weshalb die Männer auf dem Sprung lauerten, um die Kisten möglichst schnell ausfindig zu machen und auf ihren Aluminiumschlitten in die Eishöhle zu bringen. Doch zunächst galt es festzustellen, ob die Männer, die da gerade auf der Eisfläche ihre Fallschirme zusammenrollten, auch wirklich die waren, die man erwartete.

Natürlich war es ebenso möglich, wenn auch nicht sehr wahrscheinlich, dass Regierungstruppen, getarnt als SpezNas-Kämpfer, hier abgesetzt wurden, um das Lager auszuräuchern. Allerdings gab es für diese These keinen vernünftigen Grund. Wenn Gärtners Leute sie entdeckt hätten, genügte eine wohl platzierte Hellfire-Rakete, um das Thema ein für alle Mal zu beenden. In einigen Minuten würden sie wissen, woran sie waren.

»Was denkst du«, fragte Koroljow, »wie lange sitzen wir hier noch fest, bis es losgeht?«

Sein Kamerad holte eine Schachtel Machorkas heraus und bot ihm eine an. Tagsüber konnte man im Eingangsbereich der Höhle rauchen, mit Einsetzen der Dämmerung blieb das untersagt, um keine unnötige Aufmerksamkeit zu erzeugen. Als beide rauchten, antwortete Morosow:

»Ich habe absolut keine Ahnung, Fedor. Es könnte morgen schon losgehen, oder in einer Woche. Oder in vier Wochen. Wer weiß das schon. Ich denke, der General muss eine gute Gelegenheit abwarten. Aber die könnte sich vielleicht bald ergeben. Dass die Amerikaner ausgelaufen sind und sogar unsere beiden großen Schlachtkreuzer ebenfalls, sehe ich als ein gutes Zeichen. Eigentlich kann es nicht mehr allzu lange dauern.«

»Hoffentlich. Bequem ist es hier nicht gerade und einige der Männer schnarchen, dass es die Eisbären verjagen würde, wenn es denn welche gäbe.«

Koroljow schnippte die Asche von seinem Glimmstängel.

»Das macht mir am meisten Sorgen. Es gibt keine Tiere mehr. Die sind alle dieser verfluchten Seuche zum Opfer gefallen. Was soll nur aus der Welt werden, Juri?«

»Ach, ich weiß nicht«, entgegnete der andere, »ich glaube nicht, dass dieses Virus alle Tiere ausgelöscht hat. Das kann ich mir einfach nicht vorstellen. Irgendwo im Urwald oder in der Taiga oder in der Wüste wird es bestimmt noch Tiere geben, die gesund sind. Und auch Menschen. Wenigstens gibt es hier keine Zombies.«

»Sie haben Moskau komplett sterilisiert mit dieser komischen Bombe der Chinesen. Alles Leben ausgelöscht, bis zum letzten Bakterium. Kannst du dir so was vorstellen, Juri? Der eine von den beiden komischen Vögeln da unten in der Ukraine, dieser Igor, hat es mir erzählt. Er war dabei, als die Bombe fiel und diese Todesstrahlen freigesetzt wurden. Seine Familie ist dabei draufgegangen, sagte er. Ich finde den Burschen irgendwie unheimlich.«

Morosow nahm einen tiefen Zug aus seiner Kippe und schaute zu Koroljow hinüber.

»Der General vertraut ihm. Mir reicht das. Er ist ein unermüdlicher Kämpfer für die Sache.«

»Was ist mit diesem Jungen, der bei ihm lebt? So was ist doch nicht normal.«

»Ach, Fedor. Was willst du hören? Du weißt nicht, was da läuft. Und selbst wenn da etwas läuft, dann geht es uns nichts an.«

»Früher wurde so etwas in der GUS verfolgt.«

»Ja, und früher hatten wir auch einen Zaren, ein rotes Imperium und die ganze Welt hat den russischen Bären gefürchtet. Und jetzt? Jetzt kuschen die Russen und rennen einem Faschisten hinterher. Zeiten ändern sich, Fedor. Zeiten ändern sich.«

»Ja. Du hast wohl Recht …«

»Schhhht! Da ist etwas! Deckung!«

Die beiden Männer drückten ihre Kippen in den losen Schnee, wo sie mit leisem Zischen verlöschten. Dann pressten sie ihre in weiße Tarnkleidung gehüllten Körper fest auf das Eis und entsicherten ihre Waffen.

In einiger Entfernung konnte man huschende Bewegungen wahrnehmen, ein Trupp Soldaten näherte sich vorsichtig, hinter Eiszacken und aufgestellten Schollen Deckung nehmend. Morosow schaute auf sein Armbanddisplay, das die Übermittlung eines Funkcodes mit einem kleinen roten Blinklicht anzeigte. Der Code wurde akzeptiert und das Licht leuchtete grün.

Daraufhin erhoben sich die beiden und winkten in Richtung der Neuankömmlinge, die zurückwinkten und ihre Deckung verließen. Das dritte und letzte Team war wohlbehalten angekommen.

Leutnant Koroljow drehte sich um und gab den Männern in der Höhle ein Zeichen, nach vorn zu kommen. Zwanzig Mann in voller Wintertarnmontur traten zum Höhleneingang; sie sollten ausschwärmen und die insgesamt fünf Kunststoffcontainer bergen, die das Flugzeug ebenfalls abgeworfen hatte.

Die Männer hatten breite Aluminiumschlitten bei sich, auf welche die Vorratsbehälter geladen und dann zur Höhle transportiert werden sollten. Hinter ihnen würden vier Mann dann die Spuren verwischen.

Eine knappe Stunde später hatten sich die Neuankömmlinge in der geräumigen Schlafhöhle eingerichtet und man saß, versehen mit frischen Rauchutensilien, etwas Wodka und frischem Toilettenpapier, mehr oder weniger zufrieden beisammen und erklärte den Neuen den Tagesablauf.

Es existierte ein reihumgehender Küchendienst, sechs Tageswachen, und – ebenso wichtig – eine Schicht zum Eisangeln. Nur aus den mitgeführten Dosenkonserven mochte hier im Lager niemand seinen Kalorienbedarf decken, und die Eisfischer förderten schmackhafte Sachen zutage wie Kabeljau, Schollen und Königskrabben. Besonderes Augenmerk richteten die beiden Kommandanten auf die Unauffälligkeit. So wurde zum Beispiel die Notdurft in Eistoiletten verrichtet, das gebrauchte Papier jedoch wurde im Eis gebunkert und eingefroren, damit nicht verräterische Papierfetzen in der benachbarten Fahrrinne trieben.

Geraucht und gekocht wurde in der Eishöhle, die über ein weit verzweigtes Kaminsystem aus Eisplatten verfügte, so dass der Dampf kondensierte, bevor er aus der Höhle austreten konnte.

Die Männer sandten täglich zwei Erkundungspatrouillen aus, die stets und immer wieder übten, sich möglichst unsichtbar in der Eiswüste zu bewegen.

Die Männer, die hier dienten, waren von Igor im Lager IV-49/101 bei Cherkas in der Ukraine handverlesen worden und gingen für das Ziel durch dick und dünn. Allesamt kampferfahren, wettererprobt und voller Tatendrang, konnten die Männer es kaum erwarten, die neue Welt von einer alten Bedrohung zu befreien: dem Faschismus. Knapp fünfzig von ihnen warteten nun auf den Startschuss, und wenn der Angriff startete, würden noch einmal fast einhundert von ihnen direkt in die Festung geschmuggelt werden.

Mit den Einheiten im Berg, die dem General treu ergeben waren, hatten sie eine echte Chance, den Marschall zu stürzen.

Das zumindest hofften sie alle.