Jahr Zwei, 04. Oktober, Nachmittag I

In der Kammer wurde es mit jedem Treffen zusehends gemütlicher. Nun, zumindest für einen der beiden, die sich hier hin und wieder trafen. Die eine Hälfte des Raumes tief unter der Festung Rungholt auf und in der Insel Helgoland blieb kahl. Nackter Beton, mehrfach bewehrt, besonders ausgehärtet. Wandanker, die mehr als einen Meter tief in den Stahlbeton hineinreichten und als fünf Zentimeter dicke Stahlklauen aus der Wand kamen.

Hieran war der eine der beiden mit mächtigen Metallmanschetten aus speziellen Legierungen arretiert, ein mächtiger Struggler, beinahe vier Zentner schwer und fast ausschließlich aus Muskelmasse bestehend, die sich selbst zu regenerieren in der Lage war. Ein gigantisches Monster, gegen das Wrestler wie The Rock eher aussahen wie ein Kieselsteinchen.

Diese Kreatur hatte einst als Professor Weyrich die Forschungen zum T93-Genkomplex geleitet, bevor ein Struggler-Versuchsobjekt ihn mit der Variante 33 des Z1-Virus infizierte und mutieren ließ.

Die andere Hälfte des Raumes hinter – oder besser vor – einem Gitter, das einen Panzer aufgehalten hätte, wies einige Annehmlichkeiten auf. Es gab einen bequemen Sessel, einen Schreibtisch, Computer, Aschenbecher und sogar eine kleine Minibar statt einer Aktenablage in der rechten Tür des Schreibtisches. In dem bequemen Sessel hatte der andere Platz genommen, ein grauhaariger Militär mit kantigen, unerbittlichen Gesichtszügen. Marschall Gärtner, der Oberbefehlshaber der New World Army und faktische Diktator der Neuen Welt. Er goss sich aus einer stählernen Isolierkanne Kaffee in eine Tasse, gab Milch dazu, Zucker, und rührte. Vorsichtig klopfte er den Löffel an dem dünnen Porzellan ab und legte ihn auf die Untertasse. Er nahm einen Schluck aus der Tasse, und als er sie wieder auf den Unterteller stellte, schnalzte er mit der Zunge.

»Also, wo waren wir stehen geblieben. Ja, deine Mitwirkung. Unsere Stellenausschreibung für einen Chefgenetiker musste, nun ja, leider vorerst ausgesetzt werden. Wir sahen uns daher gezwungen, etwas zu improvisieren. Allerdings ist es uns gelungen, einige fähige Wissenschaftler im Schleswig-Holsteinischen Siedlungsgebiet ausfindig zu machen und sie zur Kooperation zu bewegen. Man hat ja von deinen Sekreten einige Proben genommen und mit diesen dann zwei Dutzend unserer freiwilligen Helfer infiziert.«

Natürlich handelte es sich bei den vom Marschall so Bezeichneten nicht wirklich um Freiwillige. Man hatte einige Regimegegner deportiert und ihnen die Wahl gelassen, zu ihrer Rehabilitierung entweder an einem Forschungsprojekt teilzunehmen oder erschossen zu werden. Alle Verhafteten hatten sich darauf freiwillig einem medizinischen Versuch zur Erprobung eines Heilmittels unterzogen. Jetzt waren sie Zombies. Eingesperrt in einem Hochsicherheitstrakt, den Gärtner eigens auf einem speziell dafür umgebauten Schiff hatte einrichten lassen.

Das Schiff, ein alter Eisbrecher, kreiste im eisfreien Fahrwasser, von dem die Inselfestung umgeben war. Im Inneren des Rumpfes gab es insgesamt einhundert kleine Zellen, die man aus schweren Schiffsstahlplatten zusammengeschweißt hatte; jede Zelle war mit einer großen Düse in der Decke versehen, mit der die Zelle mittels eintausendsechshundert Grad heißer Gasflammen dekontaminiert werden konnte, wie Gärtner es nannte in der ihm eigenen seltsamen Art, sich auszudrücken.

Ein Viertel der Zellen war nun mit Strugglern besetzt, die für die Versuche als Kontrollgruppe dienen sollten.

Der Marschall sprach die Abscheulichkeit, die ihm gegenüber an der Wand kauerte, wieder an.

»Was ich nun von dir will, ist im Grunde einfach.«

Er unterbrach sich selbst.

»Herrgott, ich weiß gar nicht, wie ich dich nennen soll? Monster? Zed? Scheißhaufen? Professor trifft es ja wohl kaum.«

»Ich bin nicht der Professor.«

»Aber du warst es einmal.«

»Von ihm ist nicht viel geblieben. Erinnerungen. Restladungen im Gehirn. Schatten.«

»Gut. Ich werde dich Zausel nennen. Das passt zu dir.«

»Keine Bedeutung.«

»Ja, ja … egal. Also, zum einen will ich, dass unsere Wissenschaftler aus deinem Virus eine Variante erschaffen, die es mir möglich macht, solche wie dich herzustellen, allerdings kontrollierbare Exemplare. Quasi perfekte Soldaten. Und zum anderen will ich, dass wir eine Variante erschaffen, die Pack wie euch ein für alle Mal ausmerzt.«

»Du willst eine Biowaffe bauen?«, raunte es knurrig aus der entfernten Ecke des Raumes.

»Exakt das ist es, was ich vorhabe. Und du, mein lieber Zausel, wirst mir dabei helfen.«

Die schweren Ketten der Kreatur in dem Gefängnis klirrten, als sie sich leicht bewegte. Schnarrende, schnüffelnde Geräusche erzeugte der Struggler und wiegte den schweren Kopf hin und her.

»Warum sollte ich helfen? Du tötest uns so oder so. Tu es lieber gleich.«

Der Marschall nickte mit einer verständnisvoll wirkenden Geste. Dann erwiderte er langsam, fast schon zögerlich und mit leiser Stimme:

»Ja, du hast insofern natürlich Recht, es gibt keinen Grund, warum du mir helfen solltest. Du hast keinen Überlebenstrieb wie wir Menschen, Furcht kennst du nicht und Schmerzen sind dir egal. Das macht die Verhandlungen für mich natürlich schwierig, zugegeben. Wenn da noch etwas vom alten Professor in dir wäre, etwas, das den Wunsch hat, zu beschützen, dann würde es mir leichter fallen, dir Entscheidungshilfen zur Hand zu geben. Oh, übrigens, schau mal hier.«

Der Marschall nahm eine kleine Fernbedienung in die Hand und zappte damit scheinbar uninteressiert über seine Schulter. An der Wand erhellte sich ein Fünfzig-Zoll-Monitor, der eine Laborszene zeigte. Mehrere Personen waren auf Edelstahltischen festgeschnallt und Laboranten standen neben den Tischen. In ihren Händen hielten sie Spritzen, in denen eine braune, undurchsichtige Flüssigkeit abgefüllt war.

Gärtner zoomte mit der Fernbedienung an einen der Tische heran, auf dem ein kleines Mädchen von vielleicht zehn Jahren lag. Ihre Augen waren schreckgeweitet, der Mund geknebelt. Die Kamera zoomte wieder aus und zeigte das ganze Labor.

»Das hier, mein lieber Zausel, sind – falls du dich nicht erinnerst – Verwandte des Professors, der du einmal warst. Schau, das da links ist seine Schwester Margareth, daneben ihr Mann Ludger und ihre beiden entzückenden Kinder Hedwig und Paul. Einen Tisch weiter Weyrichs Cousine Dorothea und dieses entzückende Creamy-Mädchen, das sie und ihr Mann – Gott hab ihn selig – adoptierten. Dann da hinten Weyrichs Sohn aus erster Ehe, Walther und dessen Tochter Mia. Der nette Laborant neben ihr, der mit der Spritze, ist Herr Wolters. Aber das tut nichts zur Sache.«

Im hinteren Bereich des Raumes klirrten die Ketten. Die Bestie kam nach vorn.

»Ach, das Programm interessiert dich? Das ist schön. Warte, ich hole es uns wieder etwas heran.«

Wieder zoomte die Kamera auf das kleine Mädchen von eben. Gärtner sprach weiter, und das in einer Weise, als erläutere er anhand eines Schulungsvideos den korrekten Umgang mit einer aberwitzigen Multifunktions-Gurkenreibe. »Also, die kleine Mia, ja. Zauberhaftes junges Ding. Sie ist natürlich ziemlich verängstigt, weil sie gar nicht weiß, was ihr da geschieht. Und der nette Herr Wolters hat in seiner Spritze ein wenig von dem abartigen Zeug aus deiner Blutbahn. Wenn er ihr die Spritze verabreicht, wird Mia auch ein richtig toller Struggler wie ihr Großvater, und sie wird Menschen töten, ihnen die Gedärme herausreißen und sie genüsslich schmatzend verspeisen. Dich, der du ja dann quasi ihr Großvater und Vater in einer Person bist, sollte das doch stolz machen. Oder habt ihr Bestien es damit nicht so? Nun, wenn da noch etwas von dem Professor in dir wäre, dann würde der dies wahrscheinlich nicht zulassen wollen. Der Professor würde nicht wollen, dass seine geliebten Verwandten zu Monstern werden wie er.«

Der Blick des Strugglers blieb starr auf den Monitor geheftet. Ein leises, aber deutlich wahrnehmbares Knurren kollerte in seiner Kehle.

Gärtner fuhr unbeeindruckt fort, sein Ton wechselte jetzt und bekam eine fast schon fröhliche Nuance.

»Wir würden sie natürlich nach ihrer Verwandlung auch nicht einfach so draußen herumlaufen lassen zum Leute töten und so. Das geht ja nicht. Nein, ich dachte mir, wir nutzen ihr großartiges Reproduktionspotenzial. Wir werden sie fixieren, ab und an mit ein paar Widerständlern füttern und dann jeden Tag einige Scheiben von ihrem nachwachsenden Fleisch abschneiden, das wir dann auf Tuben ziehen und als Pink Paste an unsere hungrigen Siedler verfüttern. So kann deine Familie sich am produktiven Prozess der New World hervorragend beteiligen und Teil einer großen Gemeinschaft werden. Tube für Tube. Das ist doch mal was, oder?«

Er drückte auf einen Knopf auf seiner Computerkonsole und in dem Labor näherte sich der Laborant mit der Nadel dem festgeschnallten Arm des kleinen Mädchens. Doch zunächst löste der Mann im weißen Kittel den Knebel im Mund der Kleinen, und sie begann zu schreien. Ihr hohes, hysterisches Kreischen erfüllte das Labor und den Raum, mit dem es über die Videoleitung verbunden war. Es gab noch einen dritten Raum, in den das Geschrei des Mädchens drang, doch General Pjotrew drehte den Ton an seinem Laptop schnell leiser. Der Aufzeichnungsmodus lief jedoch weiter.

»Aufhören!«, brüllte der Struggler.

Marschall Gärtner sah ihn fragend an.

»Ich kooperiere. Aufhören.«

»Ah«, meinte der Marschall nickend, »ich verstehe. Da ist doch noch etwas mehr als nur Schatten, was? Gut. Wir werden gemeinsam herausfinden, wie viel Nützliches du mir zu bieten hast, Zausel.«

Der Laborant sah fragend in die Kamera. Gärtner nickte. Dann beugte sich der Weißkittel über das Mädchen und stach die Nadel in ihren Arm. Sie kreischte noch eine Oktave höher als eben.

»Ich sagte, ich kooperiere!«, brüllte das Monster.

»Und das weiß ich durchaus zu schätzen«, gab Gärtner lapidar zurück, »aber ich möchte, dass du weißt, dass ich es absolut ernst meine. Und ich möchte, dass ich weiß, dass du es auch absolut ernst meinst.«

Auf dem Bildschirm sah man, wie der Laborant den Kolben der Spritze drückte und den Inhalt in die Vene pumpte. Ein, zwei Sekunden geschah nichts. Dann plötzlich rissen die Schreie abrupt ab. Der Körper des Mädchens bäumte sich zuckend auf, fiel wieder in sich zusammen, bäumte sich wieder auf. Die festgeschnallten Gliedmaßen verrenkten sich grotesk, man hörte Knochen brechen. Zappelnd und geifernd verwandelte sich das Mädchen in eine Horrorkreatur, überall wuchsen Fleischpakete an ihrem Körper, der zusehends unförmiger wurde. Der Marschall beobachtete genau die Reaktionen des Strugglers, der unruhig hin und her wankte. Die Ketten klirrten. Mit einem Mal brüllte das Monster laut, und Gärtner nickte dem Mann in dem Labor über die Videoverbindung zu.

Der Laborant hielt ein Bolzenschussgerät an die Stirn des kleinen Mädchens und drückte ab. Der Stahlbolzen zertrümmerte ihre Stirn und zerstörte das Gehirn. Schlagartig brachen die unkontrollierten Bewegungen des kleinen Mädchens ab. Mira war endgültig tot. Gärtner deaktivierte den Monitor und wandte sich dem Struggler grinsend zu.

»Gut. Da ich davon ausgehe, dass wir eine gewisse Übereinkunft über unsere Zusammenarbeit erzielt haben, was ich sehr schätze, können wir die näheren Einzelheiten deiner Mitarbeit diskutieren.«

In der kleinen geheimen Kammer in einem anderen Gebäudetrakt, die General Pjotrew als getarnte Operationszentrale nutzte, schaltete dieser verstört kopfschüttelnd seine Aufzeichnung aus.

Er ließ das Video über verschiedene VPN-Kanäle auf den Serverplatz überspielen, den er für den Datenaustausch mit Wissarion nutzte. Aus der Innentasche seiner Uniformjacke holte er einen Flachmann und nahm einen ordentlichen Schluck Wodka.

Dieses Material würde dem Marschall noch Schwierigkeiten bereiten.

Bald schon, sehr bald.