Jahr Zwei, 19. Oktober, Mittag II

»Sie sind unterwegs.« Holger schaltete das Funkgerät ab.

»Wer?«, fragte Eckhardt, der sich noch immer mit der Zieljustierung seines Artilleriepanzers auseinandersetzte und in steten Abständen über die neumodische Technik fluchte. Früher sei das ja alles besser gewesen, ließ er regelmäßig verlauten.

»Die Russen«, gab Juri Paladin, der russische SpezNas-Kommandant zurück. Alv prustete los und lachte laut.

»Also, äh, die anderen Russen«, verbesserte sich Juri.

»Eckhaaaaardt, die Russen komm’n!«, tönte Alv Bulvey in bestem Meister-Röhrich-Akzent und lachte herzerfrischend. Juri sah ihn fragend an, er war in Dingen der norddeutschen Comic-Kultur nicht sonderlich bewandert.

Die vier Männer saßen in der Villa Béthánia, jeder an seinem Arbeitsplatz in der Operationszentrale. Während Eckhardt mit der Berechnung multipler Feuerleitlösungen befasst war, saß Alv am Computer und mühte sich mit einer Präsentation ab, die er bei der nächsten Vollversammlung den Dorfbewohnern zeigen wollte. Dabei ging es um die nützliche Einteilung der Produktionsflächen im Außengelände.

Holger indes hatte sich mit Juris Hilfe über Funk mit Igor verständigt, der ihm auf Russisch mitgeteilt hatte, dass er ›eine Kiste Wodka mit mindestens sechs Flaschen an Tante Olga geschickt habe‹. Im Klartext bedeutete das, ein Boot mit mindestens einem halben Dutzend Russen an Bord war unterwegs.

Natürlich ging diese eigenartige Sendung nach Rennes-le-Château, wo sie erwartet wurde, und Tante Olga war der Codename für Oleg. Das mochte zwar nicht sonderlich originell klingen, aber für die New World Schnüffler, die auf den Frequenzen immer mal wieder mithörten, reichte das, um einigermaßen unverdächtig zu erscheinen.

»Also musst du doch noch Russisch lernen, Towarischtsch!«, äffte Eckhardt aus der Ecke zu Alv hinüber.

Alv lächelte und meinte:

»Lach du nur! Du hattest das ja in der Schule. Ich kann dafür wenigstens das Ti-Äitsch …«

Beide lachten. Juri schien sich etwas unwohl in seiner Haut zu fühlen. Unruhig rutschte er auf seinem Stuhl hin und her. Alv bemerkte dies und fragte:

»Was ist los, Juri? Irgendwas liegt dir doch auf der Seele, mein Freund.«

»Na ja«, antwortete er zögernd in seinem stark akzentuierten Deutsch mit dem markant kehligen ›ch‹, »ich bin nicht sicher, ob meine Landsleute hier wirklich willkommen sind. Wir, die wir hier nun bleiben, sind Soldaten, das ist ja bekannt. Aber jetzt kommen noch mehr Soldaten. Ich könnte mir vorstellen, dass einige der Bewohner uns mit einem gewissen Misstrauen begegnen.«

»Papperlapapp!«, mischte Eckhard sich ein, »Ihr seid Freunde. Und Oleg und seine Begleiter sind auch Freunde, solange es keinen Grund gibt, etwas anderes anzunehmen. Deutsche und Russen hatten auch historisch bereits viel gemein, und ich sehe keinen Grund, warum wir hier nicht eine gesunde, normale Völkerverständigung leben sollten. Völker der Welt, schaut auf dieses Dorf!«

Er lachte und die anderen taten es ihm nach. Es tat ihnen gut, während der Arbeit, die durchaus einen ernsten Hintergrund hatte, auch mal etwas herumzublödeln.

»Im Ernst«, fuhr Eckhardt fort, »solange die, ähm, Wodkaflaschen, die Tante Olga uns da bringt, keinen Mist machen, sehe ich für uns überhaupt keine Probleme. Du leitest die russische Kampfeinheit und siehst zu, dass die Jungs alles kapieren, wie es hier so läuft und so. Und alles ist gut.«

»Ganz so einfach ist das nicht«, sagte Paladin, »unter den Wodkaflaschen ist ein ranghöherer Offizier, Oberst Ryschkow. Er ist prädestiniert, das Kommando der Kampfgruppe zu führen.«

Alv und Eckhardt sahen sich an. Alv Bulvey zuckte mit den Schultern.

»Na ja, Juri«, antwortete Eckhardt, »wir schauen mal, wie es mit den Kameraden so geht. Wenn der Oberst bei General Pjotrew und sogar bei Igor ein derartiges Vertrauen besitzt, dass er Oleg mit ihm losschickt, ich denke, dann können wir ihm letztlich wohl auch vertrauen. Apropos, was sagt Igor eigentlich, wie geht es bei ihm weiter?«

Holger antwortete an Juris Stelle.

»Er meinte vorhin, er würde ›bald in die Stadt fahren, um dort gründlich einzukaufen‹. Es kann also nicht mehr allzu lange dauern, bis Pjotrew seinen Putsch inszeniert. Er will wahrscheinlich warten, bis Oleg hier sicher gelandet ist und ein neues Subnetz installiert hat, um dann diese bestimmten Videos zu senden, die er als Propaganda nutzt. Um das richtig zu platzieren, braucht er natürlich Wissarion, danach kann er dann losschlagen.«

»Ja, und Igor muss natürlich seinen Bus in die Stadt bekommen«, fügte Alv lachend hinzu und wandte sich dann zu Holger um.

»Sag, wie lange werden die mit ihrem Boot brauchen, bis sie hier ankommen?«

»Wenn nichts dazwischen kommt, dürfte die Reise etwa eine gute Woche in Anspruch nehmen. Es sind mehr als zweitausend Seemeilen, und das Minenjagdboot, mit dem sie fahren, ist ein älteres Semester. Aber spätestens bis Ende des Monats sollten sie hier sein.«

Alv überlegte und rief auf seinem Bildschirm den Raumplaner des Dorfes auf. Das Programm zeigte einen Übersichtsplan der Siedlung und der Umgebung, in dem sämtliche Räume und Häuser penibel vermerkt waren. Holger und Eckhardt hatten dieses Programm im Sommer erstellt und jeden Raum, jedes Grundstück und jede Gasse penibel vermessen und erfasst.

Die bei dem Angriff auf Rennes-le-Château zerstörten Gebäude waren rot markiert, besetzte beziehungsweise der Nutzung unterliegende Gebäudeteile und Räume erschienen in blau, und freie, ungenutzte Räume besaßen grüne Markierungen. Teile des Programms stellten die Gebäude des Dorfes in 3-D dar, sogar Rohrleitungen und Hauptstromkabel waren eingezeichnet.

Wann immer die Zeit und der Arbeitsanfall es zuließen, arbeiteten die Dorfbewohner an der Darstellung, denn der Planer mauserte sich inzwischen zur grundsätzlichen Entscheidungshilfe in Sachen Logistik und Infrastruktur. Diese hatte sich in den letzten Monaten erheblich verbessert und ausgeweitet.

Durch den massiven Einsatz von Photovoltaik, Vertikal-Windgeneratoren und Biogasturbinen hatte sich Rennes weitgehend autonom und unabhängig von fossilen Brennstoffen gemacht. Zwar liefen die LKW noch immer mit Diesel, den die Männer zur Zeit in der weiteren Umgebung requirieren konnten, doch eine Umstellung der wirklich wichtigen Fahrzeuge auf LNG-Antrieb war bereits im Gange beziehungsweise konnte binnen kürzester Zeit vorgenommen werden.

Im Dorf war man stolz auf diese Entwicklung. Ein großer Teil der New World lebte in Energieknappheit, Strom und Treibstoff wurden streng rationiert. Auch die Nahrung der Siedler, die in den Gegenden mit sibirischen Temperaturen lebten, bestand aus Rationen, meist die sogenannte Pink Paste oder White Chunk oder Amber Liquid, synthetisch bearbeitete Eiweiß- Kohlehydrat- und Fettsäureträger, die aus der industriellen Verarbeitung von Zombiekadavern stammten.

In Rennes jedoch wurde tatsächliche Urerzeugung betrieben, alle Mitglieder der Gesellschaft des Willens arbeiteten gemeinsam in den Gärten, auf den Feldern und in den kleinen Verarbeitungsbetrieben. Hier war man stolz auf den hohen Grad der Selbstversorgung, der erreicht wurde.

Natürlich wurden täglich weiterhin Produktionsgüter im gesamten Vorpyrenäenland requiriert, schließlich gab es noch genug Quellen, wo zum Beispiel lang haltbare Vorräte, Medikamente und Werkstoffe lagerten. Mit jedem Truck, der wohlbehalten von den Beutezügen zurückkam, füllten sich die Lager weiter. Selbst Dinge, die auf den ersten Blick nicht nützlich erschienen, wurden herangeschafft, zum Beispiel haufenweise Eisenbahngleise, Leitplanken und Verkehrsschilder, Plastikplanen, Glasscheiben und Fenster, Bauholz und Befestigungsmaterial, Rohre, Schläuche und Kanister aus Kunststoff und Metall, Gartengeräte, Werkzeuge und stets heißbegehrtes Saatgut.

Besonders beliebt waren Einmachgläser und zum Beispiel Marmeladenkonfitüren. Letzte hielten sich bei kühler Lagerung ewig und stellten einen wichtigen Bestandteil der Zuckerversorgung dar. Außerdem konnte man leere Gläser hervorragend weiterverwenden, um andere Nahrungsmittelkonserven herzustellen. Überhaupt wurde in dem Dorf nur sehr wenig Müll erzeugt; nach Möglichkeit suchte man für Abfälle jeder Art stets nach einer Anschlussverwendung. Sogar die Kunststoffabfälle wurden weiterverwendet. Einer der französischen Mitbewohner hatte sich darauf spezialisiert, Kunststoffe zu sortieren und je nach unterschiedlichem Härtegrad für unterschiedliche Nutzungen einzuschmelzen. Die festen Kunststoffe goss er in Formen für Pflanzkübel und Tragkörbe, während die Stoffe mit einem hohen Anteil Weichmachern zu Kunststoff-Laschen eingeschmolzen wurden, mit denen Befestigungen, zum Beispiel in den Weinstöcken, hergestellt wurden. Erste Priorität aller Aktionen im Dorf hatte die Nahrungserzeugung, zweite Priorität die Energieerzeugung, erst an dritter Stelle folgte die Sicherheit und der Ausbau des Dorfes. Aus der zurückliegenden Katastrophe wussten alle Überlebenden nur zu gut, wie unglaublich wichtig ausreichende Vorräte an Wasser und Nahrung waren. Als Waffen gegen Zeds ließen sich viele Dinge zweckentfremden, auch beim Unterschlupf konnte man improvisieren, aber Nahrung hatte eine essenzielle und nicht ersetzbare Bedeutung.

Sämtliche Konserven und Lebensmittel wurden in den Höhlen im Berg unter dem Dorf gelagert; dort herrschte eine konstante Temperatur von sieben bis neun Grad Celsius in völliger Dunkelheit. Einige der kleineren Kavernen wurden von den Technikern zurzeit gerade ausgebaut und abgedichtet. Sie sollten mit Kühlaggregaten ausgerüstet und zu Kältezellen umgewidmet werden. Hier konnten Nahrungsmittel dann sogar eingefroren werden. Die Fertigstellung war für das nächste Frühjahr vorgesehen.

In den letzten Vollversammlungen hatte man beschlossen, die Population des Dorfes auf maximal fünf- bis sechshundert Personen zu begrenzen.

Das war die vierfache Menge der vor dem Angriff höchsten Bewohnerzahl. Die Gemeinschaft betrachtete ein Gebiet von etwa zwölf Quadratkilometern als ihr Territorium, das sie per Akklamation zum Eigentum der Kommune deklariert hatte. Die Gemarkung Rennes-le-Château besaß an den Grenzpunkten bereits Schilder, die auf diese Umstände hinwiesen.

Diese Abgrenzung war des Öfteren Gegenstand hitziger Debatten gewesen; einige fanden es anmaßend, sich den Besitz anderer einfach anzueignen.

Letztlich gab es jedoch den gemeinsamen Beschluss, das Land der Aude-Niederung und die Berge jenseits der Städte als eigentumsfrei zu deuten, dessen Besetzung legitim sei. Das entsprach schließlich auch den Tatsachen, denn außer den Zombies, die immer wieder die Gegend durchstreiften, waren die Außenteams seit dem Sommer niemandem mehr begegnet. Einigen Bewohnern fiel es schwer, anzuerkennen, dass eine Abgrenzung des für die eigene Produktion genutzten Landes wichtig für den Erhalt der Gemeinschaft war. Irgendwann würde die Regierung auf Helgoland stürzen, da waren sich alle einig. Und wenn das geschah, musste man mit einer gewaltigen Reisewelle aus dem Norden in den Süden rechnen, denn hier gab es Temperaturen, die erheblich über dem Gefrierpunkt lagen und deshalb ausreichend eisfreies Gelände.

Die Siedler der New World, die mit totaler Überwachung und Waffengewalt vom Regime im Norden festgehalten wurden, würden versuchen, aus der Schneehölle zu entkommen; außerdem rückte im Osten nun eine gewaltige Zombiearmee in die Siedlungsgebiete vor, was langsam aber sicher ebenfalls eine Flüchtlingswelle auslöste.

»Was denkst du, Eckhardt«, fragte Alv unvermittelt, »wird es einen Run nach Süden geben? Und wenn ja, werden uns die Trecks erreichen?«

»Du meinst, wenn Pjotrew erfolgreich ist?«

»Ja.«

Eckhardt drehte sich mit seinem Bürostuhl um. Er griff zu seinem Tabakpäckchen, fingerte ein Blättchen heraus und drehte sich eine. Als er sie entzündet hatte, bot er Juri den Tabak an, der jedoch auf seine Filterlosen aus der Schachtel zurückgriff.

»Na jaaa«, antwortete Eckhardt in der ihm eigenen, etwas gedehnten Art, »ich denke mal, dass es irgendwann eine ernstzunehmende Bewegung nach Süden geben wird, vielleicht gehen die Leute sogar über Gibraltar hinaus, wer weiß? Dass ausgerechnet hier bei uns viele stranden, glaube ich nicht.

Die Hauptverkehrswege von Bordeaux, Toulouse und Narbonne nach Süden führen in weiten Bögen um uns herum, selbst die Ost-West-Tangente über Carcassonne ist weit genug weg, um unsere kleine Ecke hier unscheinbar werden zu lassen. So gesehen hast du diesen Ort verdammt gut ausgewählt, das muss ich schon sagen.

Wenn allerdings die Zeds Richtung Spanien vordringen, dann könnte es schon sein, dass wir etwas mehr zu tun bekommen, als das im Moment der Fall ist. Der einzige Vorteil, den die Zeds mit sich bringen, ist der, dass sie uns nicht die Ernte wegfressen.«

Alv nickte und schnalzte mit der Zunge.

»Um langfristig als Gemeinschaft überlebensfähig zu werden, müssen wir aber noch wachsen. Ich finde die Fünfhundertergrenze der Vollversammlung eigentlich okay. Nur werden wir eine Auswahl treffen müssen. Auch wenn wir zweihundert oder dreihundert sind, sollte noch immer die Vollversammlung über neue Mitglieder und wesentliche Dinge abstimmen. Aber wir brauchen dann ein Exekutivkomitee, das kurze Entscheidungswege hat.«

Eckhardt nickte zustimmend, dann meinte er:

»Na ja, im Grunde haben wir das ja jetzt schon. Du bist ja so was wie ein gewählter Bürgermeister, ich bin eine Art Verteidigungsminister, Holger ist unser Leitender Ingenieur, Katharina die Personalchefin, Wolfgang ist unser Bildungsminister …«

»Ja, du hast natürlich Recht, Eckhardt. Aber ich denke, wir sollten diese oder ähnliche Posten irgendwann einmal durch offizielle Wahlen legitimieren. Und eine Art Verfassung würde unserer Gemeinschaft vielleicht auch guttun.

Bislang ist das doch eher so eine Art Common Sense, was in unserer kleinen Gemeinschaft auch völlig okay ist. Wir stimmen beim Essen ab und gut ist. Aber wenn wir hier merklich wachsen, sollten wir Komitees und Kompetenzposten einrichten, finde ich. Meine Idee wäre, einmal jährlich in der Vollversammlung richtige Wahlen für bestimmte Posten abzuhalten. Die jeweiligen Amtsinhaber legen eine Art Rechenschaftsbericht vor und es wird neu gewählt. Wie in einem Verein. Die Amtsträger bilden dann den Rat, der die Vollversammlung unterstützt und auch die Beschlüsse der Versammlung umsetzt. So brauchen wir nachher nicht für jede Beetbepflanzung eine Abstimmung mit drei- oder vierhundert Leuten.

Zumindest für administrative Aufgaben und die Verwaltung fände ich so was nützlich.«

»Grundsätzlich ist die Räte-Idee auch eine gute«, entgegnete Eckhardt, »aber zum Beispiel im Bereich Sicherheit und Verteidigung, wie sieht es da aus? Wir können ja nicht jedes Jahr unsere langfristigen Strategien über den Haufen werfen.«

»Da hast du natürlich Recht. Ich denke, grundsätzliche Richtlinien, zum Beispiel eben, wie wir uns als Gemeinschaft nach außen verteidigen, sollten wir längerfristig anlegen. Und die Entscheidungen der Vollversammlung sollten hier am besten mit mehr als Dreiviertelmehrheit oder so zustande kommen. Wir müssten das mal exakt durchrechnen und Modelle kreieren, müssen wir ja auch jetzt nicht festlegen. Mir geht es nur darum, dass wir mittel- und langfristig als geschlossene Gemeinschaft entscheidungs- und handlungsfähig bleiben und nicht in dieses ›alte System‹ der Verantwortungsabgabe zurückfallen.

Vor der Apokalypse sind die Leute zur Wahl gegangen, haben irgendwo ihr Kreuzchen gemacht und mit Listenplätzen und Überhangmandaten saßen da auf einmal Leute im Parlament, die kein Schwein gewählt hatte. Aber die Wähler hatten denen dann per Kreuzchen ihre Verantwortung übertragen, und die liebe Wählerseele hatte Ruh’.«

»Ja«, warf Holger ein, »im Grunde konntest du zwischen schwarzer Pest und roter Cholera wählen, den grünen, blau-gelben oder braunen Dünnschiss gab es gratis obendrauf.«

»Worauf ich hinaus will«, setzte Alv seinen Gedanken fort, »ist Folgendes: Die Wähler hatten sich ihrer eigenen Verantwortung entledigt, um Menschen mit Macht und Mitteln auszustatten, die sie dann als ›die da oben‹ beschimpfen, verfluchen oder schlichtweg wieder wählen konnten, wenn das Stimmvieh an den Urnen zusammengetrieben wurde. Und diese Tretmühle lief immer wieder und wieder und wieder. Aber wir haben uns entschlossen, hier in Rennes eine neue Gesellschaft aufzubauen, wir nennen uns ›Die Gesellschaft des Willens‹.

Diese Gesellschaft sollte geprägt sein von einer Tugend der Verantwortungsübernahme, statt der Abgabe derselben. Ich wünsche mir Menschen, die andere mit der Wahrnehmung kollektiver Aufgaben beauftragen aus einer Situation des Vertrauens heraus und nicht, weil es für sie persönlich das kleinere Übel bedeutet.«

»Das erinnert etwas an Dubčeks Sozialismus mit menschlichem Antlitz«, meinte Eckhardt grinsend, noch immer rauchend.

Alv kam gerade erst so richtig in Fahrt. Als Bischof seiner Laienkirche war er es gewohnt zu predigen, doch früher ging es dabei meist um Gewissen, Ethik, den Willen zum Glauben. Inzwischen jedoch standen sie vor der Aufgabe, im Grunde eine neue Zivilisation zu errichten, und das erforderte grundlegend neue Gedankengänge. Von jedem.

»Na, und wenn schon«, lamentierte er unbeeindruckt weiter, »mir ist wichtig, dass wir etwas von Menschen für Menschen errichten, das funktioniert und Bestand hat. Das Einzige, was uns dabei ernsthaft im Wege stehen könnte, ist menschliche Gier. Das war schon immer so. Sozialismus ist eine gute Idee, doch er scheiterte stets an der Gier der Menschen. Wenn wir mit unserer Gemeinschaft auch geistig überleben wollen, dann müssen wir unsere eigenen Ansprüche stets überprüfen. Wir müssen diese Gier nach Macht, Einfluss, Besitz und so weiter in uns lokalisieren und mit dem Schwert des Willens von unserem Geist trennen. Nur so werden wir es schaffen, diese Apokalypse auch weiterhin zu überleben und für unsere Kinder etwas zu errichten, das sich als lebenswert erweist.«

»Hört, hört!«, kommentierte Holger. Juri blieb erstaunlich ruhig. Er hörte sich alles an und versuchte, möglichst viel zu verstehen. Eckhardt stimmte grundsätzlich zu.

»Das alles hört sich prima an und du weißt ja, dass ich es ähnlich sehe. Ich weiß auch, dass du ein Willensmensch bist, so wie ich einer bin und viele andere in unserer Gemeinschaft auch. Es klappt ja auch prima bisher, alle gehen in eine Richtung und ziehen an einem Strang. Aber wie machen wir das, wenn neue Bewohner, zum Beispiel aus dem Norden, hinzukommen? Die haben im Reich des bösen Marschalls gelernt, dass nur die Gier sie am Leben erhält. Es wird nicht leicht sein, ihnen das abzugewöhnen.«

»Dafür habe ich noch kein wirklich gangbares Konzept, ehrlich gesagt. Ich hoffe, es gelingt uns, dafür Methoden zu entwickeln, bevor es zu spät ist.«

»Das hoffen wir alle«, fügte Holger hinzu.