Jahr Zwei, 28. Oktober, Nachmittag I

Kzu’ul weidete sich genüsslich an dem Kadaver eines Warmen. Er liebte den sprudelnden roten Saft, wenn er seine Kehle benetzte und ihn vortrefflich nährte. Hier in der Stadt, welche die Warmen Kiew nannten, gab es noch viele von ihnen, die nicht geflohen waren. Gut so, fand er, denn seine Höheren Kriegerwesen mussten sich stattlich nähren, um im Kampf ihre herausragenden Eigenschaften voll entfalten zu können. Die Flinken und die Lahmen konnten fressen, was übrig blieb. Oft fraßen die Flinken einfach welche von den Lahmen, es gab schließlich genug von ihnen. Kzu’ul kümmerte das nicht.

Sein Millionenheer, mit dem er die neuen Jagdgebiete im Westen eroberte, drängte unaufhaltsam weiter in das Gebiet der Warmen, nichts konnte den Vortrieb stoppen. Zwar setzte man ihnen mit seltsamen Waffen zu, die auch große Verluste herbeiführten, doch letztlich war die Übermacht der Zeds derart gewaltig, dass sich die Warmen beugen mussten und meist Hals über Kopf flohen. Selbst ihre Fluggeräte konnten die mächtigen Struggler inzwischen ausschalten, denn sie hatten gelernt, deren Bewegungen vorauszuahnen.

Gottgleich dröhnte die geistige Stimme des Anführers im Äther und trieb die Struggler zu immer neuen Taten an. Er mahnte seine Offiziere, zu töten und sich an den Gefallenen die Atzung zu nehmen, nur ja kein Mitleid zu zeigen und niemanden zu verschonen. Auch die Niederen unter den Untoten hörten die Stimme des Meisters und folgten ehrfürchtig jedem seiner Befehle und auch den geistigen Anweisungen seiner Untergebenen. Ohne Rücksicht auf Verluste kämpften die Zeds im zweiten Zombiekrieg, nur diesmal nicht als gierige, triebgesteuerte Herde, sondern als mächtige Armee unter dem Befehl eines der ihren, eines Zeds namens Kzu’ul. Er war Gefangener der Warmen gewesen, hatte sich befreit und war ihnen in einem unbeschreiblichen Gewaltmarsch entkommen. Die Geschichten, von denen die Stimmen im Äther wisperten, kündeten davon, wie der Meister tief im Dunkel des nassen Elements, das für Lahme und sogar für die Flinken das Ende bedeutete, gegen ein Dämonenheer gekämpft hatte, wie er den eisigen Lüften aus den Herkunftsgebieten der Armee getrotzt hatte und binnen weniger Zyklen zum großen Wall gelaufen war, um die Gefolgschaft zu rufen. Es verstand sich von selbst und war nur recht und billig, dass er von seiner Armee nun dasselbe verlangte, was er geleistet hatte, und es gab nicht einen Zombie, der ihm nicht ohne Rücksicht auf die eigene Existenz blind überallhin gefolgt wäre.

Kzu’ul galt unter den Fleischfressern als Messias, er kam, um sie in die himmlischen Jagdgründe zu führen, in eine Welt, in der die beißende Kälte nicht länger ihre Glieder lähmte. Der Meister hatte ihnen verkündet, dass dort, wo das Tageslicht verlosch, auch die weiße Kälte verschwand, dass in dieser Richtung jede Menge Warme lebten, die das Heer der Untoten nähren sollten. Und jeder Zombie wusste: Der Meister hatte recht gesprochen, denn je weiter sie dem Licht folgten, desto mehr Warme begegneten der tödlichen Armee. Manchmal trafen sie auf ganze Nester von Warmen, diese setzten sich zwar zur Wehr und vernichteten viele der Niederen, doch die Höheren, die gewaltige Krieger waren, besiegten die Beute und brachten sie schließlich am Ende eines Kampfes zur Strecke.

Nachdem er sich lustvoll schmatzend der Atzung hingegeben hatte, lehnte Kzu’ul an der Mauer eines Gebäudes und sinnierte über das weitere Vorgehen. Der Geringe, dessen Bezeichnung Gap lautete, hatte im Stillen berichtet. Der Mann, der auch ihn, Kzu’ul, gefangen gehalten hatte, wollte aus den Essenzen des untoten Fleisches nun neue, ebenfalls höhere Wesen erschaffen. Kzu’ul war das nur recht, denn auch diese Wesen würden seine Stimme, die des Meisters, vernehmen können. Und er hatte Nachrichten für sie.

Still lauschte er in den Äther, ob er ihre Rufe bereits vernehmen konnte. Doch bislang blieben die einzigen Gedanken, die er aus der Richtung der Festung erhielt, die wimmernden Ehrbezeugungen des Gap. Doch das würde sich bald ändern, denn die weißgewandeten Warmen, die dem Stammesführer dort dienten, würden neue Höhere Wesen erschaffen, so oder so. Zufrieden lehnte Kzu’ul sich zurück und befahl seinen Scharführern, dieses Nest gründlich von Leben zu säubern. Sie konnten sich Zeit lassen mit der Atzung und der Fütterung der Niederen, denn es gab niemanden, der seine Pläne durchkreuzen konnte.

Um ihn herum streunten die Zeds durch das verschneite Kiew auf der Suche nach Beute. In vielen Häusern und öffentlichen Gebäuden wurden sie fündig. In Massen stürmten die fressgierigen Kreaturen die Gebäude und stürzten sich auf alles lebende und tote Fleisch, wobei sie ihre eigenen Gefallenen nicht verschmähten. Die Rangordnung erlaubte es den Walkern und Huntern nicht, zu fressen, bevor sich nicht die Struggler an den Menschen gütlich getan hatten.

Oft stürmten die Struggler zuerst in ein Gebäude, weil ihnen die Gewehrkugeln kaum etwas anhaben konnten. Schusswunden schlossen sich nach Sekunden, schwerere Verletzungen brauchten nur geringfügig länger, bis das zerrissene Fleisch sich schloss, als würde jemand einen Reißverschluss zuziehen. Wenn die Verteidiger auf die Köpfe zielten, schützten die stark verhärteten Schädelplatten die Struggler vor Durchschüssen. Um eine Gewehrkugel in einen Strugglerschädel zu bekommen und das Gehirn auszuschalten, bedurfte es schon eines Treffers in die Augenhöhle oder schräg in den Mund oder in das Ohr, was sich für ungeübte Schützen als extrem schwierig erwies. MG-Beschuss oder stärkere Kaliber über neun Millimeter und Spezialmunition wie Sprengmantelgeschosse drangen schon eher durch, gehörten jedoch nicht zur Standardbewaffnung der Menschen. So hatten die Struggler als Sturmspitze meistens leichtes Spiel, und die nachrückenden Zeds erledigten dann den Rest durch ihre schier unüberschaubare Anzahl. Wie eine geifernde Flut aus schleimigen, stinkenden Mäulern kamen die Zombies über die Bewohner und Verteidiger der Stadt, kaum jemand hatte ernsthafte Chancen gegen diese Invasion, die Situation ähnelte frappierend der zu Beginn der Apokalypse.

*

Igor Nikolaijewitsch Tarassow und sein über einhundert Mann starkes Spezialkommando aus SpezNas-Kämpfern hatten sich im nordwestlichen Stadtteil auf dem Gelände des Antonow-Werksflugplatzes verschanzt. Sie hatten ein kleineres Verwaltungsgebäude im südlichen Teil des Geländes, dicht an der Startbahn gelegen, komplett verbarrikadiert, und ihre gesamte Ausrüstung direkt an der Startbahn aufgeschichtet.

Wenn Major Tschischkarin mit der erwarteten Maschine von Helgoland kam, musste es unter Umständen schnell gehen. An der Zufahrt zur Startbahn gab es zwei Haufen. Einer beinhaltete Rucksäcke, die mit Notration, Medkit und reichlich Magazinen für die AK 107 der Sturmtruppe gepackt waren, der zweite Haufen bestand aus Waffenkisten, in denen weitere Gewehre, Handgranaten, Sprengstoff, Zünder und Kleinraketen vom Typ SA-16 Gimlet verwahrt wurden. Beim Run auf das Flugfeld sollte sich jeder einen Rucksack greifen, umschnallen, und dann mit je einem Kameraden eine der fünfzig Kilogramm schweren Kisten packen und zur Maschine transportieren. An der Maschine selbst würden die Kameraden, die dort angekommen waren, den anderen Feuerschutz gewähren. Soweit der Plan.

Igors Leute hatten überall Barrikaden errichtet und den etwa einhundert Meter langen Weg zum Flugfeld mit Stahlgeflechtmatten abgegrenzt, indem sie die gerahmten Zaunelemente zu einem dreieckigen Tunnel verbaut hatten. So wollte Igor den Zeds eine möglichst geringe Angriffsfläche bieten für den Moment, den seine Leute brauchten, um zum Flugfeld zu laufen. Lediglich die letzten etwa zwanzig Meter zum gelandeten Flugzeug müssten sie dann über freies Feld laufen, und das mit schwerer Last und wahrscheinlich Hunderten Zeds im Nacken.

Im Inneren des Gebäudes herrschte auch am frühen Nachmittag Dunkelheit, denn die Fenster waren komplett verbarrikadiert und mit schweren Brettern vernagelt. Zudem waren die Scheiben im Untergeschoss mit Blechplatten aus der Produktionshalle verkleidet. Auf dem Gelände streunten die Walker in kleineren Gruppen umher, ziellos und desorientiert, denn alle Soldaten im Gebäude waren mit dem T93 behandelt worden, das sie für die Witterung der Zombies unsichtbar machte. Das Team achtete penibel darauf, im Gebäude keine lauten Geräusche von sich zu geben, so dass selbst die Hunter-Zeds, die ab und an draußen schnüffelnd und grunzend herumschlichen, nicht auf die Menschen aufmerksam wurden. Die einzige Sorge bereiteten Igor diese neuartigen Zombies, die Struggler, von denen er dank Olegs Hackerkünsten schon einige Videos im ARPAII-Netz gesehen hatte. Diese Bestien waren wirklich gefährlich, zumal sie die Masse an Walkern, die überall herumschlichen, zum Angriff stimulieren konnten.

Glücklicherweise hielten sich die Struggler noch im östlichen Teil der Stadt auf, sie schlachteten dort gerade die gesamte Zivilbevölkerung und die Sicherheitskräfte ab. Niemand aus der New World Zentrale hatte daran gedacht, die verbliebenen etwa zwanzigtausend Einwohner Kiews zu evakuieren, als die Zombiearmee anrückte. Der Marschall hatte diese Menschen kaltschnäuzig geopfert, um den Vorstoß der Zeds zu verlangsamen. So wie er es auch mit Igors Familie in Moskau getan hatte. Doch dafür würde diese Bestie in Menschengestalt bald den Preis bezahlen. Igors innige Gebete richteten sich darauf, möglichst lebendig von hier zu entkommen, nicht, um irgendwo ein sorgloses Leben am Mittelmeerstrand führen zu können, sondern um dem Diktator Auge in Auge gegenüberzutreten und unerbittlich den Preis für seine tote Familie einzufordern. Innig flehte er um den Beistand des Herrn für seinen gerechten Feldzug.