Jahr Zwei, 22. Oktober, Nachmittag

»Wie soll ich Sie nennen? Ich muss gestehen, dass ich etwas ratlos bin, was das angeht.«

»Du nennst mich Gap. Der Meister nennt mich Gap. Das ist meine Bezeichnung.«

Professor Ethelston rutsche etwas nervös auf seinem Stuhl hin und her. Doktor Newark saß neben ihm und wirkte völlig gefasst. Sie hatte ihre langen roten Haare zu einem strengen Pferdeschwanz gebunden und linste über ihre Brillengläser durch die Gitter. In ihren Händen hielt sie ein Notepad, auf dem sie die Unterhaltung mitschnitt und mit Notizen kommentierte.

»Ja, der Meister«, stieg Ethelston ein, »wie genau verhält es sich mit ihm? Warum nennst du ihn Meister?«

»Der Meister hat uns alle gemacht.«

»Wie? Alle Zombies?«

»Alle Höheren Wesen. Nicht die Lahmen, nicht die Hetzer, nur die Höheren.«

»Und du bist ein Höherer?«

»Ja. Gap ist Höherer. Ein Erster.«

»Verstehe. Und du kannst mit dem Meister sprechen?«

»Gap hört die Gedanken des Meisters. Er denkt weit.«

»Wo ist der Meister? Du sagst, er denkt weit. Bedeutet das, er ist weit weg?«

»Ja. Weit. Kommt näher.«

»Wo ist der Meister?«

Der Struggler schwieg. Sein starrer, bohrender Blick haftete auf Ethelstons braunen Augen, was diesem einiges Unbehagen verursachte. Er beschloss, diesbezüglich nicht nachzufragen und änderte die Richtung seiner Fragestellung.

»Wir haben einige Proben von dir bekommen und seltsame Gene in deinen Zellen entdeckt. Wie weit kannst du mit mir über die Arbeit von Professor Weyrich sprechen? Gibt es Erinnerungen?«

»Ja. Alles.«

»Aber«, warf der Professor erstaunt ein, »wenn du dich an alles erinnerst, dann müsste es dir doch möglich sein, das alte Leben des Professors weiterzuführen?«

»Möglich, ja. Aber nicht gewollt.«

»Du hast einen Willen?«

»Trieb.«

»Ist der stärker als der Wille?«

»Durch Trieb ist Gap Höheres Wesen. Unsterblich.«

»Ja, natürlich bist du in gewissem Sinne unsterblich, du bist ja schon tot. Der beste Zauberer verwandelt nicht Brot in Brot.«

»Nicht tot. Höheres Wesen.«

»Dein Herz schlägt nicht.«

»Nicht nötig. Höheres Wesen benötigt keinen menschlichen Kreislauf. Liquide im Körper sind stets in Bewegung, wenn Gap sich bewegt. Gesamter Körper ist Herz geworden. Muskeln müssen nicht brennen, um zu funktionieren.«

»Aha. Keine Sauerstoffaufnahme, verstehe. Das ist wichtig für die Unsterblichkeit, oder?«

»Ja. Dein Körper verbrennt. Gaps Körper nicht.«

Der Professor rieb sich sinnierend das Kinn, während Doktor Newark auf dem Screen Notizen eintippte.

»Zurück zu deinen Genen«, fuhr Ethelston fort, »du trägst zum Teil sehr alte Gene in dir, ist dir das bewusst?«

»Gap verfügt über Zellerinnerung. Nichts geht verloren. Ja, Gene sind sehr alt. Einige.«

»Genau. Kannst du die verschiedenen Gene in den veränderten Zellkernen deines Körpers lesen?«

Der Professor entschloss sich mit dieser Frage, eine gewagten Vorstoß zu unternehmen. Wenn der Struggler seine eigenen Gene decodieren konnte, dann war er in der Lage, wichtige Schlüsselinformationen für die Nephilim-Forschung beizusteuern. Erstmals in der Geschichte der Forschung könnte die Wissenschaft mit uralten Genen quasi direkt kommunizieren. Ein Umstand, der jeden normal denkenden Menschen im Angesicht dieser furchtbaren Kreatur in Angst und Schrecken versetzt hätte, doch Ethelston war Wissenschaftler und betrachtete diese Angelegenheit aus der Forscher-Distanz. Der Umstand, dass auch KZ-Arzt Mengele seine »Arbeit« mit ähnlicher Distanz betrachtet hatte, minderte nicht den Forschungsdrang des Professors.

»Wie verhält sich das? Wie bekommst du die Informationen, die deine versteckten Gene in sich tragen?«

Der Struggler schien einen Moment zu überlegen. Er wiegte sich hin und her, bevor er schließlich antwortete.

»Das Ich kann Gene denken. Sehe Ketten, Knoten. Befehle Öffnung im Geiste. Bilder, Töne, Gefühle steigen auf.«

»Da sind Erbinformationen aus dem Kambrium zum Beispiel. Kannst du die wirklich lesen?«

»Ja, Gliederfüßer. Segmentiert. Große Kieferzangen greifen nach anderen Wesen. Sehr stark im Verhältnis zum Körperbau. Die Stärke ist im Höheren Wesen noch heute verfügbar.«

»Du kannst also auf sämtliche genetisch codierten Funktionen zurückgreifen, um sie zu realisieren?«

»Alle verfügbaren Informationen sind realisierbar. Ja.«

»Daher stammt auch deine Fähigkeit zur Regeneration beschädigter Teile deines Körpers, ja?«

»Eine alte Erinnerung.«

Der Professor sah zu seiner Kollegin; sein Gesicht zeigte einen Ausdruck, den man vielleicht bei einem Achtjährigen sehen konnte, der sein erstes Smartphone geschenkt bekam – aber normalerweise nicht bei einem Universitätsprofessor.

»Ist das nicht fantastisch, Linda? Dieses Virus ist gewissermaßen eine abiotische Lebensform, die ihr gesamtes Potenzial erst im Wirtskörper entfaltet. Es dringt in den Organismus ein, tötet ihn und beseitigt alle nicht benötigten Funktionen, um quasi seine eigene Software zu installieren, neue Funktionen zu implementieren und sich in eine komplett andere Richtung zu entwickeln.«

Die Doktorin schaute etwas despektierlich über den Rand ihrer Brillengläser und entgegnete kühl:

»Das habe ich mit meinem Windows-Rechner auch gemacht, der läuft jetzt mit Linux und emuliert nur noch ab und zu eine Windows-Umgebung.«

Sie meinte das nicht als Scherz, das sah man ihr an. Der Professor stutzte und schaute etwas verwundert. Dann schüttelte er jedoch den Kopf und sprach den Struggler erneut an. »Wenn wir dich nun in einen Magnetresonanztomographen legen und du deine Erbinformationen aufrufst, dann können wir quasi eine exakte Kartographie durchführen. Wärst du dazu bereit?«

Der Struggler klirrte mit seinen Ketten. Demonstrativ hob er eine Hand, an der die starken Armschellen mit den schweren metallischen Ketten befestigt waren. Der Professor verstand.

»Ja, das ist natürlich ein Problem. Ich werde den Marschall fragen, ob es dafür eine Lösung gibt. Bis dahin werden meine Kollegin und ich uns weiter mit den Zellproben befassen. Bisher war es ja recht hilfreich.«

Damit erhob er sich von seinem Stuhl. Doktor Newark tat es ihm nach und die beiden Wissenschaftler verließen den Raum.

Der Struggler ließ sich an der Wand nieder und stieß ein leises Grunzen aus. Dann veränderte er den Fluss des Wassers in seinem Leib und versetzte sich in eine Art Trance. Er lauschte den Stimmen in seinem Kopf. Sie waren vielfältig, einige lauter, andere leiser, wiederum andere klangen verschwommen.

In der letzten Zeit wurden es mehr Stimmen. Doch mit einem Mal traten sie alle in den Hintergrund, sie verblassten im Donner einer einzigen Stimme. Der Meister!

›Ich sehe dich, Gap!‹

Den Struggler packte eine tiefschürfende Emotion, die irgendwo zwischen euphorischer Freude und hündischer Demut einen Spagat versuchte. Ein wimmerndes Fiepen entfleuchte seiner Kehle und seine Gedanken flogen dem Meister entgegen.

›Ich sehe dich, Meister Kzu’ul! Dein Blick auf mich ehrt den Geringsten deiner Diener.‹

Gap war auf der einen Seite glücklich, dass der Meister sich ihm zuwandte, aber ein kleiner Teil in ihm erschauerte in Furcht und in der Erinnerung seiner Erschaffung durch den Meister.

In seiner früheren Seinsform als Professor Weyrich hatte Gap selbst den Meister gefoltert, von seinem Körper Glieder abgetrennt, ihn mit allen nur erdenklichen Krankheitserregern zu infizieren versucht. Er hatte den Struggler in seinem Labor gestochen, geschnitten, verbrannt, mit Stromschlägen behandelt und versucht, ihn zu verstehen. Die abgetrennten Gliedmaßen wuchsen nach, die Krankheiten kamen nicht im Ansatz zur Entfaltung und Schmerz bedeutete der Bestie nichts. Aber eine kleine Unaufmerksamkeit, ein geringer Fehler hatte ausgereicht, um das Machtverhältnis umzukehren. Der Meister hatte den Professor und seinen Mitarbeiter, Doktor Fischer, ausgetrickst und Dysfunktionalität vorgetäuscht.

Als man seinen Leib öffnen wollte, um nach der Ursache für die Funktionsstörung zu suchen, hatte er sich auf den Professor gestürzt und ihn in einen Iszverg verwandelt, ein Höheres Wesen. Der Doktor hatte weniger Glück, er wurde von Gap gefressen.

Der Meister hatte sich aus der Festung befreien können, Gap jedoch war dies nicht gelungen. Er saß nun in Ketten gelegt im Herzen der Festung und fristete sein Dasein als Forschungsobjekt.

›Du bist bei den Warmen noch, ist es so?‹

›Ja, Meister. Sie untersuchen Gap. Wollen Iszverg schaffen, aber nicht als Höhere, sondern als Geringe unter den Warmen. Rufen diese dann: Nephilim.‹

Der Meister sandte ein Gefühl der Zufriedenheit, was Gap sehr erfreute, denn er hatte große Furcht, sein Verbleib in der Festung könnte dem Meister missfallen. Gap wollte den Meister auf keinen Fall enttäuschen. Er sandte weitere Gedanken: ›Die Warmen untersuchen Gap und reden mit ihm. Sie berichten von ihren Forschungen und beginnen, Gap zu vertrauen.‹

›Dann sollst du bei ihnen bleiben. Zeige ihnen deine Dinge. Lass sie lernen von dir. Und wenn die Iszverg der Warmen erwachen, werden sie mich sehen. So soll es sein.‹

›Gap gehorcht dem Meister. Ehre dem Ersten der Höheren!‹

Nachdem Gap dem Meister die Ehre bezeugt hatte, verstummte dessen Stimme in seinem Kopf und der Struggler war wieder allein in der vergitterten Zelle. Die Leere hinterließ eine Art tiefer Einsamkeit in Gaps Bewusstsein. Doch er hatte eine Aufgabe. Eine Aufgabe vom Meister selbst, er konnte wiedergutmachen, dass er kurz nach seiner Erschaffung durch den Meister versagt hatte.

Etwa eine Stunde später erschienen der Professor und seine Kollegin mit einigen Soldaten in Gaps Zelle. Sie hatten ein seltsames Gerät bei sich, ein mannshohes Gestänge mit einem Elektromotor und einer großen Rolle an der Seite. Der Professor sprach Gap an.

»Die Soldaten werden gleich zu dir kommen und dich in eine Kunststofffolie wickeln, die sehr zäh und reißfest ist. Diese dient dazu, dich für die MRT-Untersuchung zu fixieren. Es ist sicherlich besser, wenn du kooperierst. Hast du das verstanden?«

Der Koloss erhob sich in seinen klirrenden Ketten vom Boden und baute sich gerade auf. Den Professor überragte er um mindestens einen Kopf. Dann sagte er mit dunkler, knarrender Stimme:

»Gap versteht. Kooperiert. Nicht bewegen.«

»Ja, gut. Die Folierung ist nötig, weil wir im MRT die Metallketten abnehmen müssen. Man hat mir allerdings zu verstehen gegeben, dass die Folie mindestens genauso stark ist wie die Ketten. Zuerst werden die Männer den Oberkörper und die Arme fixieren, dann die Beine. Im nächsten Schritt werden deine Ketten gelöst und dann wirst du komplett in die Folie verpackt. Du bekommst Kopfhörer auf, der mit verpackt wird. Damit kannst du mich dann während der Untersuchung hören. Eine Atemöffnung brauchst du ja nicht, oder?«

»Gap benötigt keinen Gasaustausch.«

»Gut, dann beginnen wir jetzt.«

Knappe dreißig Minuten später lag der mächtige Struggler komplett in zwanzig Lagen Folie eingewickelt auf einer Bahre, er konnte sich trotz seiner gewaltigen Körperkräfte keinen Millimeter mehr rühren.

Die Soldaten, die ihre schweren Waffen noch immer im Anschlag hielten und auf den Kopf des Strugglers zielten, begleiteten den Professor und Doktor Newark zum MRT-Raum, wo ein Gerät der neuesten Generation stand. Der riesige Magnetresonanztunnel lieferte Bilder in Echtzeit, was für das Experiment von immenser Wichtigkeit war.

Sechs Soldaten brachten die Bahre, auf der Gap fixiert war, in den Raum und positionierten sie auf Ethelsons Anweisungen vor dem MRT-Tunnel. Als alle Personen den Raum wieder verlassen hatten, aktivierte der Professor das Gerät, und ein tiefes Brummen, durchsetzt mit harten Knacklauten, erfüllte die Kammer.

Der Professor und seine Kollegin standen in einem durch eine Scheibe abgetrennten Nebenraum und betrachteten die Bilder, die der Tunnel lieferte. Von Zeit zu Zeit gab der Professor dem Struggler über den Kopfhörer Anweisungen, welche seiner Gene er bewusst visualisieren sollte, daraufhin veränderten sich die Bilder auf den verschiedenen Bildschirmen. Die Computer im Raum zeichneten ungeheuer große Datenmengen auf; diese würden den Grundstein für die Entschlüsselungsarbeit des Z1V33-Codes liefern.

»Faszinierend, diese Kreatur!«, frohlockte der Professor. Doktor Newark teilte diese Ansicht nicht unbedingt.

»Ich weiß nicht, John. Mir bereitet das etwas Sorgen. Wir bewegen uns auf einem Feld, das ich für wissenschaftlich höchst problematisch und nebenbei für ethisch fragwürdig halte. Diese Sheldrake-Theorien sind doch im Grunde genommen Esoterik. Es gibt keine wirklichen Beweise.«

»Aber, Linda«, wandte der Professor ein, »wir erheben doch gerade hier und jetzt empirische Daten zu dieser Theorie! Wir gehen dahin, wohin noch nie ein Forscher gegangen ist! Dies ist ein historischer Moment!«

Doktor Newark zuckte mit den Schultern. »Falls Sie auf einen Nobelpreis spekulieren, John, muss ich Sie enttäuschen. Dafür sind wir ein bisschen spät dran.«

»Aber, aber, Frau Doktor, wer wird denn so pessimistisch sein? Vielleicht führen wir diese Ehrung ja bald wieder ein.«

Es war die Stimme von Marschall Gärtner, die von der Tür her zu ihnen klirrend wie das Eis der Nordsee herübertönte. Doktor Newark erschrak heftig, denn der Oberbefehlshaber hatte sich ihnen so leise genähert, dass sie es nicht bemerkt hatte.

»Ah, Herr Marschall!«

Ethelston war noch immer höchst entzückt über seine Datenströme.

»Und, Professor? Wie weit sind Sie? Gibt es Fortschritte?«

Mit dem Stolz eines Sextaners verkündete der Professor seine bisherigen Ergebnisse.

»Aber sicher gibt es Fortschritte! Besonders im Bereich der Regenerationsfähigkeit. Die menschliche DNA besitzt rund neuntausend Gene, die im Zusammenhang mit Regeneration stehen, denn uns wachsen ja auch Muskel- und Nervenzellen nach. Hier können wir ansetzen. Unser … Freund besitzt erstaunlicherweise über sechshunderttausend solcher Regenerationsgene, diese konnten wir bereits identifizieren. Sie veranlassen im Falle einer Verletzung die Bildung der spezifischen Regenerationsknospe, aus der das fehlende Körperteil dann entsteht. Im Moment untersuchen wir die Gensequenzen des Virus, die für die komplette Umstrukturierung des Stoffwechsels verantwortlich sind.«

»Gut. Wie bringen wir die Struggler-Fähigkeiten nun in meine Nephilim, ohne sie komplett in stumpfsinnige Zombies oder feindlich gesinnte Struggler zu verwandeln?«

Doktor Newark gab die Antwort.

»Wenn alle gewünschten Gene kartographiert sind, werde ich sie extrahieren und auf einen Vektor bringen; hierfür nutze ich eine Variante des Z1V31-Virus, die ich speziell dafür restrukturiert habe. Da das Virus 31 nicht über die camouflierten Gene verfügt, sollte ein Transfer später relativ problemlos zu bewerkstelligen und Neben- oder Kreuzwirkungen auszuschließen sein. Technisch gesehen. Ethisch gesehen werden Sie die Probanden töten.«

Der Marschall nickte.

»Ich weiß. Und die Soldaten, die sich freiwillig gemeldet haben, um ihre Heimat gegen die Struggler zu verteidigen, wissen das auch. Kümmern Sie sich nicht um Ethik, Doktor, solchen Luxus können wir uns angesichts der Lage, in der wir uns befinden, nicht erlauben. Liefern Sie mir lieber anwendbare Ergebnisse. Professor, wann werden Sie erste Tests mit Freiwilligen durchführen können?«

Ethelston schürzte die Lippen, sah zu Newark, dann wieder auf seine Monitore und entgegnete schließlich:

»Ich denke, in etwa einer Woche verfügen wir über eine erste Testreihe. Meinen Sie nicht auch, Linda?« Doktor Newark strich sich eine Strähne ihres leuchtend roten Haares aus der Stirn und nickte. Der Marschall zeigte sich zufrieden.

»Also gut, ich lasse die Freiwilligen vorbereiten. In einer Woche dann. Weitermachen.«

Sprach’s und verschwand ebenso lautlos, wie er gekommen war.

In seinem geheimen Raum deaktivierte ein russischer General namens Pjotrew die Aufzeichnung.