Jahr Zwei, 28. Oktober, Mittag II

Igor warf einen letzten Blick zurück in das Haus, das Oleg und ihm als Heim gediente hatte und ihm irgendwie ans Herz gewachsen war.

Die kleine, aber gemütliche Küche mit dem Herdofen als das pulsierende Herz der Wohnstatt, das kleine Bad mit dem dampfenden Badeofen, das Computerzimmer, in dem nun nur noch die rudimentären Reste einer Funkanlage standen, und die ehemalige gute Stube mit dem großen Esszimmer, die Igor als Lebensmittel- und Holzlager genutzt hatte.

Das Haus musste zu Sowjetzeiten einem bedeutenden Funktionär als Datscha gedient haben, denn es war vergleichsweise groß und idyllisch am See in Cherkas gelegen. Zahlreiche Stuckornamente an der Stubendecke zeugten davon, dass hier einst jemand Wert auf Details gelegt hatte. Igor mutmaßte, dass die Sommer hier früher traumhaft gewesen sein mussten, doch nun lag alles unter einer fast zwei Meter hohen Schneedecke begraben. Kein Vogel zwitscherte mehr, keine Eichhörnchen sprangen von Baum zu Baum, und die Bewohner dieser Idylle waren von Zombies getötet oder in ihresgleichen verwandelt worden.

Den Rest hatte der Fauna und Flora der nukleare Winter gegeben, eine Katastrophe, die sich weit weg von hier ereignet und dennoch das hiesige Leben in einer eisigen Hand aus Frost und Schnee erdrückt hatte. Das einzige Leben, das man hier noch antraf, befand sich in mehreren Metern Tiefe in den Flüssen und Seen der Umgebung, verborgen unter einer dicken Eisschicht.

Oft hatten Oleg und Igor den Nachmittag draußen auf dem Eis verbracht, in dicke Decken gehüllt, am Eisloch frierend und darauf wartend, dass Fische anbissen. Der Fisch war lange Zeit ihre einzige Quelle für frische Nahrung gewesen und man konnte daraus eine gute Soljanka zubereiten. Doch nicht nur Eintöpfe verstand der schlanke, langhaarige Hacker zu kochen, auch seine Piroggen waren für Igor stets ein Genuss gewesen. Oleg hatte sich äußerst begabt in der Küche gezeigt, und weiß Gott nicht nur dort.

Igor zog eine zerknitterte Packung Filterzigaretten aus der Brusttasche seiner dicken Armeejacke und steckte sich eine an. Während er den Rauch inhalierte und auf das Kratzen im Hals wartete, dachte er weiter über Oleg nach.

Irgendwie war es mit dem Jungen seltsam gelaufen. Eigentlich war Igor ein Familienmensch, seine Frau und seine Tochter hatten ihm alles bedeutet, bis dieser Marschall sie ihm genommen hatte.

Als er Oleg vor einem dreiviertel Jahr im Krankenhaus in Kaliningrad zufällig begegnete, war es irgendwie anders. Der Junge hatte sich ihm auf der Flucht nach Süden in einer Weise genähert, die unter normalen Umständen für ihn hätte tödlich enden können. Aber seit Igors Begegnung mit der göttlichen Schöpfungskraft hatte sich vieles in ihm verändert. Schließlich ging er mit Oleg so etwas wie eine Beziehung ein, wobei der Junge nicht nur aufgrund seiner Statur eher die Rolle der Frau einnahm.

Igor musste sich eingestehen, dass er in dem Sommer, den sie zusammen verbracht hatten, sich sogar ein wenig in Oleg verliebt hatte. Wenn er sich selbst gegenüber ehrlich blieb, war es nicht nur ein wenig.

Er liebte diesen Jungen. Von ganzem Herzen. Und genau das war auch der Grund, warum er ihn fortgeschickt hatte. Wenigstens Oleg sollte in Sicherheit sein, und wie es aussah, waren diese seltsamen Vögel da in Rennes-le-Château in der Lage, den Jungen zu schützen.

Er war jetzt dreiundzwanzig Jahre alt, zu jung, um mit Igor im Kampf zu sterben. Ihm fiel auf, dass er nicht einmal den Geburtstag des Jungen kannte. Oder hatte er ihn vergessen? Letztlich war es egal.

Nun also, da er wusste, dass Oleg an einen sicheren Ort gebracht wurde und die Mission des Wissarion weiterführte, konnte Igor ruhigen Gewissens seinen Kampf gegen das Böse in Menschengestalt aufnehmen und den Marschall vernichten.

Auge in Auge wollte er dem Tyrannen gegenüberstehen und ihn eigenhändig töten, so wie Gott es ihm befohlen hatte.

Doch zunächst einmal musste er sich nach Kiew durchschlagen. Der Weg dorthin war nicht allzu weit, doch inzwischen hatten die Zombieaktivitäten in dieser Gegend deutlich zugenommen. Die Strugglerangriffe auf das Lager vor einem halben Jahr hatten eine Aussicht auf das offenbart, was nun bevorstand.

Es folgten die Struggler der zweiten Generation, von denen Igor in den New World-Videodateien welche gesehen hatte. Grausame, fast unzerstörbare Kampfmaschinen, die eine gigantische Zombiearmee aus dem Osten heranführten. Die Ausläufer dieser gewaltigen Horden streunten bereits in den mittelukrainischen Gebieten herum und man traf unterwegs immer öfter auf Walker und Hunter.

Igor schnippte die Kippe in den Flur, aus dem es mittlerweile stark nach Benzin roch. Sekunden später stand das Holzhaus in Flammen. Es würde in den nächsten Stunden bis auf das Fundament niederbrennen.

Igor nickte, drehte sich um und ging zum Hauptplatz des Lagers, wo ein Konvoi aus Militärlastern bereit stand, um mit der Spezialeinheit nach Kiew vorzustoßen.

Dort, im Nordwesten der Stadt, würden die Männer sich auf einem Werksflugplatz verschanzen, bis Major Tschischkarin mit einer Antonow-Transportmaschine eintraf, um Igor und etwa einhundert Soldaten nach Helgoland zu fliegen, wo sie die Feste Rungholt zu stürmen beabsichtigten.

Der exakte Termin stand noch nicht fest, doch lange würde es nicht mehr dauern, bis der Kampf um die Festung begann.

Eine halbe Stunde später rumpelten die schweren Militärlaster über die M05, die mit einer festgefahrenen Schneedecke eher die Qualität eines Waldweges bot, denn die einer Fernstraße. Südlich von Kiew sollte die Stadt auf der Westtangente E40 umfahren werden, um dann zu den auf dem Flugplatz stationierten Soldaten zu stoßen.

Das Areal war befestigt und gut bewacht, aber auch dort würde man der herannahenden Zombieflut nicht mehr allzu lange Herr werden. So oder so, es wurde Zeit, in Richtung Nordsee aufzubrechen. Igor dachte während der Fahrt noch immer an Oleg und hoffte, dass es ihm gut ging.

*

An Bord der Kowrowez stand Oleg an Deck und dachte an seinen Igor. Er schaute in das Heckfahrwasser und schwelgte trotz der körperlichen Schmerzen, die ihn plagten, in Erinnerungen, während der laue Wind des Mittelmeers seinen geschundenen Körper umspielte. Die Zeit dicker Wintermäntel, Fellmützen und gefütterter Stiefel war vorbei, Oleg lehnte, bekleidet mit einem Jogginganzug aus Fallschirmseide, an der Reling. Irgendwo glaubte er den Schrei einer Möwe zu hören, verwies diesen Eindruck jedoch ins Reich der Fantasie. Vögel gab es schon lange nicht mehr auf dieser Welt, die Zombieseuche hatte sie alle dahingerafft. Zu Beginn der Katastrophe hatten sich die Vögel in aggressive, fliegende Seuchenherde verwandelt und maßgeblich zur Verbreitung der Infektion in der ersten Welle beigetragen. Aber die Vögel dieser Welt waren auch relativ schnell zugrunde gegangen, weil ihr Körper das Virus nicht auf Dauer tragen konnte. Mit dem Aussterben von Vögeln, Hunden, Katzen und vielen anderen Wirbeltieren war es still auf der Welt geworden.

»Na, mit den Gedanken in der Heimat?«

Oberst Ryschkow trat an ihn heran und lehnte sich mit dem Rücken an die Reling, den leichten Fahrtwind genießend. Das Meer roch gut hier. Salzig, ein Hauch von Rosmarin und Thymian hing in der feuchten Luft. Das Plätschern der Wellen und das sonore Brummen des Dieselaggregats bildeten die Geräuschkulisse.

»Ja und nein, Herr Oberst«, antwortete Oleg, »ich bin sehr gespannt auf unser Reiseziel. Nach der Eishölle von Noworossija scheint es mir, als wären wir auf direktem Weg ins Paradies unterwegs. Aber andererseits, was lässt man zurück, nicht wahr?«

»Sag, Oleg, was die Männer munkeln über dich und Igor. Ist das wahr?«

»Ist das von Bedeutung, Herr Oberst?«

»Nein, nicht wirklich.«

»Aber: Ja. Igor und ich sind durch ein Band tiefer Liebe vereint. Aber es verhält sich nicht so simpel, wie die Soldaten es vielleicht auffassen. Igor hat für mich gesorgt, als es mir schlecht ging und ich Hilfe brauchte. Und er hat mir die Weisheit Gottes vor Augen geführt. Er zeigte mir, was wahrer Glaube bewirken kann. Er ist der einzige Mensch, der es je gut mit mir meinte.«

Oberst Ryschkow nickte. Oleg drehte sich zu ihm um.

»Er wird nicht nachkommen, oder? Igor wird dort oben im Eis sterben, nicht wahr?«

Keine Regung bewegte das Gesicht des Obersts.

»Das weiß nur Gott, Junge. Du solltest dafür beten, dass er das überlebt.«

Dann stieß er sich vom Geländer ab und machte sich wieder auf den Weg zum Ruderhaus. Oleg sank auf die Knie und betete.