Jahr Zwei, 06. Oktober, Abend

»Admiral Hershew. Vielleicht sehen Sie sich das mal an.«

Der Marschall hatte offensichtlich keine besonders gute Laune. Als der herbeigerufene Admiral die Kommandoleitstelle betrat, zeigte Gärtner auf einen mit Bildstörungen durchsetzten Monitor, auf dem das Bild eines etwa sechzigjährigen Soldaten zu erkennen war. In diesem Moment startete der Operator die Videoaufzeichnung erneut.

Es schien sich um eine Botschaft zu handeln, die in bestimmten Intervallen über alle möglichen Frequenzen versandt wurde. Der offensichtlich hochdekorierte Soldat sprach, begleitet von Rauschen und Knarzen:

»Meine lieben Landsleute. Amerikaner. Unser Präsident, der Vizepräsident, alle Mitglieder der Regierung und die Mitglieder sowohl des Senats als auch des Repräsentantenhauses sind tot. Als höchstrangiger Befehlshaber der Streitkräfte der Vereinigten Staaten von Amerika habe ich die Befehlsgewalt über unsere restlichen Truppen übernommen. Alle kommandierenden Offiziere melden sich über Kanal Gold-Zwei im SJFHQ-N.«

Hershew stutzte.

Er wirkte sichtlich verwirrt und fragte den Operator nach dem Alter der Meldung. Dieser bestätigte, dass die Nachricht noch immer alle 24 Stunden ausgestrahlt wurde, und zwar von einem Standpunkt mitten in den Vereinigten Staaten.

»Seltsam«, meinte der Admiral nachdenklich, »Wir haben dieses Signal auf den Schiffen früher nicht empfangen.«

»Wer ist der Mann auf dem Video, der sich Befehlshaber nennt?«, fragte Marschall Gärtner.

»Das«, antwortete der Admiral, »ist General Martin Dempsey, der Chairman der Joint Chiefs of Staff.«

»Von wo sendet er?«

Der Admiral antwortete nachdenklich.

»Sein Hauptquartier befindet sich im Standing Joint Force Headquarters North auf der Peterson Air Force Base in Colorado. Sie kennen es sicher als NORAD. Doch in Kriegssituationen wird das Hauptquartier in die Gewölbe des Cheyenne Mountain in der Nähe verlegt. Es besteht also eine gute Chance, dass die Mitglieder des SJFHQ-N überlebt haben. Ich werde auf Gold-Zwei …«

Der Marschall unterbrach ihn abrupt.

»Nichts werden Sie, Hershew. Sie sind jetzt Admiral der New World Streitkräfte und unterstehen meinem Kommando. Dieser General, von dem das Video ist, hat wahrscheinlich längst das Zeitliche gesegnet – und braucht seine Navy wohl kaum in Colorado. Wir hingegen, die Architekten der Neuen Welt, benötigen unsere militärischen Verbände dringend. Deshalb zähle ich auf Ihre Loyalität, Hershew. Ich meine, immerhin waren Sie es ja auch, der die Zusammenlegung unserer Truppenteile damals vorschlug. Eine Idee übrigens, die sich seit dem immer wieder und bestens bewährt hat, wie ich finde. Oder sind Sie da anderer Meinung?«

So harmlos es klang, das bedeutete einmal mehr die Gretchenfrage, und das wusste der Admiral nur zu gut. Er durfte jetzt keinen Fehler machen, das war ihm klar. So willfährig es ihm möglich war, antwortete er:

»Ich bin völlig Ihrer Meinung, Marschall. Natürlich. Es ist der Zusammenhalt, der zählt.«

»Gut, ich sehe, wir verstehen uns. Machen Sie das aus da, Operator. Das war dann erst einmal alles, Hershew. Danke.«

Der Admiral salutierte und verließ die Operationszentrale. Als er im Flur stand, zitterten seine Beine, kalter Schweiß bildete sich auf seiner Stirn. Er lehnte sich an die Wand und wischte die Stirn mit einem bestickten Taschentuch ab. Dieses Taschentuch hatte eine seiner Töchter, Daphne, für ihn mit dem Logo der US-Navy bestickt, als sie fünfzehn war. Das Segelschiff, der Adler und der Anker waren wirklich gut getroffen und schön anzusehen.

Als Philadelphia, seine Heimatstadt, damals von den Zombiemassen überrannt wurde, erfuhr er durch die Medien davon. Seine Frau und die Kinder hatten keine Chance, so wie Millionen andere Zivilisten auch. Auch auf der USS Mount Whitney, mit der er zum Zeitpunkt der Katastrophe hoch im Norden unterwegs war, bekamen sie das mit, denn die Seevögel begannen, die Soldaten an Deck anzugreifen. Nur das beherzte Eingreifen des Kapitäns hatte die Crew vor Schlimmerem bewahrt. Er hatte einen Alarm für Gasangriff gegeben, was zur totalen Abschottung führte. Als die vernichtenden Nachrichten aus der Heimat eintrudelten und die Männer die Medienbilder von riesigen Horden auferstandener Leichen sahen, die durch die Straßen rannten, um Menschen zu fressen, war es still auf dem Schiff geworden. Etwa einen Monat nach dem Ausbruch der furchtbaren Seuche hatte sich die Mount Whitney mit dem Flugzeugträger CVN-76 und einigen Schiffen aus dessen Geleitzug getroffen. Amerika wurde in dieser Zeit hoffnungslos überrannt und die Nachrichten wurden immer schlechter, wenn es denn überhaupt noch welche gab.

Plötzlich hatte man Funkverkehr aus der Nordsee aufgefangen. Dort, auf der Insel Helgoland, gab es Überlebende und eine große militärische Anlage, die als Zed-Null galt, also als zombiefrei. Da aus der Heimat keinerlei Order mehr kam, hatte der Admiral befohlen, die deutsche Insel anzusteuern. Hier hatte sich Hershews kleine Flotte der sich sammelnden New World Army angeschlossen, und wie Gärtner ganz richtig festgestellt hatte, war es seine, Hershews, Idee gewesen, den Mann in die Position des Oberbefehlshabers zu bringen – ein Fehler, den er mehrfach bitter bereut hatte.

Was war nur aus dem aufrechten, ehrenhaften Soldaten geworden, der mit seinem Charisma die so grundverschiedenen Soldaten zu einer einzigen funktionierenden Streitmacht zusammengeführt hatte und sie ermutigte, zum Gegenschlag gegen die furchtbaren Zeds auszuholen? Es waren Gärtners Ideen und Befehle gewesen, die zu der überlebenden Testperson Nummer dreiundneunzig geführt hatten, deren eines und besonderes Gen den Menschen in der Zeit des Kriegs gegen die Zeds so entscheidende Vorteile verschafft hatte. Ohne das von Gärtners Wissenschaftlern entwickelte T93 wäre die Operation Payback bereits am Anfang gescheitert.

Und nun? Aus dem Helden von einst war ein gewissenloser Diktator ohne jede Skrupel geworden. Dieser Mann war durch die uneingeschränkte Macht korrumpiert worden und zu etwas mutiert, das viel schlimmer war als ein Zed. Er tötete ohne jede Form von menschlichem Anstand. Sicher, als Soldat hatte man zu töten, aber das galt für feindliche Kombattanten, nicht für Unschuldige, Frauen und Kinder. Dazu kam: Der Mann ließ in seinen Geheimfabriken die Zeds bei mehr oder weniger lebendigem Leib ausbeinen und ihr Fleisch industriell verwerten. Mit diesen Abfallprodukten fütterte er die Siedler, deren Heimat er in einem wahnsinnigen Krieg in eine Nuklear-Eiswüste verwandelt hatte.

Als Hershew sich wieder etwas beruhigt hatte, stieß er sich von der Wand ab und stand wieder kerzengerade da. Er hatte einen Entschluss gefasst. Gerade wollte er sich umdrehen, um in sein Quartier zu gehen, da kam General Pjotrew um die Ecke. Er lächelte.

»Ich grüße Sie, Admiral. Alles in Ordnung? Sie sehen etwas mitgenommen aus.«

Hershew erzählte von seinem Erlebnis in der Kommandozentrale, die am Ende des Ganges lag. Pjotrew nickte.

»Gehen wir ein Stück, Admiral? Ich finde es ja großartig, wie Sie hinter unserer Sache stehen. Respekt! Lassen Sie uns eine Zigarre zusammen rauchen.«

Dabei ließ er seine Augen zweimal zu einer der Überwachungskameras, die hier allgegenwärtig waren, wandern.

Hershew folgte seinem Blick und verstand. Was hatte dieser verfluchte Russe nur vor? War er wirklich Gärtners getreuester Soldat, wie es den Anschein hatte? Oder spielte er allen hier nur etwas vor? Er entschloss sich, Pjotrews Einladung zu folgen.

»Ja, etwas Zigarrenqualm an der frischen Luft könnte wohl ganz erquicklich sein, General. Geben Sie eine aus?«

Grinsend zog Pjotrew ein Zigarrenetui aus der Innentasche seiner Uniformjacke. Die beiden nutzten einen der Hochgeschwindigkeitsaufzüge, um wenige Minuten später draußen an der Steilküste zu stehen.

Sie trugen dicke Daunenjacken mit Fellkragen, denn draußen herrschten noch immer bittere Kälte und eisiger Wind. Aber hier roch die Luft nicht dermaßen künstlich und klinisch rein, wie es in der Festung der Fall war. Als sie beide ihre Zigarren entzündet hatten, zog Pjotrew seinen Flachmann aus der Jacke und nahm einen kräftigen Schluck. Er hielt Hershew die dünne Metallflasche hin, der nicht nein sagte und auch einen guten Schluck nahm. Als der Russe den Flachmann wieder in seiner Tasche verschwinden ließ, meinte er lapidar:

»Die Nachrichten aus Ihrer Heimat. Halten Sie die für authentisch?«

Hershew überlegte, dann nickte er.

»Ich denke schon. In der Zeit nach der Apokalypse, als ich mit meinen Schiffen unterwegs war, haben wir alle Frequenzen gescannt, auch den US-Gold-Kanal. Aber diese Nachricht ist uns nicht aufgefallen. Hätten wir sie empfangen, wären wir sofort umgedreht.«

»Hm. Nehmen wir also rein theoretisch mal an, Ihr Oberbefehlshaber sei noch am Leben. Dann wäre es so, dass Sie in einem echten Interessenkonflikt stünden, ist es nicht so?«

»Theoretisch schon. Aber, wie der Marschall so richtig sagte: Unsere Einheiten sind jetzt Teil der New World Army.«

Pjotrew paffte eine riesige Rauchwolke in den Abendhimmel, die der Wind in Fetzen vor sich hertrieb. Er setzte nach.

»Also, ehrlich, wenn ich an Ihrer Stelle wäre …«

Er machte eine beschwichtigende Geste mit beiden Händen, die Zigarre zwischen den Zähnen eingeklemmt.

»… ich weiß, das bin ich nicht. Aber wenn ich es wäre, dann würde ich wahrscheinlich schleunigst mit meinen Leuten Kontakt aufnehmen und sehen, dass ich nach Hause komme.«

»Aber das wäre Hochverrat«, erwiderte Hershew.

Pjotrew nickte langsam. Dann sagte er etwas, das Hershew von dem Russen nie erwartet hätte.

»Sicher wäre das Hochverrat. Doch wenn ich einen atomgetriebenen Flugzeugträger, mehrere Lenkwaffenzerstörer, ein U-Boot und ein LCC-Schiff hätte, scherte mich das wenig.«

Hershew sah ihn direkt an und schnippte seine Asche in den Wind.

»Das sind ziemlich umstürzlerische Gedanken, Mikail. Bei so etwas kann man schnell sein Leben verlieren. Ich an Ihrer Stelle wäre vorsichtig, so etwas zu äußern.«

»Ach wissen Sie, Gordon, hier draußen hört mich nur der Wind, den Mütterchen Russland mir schickt, um mich an die Heimat zu erinnern. So, wie der Äther Ihnen von der Heimat aus zuflüstert.«

»Das ist ein verdammt heißes Spiel.«

»Ist Krieg das nicht immer?«

Nun ging Pjotrews Zigarrenasche auf die Reise in den Abgrund. Hershew sah ihn eindringlich an.

»Sie planen etwas, nicht wahr, Mikail?«

Der Russe lachte.

»Sehen Sie, es gibt Dinge neben einer guten Zigarre, die uns verbinden, denn auch Sie haben Pläne, die nicht unbedingt mit der offiziellen Marschrichtung übereinstimmen.«

Hershew saß in der Klemme. Entweder er vertraute dem Russen, oder nicht. Wenn er ihm nicht vertrauen konnte, war er jetzt schon zu weit gegangen. Dann war sein Todesurteil im Grunde jetzt schon geschrieben. Er entschloss sich, alles auf eine Karte zu setzen. Nach einem tiefen Zug aus seiner Havanna sagte er langsam:

»Ich hätte natürlich ein logistisches Problem, rein theoretisch natürlich. Meine Schiffe liegen hier im Eis und ich könnte sie nicht zurücklassen, nur um mit ein paar Offizieren in unserem U-Boot Reißaus zu nehmen.«

»Dafür sind Sie auch nicht der Typ, Gordon. Sie sind kein Draufgänger und Sie verraten Ihre Leute nicht. Wenn es aber eine Möglichkeit gäbe, Ihre Schiffe aus dem Eispanzer herauszubewegen, dann könnten Sie die meisten Ihrer Leute nach Hause bringen. Zufällig kenne ich den Kommandanten des Eisbrechers Kapitan Dranitsyn ganz gut. Ich bin sicher, er würde mir einen Gefallen tun. Ich meine, für den Fall, dass ich ihn darum bitten würde.«

»Was ist ihr Preis, Mikail? Wollen Sie mitkommen?«

»Ich? Mit nach Amerika?«

Pjotrew lachte.

»Nein, mein Lieber. Ich bin genau da, wo ich hingehöre.«

»Verstehe. Sie planen einen Putsch.«

»Ich plane, den Menschen, die in der schönen Neuen Welt bittere Not leiden, ein Stück Freiheit zurückzugeben. Und wenn es nur die Freiheit ist, zu sagen, was sie wirklich denken. Oder die Freiheit, eben als freie Menschen zu sterben.«

»Ich muss zunächst mit General Dempsey oder NORAD unauffällig Kontakt aufnehmen. Auf der Mount Whitney habe ich die Möglichkeiten dazu. Ich werde in den nächsten Tagen einen Routinebesuch dort durchführen.

»Das könnte Verdachtsmomente erzeugen.«

»Ich werde dem Marschall sagen, dass es Unruhe in der Flotte gibt, weil jemand das Video ins Netz gestellt hat. Ich schlage vor, meine Offiziere persönlich zur Räson zu bringen. Dann berufe ich eine Dringlichkeitssitzung der Flottenkommandanten auf der Whitney ein.«

Pjotrew stimmte zu.

»Könnte funktionieren. Geben Sie mir mindestens einen Tag, bevor Sie den Eisbrecher brauchen, Bescheid. Der Kapitän bringt Sie aus dem Eisschild und fährt dann Richtung Süden, um andere Aufgaben zu erledigen.«

Hershew wurde nachdenklich.

»Dennoch kann ich nicht alle meine Landsleute hier rausbringen. Ich kriege sie nicht alle auf die Schiffe, bevor es los geht.«

»Um Ihre Marines machen Sie sich mal keine Sorgen. Die sind bei mir ganz gut aufgehoben. Und sie können das tun, was eigentlich ihre Aufgabe ist: Demokratie verteidigen. Es wäre hilfreich, wenn Sie oder Ihr General Dempsey zu einem bestimmten Zeitpunkt, den ich Ihnen nennen werde, mit einer Ansprache Ihre Leute hier dazu bewegen könnten, mein Vorgehen zu unterstützen.«

Der Admiral nickte ihm zu. Dann meinte er ruhig:

»Mikail. Wenn das schiefgeht …«

»… sind wir alle tot.« vollendete der General den Satz. Hershew sah ihm direkt in die Augen.

»Ich bin froh, dass wir zwei nicht auf verschiedenen Seiten stehen, Mikail.«

»Ja. Ich bin es auch«, meinte dieser.

Sie rauchten noch einige Minuten schweigend, dann gingen sie durch verschiedene Eingänge zurück in den Gebäudekomplex.