Jahr Zwei, 08. Oktober, Morgen

»Kann es losgehen?«

»Du kannst es kaum erwarten, dass ein Zed dich in den Achtersteven beißt, was, Eckhardt?«

Alv stand am Fenster der Fahrertür des Eisenschweins, wie alle hier liebevoll den Bronjetransporter nannten. Der mächtige, dreiachsige Militärtransporter alter russischer Bauart hatte einige Umbauten über sich ergehen lassen müssen. Vorn zierte ihn ein keilförmiger Räumschild, der an einer Hydraulikanlage aufgehängt war, so dass man ihn vom Inneren der Kabine aus steuern konnte. Vor den Fenstern hatten die Männer Gitter angebracht, so dass keine Zeds die Scheiben durchschlagen konnten.

Auf dem Dach der Fahrerkabine gab es ein Maschinengewehr und auf der Ladefläche hatten die Schrauber eine Tarasque Zwanzig-Millimeter-Kanone montiert. Insgesamt hatten Holger und Ralle das Fahrzeug generalüberholt und ein paar zeitgemäße Verbesserungen vorgenommen, doch jeglicher Einbau von Elektronik scheiterte an Eckhardts stahlhart formuliertem prinzipiellem NOPE!

Auf der Beifahrersitzbank hatten Benny und Gerárd es sich bequem gemacht, Eckhardt fuhr. Er hätte das Steuer dieses stählernen Urviehs sowieso nicht aus der Hand gegeben. Sepp hatte den Auflieger des Hulk-Trucks mit einem großen Vierzig-Fuß-Container bestückt; mit ihm fuhren Gernot und sechs Leute zum Anpacken. Dann sollten noch zwei starke Zugmaschinen mit jeweils einem Zwanzig-Fuß-Container und je drei Mann Besatzung folgen.

Den Abschluss des Konvois bildete dann ein schwerer Hummer, den die Schweißer ebenfalls in eine vergitterte Waffenplattform verwandelt hatten. Dieses Fahrzeug wurde von Wolfgang gesteuert, und vier Leute fuhren mit ihm.

»Ach was, ist gut, mal wieder rauszukommen«, meinte Eckhardt fröhlich, »du spielst ja lieber krank.«

Alv lachte.

»Ja, ist klar. Während ihr die furchtbar gefährlichen Jobs draußen macht, liege ich mit meiner simulierten Schusswunde auf dem Sofa und schaue Talkshow-Wiederholungen aus den neunziger Jahren. Das macht irre viel Spaß. Blödmann. Sieh zu, dass ihr loskommt und ordentlich Munition mitbringt. Wir können jeden Schuss gebrauchen.«

Die Männer lachten und Eckhardt ließ die Maschine an. Von diesem Moment an war jede Unterhaltung obsolet, denn das Eisenschwein fabrizierte neben einer Abgas-Cumuluswolke auch eine ziemliche Geräuschkulisse. Der Geländewagen rollte durch das Tor, ihm folgten die beiden LKW, die sich hinter dem Hulk-Truck einreihten, und das Schlusslicht bildete der Hummer. Langsam schraubten sich die Fahrzeuge die Serpentinen hinunter in Richtung Carcassonne.

Das Ziel der Expedition war erneut die Kaserne an der Route d’Uzès nördlich von Nîmes. Hier hatten Alv und Eckhardt bereits einmal gut Beute gemacht, denn von hier stammten die Panzer und die Tarasque-Kanonen. Die Männer würden dort, wie schon Monate zuvor, übernachten und ihre Fahrzeuge mit allem beladen, was die im Dorf vorrätigen Waffen abfeuern konnten.

Alv wäre gern mitgefahren, doch die Schusswunde, die er sich beim Kampf um Rennes-le-Château zugezogen hatte, war noch längst nicht verheilt, und bei einer Auseinandersetzung mit den Zeds wäre er keine große Hilfe gewesen. Also würde er sich darauf beschränken, die Restaurationsarbeiten im Dorf zu beaufsichtigen.

Als der Konvoi außer Sicht war, ging Alv zurück ins Dorf. Hinter ihm verriegelten die Wachen das schwere Stahltor, das inzwischen schon so manchem Zed-Ansturm standgehalten hatte. Überhaupt waren erst bei einem einzigen Angriff der Untoten tatsächlich Zombies in das Dorf eingedrungen, alle anderen mehr oder weniger schweren Attacken hatten die Bewohner abwehren können.

Wenn vereinzelte Walker-Zeds um das Dorf herumschlichen und versuchten, über die Mauern und Zäune zu kommen, schlugen die Verteidiger sie wie früher mit Lanze, Armbrust oder Hackmesser zurück, um Munition zu sparen, wo es nur ging. Es war schließlich absehbar, dass die Munitionsvorräte nicht ewig reichen würden, auch wenn sie stattlich waren. Das Dorf selbst konnte keine Munition herstellen, so dass die Requirierung von Militärmaterial und das Einsparen von Munition wichtige Bestandteile der Überlebensstrategie auf dem Berg darstellten.

Aus diesem Grund legte Alv bei der Instandsetzung der Verteidigungsanlagen auch großen Wert darauf, dass in ausreichendem Maße passive Abwehrmechanismen zur Verfügung standen. Hierzu zählten Starkstromzäune, starke Dornen und Rollfässer an den Wällen, stets einsatzbereite Zombieschredder, diese furchterregenden Dornen- und Klingenwalzen, die Eckhardt mit Holger und Ralle zusammen entwickelt hatte, und natürlich Flammenwerfer, Fallgruben und diverse federgelagerte Hieb- und Stichmechanismen, die in einem dichten Ring um das Dorf herum platziert waren.

Alle Dorfbewohner wussten, dass sie sich den Verteidigungswällen von außen nicht auf weniger als etwa zwanzig Meter nähern durften, denn überall waren Minen und Brandbomben vergraben. Der Minengürtel wurde durch ein gelbes Absperrband gekennzeichnet, das um das Dorf herum führte.

Was die Stärke der Verteidigungsmaßnahmen anging, so fanden Eckhardts und Alvs Ideen nicht immer uneingeschränkte Zustimmung in der Vollversammlung, doch letztlich zeigte sich stets aufs Neue, dass mit weiteren Angriffen der Zeds ständig zu rechnen war. Und nun sah es aus, als nähere sich von Osten her eine ganze Armee dieser Kreaturen, angeführt von grauenhaften Bestien, die nur eines im Sinn hatten, nämlich die Menschheit endgültig im blutigen Orkus einer Zombie-Existenz zu versenken.

Also hatten auch die Skeptiker in der Gemeinschaft letztlich der Verwandlung des kleinen, beschaulichen Bergdorfes am Rande der Pyrenäen in eine waffenstrotzende Festung mit dem Exterieur einer Badland-Festung bedingungslos zugestimmt. Denn jeder in der Gemeinschaft des Willens, wie sich die Gruppe nannte, wollte leben, überleben, und er wollte, dass die Kinder in eine neue Zukunft gehen konnten.

Jetzt, da die Wissenschaftler des Dorfes aus dem T93-Gen, das für die Unfruchtbarkeit der meisten Frauen auf der Welt verantwortlich war, das T93X-Reparaturgen entwickelt hatten, stand dem Überleben der Menschheit theoretisch nur noch das Heer der Untoten im Wege.

Im Inneren des Dorfes, umgeben von Wällen aus Überseecontainern, Fahrzeugwracks, Straßenleitplanken und schweren Gittern, im Inneren dieses Krals herrschte dieselbe Atmosphäre wie einst, als es noch keine Zombies gegeben hatte.

Überall grünte und blühte es fast das ganze Jahr hindurch, nur in den Wintermonaten, wenn das Thermometer nachts auch mal unter null Grad Celsius anzeigte, wirkte es ein wenig trister. Die Dorfbewohner nutzten jeden Quadratzentimeter Boden, der sich hier bot, um Nahrungsmittel und Heilkräuter anzubauen. Es gab sogar einige Bereiche auf dem Friedhof, wo die jungen Leute ein wenig Marihuana anbauten. Niemand hatte etwas dagegen, zumal diese Pflanzen mittlerweile fester Bestandteil der Dorfapotheke geworden waren, die im Schulgebäude untergebracht war.

Hier hatte ein französisches Ehepaar gemeinsam mit drei weiteren Heilkundigen eine Praxis eingerichtet, in der vom kleinen Wehwehchen bis hin zur Operation und Zahnbehandlung alles bewerkstelligt werden konnte, was erforderlich war, um die Gesundheit der Dörfler zu unterstützen. Dabei wurden Schulmedizin, Homöopathie und sogar einige schamanische Techniken völlig gleichberechtigt angewandt. Hier existierte keine Pharma-Lobby und kein Ärztebund, hier galt der Spruch: Wer heilt, hat Recht.

Die Dorfbewohner waren zurecht stolz darauf, eine pluralistische, auf Toleranz und Akzeptanz beruhende Form der Gemeinschaft aufzubauen. Jeder respektierte den anderen und jeder stand unumwunden für den anderen ein. Alv sagte oft, dass hier aus einer Dystopie eine wunderbare Utopie gewachsen war, die er selbst als den größten Akt des Willens bezeichnete, der ihm je zu Gesicht gekommen war.

Jeder, der hier lebte, wusste, was er verteidigte und gegen wen. Zu den Toten, die das Dorf bedrohten, waren nun Soldaten gekommen, die den Siedlern nach dem Leben trachteten. Und wenn es den Revoluzzern im Norden gelang, wie geplant einen Umsturz herbeizuführen, dann würden auch noch andere Menschen hier vor den Toren stehen, das wusste Alv nur zu gut.

Er wusste auch, dass es nicht nur Hilfesuchende und Abenteurer sein würden, die sich hier einfänden, auch gegen Plünderer und Räuber jeder Art würde das Dorf sich zur Wehr setzen müssen.

Alv war sich nicht wirklich sicher, ob seine Freunde und Geschwister und die Mitglieder seiner Familie dazu auch alle bereit waren. Aber das würde sich zeigen.