Jahr Zwei, 17. Oktober, Morgen II

»Unsere Munitionsvorräte sind fürs Erste zufriedenstellend, ich denke, wir können uns jetzt erst einmal auf den Wiederaufbau konzentrieren.«

Eckhardt stellte seinen leeren Kaffeebecher auf dem Küchentisch ab. Gemeinsam mit Alv erhob er sich, denn die beiden wollten noch einen Rundgang über die Baustellen machen. Alv kam wegen seiner immer noch verheilenden Schulterverletzung etwas langsamer auf die Beine als sonst.

»Na, junger Mann«, fragte der zehn Jahre ältere Eckhardt süffisant, »geht nicht mehr so mit den morschen Knochen, was?«

»Darüber können wir ja in zehn Jahren nochmal reden, mein Lieber.«

Die beiden verließen scherzend Alvs Haus, überquerten den Vorplatz und gingen die Rue de la Salasse hinunter. Zur Ostseite hin hatten die Männer und Frauen, die am Verteidigungswall arbeiteten, die Containerwände verstärkt und diverse Abwehrmaßnahmen hinzugefügt. Dies alles würde zumindest gegen einen Ansturm von Walkern und Huntern Erfolg versprechen, doch wenn die Mutanten angriffen, die Struggler, dann böte diese Wand keinen Schutz, das wusste hier jeder. Die Struggler mit ihren unbändigen Kräften könnten einfach an den Außenwänden emporklettern. Das bemerkte auch Eckhardt.

»Diese Struggler-Zeds machen mir echt Sorgen. Unser Kontakt im Osten meinte, die Dinger, die wir hier hatten, waren so eine Art Prototyp, und die aktuellen Struggler seien noch viel gefährlicher. Wie der auf dem Video, das wir letztens sahen. Wenn die Burschen hier einfallen, bekommen wir echte Probleme. Juri erwähnte, dass selbst die obersten Militärs eine Höllenangst vor diesen Bestien haben. Wenn die Struggler hier anrücken, dann müssen wir uns auf einen harten Häuserkampf vorbereiten.«

Alv nickte zustimmend. »Hm, verstehe. Dann sollten wir eine unserer Prioritäten auf die MG-Stellungen und die Zwanzig-Millimeter-Kanonen richten. Wäre es nicht nützlich, unten im Tal festgelegte Zielpunkte zu markieren? Dann könntest du die Glattrohrkanone auf diese Zielpunkte beziehungsweise Schussweitenringe fest programmieren. Wenn die Zeds die Markierungen passieren, kannst du sie gleich entsprechend begrüßen. Die Struggler sind schnell, und es könnte doch nützlich sein, denen im Vorfeld der Annäherung schon mal ein paar Einhundertzwanziger entgegenzuschicken? Oder was meinst du?«

»Daran habe ich auch schon gedacht. Ich brauche dafür allerdings ein paar Probeschüsse. Aber ich könnte dann von der Einsatzzentrale aus blind schießen, und das mit hoher Trefferquote.«

»Okay. Machen wir es so. Wir haben für den Ernstfall ja auch noch die erbeuteten Hellfire-Raketen und unsere Stinger. Zwei von den Pumas sind doch einsatzbereit? Würde sagen, wir lassen die an Ort und Stelle und machen sie nur schussbereit. Der Leclerc deckt auf die Distanz, nach Süden haben wir die Schredder und überall in der Umgebung Minen, Fallen und andere Überraschungen. Im Großen und Ganzen sind wir verdammt gut aufgestellt, würde ich sagen.«

Eckhardt nickte und sie gingen weiter, um am Südhang nach dem Rechten zu sehen. Hier hatte es an der Wallkonstruktion aus Stahl die schwersten Schäden gegeben.

»Weißt du«, sagte Alv nachdenklich, »ich bin froh, dass unsere Kerngruppe so ist, wie sie ist. Ohne deine unbändige Sammelwut und die genialen Ideen von Holger, Ralle und den anderen wären wir längst alle tot. Oder Schlimmeres.«

»Sammelwut? Also, ich weiß ü-ber-haupt-nicht, was du meinst. Ich achte lediglich darauf, dass unser Versorgungsstand möglichst optimal ist. Ich weiß nicht, was es daran auszusetzen gäbe.«

Natürlich war Eckhardts Entrüstung nur gespielt, die beiden neckten sich gern und oft gegenseitig. Alv sah ihn – natürlich auch gespielt – bestürzt an und entgegnete:

»Was? Habe ich dich etwa beleidigt? Auf deinen sensiblen Gefühlen herumgetrampelt? Sehe ich da etwa Pipi in deinen Augen? Möchtest du ein bisschen liebgehabt werden, mein Großer?«

Alv machte Anstalten, dem schwergewichtigen Recken an seiner Seite zärtlich über das haarlose Haupt zu streicheln.

»Untersteh dich, Alv Bulvey!«

Aber Alv war noch nicht fertig.

»Okay. Ja, es ist völlig okay, wenn du dich für deine sentimentalen Gefühle ein bisschen schämst, das haben wir alle hier auch durchgemacht. Aber du musst auch Zugang zu deinen Emotionen finden, um sie als die deinen anzunehmen. Wir könnten nachher zur Kaffeezeit für dich einen Stuhlkreis machen, hm? Was hältst du davon?«

»Ich hasse dich.«

»Ja. Das ist gut. Ein guter Anfang. Ich bin sehr stolz auf dich, mein Bruder.«

Die beiden sahen sich an und prusteten los. In diesem Moment kam Gertrud um die Hausecke der Schmiede und baute sich vor den beiden auf, die Hände in die Hüften gestemmt.

»Was gackert ihr denn hier wie zwei Schuljungs herum? Habt ihr nichts zu arbeiten, oder was?«

Alv hüstelte etwas verlegen.

»Ja, dann werd ich mal … euch beide allein lassen … ich muss eh noch …« Mit den Händen gestikulierte er unbeholfen in Richtung Schmiede und machte sich auch sogleich dorthin auf den Weg. Eckhardt und Gertrud standen plötzlich allein auf dem kleinen Platz zwischen Schmiede und Tischlerei.

»Und du, Eckhardt«, führte sie weiter mit strengem Blick fort, »was ist mit dir? Keine Beschäftigung?«

Der erwiderte:

»Och ja, im Grunde schon, aber ich genieße den Tag ein wenig.«

»Soso, den Tag genießen, was? Pass mal auf, mein Lieber. Der Professor hat ja dieses T93X entwickelt, das uns Frauen hilft, wieder fruchtbar zu werden.«

»Na ja, es ist ja noch in der Probe, und …«

»Schnickschnack. Ich habe mich entschlossen, trotz meines Alters noch einmal zum Erhalt unserer Spezies beizutragen. Und du wirst mir dabei helfen. Klar soweit?«

Eckhardt war völlig perplex. Er wusste nicht, was er jetzt entgegnen könnte, das nicht falsch war.

»Also los, Faulpelz Zinner, du kommst jetzt mit, wir gehen ein wenig üben, damit das nachher auch klappt. Abmarsch.«

Damit drehte sie sich um und stapfte schnurstracks in die Richtung des Hauses, in dem sie zwei Zimmer bewohnte. Ohne sich umzudrehen rief sie:

»Was ist? Willst du mich warten lassen?«

Jeden anderen, der Eckhardt dermaßen angesprochen hätte, würde er zusammenbrüllen, bis derjenige eine hübsche, neue Sturmfrisur hätte. Aber in diesem Falle … Eckhardt trabte der gut gebauten Dame grinsend hinterher. Es war ja für eine gute Sache.

*

»Und, wie sieht es aus an der Schweißerfront?«

Alv schaute zur halb geöffneten Türe herein und grüßte Holger, der in der Schmiede gerade dabei war, einige Rohre zu erhitzen, um sie zu biegen. Er deaktivierte den Brenner und winkte zu Alv hinüber.

»Warte einen Moment, ich mach ’ne kleine Pause. Ich komme gleich!«

Alv trat vor das Schmiedehaus und ließ seinen Blick schweifen. Dann setzte er sich auf eine kleine Bank, die auf der Rasenfläche vor der Schmiede aufgestellt war. Einen Augenblick später gesellte sich Holger zu ihm.

»Schade eigentlich um die schöne Aussicht, die wir uns mit den Containern verbaut haben.«

»Hast du vor, hier Ferienwohnungen zu vermieten?«

»Na ja, das eher nicht. Aber ein bisschen hat der Charme des Dorfes schon unter unserem Bewehrungswahn gelitten, findest du nicht auch?«

Alv musste ihm wohl oder übel zustimmen.

»Wir werden, wenn der Wall wieder repariert ist, hier überall Wein pflanzen, dachte ich. Dann wird die Stahlwand wenigstens von innen grün und es ist obendrein noch produktiv. In die Nischen können die jungen Leute sich meinetwegen ein paar Graspflanzen stellen.«

»Du bist sehr tolerant, was das angeht.«

»Ach was. Das Gras gibt ihnen etwas ›Chilliges‹, wie sie sagen, und außerdem hat diese Pflanze ja viele weitere Vorteile, wie wir wissen. Ach, und wer bin ich, ihnen das bisschen Kiffen zu verbieten? Das Freizeitangebot hier ist sowieso nicht berauschend, und immer nur Trinken, das ist es ja auch nicht.«

Also, ich für meinen Teil«, antwortete Holger amüsiert, »komme mit den hiesigen Gärungsprodukten recht gut klar.«

Er lachte, dann wurde er aber etwas ernster.

»Also, die Raketen haben unserem Wall übler zugesetzt, als es zunächst aussah. Wir brauchen noch mindestens zwei Wochen, bis wir die größten Schäden behoben haben. Was ist eigentlich mit unseren beiden zerschossenen Türmen? Bauen wir die wieder auf?«

Alv sah hinüber zu den Resten des Rundturmes, der gute dreißig Meter entfernt gestanden hatte. Der Stumpf war nur noch etwas höher als einen Meter.

Auch vom etwa einhundertfünfzig Meter entfernten Magdalenenturm war nicht mehr viel übrig. Ein Volltreffer mit einer Hellfire-Rakete hatte den gediegenen Turm mit den imposanten Zinnen und den hübschen Holzintarsien in den Vitrinenschränken in einen Haufen undefinierbaren Schutt verwandelt.

»Da ist nichts mehr zu machen. Wir sollten den Schutt beiseite räumen und die Steine im Dorf verwenden. Die größeren Kalksteine und die Sandsteine können Birte und Sepp vielleicht bei ihrem neuen Heim verbauen, ich frage sie mal. Ansonsten sollten wir das Fundament soweit freilegen, dass wir jederzeit in die Gruft hinunter kommen, den Rest verbauen wir mit dem Verteidigungswall. Was wir hier errichten, muss nicht schön sein, sondern halten.«

»Ja, okay. Ich denke, da finden wir eine gute Lösung.«

Holger lehnte sich auf der Bank zurück.

»Weißt du, Alv, ich bin heilfroh, dass ihr letzten Winter unseren Funkspruch aufgefangen habt. Ich hatte eigentlich bereits mit dem Leben abgeschlossen. Und nun lebe ich mit Liebsten und Freunden in einem wunderbaren Dorf hier in den Pyrenäen und mache einen Job, der mich völlig ausfüllt. Wozu Katastrophen doch so alles gut sein können.«

»Na ja, ein Paradies ist es hier ja nicht immer. Die Attacke neulich hat es ja deutlich gemacht: Nicht jeder gönnt uns das kleine Fleckchen Erde hier. Aber wenn ich sehe, was die Bewohner hier in gut einem halben Jahr aus diesem Bergdörflein gemacht haben, dann bin ich ziemlich stolz auf das alles. Unser Selbstversorgungsgrad steigt, und wenn es uns gelingt, auch in Zukunft Zeds und eventuell Plünderer davon abzuhalten, hier einzufallen, dann bleibt das auch ein schönes Fleckchen Erde.«

Holger sah sich um.

»Nun«, meinte er abschätzend, »ich denke, wenn die gröbsten Reparaturarbeiten erledigt sind, dann sollten wir uns dringend daran machen, weitere Rohstoffe zusammenzutragen. Zunächst Verderbliches wie Proviant und Saatgut und auch Pflanzenableger, aber dann auch weiterhin Metall, Baustoffe, Holz und Brennstoff. Unsere Gasproduktion steigt zwar und mit der Solar- und Windtechnik, die wir nutzen, erzeugen wir viel Energie, aber Heizöl und Diesel sind auch weiterhin gut als Energieträger und Treibstoff für die Trucks zu gebrauchen. Zumindest, solange es noch so was gibt. Wenn diese komische Revolution, die der Russe da plant, erfolgreich verläuft, dann werden viele Menschen auf die Idee kommen, in den warmen Süden zu gehen. Das könnte für uns durchaus problematisch werden.«

»Da hast du durchaus Recht, Holger. Wir berücksichtigen das auch in der Planung. Zurzeit suchen wir nach Ressourcen jeder Art noch im mittleren Radius; erst, wenn dort nichts mehr ist, weichen wir auf die inneren Bereiche aus. Metall ist kein Problem, das finden wir in Massen. Leitplanken, Verkehrsschilder, Signalbrücken, Laternenmasten und schlussendlich Gleise und sogar Gerüstbauten tragen wir zusammen und lagern das Material hier bei uns am Hang. Das schleppt uns auch keiner weg. Eckhardt hat Reste eines riesigen Open-Air-Festival in Nîmes ausgemacht, im Stadion dort. Da stehen Traversen, Bühne und das alles noch, außerdem mindestens zehn Kilometer Bauzaunelemente. Wir dachten daran, das Zeug im Winter, wenn nicht viel zu tun ist, hierher zu schaffen und einen äußeren Zaun zu errichten, der uns zumindest die Walker vom Hals hält. Die Elemente können wir im Dorf auch gut nutzen, um die Häuser zu vergittern, wenn ein Zed-Angriff bevorsteht. Außerdem geben diese Dinger prima Module ab, um Bohnen und Erbsen daran zu ziehen.«

Holger lachte.

»Dir fällt auch immer etwas ein, was, Alv Bulvey!«

»Ist das bei dir anders?«

Holger schüttelte den Kopf.

»Diese verrückten Ideen, mein Lieber«, fügte Alv hinzu, »diese verrückten Ideen sind es, welche die Lebenden von den Toten unterscheiden. Das macht uns lebendig und zu Überlebenden.«

Alv erhob sich und verabschiedete sich mit einem freundlichen Nicken von Holger. Er folgte dem kleinen Gässchen, das von der Schmiede zur Rue de la Salasse führte. Hier standen die Häuser dermaßen dicht zusammen, dass man mit ausgestreckten Armen die Mauern zu beiden Seiten berühren konnte.

An dieser Stelle hatte das Dorf seinen mediterranen Charakter noch nicht gegen Zweckmontagen und Wasteland-Charme eingetauscht. Die Natursteinmauern mit den Holzläden, die in heißen Sommermonaten die Sonne auf gebührendem Abstand hielten und die in allen Nischen und Winkeln drapierten Tontöpfe, in denen Küchen- und Medizinkräuter angepflanzt wurden, zauberten trotz oder vielleicht sogar wegen des etwas diesigen Wetters eine mystisch-romantische Atmosphäre in die Gasse. Alv war sich sicher, dass, wenn diese Tragödie der Menschheit ihr Ende fand, in Rennes-le-Château ein relativ sorgloses Leben möglich sein könnte. Einige Minuten später kam er am Schulhaus vorbei, wo gerade in zwei Gruppen Unterricht gehalten wurde.

Die ganz Kleinen bastelten mit Anita schöne Wandbilder aus Blättern, Zweigen, Fruchtkörpern und allerlei anderen Dingen, die man hier in der Umgebung finden konnte.

Alv sah durch das Fenster und fand das eine gute Idee, die Kleinsten so spielerisch mit Fauna und Flora der neuen Heimat vertraut zu machen.

Im Nebenraum unterrichtete Wolfgang die Kinder ab zehn Jahren, auch hier standen eher praktische Dinge auf dem Lehrplan. Da die Terrassentür offenstand, setzte Alv sich draußen auf eine Bank und lauschte ein wenig dem Unterricht. Er fand, dass Wolfgang ein großartiger Lehrer sein konnte, wenn er nicht gerade mit den anderen Männern gegen Zombies oder Elitesoldaten kämpfte. Ruhig, aber bestimmt und auch fordernd ging er auf die Kinder ein. Seine Art, Wissen weiterzugeben, stellte die Kinder gewissermaßen vor eine Herausforderung, von der sie wussten, dass sie in der Lage waren, sie zu meistern. In ihren anfänglichen Überlegungen hatten Alv und Eckhardt dem Aufbau der Schule eine hohe Priorität eingeräumt, denn ein gut ausgebildeter und mit Wissen versehener Nachwuchs bedeutete für die Gemeinschaft ein enorm tragfähiges Fundament. Der heutige Unterricht, entnahm Alv dem Gehörten, drehte sich um wichtige Dinge des Alltags. Wolfgang besprach mit den Kindern den Wasserkreislauf.

»Nun, wer von euch kann mir etwas über den Wasserkreislauf sagen?«, hörte Alv ihn fragen.

Die Stimme von Alvs zweitjüngstem Sohn antwortete etwas gelangweilt. »Regen fällt runter, verdunstet wieder und fällt wieder runter.«

Wolfgang lachte.

»Ja, in deinem heißgeliebten Mindcraft-Spiel ist das sicherlich so einfach, Angus. Aber wie ist das hier bei uns im Dorf?«

Fingerschnippen.

»Ja, Arnie?«

»Was mein dusseliger Bruder sagen will, ist, dass wir hier zwei Wasserkreisläufe haben!«

»Selber Dussel!«

»Blödmann!«

Wolfgang klopfte auf den Tisch.

»Okay, das ist ein Anhaltspunkt. Kannst du uns darüber mehr sagen, Arnie?«

»Wir haben Trinkwasser und Pipiwasser.«

Kichern. Mehrstimmig.

»Okay, dann verrät uns Maria jetzt vielleicht etwas über das Trinkwasser?«

Die piepsige Stimme einer Elfjährigen ertönte.

»Wir haben in den Höhlen unter dem Dorf zwei Wasserbecken, in denen sich Regenwasser sammelt. Das Wasser wird in unsere Küchenwasserhähne gepumpt und ist sauber. Man kann es ohne weiteres trinken und sich damit waschen. Es ist wichtig, dass die Wasserbecken in den Höhlen auf keinen Fall verschmutzt werden, deshalb dürfen die Kinder nicht in die Wasserhöhlen.«

»Sehr gut. Woran erkennen wir das Trinkwasser?«

»Es ist kühl, ganz klar und riecht nicht.«

»Stimmt. Danke. Was ist mit dem anderen Wasserkreislauf. Angus?«

»Gebrauchtes Wasser und Arnies Pipiwasser«, er betonte das Wort extra gedehnt und lehnte sich zu seinem jüngeren Bruder hinüber, der ihm einen Klaps auf den Hinterkopf gab, »wird über die Abflüsse und Abwasserrohre in die Vorfluter oben am Schloss geleitet. Dort wird das Wasser durch Kies und Schilf gefiltert und läuft über ein Rohr in die beiden großen Teiche unten am Nordhang. Dort wird es belüftet, und Bakterien reinigen das Wasser dann. Die Pumpe befördert das Wasser wieder nach oben, wo es in den Brauchwasserkreislauf läuft, aus dem wir die Beete gießen und das Wasser für Waschmaschinen und so weiter bekommen. Das Wasser, was nicht in die Beete geht, läuft dann zurück in den Vorfluter. Das Schilfgras dort nimmt die Nitrate auf und wächst, dann ernten wir das Gras und geben es in die Biogasanlage, wo Energie aus der Zellulose erzeugt wird.«

Wolfgangs Stimme ertönte nun wieder.

»Eine hervorragende Antwort, Angus. Wer von euch möchte jetzt an die Tafel kommen und mit mir zusammen eine Zeichnung dazu machen? Im Anschluss werden wir gemeinsam unsere Wasseranlagen besichtigen und uns die Sachen vor Ort einmal genau anschauen.«

Eben, als Alv sich erhob, um wieder zu seinem Haus zu gehen, kam Birte um die Ecke. Ihr Zustand war ihr mittlerweile durchaus anzusehen, und das Baby von Sepp, das sie in sich trug, würde wohl das erste sein, das nach der Apokalypse in der Neuen Welt gezeugt worden war. Man konnte ihren rosigen Wangen förmlich ansehen, dass sie in ihrem Körper nun nicht mehr alleine war.

»Hallo, junge Frau. Alles gut?«

Sie lächelte.

»Jo, geht so. Sepp ist gerade dabei, ein neues Vorzelt am Trailer zu montieren. Er sagt, es wird hübscher als der alte Wohnwagen. Kommst du mit rüber? Ich mache uns einen Tee.«

»Warum nicht? Klar. Solange meine Schulter noch nicht wieder ganz in Ordnung ist, kann ich hier eh nicht viel machen. Lass uns Tee trinken und Sepp nerven.«

Die beiden flanierten in aller Ruhe die Hauptstraße in Richtung Garten hinauf. Dort oben, in der Nähe des ehemaligen Magdalenenturms, wo Birte ihre Quarantäne während der T93X-Behandlung verbracht hatte, bauten sie und ihr Lebensgefährte Sepp aus einem Wohnwagen und einem Bauwagen gerade ein neues Heim, denn die vorherige Behausung hatte den Kampf um Rennes-le-Château nicht überstanden. Die Trümmer waren nun beseitigt und ein neuer, großer Trailer aufgestellt. Der Bauwagen diente als Küche und als Arbeitsplatz für Birte, die sich dem Apothekerteam angeschlossen hatte und dort Tees, Auszüge, Öle und Essenzen herstellte. Der Job machte ihr Spaß, und Madame Tilly, die hier im Dorf ihr Leben verbracht hatte, brachte ihr alles bei, was man als Kräuterhexe wissen musste.

Die beiden waren inzwischen gute Freundinnen und Tillys Mann Jacques half Sepp gern beim Aufbau. Die beiden Senioren hatten Birte und Sepp angeboten, mit in ihrem Haus zu wohnen, aber Birte wollte gern hier bleiben.

Sie liebte den Ausblick auf die Berge und Täler der Vorpyrenäen, den morgendlichen Nebel, der durch die Täler kroch, und die farbenprächtigen Sonnenuntergänge, die man von ihrem Siedlungsplatz aus betrachten konnte.

Während Birte im Bauwagen Teewasser aufsetzte, schaute Alv zu, wie Sepp und Jacques das Vorzelt befestigten. Aus dem ersten, eher provisorischen Vorzelt wurde jetzt ein wetterfestes, geräumiges Extrazimmer mit einer Einrichtung, die der ursprünglichen nicht unähnlich war.

»Ich würd’ euch gern helfen«, sagte Alv und zeigte auf seinen Arm, der noch in einer Schlinge lag, »aber ich befürchte, das klappt noch nicht so ganz.«

»Wir sind eh’ gleich fertig!«, entgegnete Sepp, der die Zurrbänder spannte.

Alv ging hinüber zum Bauwagen; dort standen eine solide Holzbank und ein roh gezimmerter Tisch mit einigen Gartenstühlen, die das Bombardement überlebt hatten. Lediglich einige Brandspuren am Tropenholz, aus denen die Sitzmöbel gefertigt waren, deutete darauf hin, dass die Einrichtung stürmische Zeiten hinter sich hatte.

Birte brachte den Tee, Geschirr und einige Kekse; Sepp und Jacques kamen auch dazu. Man aß, trank und unterhielt sich über dies und das, Birte übersetzte hin und wieder für den betagten Franzosen.

»Wie geht’s weiter«, fragte Sepp im Verlaufe des Gesprächs, »was wird die Feste Rungholt als Nächstes unternehmen?«

Alv setzte seine Tasse ab. Dann antwortete er zögernd: »Ich … ich bin nicht sicher. Die Wissarion-Jungs haben einige äußerst beunruhigende Videos weitergeleitet, die mir wirklich Sorgen machen. Es sieht so aus, als ob der Professor, der das T93 isoliert hat …«

»Professor Weyrich?«

»Ja, der. Also, es sieht so aus, als ob er transformiert wurde. Er ist jetzt ein Struggler und wird in der Festung gefangen gehalten. Das Schlimme ist nicht, dass er ein Zed ist. Das wirklich Schlimme ist, dass er offenbar sprechen kann und mit Gärtner kooperiert. Und sie hecken irgendwas mit dem Zombievirus aus.«

Birte fiel beinahe der Teebecher aus der Hand und Sepp verschluckte sich an einem Keks, den er gerade verzehrte. Er hustete und prustete und Jacques klopfte ihm freundlich lächelnd auf den Rücken. Der Alte hatte nicht die geringste Ahnung, worüber hier gerade gesprochen wurde. Das war vielleicht auch besser so.

Birte stellte ihre Tasse ab und um das Trinkgefäß herum bildete sich eine Pfütze, die das Holz dunkel einfärbte. Das Mädchen zitterte am ganzen Körper wie Espenlaub und sämtliche Farbe wich aus ihrem Gesicht.

»W-was? Bitte? Die pfuschen mit dem Virus herum? Was wird das?«

»Na ja«, gab Alv zurück, »unser Professor Wildmark vermutet, Gärtner will das Virus quasi entschärfen, indem er es wieder auf das T93 programmiert. Und er vermutet, dass er mit dem neuen Virus dann eine Art militärische Zed-Kampftruppe heranzüchten will, um die Struggler effektiv zu bekämpfen.«

Birte explodierte aus dem Stand.

»Sind die da komplett irre? Milliarden von Menschen sind gestorben und viele von ihnen wandeln nun als lebende Tote da draußen herum und er will Menschen absichtlich infizieren? Kann da nicht mal jemand hingehen und den Kerl erschießen oder in die Luft sprengen oder so? Ich pack’ es ja nicht mehr!«

Jetzt kehrte Farbe in ihr hübsches Gesicht zurück, und zwar eine deftige Zornesröte. Ihre Augen wurden zu schmalen Schlitzen und an ihrem ausgesprochen hübschen Hals trat eine pochende Ader hervor.

»Das können wir nicht zulassen, Alv. Da muss man was machen. Der größenwahnsinnige Idiot da oben bringt uns noch alle um.«

Alv versuchte, sie etwas zu beruhigen.

»Wenn ich es recht verstanden habe, stehen sie in der Feste Rungholt noch ganz am Anfang. Und wir wissen ja, dass General Pjotrew plant, dort Veränderungen herbeizuführen. Er kennt die Sachlage ziemlich genau. Jedenfalls besser, als dem Marschall lieb sein kann. Ich schätze, bevor Gärtners Plan spruchreif wird, schlägt Pjotrew zu. Zumindest hoffe ich das.«

Sepp kam wieder zu Atem. Er schüttelte den Kopf.

»Ich hätte niemals gedacht, dass der Mann so weit gehen würde. Noch vor ein, anderthalb Jahren haben wir in der Armee alle Hoffnungen in ihn gesetzt, er galt als integerer, umsichtiger Kommandeur. Und jetzt ist er dabei, die Welt vollends in den Abgrund zu stürzen. Was geht in so einem Menschen nur vor? Er muss doch wissen, dass er auf dieser Linie nicht gewinnen kann!«

»Vielleicht«, meinte Alv nachdenklich, »sind die Struggler-Soldaten noch nicht einmal das Schlimmste, was dieser Mann ausbrütet …«

»Wie meinst du das?«, fragte Birte langsam und gedehnt mit ängstlichem Blick.

»Na ja, je mehr ich darüber nachdenke, desto mehr fällt mir auf, dass die Struggler eigentlich alles haben, wonach Gärtner sich sehnt: Kraft, Zellregeneration, Unsterblichkeit … und nun hat er scheinbar den ersten Struggler, der sich seiner Vergangenheit bewusst ist …«

Birte sah Alv entsetzt an.

»Oh mein Gott …«, entfuhr es ihr.