Jahr Zwei, 28. Oktober, Morgen

»Haben wir noch frischen Kaffee für Eckhardt?«, fragte Alv. Er saß mit Sepp, Birte und Katharina am Küchentisch und goss sich einen frisch gebrühten Tee ein. Es gab Vollkorn-Pfannkuchen mit Konfitüre zum Frühstück und alle ließen es sich schmecken.

Eckhardt, der die Küche gerade betreten hatte, setzte sich dazu und bekam von Birte einen starken Kaffee eingeschenkt, den er nickend in Empfang nahm. Im Herdofen prasselte ein Feuerchen, es duftete nach frischen Pfannkuchen und man schätzte durchaus, was man hier hatte.

Rennes-le-Château war für alle Bewohner zu einer Heimat geworden, selbst der Küstenmensch Alv Bulvey hatte sich mit dem Vorgebirge hier abgefunden und fühlte sich mittlerweile heimisch.

Das Dorf bot inzwischen einen wirklich bemerkenswerten Komfort, der zum großen Teil dem Erfindungsreichtum von Holger und Ralle zu verdanken war, den saarländischen Schraubern, die für fast jedes Problem eine Lösung aus dem Hut zauberten.

Natürlich kam der Gemeinschaft der Umstand außerordentlich zugute, dass man benötigtes Baumaterial einfach nur zu holen brauchte, es fehlte nicht wirklich an etwas.

Und so entstand mitten in den Pyrenäen langsam ein kleines Utopia, das den Unbotmäßigkeiten der Zombieapokalypse die Stirn bot. Eckhardt, der sich gerade leidlich bemüht hatte, eine Familienportion Pfannkuchen irgendwo in seiner stattlichen Erscheinung verschwinden zu lassen, brachte nach dem Essen ein Thema auf, über das sich die Dorfbewohner schon länger Gedanken machten.

»Ich hab mal nachgedacht …«, begann er.

»Hört, hört!«, murmelte Alv in seinen Teebecher.

»Das hab ich gehört, Bulvey!«

»Uppsss!«

»Also, im Ernst nun. Was wäre, wenn das Zed-Virus doch nicht alle Wirbeltiere dahingerafft hätte? Ich könnte mir vorstellen, dass es hier oder da noch einige versteckte Ecken gibt, wo noch ein paar Nutztiere herumlaufen, die nicht von Zombieratten oder toten Vögeln infiziert wurden. Wäre es nicht sinnvoll, mal danach Ausschau zu halten? Dann könnten wir Pfannkuchen vielleicht mal wieder mit richtiger Milch und echten Eiern machen statt mit Pulver.«

Alv lachte.

»Na ja, die Idee ist natürlich nicht schlecht, und vielleicht ist es sogar so, dass es da draußen noch Viehzeug gibt. Aber um hier Vieh zu halten und es vor dem Virus zu schützen, müssten wir quasi Hochsicherheitsställe errichten, und wir bräuchten Unmengen an Futter. Das ist nicht effektiv. Unsere Fischhaltung und die Wildfänge in den Flüssen decken unseren Bedarf an tierischem Eiweiß ganz gut, und für eine ganze Weile werden die pulverisierten und konservierten Lebensmittel in unseren Lagern uns noch gut durchbringen.«

Eckhardt verzog angewidert das Gesicht.

»Ich hasse Fisch!«

»Das ist ja nun wirklich nicht mein Problem«, erwiderte Alv, »apropos Fisch. Hattest du eigentlich schon Kontakt zu unseren Boat People auf dem Mittelmeer?«

»Ach so … ja, vorhin. Sie sind noch etwa achtzig Seemeilen vom Ziel entfernt. In fünf bis sechs Stunden werden sie wahrscheinlich die Küste erreichen. Insgesamt elf Personen, davon zwei Frauen. Das Kommando hat ein Oberst Ryschkow, er klang sehr freundlich im Funk. Sie haben ungefähr zwei Tonnen Ladung dabei, auch Waffen, wie der Oberst verlauten ließ.«

»Okay, gut, dass er das erwähnt. Ich finde, das ist eine durchaus akzeptable Annäherung. Sepp, was denkst du? Fährst du mit dem Hulk-Truck zur Küste rüber? Ich denke, ich begleite dich dann.«

Sepp, der gerade gemeinsam mit Eckhardt begann, Tabakfeinschnitt in Papier zu wickeln, leckte über den Rand des Blättchens und nickte dann.

»Wann können wir los?«

»Stunde, würd’ ich sagen …«

Die beiden steckten ihre Glimmstängel an und pafften genüsslich vor sich hin. Alv zog eine Karte aus der Schublade des Küchentisches und breitete sie auf der Platte aus. Mit dem Finger zeigte er auf eine Stelle an der Küste.

»Eckhardt, wenn du nachher nochmal funkst, sag dem Oberst, er soll bei Port-la-Nouvelle in den Hafen einlaufen und bis zum Ende durchfahren. Vor der ersten Straßenbrücke soll er das Steuerbordufer anlaufen; dort, an der Fernstraße D 6139, warten wir auf ihn. Der Kai hat eine Zufahrt zum Fernstraßenkreisel, dort werden wir wohl die wenigsten Zeds antreffen. Auf dem Platz kann Sepp bis ans Wasser fahren und gut wenden, wir haben freies Schussfeld und gute Sicht nach allen Richtungen, dazu Wasser von zwei Seiten.«

»Gute Stelle«, sagte Sepp nickend, »gefällt mir. Schnell rein, unauffällig warten, schnell wieder raus. Lass uns Juri noch als Dolmetscher mitnehmen, dann bekommen wir auf der Rücktour alle an Bord. Am Hafen gibt es bestimmt noch einige Kühl- und Lagerhäuser, wir sollten uns da noch etwas umsehen, finde ich. Ich sattele zwei Zwanziger-Container auf, dann haben wir Platz für dies und das …«

»Ich schaue mal, wo ich unsere neuen Bewohner unterbringe«, warf Katharina ein, »unten in der Südostkurve der Rue de Salasse stehen noch zwei Häuser leer, die könnten wir herrichten. Willst du mir ein wenig zur Hand gehen, Birte?«

Birte, der man ihren glücklichen Zustand mittlerweile deutlich ansah, nickte.

»Ja, klar. Gern.«

Sepp Falkner stand auf, küsste seine Birte zärtlich und verließ Alvs Küche, um den riesigen Truck einsatzbereit zu machen. Die mächtige, vierachsige Zugmaschine besaß zwei kraftvolle Motoren, die zusammen maximal bis zu eintausendachthundert PS leisteten. Der Auflieger fasste zwei Zwanzig-Fuß-Container und besaß zudem einen eigenen Hydraulikkran mit großer Hubkraft. Die Tragkraft des Aufliegers betrug bis zu dreihundert Tonnen.

Zusätzlich hatten Holger und Ralle einen Gabelstapler mit LNG-Antrieb so modifiziert, dass er am Heck des Aufliegers mitgeführt werden konnte. Die Kabine des Staplers war mit Überrollbügeln ausgerüstet und voll vergittert, um zumindest Walker-Angriffen standzuhalten.

Am Bug der riesigen Zugmaschine hing ein V-förmiger Räumschild in einer Fronthydraulik, und um den gesamten Sattelschlepper herum existierten verschiedene umlaufende, zahnbewehrte Ketten, die – ähnlich einer Motorsäge – Zeds zerkleinerten, die sich an das Fahrzeug zu klammern versuchten.

Die Bewaffnung des Hulk-Trucks bestand aus zwei Maschinengewehren auf dem Dach der Fahrerkabine und einer Zwanzig-Millimeter-Gatling-Kanone, die in der raumgreifenden Motorhaube versenkt lag und bei Bedarf ausgefahren und vom Beifahrerplatz aus bedient werden konnte. Außerdem gab es Granatwerfer und 24 Tor-M1-Raketen an Bord.

In den Seitenkammern des Fahrerhauses lagerten noch automatische Handfeuerwaffen, Granaten und reichlich Munition und allerlei anderes Zeug, das sich wahlweise als Werkzeug oder Waffe einsetzen ließ. Die sehr geräumig gehaltene Fahrerkabine mit angeschlossener Wohneinheit, deren Fenster samt und sonders aus Panzerglas bestanden, bot im Notfall bis zu zwanzig Personen Platz, und eine Familie könnte hierin bequem einige Zeit leben, ohne überhaupt die Türen öffnen zu müssen.

Wasser, Vorräte, Solar- und Kommunikationsanlage, kleine Nasszelle und bequeme Sitz- sowie Liegegelegenheiten ließen diese Transporteinheit als durchaus komfortabel erscheinen.

Im ersten Jahr der Apokalypse hatte die New World Army diesen Koloss entwickelt, um ein Team durch Norddeutschland zu schicken, das Vorräte für die Feste Rungholt im zombieverseuchten Gebiet requirieren und die Überlebenden mit der Verabreichung des T93-Gens in deren Kampf unterstützen sollte.

Sepp Falkner war vom ersten Tag an der Fahrer dieses Stahlungeheuers und er kannte die Maschine in- und auswendig. Aus jedem noch so unscheinbaren Geräusch konnte er treffsicher auf mögliche Fehlerquellen schließen, und er war in Sachen unkonventioneller Reparaturarbeiten ein absolutes Ass.

Der Hulk-Truck war sein Baby. Na ja, zumindest bis zum Frühjahr, wenn er Vater werden würde. Normalerweise sollte dieser Begriff dann durch Birtes und seinen kleinen Sprössling belegt werden.

Währenddessen gingen Birte und Alvs Partnerin Katharina durch die südöstliche Rue de la Salasse, um am Südzipfel des Dorfes nach geeigneten Quartieren für die Neuankömmlinge zu suchen.

»Du schaust etwas verunsichert, Birte. Was ist los?«, fragte die Einundvierzigjährige, die bei allen im Dorf beliebt war wegen ihrer Besonnenheit und natürlich wegen ihres sehr hohen Bildungsstands.

Sie zeichnete für das Management der Ressourcen im Bereich Raumaufteilung und Nutzland verantwortlich und kümmerte sich um die Einsatzpläne der Bewohner, die mit Agrarwirtschaft im weitesten Sinne befasst waren. Außerdem war die Wissenschaftlerin natürlich in der verbleibenden freien Zeit mit der weiteren Erforschung der Krypta befasst, die das Team vor einem halben Jahr entdeckt hatte.

Zum Glück lag diese tief im Fels und hatten den Kriegszustand, der vor Kurzem über das Dorf hereingebrochen war, unbeschadet überstanden. Birte half ihr oft bei den Ausgrabungsarbeiten, denn sie interessierte sich brennend für die mit den beiden entdeckten Gräbern verbundene Geschichte.

»Ach, ich weiß nicht, Katharina«, entgegnete die Angesprochene, »aber es scheint mir in letzter Zeit alles so unwirklich. Vor etwas mehr als zwei Jahren hatte ich einen guten Job, verdiente nicht wenig Geld in der Bank, ich hatte coole Freunde. Nicht solche verkifften, immer breiten Hangarounds, sondern coole Leute. Wir haben viele Sachen unternommen, Paintball, Wassersport, Mountainbiking und so weiter. Brunch am Sonntag in der Markthalle, Chillabende in unserer Stammkneipe, dem Recall. Und jetzt? Tausende Kilometer von Zuhause weg, meine Familie ist tot oder Schlimmeres, ich kämpfe wie Chuck Norris gegen Untote, bin schwanger und habe keine Ahnung, wie das alles weitergehen soll. Das macht mich traurig.«

Sie schniefte ganz leise, in der Hoffnung, Katharina würde es überhören. Diese tat ihr den Gefallen, es bewusst zu überhören und meinte:

»Kann ich verstehen. Ich hatte auch einen wirklich gut dotierten Job an der Uni in Göttingen. Eine Familie und Freunde hatte ich natürlich auch. Und ich bin fast genauso weit weg von Zuhause wie du. Nur das mit dem schwanger sein, das hab ich noch nicht so drauf.«

Sie grinste.

Birte schaute sie fragend an. »›Noch nicht‹? Heißt das, du und Alv, ihr beabsichtigt …«

Katharina lachte.

»Na ja, wenn das T93X wirkt, was es ja offensichtlich tut, dann sehe ich keinen Grund, nicht noch mit 41 schwanger zu werden. Alv zumindest hat mir glaubhaft versichert, sein Bestes tun zu wollen …«

»Komisch«, entgegnete Birte nachdenklich, »ich meine, Sally hätte mir erzählt, ihr Vater habe sich kurz vor der Geburt von Arnie sterilisieren lassen.«

Katharina blieb abrupt stehen.

»Ach, wirklich? Nun, ich denke, ich werde morgen mit dem feinen Herrn mal ein ernstes Wörtchen reden müssen. Da kann der Herr Bulvey sich aber warm anziehen, ’ne alte Frau zu verarschen, mein lieber Scholli«

»Vielleicht hätte ich besser den Mund gehalten.«

»Ach was, das ist schon in Ordnung. Ich bin sicher, er hätte mir das vor einer geplanten T93X-Behandlung selbst gesagt. Aber er hat manchmal einen etwas seltsamen Humor. Von wegen ›ich muss das Kindermachen erst wieder üben‹. Der soll mir mal nach Hause kommen.«

Jetzt lachten beide Frauen und nahmen ihren ursprünglichen Weg wieder auf. Der Südbogen der Straße kam in Sicht, und die noch leeren Häuser rückten ins Blickfeld.

Drei kleinere Häuser, eigentlich eher Hütten, und ein etwas größeres standen hier dicht aneinander gedrängt auf dem Plateaurand; dahinter ging es einige Meter steil bergab.

»Ich mache mir auch ein wenig Sorgen wegen der Neuen«, meinte Birte, »wir haben ja schon acht russische Soldaten hier, jetzt kommen nochmal elf dazu.«

»Zehn. Einer ist Zivilist.«

»Ach so ja, dieser Computerhacker. Wie heißt der noch? Wiss… äh …«

Katharina sprang ein: »Wissarion.«

»Ja, genau. Insgesamt macht das dann achtzehn ziemlich gefährliche Typen. Ich meine, Juri und seine Leute sind echt nett, keine Frage. Aber diese Neuen kennen wir nicht, das macht mir schon ein bisschen Sorgen.«

»Alv hat mir erzählt, dass der Partner von diesem Oleg oder Wissarion das organisiert hat, und er vertraut diesen Leuten. Ich denke, das können wir auch tun. Und wenn wir gut miteinander auskommen, haben wir hier schon mal eine ganz passable Truppe, die unser kleines Reich verteidigen kann.«

Birte zuckte mit den Schultern und öffnete die erste Haustür in den Häusern des Südbogens.

»Ja, wahrscheinlich hast du Recht, Katharina.«

»Mach dir mal keine Sorgen. Jetzt sehen wir erst einmal zu, dass wir unseren Neuen ein einigermaßen brauchbares Heim anbieten können. Auf jeden Fall brauchen wir Feuerholz hier und Kohlen. Schaust du mal in den Küchen, was wir da haben und was noch an Geschirr und Besteck gebraucht wird? Ich sehe mal nach Bettzeug, Handtüchern und so weiter. Nachher sollten wir zum Hauptlager gehen und mal einen Grundstock an Lebensmitteln hierher bringen. Tee, Kaffee, Zucker, Brot und alles. Na ja, und vielleicht ein, zwei Fläschchen Wodka«, fügte sie lachend hinzu.

Am Ortseingang dröhnte die Hauptmaschine des Hulk-Trucks. Sepp ließ den Truck warmlaufen, der Auflieger war angekoppelt und Juri hatte bereits sein persönliches Waffenarsenal an Bord geschafft. Alv hatte seine HK417 in die Fahrerkabine gelegt und ein großes Kampfmesser, ein Black Jack Anaconda One, am Gürtel befestigt. Beide Waffen hatten einst Oberst Alexander Berger gehört, der im ersten Jahr der Zed-Apokalypse in Alvs alter Heimat gefallen war und nun dort auf einer Anhöhe über dem Nord-Ostsee-Kanal begraben lag.

Er war Sepp Falkners Vorgesetzter gewesen und auch Birtes große Liebe, die sie auf so tragische Weise verloren hatte. Sepp hatte seinen Freund erschossen, um die Mutation zum Zombie zu verhindern, er war in Birtes Armen gestorben.

Alv hatte es begrüßt, dass Birte und Sepp zueinander gefunden hatten, denn in Zeiten wie diesen brauchte man jemanden, der einem Halt gab. Auch Alv selbst hatte einen schweren Verlust hinnehmen müssen und sich in einer ähnlichen Situation wie Sepp befunden, als er auf der Reise nach Süden seine infizierte Ex-Frau erschossen hatte.

Ihre gemeinsamen Kinder würden noch lange brauchen, um dieses traumatische Ereignis, das jetzt etwas mehr als ein halbes Jahr zurücklag, vollends zu verarbeiten. Aber auch Alv hatte sich neu verliebt, und zwar in Katharina, die hübsche und energische Wissenschaftlerin, mit der er die Ausgrabung vor einigen Monaten unternommen hatte, die der Gemeinschaft den Schlüssel zum T93X-Gen verschaffte.

Aus der DNA des hier begrabenen Rabbiners Jesus von Nazareth hatten sie eine Gensequenz gewinnen können, die den durch das T93-Gen unfruchtbar gewordenen Frauen eine Heilung der Nebenwirkung versprach. Dass es dieses Heilmittel gab, wussten bislang nur Wissarion, der russische General Pjotrew und Marschall Gärtner, der Führer der New World.

Alv beabsichtigte, diese Neuigkeit bekannt zu geben, wenn General Pjotrews Putschversuch startete, um ihn dadurch zu unterstützen. In der New World gab es nur sehr wenige Frauen, die in der Anfangsphase der Neubesiedelung nicht mit dem T93 behandelt worden waren, auf jeden Fall nicht genug, um die Menschheit vor dem Aussterben zu bewahren.

Die Aussicht auf Nachwuchs für alle würde die Unterstützung im Volk für die Revolution sicherlich massiv fördern, da waren sich Pjotrew und Alv einig. Es würde auch nicht mehr allzu lange dauern, bis der Tanz beginnen sollte.

Alv und Juri stiegen zu Sepp in die Fahrerkabine und schlossen die Türen. Mit lautem Zischen gaben die Druckluftkreisläufe die Antriebsachsen frei und der mächtige Truck rollte an.

Gewaltige Dieselrauchfontänen presste der Motor aus den senkrechten Auspuffrohren, die seitlich an der Fahrerkabine emporführten.

Langsam und vorsichtig steuerte Sepp das überlange Gefährt durch die Serpentinen zu Tal.