Apfelernte

 

Sie begruben Faith im Garten bei meines Vaters Hütte, neben der Stelle, wo ihre Brüder lagen. Flehentlich bat ich sie, auch Aphra dort zu begraben, aber die Männer schauten mir weder in die Augen, noch erhörten sie meine Bitte. Keiner wollte ihren Körper innerhalb des Dorfgeländes liegen haben. Schließlich kam mir der junge Brand zu Hilfe. Gemeinsam schafften wir ihren Leichnam aufs Moor hinauf, wo Brand ihr unter großen Mühen in der felsigen Erde neben dem Grabhügel meines Vaters ein Grab schaufelte.

Elinor beerdigten wir auf dem Kirchhof. Da die Pest vorüber war, sprach nichts mehr dagegen. Der junge Micha Milne, der Sohn unseres toten Steinmetzes, gravierte den Stein so gut er konnte. Aber der Junge war gerade erst Lehrling gewesen, als die Pest seinen Vater fortriss, und hatte wenig Erfahrung. Ich musste ihm zeigen, wo er zwei Buchstaben in Elinors Namen falsch gesetzt hatte. Er meißelte die Irrtümer heraus und flickte die Inschrift, so gut es ging.

Am Grab betete Mister Stanley. Michael Mompellion war dazu nicht im Stande. Im Kampf gegen jene, die ihn schließlich von Elinors Leichnam im Steinbruch fortbringen wollten, hatte sich seine letzte Kraft erschöpft. Bis zum Anbruch der Nacht hatte er sich an sie geklammert. Kein gutes Wort ließ ihn von der Stelle weichen. Schließlich war es der alte Pfarrer, der den Männern befahl, ihn mit Gewalt zu entfernen, damit man sich mit Anstand um Elinors Körper kümmern konnte.

Dies tat ich. Und danach diente ich ihr weiter möglichst gut, indem ich ihre Wünsche erfüllte, die sie auf ihrem Krankenlager genannt hatte, als wir alle gedacht hatten, sie hätte die Pest. Sei meinem Michael eine Freundin, hatte sie gesagt. Wie hatte sie sich das vorgestellt? Würde er mich das je sein lassen? Stattdessen tat ich alles, was in meiner Macht lag. Ich diente ihm. Die meiste Zeit hätte ich auch ein Schatten sein können, so wenig nahm er mich wahr. Noch im Augenblick von Elinors Tod schien er sich auf eine Reise begeben zu haben, die ihn täglich weiter weg führte, immer auf der Suche nach einer Zuflucht in den Tiefen seines Geistes.

Wenigstens ermöglichte es mir die Sorge für den trauernden Mister Mompellion, mit meiner eigenen Trauer fertig zu werden. Täglich ging ich Wege, die Elinor gegangen war, und stellte mir vor, was sie tun oder sagen würde. Diese Übung brachte mir ein gewisses Maß an innerem Frieden. Zumindest befreite sie meinen Kopf von der Last eigener Gedanken. Solange ich meine Tage mit dem Nachahmen von Elinor füllen konnte, musste ich mich weder intensiver mit meinem eigenen Zustand beschäftigen noch mit meiner trostlosen Zukunft.

Am Tag nach ihrem Tode verließ er das Pfarrhaus. Ich folgte ihm aus Angst, er wolle sich in seinem düsteren Zustand vom Edge stürzen. Stattdessen ging er ins Moor oberhalb von Mompellions Well, wo ihn bereits sein Freund Mister Holbroke erwartete. Keine Ahnung, wie sie dies zuvor abgesprochen hatten. Dort diktierte er seine letzten Briefe aus dem Pestjahr. Im ersten teilte er dem Grafen mit, dass die Pestilenz seiner Ansicht nach endlich geflohen sei, und bat darum, die Straßen ins Dorf wieder zu öffnen. Der zweite war an Elinors Vater gerichtet, in dem er ihm ihren Tod meldete. Danach begab er sich wieder ins Pfarrhaus, das er seitdem nicht mehr verlassen hat.

Am zweiten Morgen kam ich kurz nach Sonnenaufgang ins Pfarrhaus. Ich hoffte, rasch bei der Arbeit zu sein, damit er nicht beim Aufstehen unter der leeren Stille dieses großen Hauses leiden müsste. Stattdessen stand er bereits auf dem Gartenweg, nahe bei einer Stelle, wo Elinor gerne Blumen geschnitten hatte. Wie lange er sich dort schon aufgehalten hatte, weiß ich nicht, aber als ich später frische Tücher in sein Zimmer brachte, entdeckte ich, dass sein Bett unberührt war.

Als ich über den Weg auf ihn zuging, regte er sich nicht, hob nicht den Blick, und grüßte mich auch nicht. Da ich mich nicht an ihm vorbeidrücken konnte, blieb auch ich dort stehen und betrachtete mit ihm die üppigen Spätsommerrosen, die in leuchtenden Kaskaden über die alte Steinmauer fielen.

»Diese hat sie ganz besonders geliebt«, sagte ich kaum hörbar. »Manchmal bildete ich mir ein, dies sei deshalb so, weil sie ihrem Äußeren glichen: ganz cremeweiß, mit einem Hauch von Rose.«

Jetzt drehte er sich abrupt zu mir und brachte seine Hand so rasch in die Nähe meines Gesichts, dass mich der Instinkt eines im Übermaß geschlagenen Kindes zusammenzucken ließ. Aber natürlich wollte er mich nicht schlagen, sondern nur zum Schweigen bringen. Dicht vor meinen Lippen verharrten seine Finger in der Luft. »Sag nichts, ich flehe dich an«, flüsterte er mit rauer Stimme. Dann drehte er sich um und ging langsam ins Haus.

Am nächsten Tag lief es ähnlich ab. Als ich zur Arbeit kam, fand ich ihn nicht in seinem Zimmer. Wieder deutete nichts darauf hin, dass hier jemand geschlafen hatte. Ich suchte nach ihm in der Bibliothek und im Salon und schließlich im Stall. Hoffentlich war er ausgeritten, was Reiter und Pferd gut täte. Aber Anteros war da und stampfte ungeduldig in seinem ungewohnten Gefängnis herum. Er habe den Herrn Pfarrer nicht zu Gesicht bekommen, erzählte mir der Stallbursche.

Erst im Laufe des Vormittags fand ich ihn. Diesmal stand er starr und stumm in Elinors Schlafzimmer und schaute unverwandt auf die Stelle, wo ihr Kopf gelegen hatte, als könnte er dort noch immer einen leichten Abdruck der Umrisse erkennen. Als ich die Türe öffnete, rührte er sich nicht. Seine Beine zitterten leicht, vielleicht auf Grund der Anstrengung, die ein langes regloses Stehen an einem Platz verursacht. Auf seiner Stirn standen Schweißperlen. Wortlos trat ich neben ihn, nahm seinen Ellbogen und führte ihn mit leichtem Nachdruck vom Bett weg und wieder in sein eigenes Zimmer. Er wehrte sich nicht, sondern ließ sich von mir führen wie ein Kind. Mit einem tiefen Seufzer sank er in seinen Sessel. Ich holte einen Krug mit dampfend heißem Wasser und wusch sein Gesicht. Seine Bartstoppeln kratzten über den Lappen. Urplötzlich waren wieder glasklare Erinnerungen an Sam Frith wach: Wie ich ihn geneckt hatte, wenn er nach langen Tagen unter der Erde unrasiert heimkam, wie ich bei seinen Küssen den Kopf wegdrehte, bis er sich von mir mit einer Klinge glatt rasieren hatte lassen, die er nur zu diesem Zweck ständig ganz scharf hielt.

Seit dem Tag, als Elinor starb, hatte sich der Herr Pfarrer nicht mehr rasiert. Zögernd erkundigte ich mich, ob ich das für ihn tun solle. Er schloss die Augen und gab keine Antwort. Also holte ich die notwendigen Dinge und machte mich an die Arbeit. Was für ein Gesicht, so grundverschieden von dem von Sam. Mein Mann hatte ein Gesicht, das so offen und leer war wie ein unbeackertes Feld. Das vor Erschöpfung und Kummer verhärmte Gesicht des Herrn Pfarrers bestand nur aus Erhebungen und Furchen. Ich stand hinter seinem Sessel, beugte mich über ihn und trug sachte mit den Fingern den Rasierschaum auf seine Haut auf. Anschließend putzte ich mir sorgfältig die Hände ab und nahm die Klinge zur Hand. Um die Haut zu straffen, legte ich ihm meine Linke auf den Rand der Wange. Zwischen unseren Gesichtern lagen höchstens ein paar Zoll. Während meiner Arbeit löste sich eine lange Haarsträhne, fiel aus meiner Haube und streifte seitlich seinen Hals. Er schlug die Augen auf und erwiderte meinen tiefen Blick. Ich fuhr zurück. Die Klinge glitt mir aus der Hand und fiel klappernd in die Schüssel. Unversehens spürte ich, wie ich rot wurde. Meine Haut prickelte. Eines wusste ich: So konnte ich unmöglich weitermachen. Ich gab ihm die Klinge und brachte einen Spiegel, damit er sich fertig rasieren konnte. Anschließend entfernte ich mich mit den Worten, ich würde einen Teller Brühe holen, rückwärts aus dem Zimmer. Erst nach geraumer Zeit hatte ich mich so weit gefasst, dass ich sie ihm bringen konnte.

Danach hörte jeder Rundgang durchs Haus auf. Tag und Nacht blieb er nur noch auf seinem Zimmer. Am Ende der ersten Woche holte ich Mister Stanley in der Hoffnung, das brächte etwas Gutes. Äußerst erregt verließ der alte Mann das Zimmer des Herrn Pfarrers. Als ich ihm seinen Hut brachte, schien er heftig mit sich zu ringen. Schließlich wandte er sich mir zu und begann, sich vorsichtig nach dem geistigen Zustand des Herrn Pfarrers zu erkundigen.

Dies stürzte mich in Verwirrung. Nicht weil ich meine eigene Meinung für wertlos hielt, wie es früher der Fall gewesen wäre, sondern weil ich fand, es stünde mir nicht zu, über Mister Mompellions Verhalten zu sprechen. Nicht einmal mit Mister Stanley, der es gut damit meinte.

»Das kann ich sicherlich nicht beurteilen, Sir.«

Daraufhin murmelte der alte Mann etwas vor sich hin, was mehr für seine Ohren gedacht war als für meine: »Meiner Ansicht nach hat ihn der Kummer ruiniert, jawohl, sogar ziemlich ruiniert. Vermutlich hat er nichts von all meinen Worten begriffen. Warum würde er sonst meinen Rat verlachen, er solle sich in Gottes Willen schicken?«

Mister Stanley war so besorgt, dass er sowohl am nächsten Tag wie am übernächsten wiederkam, aber Mister Mompellion verbat es, dass ich ihn einließ. Als er ein drittes Mal kam, ging ich nach oben, um den Herrn Pfarrer davon zu benachrichtigen. Verdrossen vertieften sich seine Mundfalten. Widerwillig erhob er sich aus seinem Sessel und lief im Zimmer auf und ab.

»Ich hätte gerne, dass du Mister Stanley etwas ausrichtest, falls du dazu im Stande bist. Bitte, Anna, wiederhole diesen Satz: Falsus in uno, falsus in omnibus.«

Ich wiederholte den lateinischen Satz. Dabei fiel mir plötzlich auf, dass ich ihn sinngemäß verstehen konnte. Noch ehe ich meine Zunge bremsen konnte, platzte ich laut heraus: »Falsch in einer Sache, falsch in allen.«

Mister Mompellion fuhr abrupt herum und zog die Augenbrauen hoch. »Um alles in der Welt, wie kannst du das wissen?«

»Halten zu Gnaden, Herr Pfarrer, ich habe ein bisschen Latein aufgeschnappt, ein ganz klein bisschen, während wir uns im letzten Jahr hier so ins Lernen vertieft hatten Sehen Sie, die Medizinbücher sind meistens auf Lateinisch, und wir, das heißt …«

Jetzt unterbrach er mich. Er wollte nicht, dass ich ihren Namen aussprach. »Ich verstehe, ich verstehe. Dann kannst du es ja Mister Stanley ausrichten und ihn bitten, er möchte doch so freundlich sein, mich nicht mehr zu besuchen.«

Die Bedeutung von Wörtern kennen ist eine Sache, ihren Sinn zu verstehen etwas ganz anderes. Ich hatte keine Ahnung, was Mister Mompellion dem alten Mann zu übermitteln versuchte. Aber als ich die Botschaft ausrichtete, wurde Mister Stanleys Miene streng. Er ging auf der Stelle und kam nicht wieder.

 

Neben meiner Arbeit im Pfarrhaus hatte ich viel zu tun. Immer öfter wandten sich die Dorfbewohner wegen Tränklein und kleinen Heilmitteln an mich. Dafür musste ich den Garten der Gowdies pflegen, wo ich in jeder freien Minute die Sommerkräuter schnitt und zum Trocknen aufhängte. Hatte mich das Schicksal zur nächsten in jener langen Reihe von Frauen bestimmt, von denen Anys einmal gesprochen hatte? Frauen, die sich um diese Pflanzen kümmerten und ihre Heilkräfte kannten. Der Gedanke bedrückte mich. Ich wies ihn von mir. Für mich würde der Gowdie-Garten nie wieder ein Ort der Ruhe sein. Dazu gab es hier zu viele Erinnerungen: an Elinor, wie sie über einer Hand voll Wurzeln rätselte und sich mit fragenden Augenbrauen an mich wandte; an die alte Mem, wie sie mit kundiger Hand frisch gepflückte Kräuterbüschel mit einer Schnur zusammenband; und an Anys, die meine Freundin hätte sein sollen An und für sich waren diese Erinnerungen nichts Schlechtes, allerdings stiegen auch noch andere in mir hoch: das gurgelnde Rasseln der sterbenden Mem; das betrunkene Gebell, mit dem die Mörder an dem Seil zerrten, das Anys umbrachte; Elinors starrer blasser Körper unter meinen Händen, kalt. In meiner Vorstellung sollten sich im Kopf einer Heilerin nicht so viele Bilder von Toten ansammeln. Und doch kann man einige Erinnerungen nicht wie Unkraut ausreißen, wie sehr man sich auch dazu zwingen mag.

Das Dorf selbst wirkte noch immer wie gelähmt. Mit der Öffnung der Straßen sprang das Leben nicht urplötzlich wieder an. Zwar flohen einige von hier, so schnell es ging, die meisten aber blieben und gingen müde und benommen ihrer Tagesarbeit nach. Außerdem hatte kaum jemand von außerhalb den Mut zu einer Reise zu uns. Gegen Sommerende wagten sich einige wenige Verwandte von Verstorbenen hierher, um Anspruch auf ihre Erbschaft zu erheben, aber bei den meisten war die Angst zu stark, dass die Pest sich insgeheim doch noch immer in unserem Dorf herumtreiben könnte.

Einer der Ersten, die kamen, war Mister Holbroke aus Hathersage. Freudig begrüßte ich ihn in der Hoffnung, die Anwesenheit eines so alten Freundes würde dazu beitragen, Mister Mompellions Melancholie zu mildern. Aber nicht einmal ihn wollte der Herr Pfarrer sehen und verlangte von mir, ihn sofort wieder wegzuschicken. Tag um Tag saß er in seinem Sessel, aus dem er sich nur erhob, um im Zimmer herumzulaufen. Seine Trauer dauerte Wochen, dann Monate, und als der Sommer langsam der Herbstzeit wich ein ganzes Vierteljahr.

Viele Wochen suchte ich nach Wegen, ihn aufzurütteln, indem ich ihm zum Beispiel kleine gute Neuigkeiten brachte: die Verlobung meiner verwitweten Nachbarin Mary Hadfield mit einem beliebten Hufschmied aus Stoney Middleton. Die schwesterliche Freundschaft, die sich allmählich zwischen der optimistischen kleinen Quäkerin Merry Wickford und der trübsinnigen, zerstörten Jane Martin entwickelte und für beider Seelen heilsam zu sein schien. Aber nichts von allem berührte ihn auch nur im Geringsten.

Ich flehte ihn an, wenigstens an sein Pferd zu denken, das unruhig im Stall herumscharrte. Mit dem Vorschlag, dieser oder jener würde sich vielleicht über ein Wort, einen Rat oder ein Gebet von ihm freuen, versuchte ich, ihn bei seinem Pflichtgefühl zu packen. In Wahrheit trafen nur selten Bitten um geistlichen Beistand ein. Anfänglich dachte ich, dies sei Ausdruck einer natürlichen Zurückhaltung, geboren aus dem Respekt für sein eigenes großes Leid. Aber dann wurde mir klar, dass ihn viele Leute im Dorf wegen der Dinge nicht liebten, die er während der langen Monate unseres Martyriums hier getan hatte. Einige gingen sogar so weit, ihm insgeheim die Schuld an ihren großen Verlusten zu geben. Für andere war er einfach das bittere Symbol, das ihre dunkelsten Tage verkörperte. Diese Ungerechtigkeit schmerzte mich und half mir, behutsam mit ihm umzugehen, wenn ich an meiner Arbeit verzweifeln wollte. Vielleicht spürt er irgendwie die Gefühle der Dorfbewohner, dachte ich mir, und vielleicht verstärkt das seine Melancholie.

Und doch verzweifelte ich manchmal, obwohl ich versuchte, die Hoffnung nicht aufzugeben. Egal, was ich sagte, egal, ob ich meine Bitten sachte oder mit Nachdruck formulierte, seine einzige Antwort war immer wieder dasselbe hilflose Achselzucken. Als wollte er sagen, er sei diesbezüglich zu keinem Handeln, zu keiner Empfindung fähig. All seine früheren geistigen und körperlichen Kräfte schienen langsam, aber sicher zu versickern. Und so ging es weiter, jeder Tag so leer und still wie der vorige.

 

Dann kehrten die Bradfords zur Zeit der Apfelernte ins Dorf zurück. Ich habe bereits geschildert, wie meine Begegnung mit Elizabeth Bradford verlief. Wie ihre Forderung, er solle ihrer leidenden Mutter beistehen, erneut das ganze Ausmaß seines Zorns entfachte, den er damals empfunden hatte, als diese Familie von hier geflohen war und ihre Pflichten vernachlässigt hatte. Und auch das habe ich beschrieben: wie mein Versuch scheiterte, ihm Trost zu bringen, und er die Bibel zu Boden warf.

Es fiel mir sehr schwer, nicht wegzulaufen, nachdem ich die Tür zu seinem Studierzimmer geschlossen hatte. Wo er mich am Unterarm gepackt hatte, zeichnete sich eine grellrote Druckstelle ab. Ich war wütend über mich selbst, aber auch sehr verwirrt. Durch die Küchentür verließ ich das Pfarrhaus und ging instinktiv Richtung Stall.

Bevor er die Bibel hatte fallen lassen, hatte er jene wunderschönen Psalmworte fast gezischt:

 

Dein Weib wird sein wie ein fruchtbarer Weinstock

drinnen in deinem Hause

deine Kinder wie Ölzweige um deinen Tisch her

 

Man hatte seine Frau vor seinen Augen gefällt. Meine Olivenzweige hatte die Braunfäule zerstört. Warum? Seine stumme Frage dröhnte in meinem Schädel. Schon zu viele schlaflose Nächte hatte mich genau dieses Warum gequält. Aber dass auch er sich diese Frage stellen sollte Mit ihrer Bitte um Vergebung sollte sie sich unmittelbar an Gott wenden Leider fürchte ich, dass es ihr ergehen könnte wie schon vielen von uns hier, die in Ihm einen schlechten Beichtvater fanden. Glaubte er mittlerweile tatsächlich, all unser Opfer, alles Leid und alles Elend seien umsonst gewesen?

Ich wollte für eine Weile allein sein, daher öffnete ich die Tür zum Pferch von Anteros und glitt hinein. Mit dem Rücken zur Wand verhielt ich mich möglichst still. Das Pferd bäumte sich einmal auf, dann stand es schnaufend und schnaubend da und musterte mich aus einem seiner großen braunen Augen. So verharrten wir viele Minuten. Als ich dachte, er würde mir nichts tun, ließ ich mich langsam hinunter ins Stroh gleiten.

»Nun, Anteros, leider muss ich dir mitteilen, dass er nun doch verloren ist«, sagte ich. »Sein Verstand hat ihn restlos verlassen.« Sicher, das war es. Er war verrückt. Eine andere Erklärung konnte es nicht geben. Das Pferd schien meine Verzweiflung zu spüren. Es hatte aufgehört, unruhig herumzutänzeln. Hin und wieder hob es einen Huf und ließ ihn fallen, wie ein ungeduldiger Mensch, der mit den Fingern auf den Tisch trommelt.

»Auf ihn zu warten, nützt nichts mehr, mein Freund«, sagte ich. »Wir beide werden akzeptieren müssen, dass er sich seiner Dunkelheit überlassen hat. Ich weiß, ich weiß, nach all der Kraft, die er uns gezeigt hat, fällt es schwer, das zu glauben.« Aus meiner Rocktasche zog ich ein zerknittertes Stück Papier. Es war der Entwurf für den Brief an Elinors Vater, den Mister Mompellion unmittelbar nach ihrer Ermordung aufgesetzt hatte. Der letzte Brief, den er so diktieren sollte, der letzte, ehe die Straßen wieder geöffnet wurden. An jenem Tag war ich bei ihm geblieben. Ich hatte Angst gehabt, ihn aus den Augen zu lassen, jawohl, aber auch Angst, mit meinem eigenen Kummer allein zu sein. Trotz seiner kräftigen Stimme konnte er die Worte dieser Depesche nur mit äußerster Mühe laut rufen. Am Ende hatte er wie ein Junge im Stimmbruch gekiekst. Nachdem er Mister Holbroke zum Abschied zugewinkt und sich wieder Richtung Pfarrhaus gedreht hatte, hatte er den Entwurf zerknüllt aus der Hand fallen lassen. Ich war hingerannt und hatte ihn aufgehoben.

An jenem Tag war er in einer besonders düsteren Stimmung gewesen – wer wäre das nicht? –, und doch hatte sein Glaube damals fest gewirkt. Nun las ich das Papier erneut im Halbdämmer des Stalles, obwohl ich große Mühe hatte, das hastig Hingekritzelte zu entziffern:

 

Unser Liebstes ist zur ewigen Ruhe eingegangen und wurde mit einem Glorienschein gekrönt und mit dem Gewand der Unsterblichkeit bekleidet, das sie wie die Sonne am Firmament des Himmels erscheinen lässt Liebwerter Sir, Euer strebender Kaplan möchte Euch und Eurer Familie diese Wahrheit anempfehlen: Dass wir nur durch ein frommes Leben in diesem Tal der Tränen Glück oder wahren Trost finden können. Außerdem flehe ich Sie an, folgende Regel zu beherzigen: Nie etwas zu tun, für das Sie nicht zuvor wagten, Gottes Segen zu erflehen, dessen Erfolg

Sir, vergeben Sie den ungehobelten Stil dieses Papiers. Es dürfte Sie jedoch nicht wundern, falls ich meiner Sinne nicht ganz mächtig bin. Haben Sie trotzdem die Güte zu glauben, dass ich, liebwerter Sir, Ihr alleruntertänigster, Ihnen sehr verbundener und aufs Äußerste dankbarer Diener bin …«

 

Na ja, dachte ich, damals war er seiner Sinne eher mächtig gewesen als jetzt. Ich bezweifelte, ob er eine Bitte um Gottes Segen gewagt hätte, als er Elizabeth Bradford so rüde abwies oder die Bibel entweihte. Wenn Elinor hier wäre, könnte sie mir raten, was ich für ihn tun sollte. Allerdings befände er sich dann nicht in diesem Zustand.

Da saß ich nun und atmete den schweren süßlichen Geruch von Pferd und Heu ein. Mit einem Schnauben senkte Anteros seinen massigen Schädel auf meinen Nacken und beschnupperte mich. Langsam hob ich die Hand und streichelte seine lange Schnauze. »Da wären wir also, du und ich, am Leben«, sagte ich. »Also müssen wir beide unser Bestes daraus machen.«

Er scheute vor meiner Berührung nicht zurück, sondern drückte sich gegen meine Hand, als würde er um noch mehr Liebkosungen betteln. Dann hob er den Kopf, als versuche er, die Luft im Freien zu wittern. Darf man sagen, ein Tier habe so etwas wie einen wehmütigen Ausdruck? Wenn ja, dann machte Anteros jedenfalls auf mich diesen Eindruck. »Dann lass uns gehen«, flüsterte ich. »Gehen und leben. Eine andere Wahl haben wir nicht.« Langsam stand ich auf und hob das Zaumzeug vom Haken. Er wich dabei nicht zurück. Nur ein Ohr zuckte, als wollte er sagen: Was ist das? Er senkte den Kopf, und ich streifte es ihm möglichst sachte über. Während ich den Riegel zur Stalltüre zurückschob, hielt ich ihn fest, obwohl ich nur allzu gut wusste, dass ich gegen seinen Willen nur wenig Chancen hätte, ihn aufzuhalten. Mit geblähten Nüstern warf er den Kopf hoch und sog den ersehnten Grasduft ein. Trotzdem zog und zerrte er nicht, um meine Hand abzuschütteln. Ich lehnte mein Gesicht gegen seinen Hals und sagte mit tiefer Stimme: »Gut, halt noch eine Minute still, dann sind wir fort.«

Draußen im Hof saß ich ohne Sattel auf, genau wie ich als Kind reiten gelernt hatte. Im Gegensatz zu den damaligen Pferden, alten spatkranken Geschöpfen, war das Gefühl des sattellosen Anteros unter mir eine Überraschung. Er bestand aus einer einzigen geballten Ladung Muskeln. Wenn er gewollt hätte, hätte er mich binnen einer Sekunde abwerfen können. Deshalb machte ich mich auf alles gefasst und nahm mir vor, mich so lange anzuklammern, wie es eben ging. Stattdessen tänzelte er ein wenig herum, als er mein Gewicht spürte, wartete aber auf mein Signal. Als ich mit der Zunge schnalzte, ging es in einer geschmeidigen Bewegung vorwärts. Wie eine gelenkige Katze nahm er die Mauer. Ich spürte kaum, wie er wieder aufkam.

Ich lenkte ihn Richtung Moor, und wir galoppierten los. Der Wind riss mir die Haube fort und löste meine Haare, sodass sie wie ein Banner hinter mir her wehten. Im Takt zum mächtigen Hufgetrappel pochte mir das Blut im Kopf. Wir leben, wir leben, wir leben, sagten die Hufschläge, und mein Pulsschlag gab ihnen Antwort. Ich war lebendig, und ich war jung, und ich würde weitermachen, bis ich einen Sinn darin fand. Bei diesem Morgenritt roch ich den Duft des Heidekrauts und spürte den Wind im Gesicht. Ich fühlte mich stark. Während unser gemeinsames Martyrium Michael Mompellion gebrochen hatte, hatte es mich im selben Maße gehärtet.

Ich ritt nur, um der Bewegung willen, egal, wohin. Nach einer Weile fand ich mich auf einer großen Wiese wieder und merkte, dass es das Feld um den Grenzstein war. Jener Pfad, den wir während unseres Pestjahres so tief ausgetreten hatten, war schon fast wieder zugewachsen. Zwischen den hohen Gräsern war der Stein selbst fast unsichtbar. Mühelos, ganz mühelos ließ ich Anteros zuerst kantern und dann im Schritt am Rande des Vorsprungs entlanggehen, bis ich den Stein mit seinen eingemeißelten Löchern fand. Ich glitt von seinem Rücken. Während er im Stehen geduldig graste, kniete ich nieder, riss rings um den Stein das Gras weg und legte zuerst meine Hände darauf, dann meine Wange dagegen. In vielen Jahren wird sich jemand zum Ausruhen direkt neben diesen Stein setzen und gedankenverloren in diesen Löchern herumfingern, dachte ich. Dann wird niemand mehr wissen, warum man sie hineingehauen hat oder welch großes Opfer wir hier gebracht haben.

Ich hob den Kopf. Beim Blick über den Vorsprung, hinunter nach Stoney Middleton, fiel mir wieder ein, wie gerne ich dort hinabgeflohen wäre. Jetzt band mich kein Eid mehr. Ich nahm die Zügel, stieg wieder auf Anteros, und dann galoppierten wir in hohem Tempo den Hang hinunter und weiter durchs Dorf, kaum weniger schnell, und im gestreckten Galopp wieder auf die dahinterliegenden Felder hinaus. Eines weiß ich genau: Die guten Bürger von Stoney Middleton wussten sicher nicht, was sie von uns halten sollten. Erst als die Sonne schon hoch am Himmel stand, wendete ich Anteros zum Anstieg in unser Dorf zurück. Als wir uns dem Grenzstein näherten, verlangsamten wir das Tempo. Das kräftige Pferd fiel in einen erstaunlich leichtfüßigen, angenehmen Trab. Als wir zum Pfarrhof kamen, schritt er so gesittet wie ein Kutschenpony.

Mit großen Schritten trat Michael Mompellion zur Türe heraus. Sein Gesicht wirkte verärgert und ungläubig. Er rannte zu uns hin und packte das Pferd am Zaumzeug. Seine grauen Augen musterten mich intensiv. Plötzlich wurde mir bewusst, dass es nicht besonders anständig aussah, wie ich so dahergeritten kam: im Herrensitz, den Rock bis über den Unterrock hochgezogen, bis zur Taille offene Haare, die Haube irgendwo im Moor verloren, mit roten Wangen, auf denen der Schweiß glänzte.

»Hast du denn völlig den Verstand verloren?« Seine Stimme hallte von den Hofmauern wider.

Ich schaute vom hohen breiten Rücken von Anteros auf ihn nieder. Zum ersten Mal zuckte ich unter seinem bohrenden Blick nicht zusammen.

»Sie etwa?«, lautete meine Antwort.

Anteros warf den Kopf hoch, als wollte er Michael Mompellions Hand von seinem Zaumzeug abschütteln. Der Herr Pfarrer starrte zu mir hinauf. Inzwischen glichen seine Augen blanken Schiefertafeln. Unversehens wandte er den Blick ab, ließ das Pferd los, hob die Hände zum Gesicht und drückte sich die Handballen so fest in die Augen, dass ich dachte, er würde sich selbst verstümmeln.

»Ja«, sagte er schließlich, »ja wahrlich, ich glaube, ich habe tatsächlich den Verstand verloren.« Mit diesen Worten fiel er auf die Knie, mitten im schmutzigen Hof. Als ich ihn so zusammenbrechen sah, galt mein Gedanke Elinor, ich schwöre es. Wie ihr sein zutiefst kläglicher Anblick das Herz bräche. Ehe ich noch recht wusste, was ich da tat, war ich schon vom Pferd und nahm ihn in die Arme, wie es sicher auch Elinor getan hätte. Er vergrub seinen Kopf an meiner Schulter, und ich hielt ihn so fest, wie man einen hält, der aus großer Höhe abzustürzen droht. Durch den dünnen Hemdstoff konnte ich seine harten Rückenmuskeln spüren. So hatte ich seit über zwei Jahren keinen Mann mehr gehalten. Und dann passierte es: Plötzlich durchzuckte mich heftiges Begehren. Ich stöhnte auf. Daraufhin wich er zurück und schaute mich an. Seine Finger streiften mein Gesicht und wanderten in meine zerzausten Haare, wo er seine Hände in den Strähnen vergrub. Er packte mich fester und zog meinen Mund an den seinen.

In dieser Umarmung fand uns der Stallbursche. Aus Angst, man würde ihm die Schuld an meinem wilden Ausritt geben, hatte er sich in der Sattelkammer versteckt. Jetzt stand er mit weit aufgerissenen Augen wie angewurzelt da. Wir sprangen beide auf und fuhren auseinander, der eine vor die dunkle massige Gestalt von Anteros, der andere dahinter. Aber was er gesehen hatte, hatte er gesehen. Irgendwie brachte ich meine Stimme einigermaßen unter Kontrolle.

»So, da sind Sie also, Master Richard. Hätten Sie die Güte, sich um Anteros zu kümmern. Er wird Wasser wollen. Außerdem wird er sich meiner Meinung nach nun wieder einmal bürsten lassen. Sehen Sie zu, dass dies gründlich geschieht.« Keine Ahnung, wie ich meine Stimme während all dieser Sätze am Zittern hinderte. Mit bebenden Händen übergab ich ihm die Zügel und ging dann Richtung Küche. Ich wagte es nicht, mich umzusehen. Bald darauf hörte ich, wie die Türe auf- und wieder zuging. Dann Schritte auf der Treppe. Ich presste die Hände gegen die Schläfen und versuchte, ruhiger zu atmen. Schließlich raffte ich meine widerspenstigen Haare zusammen und verknotete sie am Hinterkopf so gut es ging. Gerade als ich mich in der glänzenden Oberfläche einer herunterhängenden Pfanne betrachtete, um zu sehen, wie mir dies gelungen war, erblickte ich sein Spiegelbild hinter mir.

»Anna.«

Ich hatte ihn nicht wieder die Treppe herunterkommen gehört. Nun stand er unter der Küchentüre. Ich machte einen Schritt auf ihn zu, aber er streckte die Hände aus, ergriff meine Handgelenke – diesmal zärtlich – und hielt mich auf Distanz. Er sprach so leise, dass ich ihn kaum hören konnte. »Ich weiß mir keine Erklärung für mein Verhalten draußen im Hof. Trotzdem entschuldige ich mich bei dir dafür.«

»Nein!«, unterbrach ich ihn, aber er ließ eines meiner Handgelenke los und legte mir einen Finger auf die Lippen.

»Ich bin nicht bei Sinnen, das weißt du besser als sonst jemand. Du hast in den letzten Monaten gesehen, wie ich bin. Ich weiß mir keine Erklärung dafür. Eine Beschreibung übersteigt meinen gesamten Wortschatz. Es ist, als herrsche in meinem Kopf ein düsteres Unwetter. Ich kann nicht klar denken. Eigentlich kann ich die meiste Zeit gar nicht denken. Da ist nur dieses Gewicht in meinem Herzen, eine formlose Furcht, die sich als Schmerz entpuppt. Und danach eine noch größere Furcht vor noch mehr Schmerz …«

Ich vernahm kaum seine Worte. Was ich dann tat, wollte er nicht, ich weiß. Aber in mir war ein so starkes Begehren, dass es mir egal war. Ich hob meine Hand zu der Stelle, wo die seine noch immer unbewegt auf meinen Lippen lag. Dann öffnete ich den Mund und fuhr mit meiner Zunge sachte über seine Fingerspitze. Er stöhnte auf. Während ich noch ganz fest an seinem Finger saugte, zog er mich mit der anderen Hand, die noch immer um mein Handgelenk lag, an sich. Dann fielen wir übereinander her. Wahrscheinlich hätte uns nichts aufhalten können. Wir nahmen einander, wild und hart, gleich dort unten auf dem Kalksteinboden. Als mir die rauen Steinplatten die Haut aufschürften, schien der Schmerz jenem in meinem Herzen zu gleichen. Keine Ahnung, wie wir nach oben kamen, aber später lagen wir zusammen auf dem nach Lavendel duftenden Bett. Jetzt waren wir zärtlich und langsam und widmeten uns einander wunderbar aufmerksam. Dort ruhten wir uns anschließend aus, während der Regen leicht gegen die Fenster klopfte, und sprachen leise über all die Dinge, die wir vor dem Wüten des vergangenen Jahres im Laufe unserer Leben geliebt hatten. Über das Pestjahr selbst fiel kein Wort.

Als er am späten Nachmittag in einen leichten Schlummer gefallen war, schlich ich aus dem Bett, zog mich an und ging meine Schafe füttern. Es hatte zu regnen aufgehört, ein leichter Wind flüsterte im nassen Gras. Eben beförderte ich mit der Gabel Heu vom Heuboden, da trat er näher.

»Lass mich das machen«, sagte er und nahm die Heugabel. Dann hielt er inne und zupfte mir mit zärtlichen Liebkosungen das Stroh vom Kleid. Mit geübten Handbewegungen schaufelte er das Heu hinunter und schleppte die Ladung unter meiner Anleitung aufs Feld hinaus, wo die Herde im Schutz eines Ebereschenwäldchens graste. Gemeinsam waren wir mit dem Verteilen rasch fertig. Die Mutterschafe beobachteten uns und widmeten sich dann wieder dem Fressen. Als er einen dichten Heuballen zerstieß, duftete es plötzlich intensiv nach weißem Klee. Er hob ein Büschel auf und atmete tief ein. Als er wieder aufsah, war sein Gesicht von einem Lächeln erhellt, wie ich es schon seit über einem Jahr nicht mehr bei ihm gesehen hatte. »Das duftet wie meine Kindheitssommer«, sagte er. »Weißt du, eigentlich hätte ich Bauer werden sollen. Vielleicht werde ich’s ja jetzt noch.« Ein plötzlicher Windstoß ließ einen regennassen Ast erzittern, sodass wir beide nass wurden. Ein letzter Haufen glatter Blätter regnete auf uns herab. Ich zitterte. Da hob er ein einzelnes Blatt aus meinem Haar und drückte es mit einem Kuss an seine Lippen. Im sinkenden Tageslicht stiegen wir wieder den Hügel hinab. Als wir uns meiner Kate näherten, nahm er mich bei der Hand.

»Anna, darf ich heute Nacht in deinem Bett liegen?«

Ich nickte. Wir gingen hinein. Unter dem niedrigen Türstock musste er den Kopf einziehen. Ich begann, die Glut im Herd wieder anzufachen, aber er unterbrach mich. »Heute möchte ich dich bedienen«, sagte er, führte mich zum Stuhl und legte mir genauso fürsorglich meinen Schal um die Schultern, wie ich ihn im letzten Monat unter eine wärmende Decke gesteckt hatte. Dann bückte er sich zum Herd. Als das Feuer knisterte, kniete er sich vor mich hin und zog mir erst die Stiefel und dann die Strümpfe aus. Zärtlich legte sich seine Hand auf das blasse Fleisch meiner Schenkel. »Du hast kalte Füße«, sagte er und umfing beide mit seinen breiten Händen. Anschließend holte er den Kessel vom Haken, goss warmes Wasser in ein Waschbecken und wusch meine Füße, wobei er die Sohlen mit leichtem Daumendruck knetete. Zuerst fühlte ich mich bei dieser ungewohnten Zärtlichkeit ganz unwohl. Ich habe garstige Füße, die vom vielen Gehen in schlechten Stiefeln ganz hart und verhornt sind. Aber als er weiter meine schrundigen Fersen streichelte, löste sich die Anspannung in mir. Ich gab mich seiner Berührung hin, lehnte den Kopf gegen den Stuhl, schloss die Augen und ließ meine Hände durch seine gelösten Haarsträhnen wandern. Nach langer Zeit standen seine Hände still. Ich schlug die Augen auf und begegnete seinem Blick, der unverwandt auf mich gerichtet war. Vorsichtig hob er mich zu sich herunter, bis ich mit gespreizten Beinen auf seinen Schenkeln saß. Da schob er meinen Rock samt Unterrock hoch und drang in mich ein, sachte und langsam. Ich umschlang ihn mit den Beinen und hielt sein Gesicht zwischen beiden Händen. Unsere Augen bohrten sich ineinander. Bis uns plötzlich die warme Welle unserer Lust durchschoss, schienen wir nicht einmal zu blinzeln.

Danach hob er mich wieder auf den Stuhl und ließ mich nicht aufstehen, um Essen zu holen. Unbeholfen durchsuchte er meine Töpfe und stellte aus Käse und Äpfeln, Haferkuchen und Bier ein einfaches Mahl zusammen, das wir mit den Händen aßen, vom selben Teller. Für mich war es das köstlichste Festmahl meines Lebens. Obwohl wir nur wenig Worte wechselten, während wir dem knisternden Feuer zuschauten, war es eine freundliche Stille – nicht das übliche leere Schweigen, das meine Nerven blank legte. Als wir endlich in mein Bett hinaufkletterten, lagen wir lange Zeit nur da und schauten einander mit fest verschlungenen Händen tief in die Augen, während sich unsere Haare auf dem Kissen mischten. Irgendwann in den frühen Morgenstunden nahm ich ihn noch einmal, erst langsam, dann voller Leidenschaft. Ich warf mich über ihn. Er hielt mich an den Handgelenken fest und schrie laut vor Lust. Ich konnte spüren, wie sich das Stroh in meinem dünnen Lager bewegte und die alten Dielenbretter klagend knarzten. Als wir endlich voneinander abließen, fiel ich in einen erschöpften, traumlosen Schlaf, aus dem ich erst am Morgen erwachte.

Im ganzen Raum duftete es süß nach Stroh, das aus den aufgeplatzten Nähten meines Lagers gefallen war. Durch die rautenförmigen Scheiben des Fensterflügels fiel Licht auf seinen langen, reglosen Körper. Auf einen Ellbogen gestützt, schaute ich ihn an und zeichnete mit einer Fingerspitze die hellen Winkel auf seiner Brust nach. Dadurch erwachte er, regte sich aber nicht, sondern beobachtete mich seinerseits, wobei sich die Krähenfüße um seine Augen vor Lust zusammenzogen. Beim Anblick meiner Hand auf seiner Brust, dieser roten, abgearbeiteten Haut, dachte ich an Elinors zarte, blasse Finger. Ob ihn mein derberes Fleisch wohl abstieß?

Jetzt griff er nach meiner Hand und küsste sie. Ich zog sie zurück, weil ich mich für ihr Aussehen schämte, und platzte mit dem Gedanken heraus, der mir nicht mehr aus dem Kopf ging – »Wenn du bei mir liegst«, flüsterte ich, »denkst du dann an Elinor? Liegst du dann in Gedanken wieder bei ihr?«

»Nein«, sagte er, »solche Erinnerungen habe ich nicht.«

Ich dachte, dies sagte er aus Rücksicht auf mich. »So etwas musst du nicht sagen.«

»Ich sage es nur, weil es wahr ist. Ich habe nie bei Elinor gelegen.«

Ich schob mich hoch und starrte ihn an. Seine grauen Augen betrachteten mich, undurchschaubar wie Rauchglas. Ich packte einen Bettzipfel, um meine Nacktheit zu bedecken. Mit einem leichten Lächeln griff er hinauf, zog das Tuch wieder weg und ließ seine Fingerspitzen über meine nackte Haut wandern.

Ich ergriff seine Hand und hielt sie fest. »Wie kannst du so etwas sagen? Du – ihr wart drei Jahre verheiratet. Ihr habt einander geliebt …«

»Ja, geliebt habe ich Elinor«, sagte er leise. »Und deshalb bin ich nie bei ihr gelegen.« Er seufzte laut. Plötzlich fiel es mir wie Schuppen von den Augen: Die ganze Zeit, die ich in ihrer Nähe verbracht hatte, hatte ich keine einzige Berührung zwischen ihnen gesehen.

Ich ließ seine Hand fallen und packte erneut das Tuch, um mich zu bedecken. Er hatte sich kaum bewegt, sondern lag noch immer so entspannt auf dem Lager, als hätte er über die selbstverständlichste Sache der Welt gesprochen. Nun redete er in einem Tonfall, mit dem man einem Kind etwas erklärt. »Anna, versteh doch: Elinor hatte Bedürfnisse, die das Körperliche weit überstiegen. Elinor hatte eine verstörte Seele. Sie bedurfte der Sühne, und ich musste ihr helfen. Als Mädchen hatte Elinor eine große Sünde begangen, von der du nichts wissen konntest …«

»Aber ich weiß davon«, warf ich ein. »Sie hat es mir erzählt.«

»Tatsächlich?«, sagte er. Jetzt drehte er sich zu mir und sah mich stirnrunzelnd an. Seine grauen Augen verdunkelten sich. »Offensichtlich gab es mehr zwischen euch beiden – mehr, als mir gewahr war. Mehr, sollte ich sagen, als vielleicht passend war.«

Er, der nackt auf meinem Bett liegt, befindet sich wohl kaum in der Lage zu beurteilen, ob meine Freundschaft mit seiner Frau passend gewesen war, schoss es mir flüchtig durch den Kopf. Aber ich war innerlich viel zu aufgewühlt, um diesem Gedanken länger nachzuhängen.

»Elinor hat mir von ihrer Sünde erzählt. Aber sie hat doch bereut. Sicher …«

»Anna. Zwischen Reue und Sühne ist ein großer Unterschied.« Endlich setzte er sich auf und lehnte sich rücklings gegen die raue Holzwand. Jetzt saßen wir uns auf dem Lager gegenüber. Ich hatte die Beine untergeschlagen und das Tuch ganz um meinen Körper gezogen. Ich zitterte.

Er hob seine großen Hände und legte sie wie Waagschalen offen vor sich hin. »Elinors Lust hat ihrem ungeborenen Kind das Leben gekostet. Wie sühnt man für ein Leben? Auge um Auge, sagt die Bibel. Aber was ist das in so einem Fall? Was konnte sie als Sühne für das Leben geben, das wegen ihrer Taten nie gelebt werden konnte? Weil Lust die Ursache für diese Sünde gewesen war, hielt ich eine Sühne in der Form für nötig, dass sie einen Teil ihres Lebens mit ungestillten Lüsten leben sollte. Je mehr ich sie dazu bringen könnte, mich zu lieben, umso mehr würde vielleicht das Maß ihrer Buße ihre Sünde aufheben.«

»Aber«, stammelte ich, »aber ich habe doch am Totenbett von Jakob Merrill gehört, wie du diesen Mann getröstet hast. Indem du ihm erzählt hast, Gott habe uns mit unserer Lust erschaffen, deshalb gewähre er Verständnis und Vergebung Und als du Albion Samweys mit Jane Martin überrascht hast, hast du dir Vorwürfe gemacht, weil du dieses Mädchen so hart …«

»Anna«, unterbrach er mich. Mittlerweile klang seine Stimme hart. Er sprach mit mir, als würde seine Geduld schwinden, als achte das Kind, das er unterwies, nicht ordentlich auf den Sinn des Gesagten. »Als ich so zu Jakob Merrill sprach, geschah das im sicheren Wissen, dass er bis zum Einbruch der Dämmerung tot sein würde. Was hätte es da genutzt, von Sühne zu sprechen? Welche Sühne hätte sein zerstörter Körper leisten können? Und was Jane Martin betrifft: Wenn sie mir so wie meine Elinor am Herzen gelegen wäre, hätte ich nie nachgegeben, sondern sie bestraft und bestraft, körperlich und geistig, bis ihre Seele rein gewesen wäre. Siehst du das denn nicht ein? Bei meiner Elinor musste ich sicher sein, dass sie rein war, sonst hätte ich riskiert, sie in Ewigkeit zu verlieren.«

»Und du?«, fragte ich mit leiser, erstickter Stimme.

»Ich?« Er lachte. »Ich nahm mir ein Beispiel an den Papisten. Weißt du denn nicht, dass Frauen der Bodensatz im Misthaufen des Teufels sind? Weißt du, wie die Papisten ihre im Zölibat Lebenden lehren, wie sie ihrer Gelüste Herr werden? Wenn sie eine Frau haben wollen, zwingen sie sich dazu, nur noch an ihre üblen Körperflüssigkeiten zu denken. Ich gestattete mir keinen Blick auf Elinor, bei dem ich ihr schönes Gesicht wahrnahm oder ihren frischen Duft einatmete. Nein! Bei jedem Blick auf dieses reizende Geschöpf zwang ich mich, an Gallensaft und Eiter zu denken. Ich beschäftigte mich mit dem klebrigen Wachs tief drinnen in ihren Ohren und dem grünen Rotz in ihrer Nase und dem stinkenden Zeug in ihrem Nachttopf …«

»Genug!«, schrie ich und hielt mir die Ohren zu. Mir war übel.

Sein Körper ist stark, und doch befürchte ich, dass sein Wille weitaus stärker ist. Er kann ihn zu Taten treiben, die kein normaler Mensch fertig bringt. Glaube mir, ich habe es schon gesehen, in guten wie in schlechten Zeiten. Das hatte Elinor vor vielen Monaten zu mir gesagt. Jetzt wusste ich, was sie damit gemeint hatte.

Inzwischen kniete er auf dem Bett. Das Licht umrahmte seinen Körper. Seine Stimme hatte einen eindringlichen Ton angenommen, den ich von seinen Predigten kannte. »Weißt du denn nicht, dass ich als Ehemann im häuslichen Königreich das Ebenbild Gottes bin? Habe nicht ich die Hure aus dem Garten Eden vertrieben? Ich habe meine Lust in heiliges Feuer verwandelt! Ich brannte aus Leidenschaft für Gott!«

Und dann lachte er, ein freudloses Lachen, fiel rücklings auf den Strohsack und schloss die Augen. Sein Gesicht zuckte, als verspürte er plötzlich große Schmerzen. Seine Stimme sank zu einem heiseren Flüstern herab. »Und nun sieht es so aus, als gäbe es keinen Gott und als hätte ich mich geirrt. In allem, was ich von Elinor gefordert hatte und von mir. Denn natürlich habe ich sie geliebt und begehrt, egal, wie sehr ich meine eigenen Gefühle zu unterdrücken versuchte. Darin habe ich geirrt. Noch mehr aber in allem, was ich von diesem Dorf gefordert habe. Und das ist das Schlimmste. Meinetwegen sind viele tot, die sich sonst vielleicht hätten retten können. Wer war ich, dass ich sie in den Untergang geführt habe? Ich dachte, ich spräche für Gott. Mein ganzes Leben, all meine Taten, jedes Wort, jedes Gefühl beruhte auf einer Lüge. Falsch, in jeder Hinsicht. Aber nun habe ich wenigstens endlich gelernt, das zu tun, was mir gefällt!«

Er streckte sich nach mir aus, aber ich war schneller. Ich entglitt ihm und rollte mich vom Lager. Blindlings packte ich meine nächstbesten Kleidungsstücke und floh aus dem Zimmer. Während ich die Treppe hinunterstolperte, zerrte ich mir meinen Kittel über den Kopf. Ich hatte nur einen Gedanken: fort.

Ich taumelte Richtung Kirchhof. Ich wollte Elinor haben, wollte sie halten und streicheln und ihr sagen, es täte mir Leid, dass er sie so benutzt hatte. Meine wunderschöne Freundin, eine Frau zur Liebe geschaffen. Bei ihm zu liegen war mein Weg gewesen, sie mir näher zu bringen. Ich hatte versucht, wie sie zu werden, auf jede erdenkliche Art und Weise. Aber anstatt mir durch seinen Körper Vergnügen zu bereiten, hatte ich sie bestohlen – um das, was rechtmäßig ihr gehört hätte: um ihre Hochzeitsnacht. Ich ging zu ihrem Grabstein und legte mich der Länge nach darauf. Als meine Finger die Stelle fanden, wo der ungeübte Steinmetz ihre Inschrift verpatzt hatte, brach diese winzige Demütigung den Damm vor meiner Trauer. Mein Körper wurde von Schluchzen geschüttelt, bis der Stein tränen-nass war.

Dort lag ich also, hingestreckt auf ihrem Grabstein, als ich ihn nach mir rufen hörte. Ich wollte ihn nicht sehen. Plötzlich widerte mich der ganze Mensch an: jenes Gesicht, das mich so bewegt hatte, jener Körper, den ich begehrt hatte. Ich glitt vom Stein in die Hocke und stahl mich auf allen vieren zum Riesenkreuz hinüber, hinter dessen massiver Form ich mich vielleicht verstecken konnte. Wie gewohnt lehnte ich mich dagegen, aber die Steinmetzarbeiten fühlten sich unter meinen Händen nicht mehr lebendig an. Auch der Gedanke, sein Schöpfer hätte mir etwas zu sagen, kam mir nicht mehr. Auf dem Kirchhofweg konnte ich Stiefel knirschen hören. Ich rannte über die Grasklumpen auf die Kirchentüre zu. Seit jenem Märzsonntag, als sie der Pfarrer für uns alle geschlossen hatte, war ich nicht mehr drin gewesen. Ich ließ meine Hand auf der Türe ruhen. Nach dem feuchtkalten Stein fühlte sich das Holz warm an. Ich drückte dagegen, und sie ging auf. Verstohlen glitt ich hinein und zog sie leise hinter mir zu. Heftiges Flügelschlagen verriet, dass sich in der Glockenstube Tauben eingenistet hatten. Warum auch nicht? Niemand läutete mehr die Glocken. Nichts würde ihren Schlaf stören.

Drinnen roch es nach abgestandener Luft. Auf den Messingleuchtern neben dem Altar blühten grüne Blumen. Während sich die Tauben unter Gurren wieder beruhigten, machte sich erneut Stille breit. Ich glitt nach vorne, wobei ich aus Gewohnheit leise auftrat. Meine Hände strichen über das alte steinerne Taufbecken. Ich musste an die beiden Freudentage denken, als ich die Babys morgens zur Taufe hergebracht hatte. Sam hatte sich ganz fest abgerubbelt und deshalb ungewohnt von Kopf bis Fuß geglänzt. Man hätte meinen können, gleich würde sein Gesicht platzen, so hatte er über beide Backen gestrahlt.

Einfacher Sam. Manchmal hatte ich mich für die Gefühle geschämt, die ihm ganz offen ins Gesicht geschrieben standen: das unfeine Lachen über kindische Vergnügungen, die derbe Art, wie er an meinem Körper herumfummelte und seine Lust im Bett grunzend kundtat. Wie hatte ich da Elinor beneidet! Um das zartfühlende Benehmen ihres Mannes, um seinen subtilen Geist. Wie konnte ich nur so wenig begriffen haben? Andererseits, wie sollte irgendjemand so etwas begreifen: dass sich unter der Maske sanfter Zurückhaltung eine höchst unnatürliche Kälte verbarg; dass sich subtile Gedanken pervers verdreht hatten.

Wachsgeruch, feuchtes Gemäuer, leere Kirchenbänke. Ich stellte mir die Gesichter vor, die sie gefüllt hatten. Hier waren wir gesessen und hatten ihm gelauscht und an ihn geglaubt, genau wie einst auch Elinor. Im Vertrauen darauf, dass er uns sagte, was richtig sei und was falsch. Jetzt waren drei Viertel dieser Gesichter nicht mehr – begraben draußen in der Erde oder am Dorfrand in flachen Gruben verscharrt. Ich stand da und zwang mich zu einem Gebet für sie, aber da kam keines. Ich versuchte es mit den alten auswendig gelernten Wörtern. Entgegen meiner Absicht tönten sie ganz laut und doch bedeutungslos, wie Kieselsteine, die in einen Brunnen fallen. »Ich glaube an Gott, den allmächtigen Vater, Schöpfer des Himmels und der Erde …«

»Wirklich, Anna? Glaubst du noch immer an Gott?«

Die Stimme kam aus der Bradfordschen Kirchenbank. Elizabeth Bradford erhob sich von dem Platz, wo sie gekniet hatte. Wegen der hohen eichenen Rückenlehne hatte ich sie nicht gesehen. »Meine Mutter tut es. Sie glaubt an den Gott des Zornes und der Rache, der den Stolz des Pharao gebrochen und Sodom verwüstet und Hiob mit Qualen überschüttet hat. Auf ihre Bitte hin bin ich hierher gekommen, obwohl ich bezweifle, dass es ihr viel nützen wird. Seit gestern liegt sie in den Wehen, seit dem späten Abend, einen ganzen Monat vor der Zeit, und der Chirurg gibt sie auf. Er meint, wenn eine Frau ihres Alters schwanger wird, sei das ein Spiel mit dem Tod, der ganz gewiss noch heute zu ihr kommen wird, da sie nie und nimmer gebären kann. Und kaum hatte er diese grausige Prognose verkündet, saß er auch schon auf seinem Pferd, Richtung Heimat.«

Jetzt sank sie auf die Bank, ihre Stimme wurde zum Flüstern eines Kindes. »Das Blut, Anna. Noch nie habe ich so viel Blut gesehen.« Einen langen Augenblick vergrub sie ihr Gesicht in den Händen. Dann sah ich, wie sich ihr Rücken straffte. »Na schön«, meinte sie und nahm sich wie tags zuvor in der Pfarrküche zusammen, »ich habe getan, worum sie gebettelt hat. Ich habe für sie gebetet, in dieser ach so heiligen, ach so geweihten Kirche, die ihr alle geadelt habt, ihr geliebten Kinder Gottes. Und jetzt muss ich zurück und mir wieder ihre Schreie anhören.«

»Ich werde mit Ihnen kommen«, sagte ich. Ich hatte so viel Tod gesehen, dass es mir jeden Versuch wert war, ein Leben zu retten. »Ich habe ein wenig Erfahrung mit Geburten. Vielleicht kann ich ihr helfen.«

Eine Sekunde flackerte etwas in ihrem Gesicht auf, ein winziger Hoffnungsschimmer, aber dann fiel ihr wieder ein, wer ich war und wer sie war. Erneut erstarrte ihr Gesicht wie gewohnt zu einem höhnisch-stolzen Lächeln. Sie schnaubte kurz und lächelte herablassend. »Also weiß die Hausmagd mehr als der Londoner Chirurg? Ich denke nicht. Aber wenn du willst, komm. Sterben wird sie sowieso. Und vielleicht befriedigt es dich ja, Mompellion zu berichten, wie gründlich Gott seine Prophezeiungen über meine Familie erfüllt hat.«

Ich folgte Elizabeth Bradford und versuchte dabei, den Ärger zu unterdrücken, der in mir aufstieg. An der Kirchentüre hielt ich inne und sah mich suchend nach dem Pfarrer um. Da von ihm nichts zu sehen war, folgte ich Miss Bradford zu der Stelle, wo ihre Stute angebunden stand, und saß hinter ihr auf. Schweigend ritten wir den Hügel zum Herrenhaus hinauf.

Das Gebäude bot einen trostlosen Anblick. Mannshohe Disteln hatten sich durch die Steine in der Auffahrt geschoben. Links und rechts davon hatten sich die sorgfältig gestutzten Ziersträucher wieder in kümmerliche Büsche verwandelt. Unkraut hatte die einst wohl geordneten Blumenbeete überwuchert. Miss Bradford stieg ab und reichte mir die Zügel, da sie stillschweigend annahm, ich würde die Stute für sie in den Stall bringen. Wortlos gab ich sie ihr wieder und ging auf die Haupttüre des Herrenhauses zu. Sie stieß einen Laut aus, halb zischend, halb seufzend, und führte die Stute zu den Stallungen. Selbst draußen vor dem mächtigen Portal konnte ich die Schreie aus dem Inneren des Herrenhauses hören. Als Miss Bradford wiederkam, traten wir ein. Vorbei an den massigen Umrissen verhüllter Möbelstücke stiegen wir die Treppe zum Schlafgemach ihrer Mutter empor.

Mit dem Blut hatte sie nicht übertrieben. Sogar der Boden war davon glitschig. Überall lagen tropfnasse Leinenbündel und Tücher herum. Das junge Mädchen, das sich um Mistress Bradford kümmerte, war mir fremd. Mit Augen, so groß wie Suppentassen, packte sie ein frisches Handtuch, um den unaufhörlichen Blutstrom zu stillen. Rasch gab ich knappe Anweisungen für alles, was ich brauchte: »Bring mir alles, was an Brühe oder Sülze da ist, dazu etwas guten Wein und ein bisschen warmen Toast zum Eintunken. Wenn sie einen derartigen Blutverlust überleben soll, braucht sie dringend etwas Kräftiges. Bring mir außerdem einen Kessel kochend heißes Wasser, ein Waschbecken und jede Art Fett.« Das Mädchen stürzte aus dem Zimmer, als könnte sie nicht schnell genug wegkommen.

Mistress Bradford protestierte in keiner Weise, als ich mich ihr näherte. Vielleicht war sie inzwischen zu schwach, vielleicht war ihr aber auch in ihrer Not der kleinste Hoffnungsschimmer willkommen. Bei unserem Eintreten hatte sie zu schreien aufgehört. Vermutlich hatte sie nicht so sehr vor Schmerzen geschrien, sondern aus Angst, weil sie schon so lange in ihrem eigenen Blut lag. Matt streckte sie die Hand nach ihrer Tochter aus. Elizabeth lief zu ihr und küsste sie zärtlich. Offensichtlich wollte sie ihre Mutter in ihrer Todesangst beruhigen, egal, wie wenig sie von meinen Künsten hielt. Mit besänftigender Stimme erzählte sie von dem hohen Lob, das sie über mich als Hebamme gehört hätte, und dass jetzt alles gut werde. Mein Blick wanderte über den Körper ihrer Mutter zu ihr hinüber. Ich schüttelte leicht den Kopf. Ich wollte niemanden im Irrtum über die verzweifelte Lage lassen. Elizabeth hielt meinen Blick fest. Ihr Nicken bedeutete, dass sie sehr wohl verstand, was ich meinte.

Kaum hatte ich das heiße Wasser, wusch ich mir die Hände und entfernte das durchnässte Handtuch zwischen Mistress Bradfords Beinen. Die von der Zofe gebrachte Butter brauchte ich nicht. Durch den ununterbrochenen Ausfluss von Körperflüssigkeiten war ihre Öffnung genügend glitschig. Trotz ihres Alters fühlte sich ihr Fleisch fest an. Ihr Körper schien fürs Kindergebären gut geeignet, denn trotz ihrer äußerlich schlanken Figur besaß sie ein reichlich breites Becken. Kaum waren meine Hände drinnen, konnte ich spüren, dass ihr Muttermund voll geöffnet war. Mühelos glitten meine Finger hinein. Da die Fruchtblase noch nicht geplatzt war, riss ich mit meinen Fingernägeln daran. Mistress Bradford stieß daraufhin einen schwachen Schrei aus und sank fast ohnmächtig zurück. Jetzt arbeitete ich rasch. Schließlich wollte ich sie nicht vor der Rettung des Kindes verlieren. Ich ließ meine Hände die Lage des Kindes ertasten. Alles deutete auf eine einfache Querlage hin. Warum hatte der Chirurg dies als hoffnungslosen Fall abgetan? Wäre er hier geblieben, hätte er das, was ich nun versuchte, ganz einfach tun können. Doch dann begriff ich: Offensichtlich war er hier mit der Anweisung zu fahrlässigem Handeln eingetroffen.

Da das Kind noch nicht ganz ausgereift und klein war, konnte ich es fast mühelos drehen. Ich beschwor Elizabeth Bradford, sie solle versuchen, ihre Mutter wieder zu Bewusstsein zu bringen, damit sie pressen könnte. Die Frau war zu schwach, um viel zu bewirken. Eine Weile befürchtete ich, wir würden deshalb scheitern. Aber irgendwie holte sie aus einem tief verborgenen Ort genau jenes winzige Maß an Kraft, das wir brauchten. Ein perfekter Schatz glitt in meine Hände, ein lebendiges kleines Mädchen.

Ich senkte den Kopf und sog ihren frischen neuen Geruch ein. Bei einem Blick in ihre tiefblauen Augen sah ich dort ein Spiegelbild meines eigenen neuen Lebens. In jenem Augenblick schien dieses kleine Mädchen genug Antwort auf all meine Fragen zu sein. Dieses winzige, einzigartige Wesen gerettet zu haben – das allein schien mir Grund genug zum Leben zu sein. Nun wusste ich, dies war mein zukünftiger Weg: weg vom Tod und hin zum Leben, von Geburt zu Geburt, vom Samen zur Blüte. Ein lebendiges Leben unter lauter Wundern.

Kaum war die Nabelschnur durchtrennt und verknotet, verlor Mistress Bradford nur noch tropfenweise Blut. Mühelos glitt die Nachgeburt heraus. Dann brachte sie es fertig, ein bisschen Brühe zu sich zu nehmen. Insgeheim verfluchte ich den Chirurgen, weil er diese Frau im Stich gelassen hatte. Hätte er sie bereits vor Stunden entbunden, wäre sie nicht blutend dagelegen. Damit hätte man ganz sicher zwei Leben retten können. Jetzt würde Mistress Bradford ein Wunder brauchen, um einen derart enormen Blutverlust zu überleben. Trotzdem wollte ich unbedingt um sie kämpfen. Ich sagte Elizabeth Bradford, sie solle unversehens zu meiner Kate reiten, und erklärte ihr, wo sie ein Fläschchen Nesselsaft finden könnte. Damit käme ihre Mutter vielleicht wieder zu Kräften.

»Nesseln?« Sie sprach das Wort aus, als hinterließe es einen schlechten Geschmack in ihrem Mund. Selbst in einer solchen Krise brachte diese Frau ein höhnisches Lächeln fertig. »So etwas kann ich nicht finden, davon bin ich überzeugt.« Zärtlich legte sie eine Hand auf die blasse Stirn ihrer Mutter. Beim Anblick dieses erschöpften Gesichts wurde ihr harter Blick weich. »Ich hätte ja gerne, dass sie bekommt, was du für nötig hältst, aber dazu musst du schon selbst gehen. Ich habe Angst, meine Mutter allein zu lassen. Am Ende stirbt sie noch in meiner Abwesenheit.«

Dieser Grund erschien mir vernünftig. Ich erklärte mich einverstanden und zeigte der Zofe, wie sie das Neugeborene baden und dann möglichst rasch seiner Mutter an die Brust legen sollte. Sollte Mistress Bradford tatsächlich sterben, was sehr wahrscheinlich war, wollte ich wenigstens, dass das Mädchen auf diese Weise einige kurze Minuten Geborgenheit kennen lernte. Erst als ich schon auf halbem Weg zu den Stallungen war, merkte ich, dass mir durch und durch kalt war. Außer dem dünnen Serge-Kittel, den ich schnell am Morgen angezogen hatte, als ich vor Michael Mompellion geflohen war, trug ich nichts am Leib. In der Absicht, mir Elizabeths Reisemantel auszuborgen, kehrte ich wieder um. Da die Küchentüre am nächsten lag, lief ich hastig darauf zu und stürzte hinein.

Elizabeth Bradford drehte mir den Rücken zu. Dennoch genügte ein Sekundenbruchteil, und ich wusste, was sie vorhatte. Um ihr Kleid nicht zu ruinieren, hatte sie sich die Mühe gemacht, ihre feinen Wollärmel bis über die Ellbogen hochzuschieben. Auf der Bank vor ihr stand ein Eimer voll Wasser. Darin steckten ihre Unterarme, und ich sah, wie ihre Muskeln angespannt waren. Sie hatte etwas Mühe, das Kind unter Wasser zu halten. Mit einem Riesenschritt war ich bei ihr und schob sie mit aller Macht beiseite. Nie hätte ich gedacht, dass ich so viel Kraft besaß. Das Kind entglitt ihr, und sie selber fiel zur Seite. Ich fuhr mit beiden Armen in den Eimer, zog das winzige Körperchen heraus und drückte es fest an mich. Der Eimer schwankte und fiel zu Boden; sein Inhalt ergoss sich über Elizabeth Bradfords Rock. Da das Kind vom Wasser ganz kalt war, rieb ich es ganz fest ab, als würde ich ein neugeborenes Lämmchen ins Leben zurückholen, das in einer kalten Nacht zur Welt kommt. Es spuckte, blinzelte und stieß dann einen empörten Schrei aus. Gott sei Dank war ihm nichts geschehen.

Meine Erleichterung wich einem derart heftigen Wutanfall, dass ich einen Fleischerhaken vom Kiefernholztisch riss und mit dem Kind an der Brust auf Elizabeth Bradford losging. Sie rettete sich, indem sie sich zur Seite rollte. Nur mühsam kam sie auf den klatschnassen Steinen wieder auf die Beine. Voll Entsetzen über meine eigene Tat trat ich einen Schritt von ihr zurück und ließ den Haken fallen. Wortlos starrten wir einander an.

Endlich machte sie den Mund auf. »Es ist ein Bastard, das Ergebnis eines Ehebruchs. Mein Vater wird es nicht in seiner Nähe dulden.«

»Das mag schon sein, du mörderische Bestie. Trotzdem hast du kein Recht, ihr das Leben zu nehmen!«

»Sprich nicht so mit mir!«

»Ich werde mit dir reden, wie es mir passt!«

Inzwischen brüllten wir einander wie zwei Fischweiber an. Mit erhobener Hand setzte sie dem ein Ende.

»Siehst du das denn nicht ein?«, klagte sie nun. »Ein Schlussstrich unter diese Sache ist die einzige Chance meiner Mutter auf einen Neuanfang. Andernfalls ist ihr Leben vorbei. Glaubst du wirklich, ich töte es gerne? Das Kind meiner Mutter, meine Blutsverwandte? Ich tu’s doch nur, um meine Mutter vor dem Zorn meines Vaters zu bewahren.«

»Gib mir das Kind«, sagte ich. »Gib es mir, und ich werde es liebevoll aufziehen.«

Nachdenklich stand sie da, dann schüttelte sie den Kopf. »Nein, das wird nicht gehen. Wir können nicht zulassen, dass unsere Familienschande in diesem Dorf zur Schau gestellt wird, alle sie anstarren und darüber tuscheln. Außerdem würde man diesem Mädchen auch keinen Gefallen tun, wenn es im Schatten des Herrenhauses aufwachsen müsste und doch daraus verbannt wäre. Denn sicher würde sie ihre wahre Abstammung erfahren. Das geschieht in solchen Fällen immer.«

»Nun denn«, sagte ich. Inzwischen konnte ich wieder messerscharf denken. »Gib mir die nötigen Mittel, dann bringe ich sie von hier fort und verspreche dir, dass du nie wieder ein Wort von uns beiden hören wirst. Dann könnt ihr eine Geschichte nach eurem Gutdünken erzählen, du und deine Mutter.«

Bei diesen Worten zog Elizabeth Bradford die Augenbrauen hoch und kniff abwägend die Lippen zusammen. Lange Zeit sagte sie kein Wort. Meine Augen suchten in ihrem Gesicht nach einer Spur Mitgefühl oder Erbarmen mit ihrer Mutter, aber da fand sich nichts dergleichen. Nur kalte Berechnung. Diese Sache wurde wie alles, was die Bradfords betraf, eiskalt unter nur einem Gesichtspunkt betrachtet: dem des eigenen Interesses. Ich konnte den Anblick dieses harten, lippenlosen Gesichts nicht länger ertragen. Mein Blick wanderte zu dem Neugeborenen hinunter. Ich versuchte, ein Gebet für es zu sprechen. Ein einziges Wort formte sich in meinem Kopf.

Bitte.

Doch dann fiel mir beim besten Willen nichts mehr ein: kein Bittgebet, kein Bibelvers, kein Messetext. Sämtliche Psalmen und Gebete, die ich in- und auswendig kannte, waren mir entfallen, waren so sicher ausgelöscht, wie man mühsam gelernte und aufgeschriebene Wörter mit einem feuchten Lappen von einer Schiefertafel wischen kann. Nach so vielen nicht erhörten Gebeten hatte ich das Beten selbst verlernt.

»Ja«, sagte Elizabeth Bradford schließlich, »ja, das könnte die beste Lösung sein.«

Ich wickelte das Kind warm ein. Dann setzten wir uns an Maggie Cantwells geliebten alten Küchentisch und feilschten um die Details, was nicht allzu lange dauerte, da ich in meinen Forderungen nicht nachgab, und Elizabeth Bradford mich unbedingt rasch loswerden wollte. Als wir uns über die Bedingungen einig waren, stieg ich die Treppe zum Schlafgemach ihrer Mutter hinauf. Sie hatte eine überraschend gute Gesichtsfarbe. Sie hatte die Brühe getrunken und ein Stück eingeweichtes Brot hinuntergewürgt und lag nun mit geschlossenen Augen da. Ich dachte, sie wäre eingeschlafen. Aber wie ich so dastand, schlug sie die Augen auf. Beim Anblick des Kindes lächelte sie. Tränen schimmerten in ihren blutunterlaufenen Augen. »Sie lebt ja noch!«, rief sie bebend mit erschöpfter Stimme.

»Das tut sie und soll es auch weiterhin.« Nun berichtete ich ihr, was ich mit Elizabeth vereinbart hatte. Mühsam richtete sie sich aus ihren Kissen auf und klammerte sich mit matten Fingern an meinen Unterarm. Ich dachte schon, sie wollte protestieren, aber stattdessen küsste sie meine Hand. »Oh, danke! Danke! Gott segne dich!« Doch dann weiteten sich ihre Augen, ihr Flüstern wurde eindringlich. »Du musst fort, rasch, noch heute, ehe mein Sohn oder sein Vater erfahren, dass das Kind lebt.«

Damit deutete sie auf eine Truhe am Fußende ihres Bettes. Drinnen schimmerten in einer Geheimschublade auf dunklem Samt ein Smaragdring und ein passendes Halsband. »Nimm sie. Wenn du in Not bist, gebrauche sie, für sie, oder gib sie ihr, wenn sie erwachsen ist. Sag ihr, dass ihre Mutter sie geliebt hätte, wenn man es ihr erlaubt hätte …«

Über dieser ganzen Anstrengung war sie blass geworden. Eines stand fest: Solange ich mit dem Kind hier war, würde sie sich aufregen. Deshalb knotete ich rasch aus einem ihrer schönen Wollschals ein warmes Tragetuch und kuschelte das Neugeborene hinein, ganz dicht an meinen Körper. Dann kniete ich mich neben ihr Bett, ergriff ihre weiße Hand und legte sie auf den seidigen Kinderkopf. »Sie wird stets liebevoll umsorgt sein, seien Sie dessen versichert.«

Ich schritt die Treppe hinab und ging nach draußen, wo Elizabeth Bradford mit dem Pferd wartete. Zu dritt ritten wir zu meiner Kate. Dabei wurde aus dem leisen Kinderglucksen ein Wimmern. Kaum waren wir dort angelangt, übergab ich Elizabeth ein Fläschchen mit Nesseltrank nebst genauen Anweisungen, welche Dosierung für ihre Mutter am besten sei. Im Gegenzug bekam ich von ihr eine Geldbörse mit mehr Goldstücken, als ich mir je hätte träumen lassen.

 

Vorwurfsvoll beäugte mich die Kuh, als ich mit meinem Eimer ihren Stall betrat. »Tut mir Leid, dass ich dich warten ließ«, sagte ich, »aber heute habe ich gute Verwendung für deine Milch.« Zurück in der Kate entrahmte ich die fette Kuhmilch in Erinnerung an meine eigene wässrigblaue Muttermilch und verdünnte den Rest mit ein wenig Wasser. Ich legte das Kind in meine Armbeuge. Inzwischen schrie es kläglich mit weit aufgerissenem Mund, wie es alle Neugeborenen tun. Ich streichelte seine weiche Wange, bis es sich zu meinem Finger drehte. Das Trinken ging nur schwierig und langsam vonstatten. Tropfenweise flößte ich ihr so lange Flüssigkeit ein, wie sie sie annahm. Sie hörte zu weinen auf und wurde bald schläfrig. Ich legte sie auf ein Büschel Stroh neben dem Herd und machte mich daran, die paar Habseligkeiten zu sammeln, die ich mitnehmen wollte. Es war ja nur noch so wenig übrig. Das kleine Winterwams, das ich für Jamie gemacht und vor dem großen Feuer bewahrt hatte; eines von Elinors Medizinbüchern, über dem wir in langen Stunden gemeinsam gebrütet hatten, bis uns die Augen wehtaten. Diese beiden Stücke nahm ich zur Erinnerung mit, dazu noch einige Fläschchen mit nützlichen Kräuteressenzen gegen Fieber und Durchfall bei Kindern. Schmerzhaft fiel mir wieder jener Morgen in Elinors Garten ein, an dem sie versucht hatte, mir den Nutzen von Gänseblümchen beizubringen, und ich einfach nicht hatte hinhören wollen. Wie bald schon war ich gezwungen gewesen, meine Haltung zu ändern.

Doch dann verbannte ich die Gedanken an das letzte Jahr und versuchte, mir die Zukunft vorzustellen. Bei einem Blick durch die leere Kate wurde mir klar, dass ich kaum noch etwas besaß, was wir brauchen würden. Ich beschloss, Grund und Kate dem Quäkerkind Merry Wickford zu geben. Sollte sie sich zum Bleiben im Dorf entschließen, hätte sie damit anstatt einer Pächterhütte ein sichereres Dach über dem Kopf und für eine solide Zukunft noch etwas anderes als nur eine Bleiader. Die Herde würde ich Mary Hadfield im Tausch gegen ihr älteres Maultier geben. Es würde uns sicher aus dem Dorf geleiten. Wohin? Ich hatte nicht die geringste Ahnung.

Noch immer besaß ich jene Schiefertafel, auf der mir Elinor das Schreiben beigebracht hatte. Ich holte sie heraus und kritzelte gerade meine Verfügungen hin, als die Katentür aufging. Er hatte nicht geklopft. Im plötzlichen Lichteinfall konnte ich sein Gesicht nicht erkennen.’ Ich sprang von meinem Schemel auf und brachte den Tisch zwischen uns.

»Anna, weich doch nicht vor mir zurück. Was zwischen uns passiert ist, tut mir Leid, alles tut mir Leid. Mehr als du ahnen kannst. Aber deswegen bin ich nicht hergekommen. Ich weiß ja, dass du noch nicht bereit sein kannst zuzuhören oder mich wenigstens in dieser Sache anzuhören. Und dazu hast du auch alles Recht der Welt. Ich bin jetzt nur gekommen, um dir von hier fortzuhelfen.«

Offensichtlich hatte ich bei diesem Satz ein verblüfftes Gesicht gezogen, denn er fuhr hastig fort: »Ich weiß, was heute Morgen auf Bradford Hall vorgefallen ist – in allen Einzelheiten.« Als ich ihn unterbrechen wollte, hob er die Hand. »Mistress Bradford lebt und erholt sich zusehends. Ich komme gerade von ihr. Ich habe heute intensiv Gewissenserforschung betrieben. Du, Anna, hast mir wieder in Erinnerung gerufen, was meine Pflichten sind. Ich beabsichtige nicht, wie bisher weiterzumachen und mich in meiner gallebitteren Trauer zu suhlen. Denn du lebst trotz deiner Trauer und bist nützlich und bringst anderen neues Leben. Eines hast du mich letztlich gelehrt: dass man kein gläubiger Mensch sein muss, um Trost zu bringen. Meiner Ansicht nach hast du heute mehr als zwei Leben gerettet.« Er machte einen Schritt, als wolle er um den Tisch herumgehen, dorthin, wo ich stand. Mein Gesichtsausdruck ließ ihn verharren.

»Anna, ich bin nicht hergekommen, um dir all das zu sagen, denn eines kann ich mir gut vorstellen: dass du meinst, du hättest dir vermutlich von mir schon genug über meine Gefühle anhören müssen. Ich bin gekommen, weil ich nicht weiß, ob dir klar ist, dass du in Gefahr schwebst. Denn das tust du, Anna, und zwar sehr. Schon bald wird es Elizabeth Bradford dämmern, dass du eventuell die einzige Augenzeugin für ihren Mordversuch bist. Ihr Vater wünscht dem Kind schon längst den Tod. Für einen solchen Mann ist es eine Kleinigkeit, auch noch dein Leben auf den Schuldschein zu setzen. Ich möchte, dass du Anteros nimmst.« Einen Augenblick flackerte es in seinen Augen belustigt auf. »Schließlich wissen wir ja beide, dass du mit ihm zurechtkommst.«

Ich stotterte ein paar abwehrende Worte und meinte, eigentlich hätte ich Mary um ihr Maultier bitten wollen. Wieder brachte er mich zum Schweigen. »Du musst schnell vorankommen. Durch einen glücklichen Zufall bin ich gerade Ralf Pulfer begegnet, einem Bleihändler aus Bakewell. Er bricht noch heute mit einer Ladung Bleibarren aus den Peakgruben zum Hafen von Liverpool auf. Wenn du vor seiner Abreise nach Bakewell kommst, wäre er damit einverstanden, dir bis zu Elinors Vater, meinem Gönner, Geleit zu geben. Sein Besitz liegt unmittelbar an jener Wegstrecke, die Pulfer nehmen wird. Ich habe ein Empfehlungsschreiben aufgesetzt, das deine Situation erläutert. Anna, meiner Ansicht nach wäre das eine gute Wahl für dich, denn er ist ein feiner Mensch, und sein Besitz ist riesig. Irgendwo wird er sicher einen Platz für dich finden. Im Dorf oder auf den Höfen, vielleicht sogar in seinem eigenen Hause. Die Bradfords werden wohl kaum daran denken, dich dort zu suchen. Sie werden eher auf der Straße nach London nach dir Ausschau halten. Aber jetzt musst du fort.«

Und so verließ ich mein Zuhause. Kaum blieb mehr Zeit für einen letzten Blick auf die Räume, in denen sich mein bisheriges Leben abgespielt hatte. Das Neugeborene erwachte nicht, als ich das Tuch erneut hochhob und fest um mich band. Draußen im Garten gab es einen betretenen Moment, als Michael Mompellion einen Arm ausstreckte. Eigentlich wollte er mir nur beim Aufsitzen helfen. Doch ich drehte ihm den Rücken zu und stieg ohne fremde Hilfe auf. Ein plumpes Hinaufklettern war mir lieber als die Berührung seiner Hand.

Ich war schon halb die Straße hinunter und wollte gerade antraben, als mir klar wurde, dass ich es so nicht enden lassen konnte. Daraufhin drehte ich mich im Sattel um und sah ihn dort stehen. Seine grauen Augen waren unverwandt auf mich gerichtet. Ich hob die Hand zum Gruß. Er erwiderte ihn. Und dann war Anteros auch schon an der Kurve, die zur Straße nach Bakewell führt. Jetzt musste ich mich umdrehen und mich ganz dem Galopp hügelabwärts widmen.