So bald schon Staub

 

Maggie Cantwell kehrte auf einem Handkarren zu uns zurück. Der Morgen war kühl, und drunten im Tal hing feuchter Nebel. Deshalb konnte man nur mit Mühe sehen, was denn genau auf dem Karren lag, der langsam hügelauf geschoben wurde. Dahinter ging gebückt eine winzige Gestalt, die sich unter der Last abmühte.

Der Witwer Jakob Merrill, der am nächsten zum Grenzstein wohnte, rannte aus seinem Haus, um die Gestalt fortzuwinken. Er dachte, es sei vielleicht ein Hausierer, eine arme Seele aus einer weit entfernten Stadt, der zu uns hertappte, weil er von den Gefahren dieses Ortes nicht wusste. Aber die Gestalt trottete weiter, bis Jakob schließlich sah, dass das Bündel auf dem Karren menschliche Umrisse hatte. Zu guter Letzt erkannte er die den Karren schiebende Gestalt, obwohl sich ihre Gesichtszüge nur schwer erkennen ließen, denn sie war von Kopf bis Fuß mit feuchten faulig-braunen Obstresten besudelt. Es war der junge Brand, der Küchenjunge aus Bradford Hall. Und das Bündel auf dem Karren war Maggie.

Als Brand den Stein erreichte, wäre er fast zusammengebrochen. Jakob, der rasch den bedenklichen Zustand beider begriff, schickte seinen Sohn Seth mit der Neuigkeit zum Pfarrer, während er selbst einen Kessel Wasser aufs Feuer setzte und seine ältere Tochter anwies, sie solle Lappen bringen, damit sich Brand säubern könne. Ich war im Pfarrhaus, als das Kind mit der Nachricht eintraf. Während ich Mister Mompellion Hut und Mantel reichte, fragte ich, ob ich mitreiten könne. Ich wolle sehen, ob ich der armen Maggie beistehen könne. Als wir anhielten, lag Maggie immer noch auf dem Karren. Es hätte Jakob Merrills Kräfte überstiegen, sie auszuladen. Zum Wärmen hatte er eine Pferdedecke über sie geworfen, aber als er sie entfernte, dachte ich zuerst, er habe einen Leichnam zugedeckt. Sie war vor Kälte ganz blau, und ihre Gliedmaßen merkwürdig verzerrt. Der kleine Handkarren vermochte ihren mächtigen Körper kaum zu fassen, sodass ihre fleischigen Waden und die schweren Arme seitlich über die Bretter hinausragten. Einer ihrer Strümpfe hatte einen langen Riss. Das Fleisch hatte sich zum Loch hin verschoben und quoll wie Wurstfülle aus einem zerschlitzten Darm. Aber was am meisten schockierte, war ihr Gesicht.

Als kleines Mädchen hatte ich immer gerne Puppen für Aphras Jüngste gemacht. Die Körper arbeitete ich aus geflochtenen Strohhalmen, auf die ich anschließend Gesichter aus gelbem Ton auftrug, der sich auf den Grubenböden absetzte. Wenn mir mein Werk manchmal nicht gefiel, strich ich mit der Hand über das Gesicht und begann von vorne, immer auf der Suche nach einem noch menschlicheren Ausdruck. Maggie Cantwells rechte Gesichtshälfte erinnerte an einen Lehmklumpen, den ein ungeduldiger Töpfer entstellt hatte. Während die linke Seite unter der angetrockneten Obstpampe so lebendig wie eh und je wirkte, war die rechte ganz verzerrt. Das Auge war fast geschlossen und tränte, die Wange hing herunter, der Mund glich einer höhnischen Fratze, aus der Speichel tropfte. Mühsam drehte Maggie den Kopf, um uns mit ihrem guten Auge anzuschauen. Als sie mich erkannte, stieß sie einen Laut aus, der zwischen Stöhnen und Blubbern lag, und fuchtelte mit dem linken Arm. Ich ergriff ihre Hand, küsste sie und versicherte ihr, alles würde gut, obwohl ich ganz genau wusste, dass es vermutlich anders käme.

Mister Mompellion verlor nicht viele Worte, sondern machte sich mit Jakob Merrill rasch daran, die arme Maggie vom Karren in die Kate zu schaffen. Man sah ihnen an, dass sie dazu alle Kräfte aufbieten mussten, denn Maggie war kaum bei Bewusstsein und hatte keinerlei Kontrolle über ihre Gliedmaßen. Mister Mompellion ging hinter ihr in die Hocke und fasste sie mit beiden Armen um die Brust, während Jakob ihre massigen Beine packte. In dem Versuch, die demütigende Situation zu entschärfen, redete der Herr Pfarrer beschwichtigend auf die arme Maggie ein, während er sie zusammen mit Merrill in das Häuschen hievte. Drinnen saß der inzwischen saubere junge Brand in eine raue Decke gewickelt vor dem Feuer. Jakob Merrills Tochter Charity reichte ihm einen dampfenden Becher Hammelsuppe, den er so fest mit beiden Händen packte, dass ich dachte, er könnte zerbrechen. Charity hielt eine Decke als Vorhang vor, während ich Maggies besudelte Kleider auszog und sie badete. Inzwischen kauerte Mister Mompellion neben Brand und erkundigte sich, was passiert sei.

Durch Stoney Middleton waren sie offensichtlich ohne Zwischenfälle gekommen. Die Leute dort hatten zwar sichere Distanz gewahrt, ihnen aber im Vorübergehen alles Gute gewünscht und am Meilenstein ein Paket mit Haferkuchen und einen Krug Bier hinterlegt. Im weiteren Straßenverlauf hatte ihnen ein Bauer erlaubt, nachts zwischen seinen Kühen im warmen Schober zu schlafen. Zu Schwierigkeiten war es erst in der größeren Ortschaft Bakewell gekommen. Bei ihrer Ankunft kurz vor Mittag war dort Markttag, und die Straßen waren dicht bevölkert. Plötzlich hatte jemand Maggie erkannt und lauthals losgebrüllt: »Eine Frau aus dem Pestdorf! Aufgepasst! Aufgepasst!«

Brand erschauerte noch jetzt. »Himmelvater, verzeih, aber ich bin fortgerannt und hab sie im Stich gelassen. Bin schon als kleiner Bub aus Bakewell fort. Seither hab ich mich so verändert, dass mich keiner mehr erkennen würd. Wenn ich nicht bei Maggie bin, dacht ich, kam ich vielleicht doch heil zu meinen Verwandten.« Aber Brand war noch nicht weit gekommen, da trieb ihn sein eigenes gutes Herz wieder zurück. »Ich konnte die Leute schon brüllen hören und musste unbedingt wissen, ob sie in Sicherheit war. Sie ist in diesem harten Haus gut zu mir gewesen. O ja, ein- oder zweimal hat sie mir schon eine mit ‘nem Holzlöffel übergezogen, wenn ihr meine Arbeit nicht passte, aber sie hat sich auch oft für mich eingesetzt. Deshalb bin ich wieder zurückgeschlichen und hinter einem Gemüsestand rausgekommen. Dann sah ich, was los war. Die hatten alle verdorbenen Äpfel, die schon im Schweinetrog lagen, rausgeholt und warfen sie auf Maggie. Dabei plärrten sie lauthals los und johlten: Raus! Raus! Raus! Und glaubt mir, sie versuchte, so schnell’s ging, rauszukommen, aber ihr wisst ja, schnell bewegen tut sie sich nicht. Und bei dem ganzen Geschrei kam sie ganz durcheinander und stolperte erst in die eine Richtung und dann in die andere. Jetzt bin ich zu ihr hin und hab sie am Arm gepackt. Und dann haben wir die Beine untern Arm genommen, während die uns weiter beworfen haben. Und dabei ist sie wohl unter ‘nen schlechten Stern geraten. Himmelvater hilf, sagte sie, ich komme mir vor, als hätte ich ein bleiernes Schwein am Fuß. Und das war dann auch schon das Letzte, was ich von ihr hörte. Mitten auf der Straße ist sie zusammengebrochen. Und das hat die Meute noch mehr in Fahrt gebracht. Ein, zwei Kinder fingen sogar an, mit Steinen zu werfen, und ich dachte, wenn die jetzt alle damit anfangen, sind wir erledigt.

‘s wird Ihnen nicht recht gefallen, Hochwürden Mompellion, wenn ich erzähle, was ich dann machte. Ich hab vom nächsten Stand den Karren geklaut und irgendwie die Kraft gefunden, sie hinaufzubugsieren. Der Händler hat mich zwar in die Hölle gewünscht, ist mir aber nicht nach. Vielleicht dachte der, ich hätt schon beim Berühren den Karren verpestet. Seither sind wir unterwegs. Hatte Angst anzuhalten, ehrlich. Sonst hätt sich vielleicht noch ‘ne Meute angesammelt, um uns zu holen.« Jetzt zitterte er vor Erschöpfung und begann, heftig zu schluchzen.

Michael Mompellion legte dem schwer atmenden Jungen einen Arm um die Schultern und drückte ihn an sich. »Brand, du hast ganz richtig gehandelt, selbst als du den Karren genommen hast. Mach dir deshalb keinen Kummer mehr. Wenn diese Plage vorbei ist, kannst du ihn ja vielleicht eines Tages zurückgeben. Aber bis dahin denke nicht mehr daran. Sei versichert, du hast das Richtige getan. Du hättest weglaufen und dich selbst in Sicherheit bringen können, und doch hat dich dein mitfühlendes Herz zum Gegenteil verleitet.« Jetzt seufzte er. »Diese Pest wird aus uns allen Helden machen, ob wir wollen oder nicht. Und du bist der Erste davon.«

Charity hatte auch für Maggie einen Becher Hammelsuppe gebracht. Zu zweit versuchten wir, sie aufzustützen und ihr etwas davon durch die heile Mundhälfte einzuflößen. Leider vergeblich. Offensichtlich konnte sie nicht mehr aus eigener Kraft die Zunge heben, um die Flüssigkeit in die Kehle gleiten zu lassen. Stattdessen tropfte alles heraus und ihr übers Kinn. Ich versuchte, ein Stück Haferkuchen in der Suppe einzuweichen, aber auch das ging nicht besser. Die arme Frau konnte nicht kauen. In ihrem guten Auge bildete sich eine dicke Träne und vereinigte sich mit den Speichelspuren auf ihrem Kinn. Arme Maggie! Essen war der Inhalt ihres Lebens gewesen. Was würde aus ihr, wenn sie nicht mehr essen konnte?

»Gott verfluche diese Bradfords!« Unversehens rutschten mir diese Worte heraus, noch ehe mir bewusst war, dass ich sie ausgestoßen hatte. Hochwürden Mompellion schaute mich an, allerdings nicht mit dem erwarteten Tadel.

»Sei unbesorgt, Anna«, sagte er. »Das hat er, glaube ich, längst getan.«

Die Pflege von Maggie Cantwell war für den armen Jakob Merrill eindeutig eine zu große Last. Hatte er doch schon alle Mühe, in dieser winzigen Einzimmerkate ein zehnjähriges Mädchen und einen Buben großzuziehen, der noch nicht mal sechs war. Trotzdem meinte er, er würde Brand ein Dach über dem Kopf geben, bis der Junge etwas Besseres finden könne. Mister Mompellion meinte, er würde Maggie ins Pfarrhaus bringen, aber ich dachte mir, Mistress Mompellion habe schon genug schwere Aufgaben übernommen. Wenn man ihr nun auch noch die Pflege einer Schwerkranken aufbürdete, würde sie darunter zusammenbrechen. Ich sagte also, ich würde Maggie in meine Kate nehmen. Zuvor müsste ich mir allerdings erst ein besseres Beförderungsmittel für den Transport beschaffen. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass sie sich in ihrem gegenwärtigen Zustand zu fein war, an einem Platz zu liegen, wo die Pest zugeschlagen hatte. Wir vereinbarten, sie bis morgen früh bei den Merrills zu lassen, damit sie eine ganze Nacht lang warm und ruhig liegen konnte.

Während Mister Mompellion Anteros bestieg, um ins Pfarrhaus zurückzureiten, machte ich mich zu Fuß in die entgegengesetzte Richtung auf, zur Hauertaverne. Ich wollte sehen, ob ich dort den Pferdewagen für den Transport am nächsten Tag bekommen konnte. Auf dem Rückweg war es so kalt, dass mir der Atem in Wölkchen vor dem Gesicht stand. Damit mir warm wurde, lief ich schneller.

Die Hauertaverne liegt in einem uralten Gebäude, vielleicht neben der Kirche das älteste unseres Dorfes. Aber während die Kirche ein stolzer, rechteckiger Bau ist, ist die Taverne ein seltsam gewölbtes Bauwerk, das sich ganz tief unter seinem Strohdach duckt. Es ist das einzige größere Gebäude hier, das nicht aus Steinen, sondern aus hölzernem Fachwerk besteht, dessen Holzbalken rundherum mit Mörtel verputzt sind, der durch Pferdehaare verstärkt wurde. Im Laufe der Jahre haben die Balken nachgegeben und sich so durchgebogen, dass die Vorderfront des Gebäudes inzwischen wie der Rundbauch von Männern vorsteht, die drinnen zu viel Bier trinken. Wie die Kirche ist auch die Taverne ein wichtiger Ort, wo man sich trifft. Sie ist nicht nur ein Hafen des Vergnügens für alle, die den Krug lieben, sondern beherbergt auch die Versammlungen der Knappschaft und das Berggericht, wo alle wichtigen Entscheidungen über die Förderung und den Verkauf unseres Erzes getroffen werden.

Die Taverne hat einen großen Gerichtssaal und einen Schankraum, der zwar geräumig ist, aber eine so niedrige Decke hat, dass sich die meisten Hauer beim Betreten bücken müssen. Verständlich, dass ich mich an einem derart bitterkalten Tag beeilte, in den Schankraum zu kommen. Drinnen brannte ein mächtiges Feuer und sorgte für Wärme. Für einen Werktagsvormittag hatte sich eine ordentliche Menge versammelt, darunter auch mein Vater. Offensichtlich hatte er dem Krug schon eine Weile zugesprochen.

»Hierher, Tochter, du siehst ja kälter aus als ‘ne Hexentitte! Ich geb dir ‘n Bier aus, damit du wieder Farbe in die Backen kriegst. Bier ist doch das wärmste Mantelfutter für ‘nen nackten Mann, was?«

Ich schüttelte den Kopf und meinte, ich hätte noch im Pfarrhaus zu tun. Warum er nicht bei seiner Arbeit war, mit der er bereits vier Monate im Rückstand lag, fragte ich nicht.

»Aaach, Himmelarsch, Mädel! Dein Vater lädt dich ein. Und deinem Faselpfaffen kannst gleich ein paar Weisheiten mitbringen. Sag ihm, heute hättste gelernt, dass in ‘nem Fass Bier mehr Gutes steckt als in allen vier Evangelien. Sag ihm, dass das Malz dem Menschen Gottes Wege besser erklärt als die Bibel! Jawoll, das sagste ihm. Sag ihm, du hättest auf den Knien deines Vaters ein paar Dinger gelernt!«

Keine Ahnung, warum mir der nächste Satz entfuhr. Wie schon gesagt, ich bin nicht prüde. Und selbst wenn, so hätte mich mein Leben mit meinem Vater eines Besseren belehren sollen, als ihn vor seinen Freunden zu rügen. Aber ich hatte, wie erwähnt, den Kopf randvoll mit der Heiligen Schrift. In diesem Moment schienen sich einige Zeilen aus den Epheserbrief en als Antwort auf diese Gotteslästerung zu verselbstständigen. »Lasset kein faul Geschwätz aus eurem Munde gehen, sondern was nützlich zur Besserung ist.« Das hatte ich schon vor vielen Jahren auswendig gelernt, lange bevor ich wusste, was mit »Besserung« gemeint war.

Auf seine Bemerkung hin waren die Männer um ihn herum in schallendes Gelächter ausgebrochen, aber nach meiner kalten Antwort wurde er zur Zielscheibe ihres Lachens.

»He, Joss Bongt, dein Junges weiß aber, wo’s zwickt!«, sagte einer. Bei einem Blick auf die Miene meines Vaters hätte ich sie am liebsten alle zum Schweigen gebracht. Mein Vater ist, selbst im nüchternen Zustand, ein gewissenloser Schurke, aber mit Alkohol im Blut wird er gefährlich. Und kurz vor diesem Zustand waren wir jetzt, das konnte ich sehen. Die Zornesröte stieg ihm ins Gesicht, sein Mund verzog sich zu einem Fletschen.

»Glaub ja nicht, du bist jetzt was Bess’res, du mit deinen eingebildeten Sätzen, nur weil dieser Priester und seine Angetraute so viel Tamtam um dich machen.« Bei diesen Worten packte er mich an den Schultern und zwang mich mit Gewalt vor ihm auf die Knie. Seine schmutzigen Finger hinterließen Dreckspuren auf meinem Kragen. Ich starrte die Hose meines Vaters an. Mir fiel auf, dass sie unsauber roch.

»Siehste? Hab doch gesagt, du lernst’s noch auf meinen Knien. Und das wirste auch tun, verdammt noch mal, das sag ich dir. Holt mir mal ‘ne Schandmaske, dann stopf ich dieser Beißzange das Maul!«

Während die betrunkenen Männer lachten, stieg in mir Angst hoch. Ich sah das Gesicht meiner Mutter zwischen den Eisenstäben vor mir, den verzweifelten Ausdruck in ihren wirren Augen, die unmenschlichen Geräusche, die aus ihrer Kehle drangen, als das Eisenteil hart gegen ihre Zunge drückte. Er hatte ihr die Schandmaske angelegt, nachdem sie ihn in aller Öffentlichkeit wegen seines dauernden Trinkens verflucht hatte. Eine Nacht und einen Tag hatte sie den Helm getragen. Unterdessen hatte mein Vater sie unter Schmähungen herumgeführt und dabei so fest an der Kette gerissen, dass ihr das Eisen die Zunge aufschlitzte. Der Anblick ihres Kopfes in diesem schrecklichen Käfig hatte mich, die ich damals noch ganz klein gewesen war, so zu Tode erschreckt, dass ich weggelaufen war und mich versteckt hatte. Als mein Vater anschließend bis zur Bewusstlosigkeit getrunken hatte, hatte irgendeine gute Seele den Lederriemen durchgeschnitten, mit dem dieses Unding an ihrem Kiefer hing. Inzwischen hatte sie eine ganz wunde Zunge, die so angeschwollen war, dass es Tage dauerte, bis sie wieder reden konnte.

Schwer drückten die Hände meines Vaters auf meine Schultern. Irgendwie bildete ich mir ein, er habe sie mir um den Hals gelegt und würge mich. Mein Nacken versteifte sich. Am liebsten hätte ich mich übergeben. In meinem Mund sammelte sich ein Speichelklumpen, den ich ihm im ersten Impuls gern entgegengespuckt hätte. Aber da ich ihn gut genug kannte, konnte ich mir ausmalen, dass er mich bewusstlos prügeln würde, wenn ich so etwas vor seinen Zechkumpanen täte. Und das ist auch einer der Gründe, warum ich mit Aphra nicht richtig warm werde: Bei ähnlichen Vorfällen in meiner Kindheit ist sie nur dabeigestanden und hat es geschehen lassen, immer und immer wieder. Nur wenn er mich im Gesicht traf, wurde sie laut. »Wenn du sie da verletzt, werden wir sie nie verheiraten können.« Das war der einzige Beistand, den sie mir je bot.

Als mich Sam Frith Jahre später aus dieser Unglückshütte geholt hatte, hatten seine Hände beim Streicheln den Knoten an meiner rechten Schulter gefunden, wo die Knochen hinten am Nacken schief zusammengewachsen waren. Leider beging ich den Fehler, ihm zu berichten, wie mich mein betrunkener Vater in einem Tobsuchtsanfall gegen die Wand geworfen hatte, als ich ungefähr sechs Jahre alt gewesen war. Sam war in allen Dingen langsam, auch in seiner Wut. Anschließend hieß er mich, von allen anderen Prügelszenen zu erzählen. Und während ich das tat, spürte ich, wie er neben mir im Dunkeln lag und vor Zorn ganz steif wurde. Kaum hatte ich das letzte Wort gesagt, erhob er sich vom Lager, ohne sich die Mühe zu machen, seine Stiefel anzuziehen. Barfuß ging er zur Tür hinaus, die Stiefel baumelten in seinen Händen. Er war schnurstracks zu meinem Vater gegangen. »Schöne Grüße von einem Kind, das zu klein war, um es selbst zu tun«, sagte er und drosch meinem Vater mit seiner Riesenfaust so ins Gesicht, dass er mit einem Schlag flachlag.

Aber inzwischen hatte ich keinen Sam mehr. Plötzlich spürte ich, wie mir etwas Heißes über die Schenkel schoss. Vor Angst hatte mich mein Körper verraten, genau wie damals als Kind. Zu Tode beschämt sackte ich vor den Füßen meines Vaters zusammen und bat ihn mit kläglicher Stimme um Verzeihung. Daraufhin lachte er. Ich war zutiefst gedemütigt, und sein Stolz war damit gerettet. Der Druck seiner Hände ließ nach. Er rammte mir seine Stiefelspitze in die Seite, aber nur so sehr, dass ich in meine eigene Brühe fiel. Ich zog meine Schürze aus und tunkte möglichst viel von der Pfütze auf. Dann stürzte ich aus dem Raum. Vor Scham vergaß ich, den Gastwirt nach seinem Pferdekarren zu fragen. Unter Tränen rannte ich zitternd nach Hause. Kaum hatte sich die Türe hinter mir geschlossen, riss ich mir jedes schmutzige Kleidungsstück vom Leib und begann, mich so heftig abzuschrubben, dass die Haut an meinen Schenkeln knallrot wurde. Als der kleine Seth vor meiner Türe stand, um mich wieder zu Maggie zu holen, war ich noch immer in Tränen aufgelöst.

Aber ein Blick genügte. Schon der Gedanke an ihre schlimme Situation trieb mir die Schamröte ins Gesicht und riss mich aus meinem Selbstmitleid. Maggie Cantwell würde morgen früh keinen Wagen brauchen. Während meines Aufenthalts in der Hauertaverne hatte sie einen zweiten Schlaganfall erlitten, der auch ihre gesunde Seite gelähmt hatte. Nun lag sie in einem tiefen, unnatürlich wirkenden Schlaf, aus dem sie kein Wort und keine Berührung wecken konnte. Ich ergriff ihre Hand, die so gänzlich verdreht und formlos auf der Decke lag, als ob man sie entbeint hätte. Ich streckte ihre Finger, die vom Teigkneten und vom Heben schwerer Pfannen kräftig waren und hie und da weiße alte Schnittnarben oder rosa Flecken von verheilten Brandwunden aufwiesen. Wie damals am Bett von George Viccars und später dann bei Mem Gowdie gingen mir all die verschiedenen Fähigkeiten durch den Kopf, die sich in Maggie Cantwell angesammelt hatten. Diese massige Frau wusste, wie man eine Keule aus einer Rehhälfte hackt, aber auch, wie man aus feinstem gesponnenem Zucker Leckereien zaubert. Sie war eine sparsame Köchin, die nicht einmal eine Erbse wegwarf, sondern sie im Suppentopf auskochte, um ihr auch noch die letzten Nährstoffe zu entziehen. Warum nur ging Gott mit seiner Schöpfung weitaus verschwenderischer um? Warum bildete Er uns aus dem Lehm, auf dass wir gute und zweckdienliche Fähigkeiten erwerben, um uns dann so bald schon wieder zu Staub zu machen, obwohl noch nützliche Jahre vor uns lägen? Und warum sollte diese brave Frau hier in tiefster Not liegen, während ein Schurke wie mein Vater lebte und sich sinnlos um seinen Verstand trank?

Diesmal blieben mir nicht viele Stunden, um über solche Fragen nachzugrübeln. Maggie Cantwell starb noch vor Mitternacht.