Des Allmächtigen Donnerwort

 

Der Küster kam früh, um den Leichnam zu holen. Da es keine Verwandten gab, würde man ihn einfach und rasch beerdigen. »Je früher, umso besser, was, Mistress«, meinte der Alte, während er die Leiche auf seinen Karren hievte. »Hier hat er nix mehr zu schaff’n. Zu spät, der näht sich kein Totenhemd mehr.«

Wegen der langen Nachtwache sollte ich auf Mister Mompellions Geheiß heute Morgen nicht ins Pfarrhaus kommen. »Ruh dich stattdessen aus«, sagte er, als er im Frühlicht unter der Türe stehen blieb. Anteros war die ganze Nacht im Garten angebunden gewesen und hatte an dieser Stelle den Boden graslos gestampft. Ich nickte, obwohl ich mir wenig Ruhe erwartete. Man hatte mich für den Nachmittag zum Auftragen beim Diner ins Herrenhaus befohlen. Vorher müsste ich jedoch noch das Haus von unten bis oben schrubben und dann über die Verfügung von Mister Viccars’ Hinterlassenschaft bestimmen. Der Herr Pfarrer hob gerade seinen Fuß in den Steigbügel. Als hätte er meine Gedanken gelesen, hielt er inne, tätschelte das Pferd, wandte sich wieder mir zu, trat näher und meinte mit gedämpfter Stimme: »Was George Viccars’ Sachen anbelangt, so tätest du gut daran, seine Anweisungen zu befolgen.« Offensichtlich sah man mir mein Erstaunen an. Momentan war ich mir nicht sicher, worauf er anspielte. »Er riet, alles zu verbrennen, und das könnte ein guter Rat sein.«

Ich schrubbte immer noch auf Händen und Knien im Speicher die abgetretenen Bodendielen, als der erste Kunde von George Viccars an die Türe klopfte. Noch vor dem Offnen wusste ich, dass Anys Gowdie draußen stand. Anys war im Umgang mit Pflanzen und deren Extrakten geschickt und wusste, wie man ihnen ihre duftenden Öle entzieht. Diese trug sie dann auf der Haut, sodass ihr immer ein angenehm leichter Duft von Sommerfrüchten und -blumen vorausging. Trotz der Meinung, die im Dorfe allgemein über sie herrschte, hatte ich für Anys immer Bewunderung gehegt. Sie besaß einen raschen Verstand und eine ebensolche Zunge und war stets bereit, eine rüde Bemerkung auf jene witzige Art zurechtzuweisen, wie sie unsereinem erst einfällt, nachdem die Beleidigung schon lange vorbei ist. Aber egal, wie bereitwillig man über sie herzog, egal, wie viele Amulette sich die Leute in ihrer Gegenwart umhingen, im Wochenbett wollten nur wenige Frauen auf sie verzichten. Dort brachte sie eine liebenswürdig-ruhige Art mit sich, die im krassen Gegensatz zu ihrem scharfen Auftreten auf der Straße stand. Außerdem zeigte sie bei schwierigen Entbindungen eine Geschicklichkeit, auf die sich ihre Tante im Laufe der Zeit völlig verlassen hatte. Auch ich mochte sie, weil es ein gewisses Maß an Mut erfordert, sich so wenig um das Geflüster der Leute zu scheren, besonders in einem kleinen Flecken wie diesem.

Sie schaute vorbei, um ein Kleid abzuholen, das George Viccars für sie gemacht hatte. Als ich ihr sagte, was ihm zugestoßen war, umwölkte sich ihr Gesicht vor Kummer. Und dann tat sie etwas Typisches: Sie schalt mich aus. »Warum hast du nicht meine Tante und mich geholt, anstatt Mompellion? Ein guter Aufguss hätte George mehr geholfen als hohles Pfaffengemurmel.«

Ich war daran gewöhnt, über Anys entsetzt zu sein, aber diesmal hatte sie es geschafft, sich selbst zu übertreffen. Ich war nicht nur über ihre offene Blasphemie entsetzt, sondern auch über die Vertrautheit, mit der sie von Mister Viccars sprach, den ich nie mit seinem Taufnamen gerufen hatte. Wie intim waren die beiden gewesen, dass sie ihn so nennen konnte? Mein Argwohn verstärkte sich noch, als wir beim Durchsuchen des Felleisens, wo er seine Arbeit aufbewahrte, das Kleid fanden, das er für sie gemacht hatte. All meine Kindheitsjahre, in denen die Puritaner hier das Sagen hatten, trugen wir als Oberkleidung nur so genannte Trauerfarben: in erster Linie Schwarz oder ein dunkles Braun, dessen Farbe »Tote Blätter« hieß. Seit der Rückkehr des Königs hatten sich zwar in die meisten Schränke allmählich wieder hellere Farben eingeschlichen, aber dennoch zügelte die lange Gewohnheit bei den meisten von uns die Auswahl. Nur bei Anys nicht. Sie hatte sich ein so grell scharlachrotes Kleid schneidern lassen, dass mir fast die Augen wehtaten. Da ich George Viccars nie daran arbeiten gesehen hatte, kam mir der Gedanke, ob er es aus Scheu vor einer diesbezüglichen Bemerkung meinetwegen bewusst vor mir verheimlicht hatte. Bis auf den Saum war das Kleid fertig. Deswegen sei sie auch heute Morgen gekommen, meinte Anys, damit er ihn bei der letzten Anprobe abstecken könne. Als sie das Kleid hochhielt, sah ich, dass der Ausschnitt so tief wie bei einer Mätresse war. Jetzt konnte ich meine Gedanken nicht mehr beherrschen. Im Geiste sah ich sie vor mir: Hoch gewachsen und wunderschön stand sie mit ihrer langen honigfarbenen Haarpracht da, die Bernsteinaugen halb geschlossen, während George Viccars zu ihren Füßen kniete und sich seine langen Finger zärtlich vom Saum zu ihrem Knöchel vortasteten und dann weiter unter dem weichen Stoff emporwanderten. Erfahrene Hände auf duftender Haut, langsam höher und immer höher Binnen Sekunden war ich so knallrot wie dieses verdammte Kleid.

»Mister Viccars sagte mir, ich solle seine Arbeit verbrennen, da er befürchtete, die Seuche könnte sich weiter ausbreiten«, sagte ich und schluckte, um meine verkrampfte Kehle zu lockern.

»Das wirst du gefälligst bleiben lassen!«, rief sie empört. Ich begann zu ahnen, welche Schwierigkeit mich bei all seinen Kunden erwarten würde. Wenn schon Anys Gowdie trotz ihrer genauen Kenntnisse über Krankheiten so reagierte, war es unwahrscheinlich, dass sich irgendein anderer überreden ließe. Nur wenige von uns hier leben in üppigen Verhältnissen, und Verschwendung liebt keiner. Jeder, der für eine Arbeit von Mister Viccars eine Vorauszahlung geleistet hatte, würde das haben wollen, was schon fertig war, egal, in welchem Zustand. Und ich hatte kein Recht, es ihnen zu verweigern, ungeachtet Mister Mompellions Anordnung. Anys Gowdie ging mit ihrem zusammengefalteten Hurenkleid unter dem Arm fort. Als sich im Laufe des Tages, wie hier üblich, die Nachricht von George Viccars’ Tod herumsprach, wurde ich immer wieder von seinen Kunden unterbrochen, die Anspruch auf halb fertige Kleidungsstücke erhoben. Ich konnte dabei lediglich das weitergeben, was er in seinem Delirium gesagt hatte. Doch niemand erklärte sich damit einverstanden, sein beziehungsweise ihr Kleidungsstück dem Feuer zu überantworten, auch wenn es nur aus einem Haufen zugeschnittener Stoffteile bestand. Am Ende verbrannte ich nur seine eigene Kleidung. Als zu guter Letzt die Holzkohle in einem Funkenregen zusammenfiel, brachte auch ich die Kraft auf, das Kleid, das er für mich gemacht hatte, in den Kamin zu werfen. Grell schlugen zinnoberrote Flammen durch goldnes Grün.

 

Es war ein weiter Weg nach Bradford Hall, immer bergan. Als ich am selben Nachmittag dorthin zur Arbeit aufbrach, war ich müde wie noch nie. Und doch begab ich mich nicht direkt zum Herrenhaus, sondern lenkte meine Schritte in Richtung der Gowdie-Hütte. Weder Anys und ihr »George« noch ihr scharlachrotes Kleid wollten mir aus dem Sinn. Normalerweise bin ich keine Klatschbase. Mir ist es egal, wer’s mit wem in welchem warmen Stadel treibt. Und da George Viccars nun tot war, wäre es weder für mich noch für sonst jemanden irgendwie wichtig, wohin er vielleicht seinen Schwanz gesteckt haben mochte. Trotzdem hatte ich es mir in den Kopf gesetzt herauszufinden, was zwischen ihm und Anys Gowdie vorgefallen war, und sei’s auch nur, um seine wahren Gefühle für mich einschätzen zu können.

Die Hütte der Gowdies stand einsam und allein am östlichen Ortsrand, hinter der Schmiede, kurz vor dem großen Riley-Hof. Sie war direkt an den Hügel gebaut und duckte sich vor den Winterwinden, die über die Moore heulten. Sie war winzig, bestand lediglich aus zwei übereinander gesetzten Zimmern und war so schlecht gebaut, dass das windschiefe Strohdach obendrauf saß wie eine Mütze, die sich jemand über eine Augenbraue gezogen hat. Jedes der beiden winzigen Zimmer hatte eine niedrige Balkendecke, und zum Schutz der trocknenden Pflanzen herrschte immer Dämmerlicht. Zu dieser Jahreszeit schnitten die Gowdies ihre Sommerkräuter. Dicht an dicht hingen die Büschel von den Balken. Hinter der Türe konnte man nur noch gebückt gehen. Bei jedem meiner Besuche wunderte ich mich aufs Neue, wie es die hoch gewachsene Anys fertig brachte, an so einem Platz zu leben. Denn eines konnte sie sicher nicht: aufrecht stehen. Bei den Gowdies brannte ständig ein Feuer, auf dem sie ihre Tränklein brauten, und da der uralte Rauchfang des Kamins nur schlecht zog, war die Hütte ständig verqualmt und die Wände rußgeschwärzt. Aber wenigstens duftete der Rauch angenehm, da die Gowdies immer Rosmarin verbrannten. Angeblich sollte er die Luft von allen Krankheiten reinigen, die Hilfe suchende Dorfbewohner unversehens mitbringen könnten.

Auf mein Klopfen hin regte sich nichts. Also ging ich um die Steinmauer herum, die den Arzneigarten der Gowdies abschirmte. Solange ich mich erinnern konnte, war dieser Garten ein Teil unseres Dorfes gewesen. Ich hatte immer angenommen, Mem habe ihn gepflanzt, aber als ich einmal so etwas Anys gegenüber erwähnt hatte, hatte sie mich wegen meiner Unwissenheit ausgelacht.

»Dieser Garten war schon alt, noch ehe jemand an Mem Gowdie gedacht hat, das kann doch jeder Narr sehen.« Dabei hatte sie mit der Hand über den Ast einer Spalierpflaume gestrichen. Natürlich erkannte ich, dass der Baum mit seinem knorrig-knotigen Stamm uralt war. »Wir kennen nicht einmal den Namen jener weisen Frau, die als Erste diese Beete angelegt hat, wir wissen nur, dass der Garten hier schon lange vor der Zeit gedieh, ehe wir uns um seine Pflege kümmerten, und dass er dies noch lange nach unserem Ableben tun wird. Meine Tante und ich sind lediglich die jüngsten einer langen Reihe von Frauen, in deren Obhut er gegeben wurde.«

Hinter den Steinmauern wuchsen geschützt Pflanzen in Hülle und Fülle, von denen ich höchstens ein Zehntel dem Namen nach kannte. Viele Kräuter waren schon abgeerntet, sodass die regelmäßigen Formen der steingerahmten Beete sichtbar wurden, die nach einem Saatplan bepflanzt wurden, den nur Anys und ihre Tante verstanden. Anys kniete gerade zwischen einem dichten Büschel glänzend grüner hoher Stängel, auf denen sich jeweils ganze Büschel mitternachtsblauer Blüten öffneten, und grub an den Wurzeln herum. Als ich den mit Stroh bestreuten Pfad entlangkam, stand sie auf und klopfte sich die Erde von den Händen.

»Ist aber eine hübsche Pflanze«, meinte ich.

»Hübsch – und wirksam«, erwiderte sie. »Man nennt sie Eisenhut, aber sie kann mehr als nur dieses Metall bannen. Wenn du ein kleines Stück Wurzel isst, bist du vor Einbruch der Nacht tot.«

»Und warum hast du sie dann hier?« Anscheinend machte ich ein betroffenes Gesicht, denn sie fing an zu lachen.

»Nicht um sie dir zum Abendessen aufzutischen! Die Knolle, zerrieben und mit Ölen vermischt, ergibt eine ausgezeichnete Salbe gegen schmerzende Glieder, von denen es im Laufe des Winters viele im Dorf geben wird. Trotzdem kann ich mir nicht vorstellen, dass du hierher gekommen bist, um meine blauen Blumen zu bewundern«, sagte sie. »Komm hinein und trink einen Schluck mit mir.«

Wir betraten die Hütte, und Anys legte das Wurzelbündel auf einen vollen Arbeitstisch. »Bitte, nimm Platz, Anna Frith«, sagte sie, »denn ich muss mich auch setzen. Im Stehen bekomme ich ein steifes Genick.« Sie scheuchte einen grauen Kater von einem wackligen Stuhl und zog für sich einen Schemel heran. Ich war dankbar, dass ich Anys alleine angetroffen hatte. Wenn nur die alte Mem im Garten gearbeitet hätte, hätte ich meinen Besuch schwerlich rechtfertigen können. Außerdem wäre ich schlecht beraten gewesen, das Thema, das mir im Kopf herumging, in Gegenwart ihrer Tante anzuschneiden. Trotzdem wusste ich kaum, wie ich ein derart delikates Thema beginnen sollte. Anys und ich waren nicht zusammen aufgewachsen, obwohl wir gleich alt waren. Sie hatte als Kind in einem näher am Dark Peak liegenden Dorf gelebt. Nach dem frühzeitigen Tod ihrer Mutter hatte man sie zu ihrer Tante geschickt. Ungefähr zehn war sie damals gewesen. Ich erinnere mich noch genau an den Tag ihrer Ankunft. Wie sie aufrecht und groß in einem offenen Karren saß, während das ganze Dorf zusammenlief, um einen Blick auf sie zu werfen. Das weiß ich deshalb noch so lebhaft, weil sie keinem auswich, der sie anstarrte, und nicht zurückzuckte, wenn einer mit dem nackten Finger auf sie zeigte. Ich war damals ein scheues Kind und weiß noch, was ich dachte: Ich hätte mich unter dem Sackleinen versteckt und mir das Herz aus dem Leibe geheult.

Sie reichte mir ein Gefäß mit einem stark riechenden Gebräu, von dem auch sie sich eines eingoss. Kritisch musterte ich meinen Becherinhalt. Auf dem unappetitlich blassgrünen Getränk schwamm ein noch hellerer Schaum. »Brennnesselbier. Zur Blutstärkung«, sagte Anys. »Das sollte jede Frau täglich trinken.«

Als ich den Becher hob, wurde ich ganz verlegen, denn mir fiel wieder ein, wie ich mich als Kind gemeinsam mit den anderen über Anys lustig gemacht hatte, die regelmäßig am Wegrand oder mitten in einem Feld stehen blieb, frische Blätter zupfte und sie dann an Ort und Stelle aß. Beim Gedanken daran, wie wir höhnisch »Kuh! Kuh! Grasfresserin!« gejohlt hatten, schämte ich mich. Anys hatte nur gelacht und uns nacheinander von Kopf bis Fuß gemustert. »Wenigstens habe ich keine solche Rotznase wie ihr. Und auch nicht jede Menge Pusteln auf der Haut.« Hoch aufgeschossen stand sie da, größer als jedes andere gleichaltrige Kind, vor Gesundheit strotzend. Als ich nicht lange danach zum ersten Mal guter Hoffnung war, war ich kleinlaut zu ihr gegangen und hatte sie um ihren Rat gebeten, welches Grünzeug ich sammeln und essen könnte, um mich und das Baby, das ich in mir trug, zu kräftigen. Zuerst hatte dieses Zeug seltsam geschmeckt, aber schon bald hatte ich seinen Nutzen verspürt.

Das Nesselbier war für mich allerdings etwas Neues. Die ersten Schlucke schmeckten mild und nicht unangenehm und wirkten auf meinen müden Körper erfrischend. Ich hielt den Becher länger als nötig an die Lippen, da ich mit meinem peinlichen Thema nicht überstürzt beginnen wollte. Aber meine Besorgnis erwies sich als unnötig. »Also, ich nehme doch an, du brennst darauf zu erfahren, ob ich mit George geschlafen habe«, begann Anys in gleichmütigem Tonfall. Der Becher zitterte in meiner Hand, die grüne Flüssigkeit schwappte auf den gefegten Erdboden. Anys lachte kurz auf. »Natürlich habe ich das. Er war zu jung und hübsch, um sein Feuer mit der Faust zu löschen.« Meine Miene bei diesen Worten wage ich mir kaum vorzustellen, aber in den Augen von Anys funkelte es amüsiert, während sie mich musterte. »Trink aus, dann fühlst du dich besser. Es war für uns beide nicht mehr als ein Mahl für einen hungrigen Reisenden.«

Sie beugte sich vor, um Blätter umzurühren, die neben dem Feuer in einem großen schwarzen Kessel einweichten. »Mit dir hatte er andere Absichten. Wenn dich das umtreibt, dann sei unbesorgt. Er wollte dich als Eheweib, Anna Frith, und ich sagte ihm, damit würde er gut fahren, falls er dich dazu überreden könnte. Denn wie ich sehe, hast du dich seit Sam Friths Tod verändert. Meiner Ansicht nach gefällt es dir zu kommen und zu gehen, ohne dass ein Mann dazwischenredet. Ich sagte ihm, am ehesten könnte er dich über deine Buben gewinnen. Um die musst du dich ja, im Gegensatz zu mir, kümmern, das heißt, du kannst nie nur für dich leben.«

Ich versuchte mir vorzustellen, wie die beiden beieinander lagen und solche Dinge besprachen. »Aber warum«, platzte ich heraus, »warum hast du ihn denn nicht selbst geheiratet, wenn ihr schon so vertraut wart?«

»Ach, Anna!« Sie schüttelte den Kopf und lächelte wie bei einem begriffsstutzigen Kinde. Ich spürte, wie ich rot wurde. Was hatte ich gesagt? Worüber amüsierte sie sich so? Ich war verwirrt. Offensichtlich hatte sie meine Seelenqual gespürt, denn sie hörte zu lächeln auf, nahm mir den Becher aus der Hand und schaute mich ernst an.

»Warum sollte ich heiraten? Ich bin nicht geschaffen, um mich einem Mann mit Haut und Haar auszuliefern. Ich habe meine Arbeit, die ich liebe. Ich habe mein Zuhause, auch wenn’s nicht groß ist, zugegeben. Und doch bietet es mir ausreichend Schutz. Aber darüber hinaus habe ich noch etwas, was nur wenige Frauen für sich beanspruchen können: meine Freiheit. Und die werde ich nicht leichtfertig opfern. Außerdem«, sagte sie, wobei sie mir einen listigen Seitenblick zuwarf, »braucht eine Frau manchmal einen kräftigen Schluck Nesselbier zum Aufwachen und manchmal ein Glas Baldriantee zur Beruhigung. Warum soll man in einem Garten nur eine einzige Pflanze züchten?«

Zum Zeichen, dass ich die Pointe verstand, lächelte ich zögernd. Tief drinnen spürte ich, dass mir etwas an ihrer guten Meinung lag und ich in ihren Augen nicht als langweiliger Einfaltspinsel dastehen wollte. Danach stand sie auf, um weiter ihrer Arbeit nachzugehen. So verließ ich sie noch verwirrter als bei meiner Ankunft. Sie war ein seltenes Geschöpf, diese Anys Gowdie, und eines musste ich zugeben: Ich bewunderte sie, weil sie mehr auf ihr eigenes Herz hörte, als ihr Leben von fremden Konventionen beherrschen zu lassen. Ich dagegen war unterwegs, um mich für den Nachmittag von Leuten beherrschen zu lassen, die ich verachtete. Ich stapfte weiter Richtung Bradford Hall und kam dabei am Rand der Rileyschen Wälder vorbei. Hell strahlte die Sonne an jenem Tag, die Bäume warfen dunkle, breite Schattenstreifen über den Pfad. Dunkel und hell, dunkel und hell, dunkel und hell. Genau so hatte man meinen Blick auf die Welt geformt. Nach Ansicht der Puritaner, die sich hier als Geistliche um uns gekümmert hatten, konnte alles Handeln und Denken nur zwei Seiten haben: göttlich und richtig, oder satanisch und böse. Aber Anys Gowdie brachte Verwirrung in solches Denken. Zweifelsohne tat sie Gutes. Das Wohlergehen unseres Dorfes war in vielerlei Hinsicht mehr ihrem Bemühen und dem ihrer Tante zu verdanken als den Bemühungen der jeweiligen Pfarrhausbewohner. Und doch stempelten ihre Unzucht und ihre Blasphemie sie in den Augen unserer Religion zur Sünderin.

All das ging mir immer noch im Kopf herum, als ich die Stelle erreichte, wo der Wald urplötzlich in die goldenen Felder des Riley-Hofes überging. Schon den ganzen Tag war man dort fleißig mit der Sichel am Arbeiten gewesen – zwanzig Mann für zwanzig Tagwerk. Die Hancocks, die das Land der Rileys bewirtschafteten, hatten selbst sechs kräftige Söhne und brauchten deshalb weitaus weniger Erntehelfer als andere. Müde folgten Mutter Hancock und ihre Schwiegertöchter ihren Männern und bündelten die losen Halme zu Garben, die im Sonnenlicht schimmerten. An jenem Nachmittag sah ich sie durch die Augen von Anys: fest an ihr Mannsvolk gekettet, wie Ackergäule an die Pflugscharen.

Lib Hancock, die Frau des ältesten Bruders, war mit mir seit Kindertagen befreundet. Als sie sich einen Augenblick aufrichtete, um ihr Kreuz zu strecken, beschattete sie mit der Hand die Augen. Dabei merkte sie, dass ich es war, die da am Feldrand daherkam, winkte mir zu und rief etwas nach hinten zu ihrer Schwiegermutter. Dann ließ sie ihre Arbeit liegen und kam quer übers Feld auf mich zu.

»Setz dich ein Weilchen zu mir, Anna!«, rief sie. »Ich muss unbedingt ausruhen.«

Da ich es nicht eilig hatte, zu den Bradfords zu kommen, spazierte ich mit ihr zu einer Grasböschung, auf die sie sich dankbar fallen ließ und einen Augenblick die Augen schloss. Ich rieb ihr die Schultern. Mit wohligem Behagen schnurrte sie unter meinen knetenden Handbewegungen.

»Ist wirklich ein Pech mit deinem Logiergast«, sagte sie. »Schien ein braver Kerl zu sein.«

»Das war er«, meinte ich. »Zu meinen Buben war er ungewöhnlich nett.« Lib legte den Kopf schief und warf mir einen merkwürdigen Blick zu. »Und zu mir natürlich auch«, fügte ich hinzu. »Wie zu allen.«

»Ich glaube, meine Schwiegermutter hätte ihn gerne für Neil gehabt«, sagte sie. Neil, das einzige Mädchen der Hancock-Familie, wurde von ihren vielen Brüdern derart streng gehalten, dass wir oft scherzten, sie würde nie heiraten, da ihr kein Mann nahe genug käme, um festzustellen, wie sie aussah. Auf Grund meiner neuesten Erkenntnisse über George Viccars lachte ich trotz meiner Traurigkeit.

»Gibt es im ganzen Dorf eine einzige Frau, die sich nicht mit dem Bettzeug dieses Mannes beschäftigt hat?«

Wie gesagt, Lib und ich standen uns nahe. Schon immer hatten wir unsere Geheimnisse miteinander geteilt. Vermutlich verführte mich diese Gewohnheit zu meinen nächsten Worten: eine deftige Beichte meiner eigenen Lust, wozu ich jedes Recht hatte. Doch danach folgte etwas, wozu ich nicht berechtigt war, jene Neuigkeit, die ich selbst gerade erst erfahren hatte: dass Anys es mit meinem Logiergast getrieben hatte.

»Und jetzt, Lib«, sagte ich schließlich, während ich aufstand, um meinen Weg fortzusetzen, »habe ich eine Bitte: Tratsche meine Neuigkeiten heute Abend nicht im ganzen Hause Hancock herum.«

Darüber lachte sie und knuffte mich spielerisch in die Seite. »Oho, als ob ich vor Mutter Hancock und dieser Männerschar ständig Bettgeschichten erzählen würde! Du hast seltsame Ansichten über unseren Haushalt, wirklich. Am Tisch der Hancocks fällt nur einmal ein Wort über Paarung: Wenn die Hammel zu den Mutterschafen getrieben werden!« Daraufhin lachten wir beide und gingen wieder getrennter Wege.

Am Feldrand standen sattgrüne Hecken mit glänzendem Laub. Allmählich reiften auch schon die Brombeeren und röteten sich. Im üppigen Gras weideten fette Lämmer. Doch trotz aller Lieblichkeit war für mich die letzte halbe Meile dieses Weges unangenehm, auch wenn ich nicht wirklich erschöpft war. Aber ich konnte die ganze Familie Bradford nicht ausstehen, und den Oberst fürchtete ich besonders. Außerdem konnte ich mich selbst nicht leiden, weil ich dieser Angst nachgab.

Allgemein hieß es, Oberst Henry Bradford sei ein tapferer und intelligenter Soldat gewesen, ein ungewöhnlich heldenmutiger Anführer seiner Männer. Vielleicht hatte ihn sein militärischer Erfolg arrogant gemacht, vielleicht hätte sich aber auch ein solcher Mann nie und nimmer in ein Leben als Landedelmann zurückziehen sollen. Die Art und Weise seiner Haushaltsführung ließ jedenfalls nicht die Spur von Weisheit erkennen. Offensichtlich amüsierte ihn jede Demütigung seiner Frau auf perverse Weise. Sie stammte aus einer reichen Familie ohne gute Verbindungen, eine geistlose Schönheit, in deren Äußeres sich der Oberst für kurze Zeit vergafft hatte. Allerdings nur so lange, bis er ihre Mitgift eingesackt hatte. Seither hatte er keine Gelegenheit verstreichen lassen, ohne ihre Verbindungen herabzusetzen oder ihre Auffassungsgabe zu beleidigen. Obwohl sie noch immer ziemlich schön war, war sie nach den langen Jahren derartiger Behandlung empfindlich geworden. Bedrückt und nervös sorgte sie sich ständig darum, was ihr Ehemann nun wieder an ihr auszusetzen hätte, und hielt damit auch das Personal immer am Rande des Nervenzusammenbruchs. Ständig stieß sie die Tagesabläufe des Haushalts um, sodass selbst die einfachsten Aufgaben mühsam wurden. Der Sohn der Bradfords war ein betrunkener Prahlhans und Schwerenöter, der sich glücklicherweise meistens in London aufhielt. Während seiner seltenen Anwesenheit im Herrenhaus versuchte ich, mich dort mit Ausreden um eine Arbeit zu drücken. Und wenn ich mir das nicht leisten konnte, ging ich ihm möglichst aus den Augen und sorgte dafür, dass ich nie in die Falle lief, mit ihm allein zu sein. Miss Bradford war, wie schon erwähnt, eine stolze und mürrische junge Frau, deren einziger Funken Güte aus echter Sorge um ihre unglückliche Mutter zu entspringen schien. In Abwesenheit ihres Vaters schien sie die Nerven ihrer Mutter beruhigen und ihre Unruhe besänftigen zu können. Dann konnte man dort auch arbeiten, ohne Schimpfkanonaden und Wutanfälle befürchten zu müssen. Aber kaum war der Oberst wieder da, zuckte jeder wie ein Köter in Erwartung eines Fußtritts zusammen, angefangen von Mistress Bradford nebst Tochter bis hinunter zur niedrigsten Küchenmagd.

Da Bradford Hall in bescheidenem Umfang über angemessenes Personal verfügte, wurde nur nach mir geschickt, wenn man Einladungen von gewisser Größe beziehungsweise Wichtigkeit gab. Im Herrenhaus gab es einen großen Raum, der mit einer voll gedeckten Tafel sehr gut wirkte. Dann wurden die beiden großen Räucherbänke aus den Wandnischen gezogen und ihr dunkles Eichenholz so lange poliert, bis es schwarz glänzte. Zur Herbstzeit, kurz nach dem Schweineschlachten, roch es manchmal durchdringend nach frisch gepökelten Speckseiten, aber im Spätsommer war der Speck längst verspeist, sodass sich nur noch ein angenehm leichtes Raucharoma unter den frischen Duft nach Bienenwachs und Lavendel mischte. Silbergeschirr schimmerte im tief stehenden Licht auf, Kanarienwein glänzte in großen Pokalen und wärmte selbst die kalten Bradford-Gesichter. Selbstverständlich dachte keiner je daran, mir zu sagen, welchen Gästen ich aufwarten würde. Umso angenehmer überraschte es mich, bei diesem abendlichen Diner die freundlichen Gesichter der Mompellions unter dem Dutzend Gäste zu entdecken.

Die Gegenwart von Elinor Mompellion an seiner Tafel ergötzte den stolzen Herrn Oberst. Erstens sah sie an diesem Nachmittag in einem schlicht geschnittenen, cremefarbenen Seidenkleid einfach bezaubernd aus. In ihren blassen Haaren schimmerten einige wenige erlesene Perlen. Aber noch mehr als ihre zerbrechliche Schönheit schätzte Oberst Bradford ihre bedeutenden Beziehungen. Sie gehörte einer der ältesten Großgrundbesitzerfamilien in der Grafschaft an. Man murmelte, mit ihrer Entscheidung für Mompellion habe sie einen anderen Verehrer verschmäht, der sie möglicherweise zur Herzogin gemacht hätte. Eine derartige Entscheidung war für den Oberst unvorstellbar. Leider gab es an ihr so vieles, was er nicht verstand. Er begriff lediglich, dass eine Beziehung zu ihr seine eigene Stellung steigerte. Und das war das einzig Wichtige für ihn. Als ich mit gesenktem Kopf ihren Suppenteller abtragen wollte, legte Elinor Mompellion, die zur Linken des Obersts saß, dem rechts von ihr sitzenden Herrn aus London leicht die Hand auf den Unterarm, um seinen nichts sagenden Wortschwall zu unterbrechen. Dann drehte sie sich mit einem ernsten Lächeln zu mir. »Hoffentlich fühlst du dich nach deiner schrecklichen Nacht wieder einigermaßen wohlauf, Anna.« Ich hörte, wie der Griff des Buttermessers auf das Tellerchen des Obersts klapperte und er zischend die Luft anhielt. Ich hielt den Blick auf die Teller in meiner Hand gesenkt und wagte keinen einzigen verstohlenen Blick in seine Richtung. »Einigermaßen. Vielen Dank, Ma’am«, murmelte ich eilends und glitt weiter, um den nächsten Teller abzutragen. Ich befürchtete, sie würde weiter mit mir plaudern, wenn ich ihr nochmals Gelegenheit dazu gab. Und dann träfe Oberst Bradford auf der Stelle der Schlag.

Im Herrenhaus hatte ich gelernt, mich nur auf meine Pflichten zu konzentrieren und dem meist trivialen Gespräch keine Beachtung zu schenken. An solch einer großen Tafel gab es wenig allgemeine Konversation. Die meisten Leute wechselten Höflichkeitsfloskeln mit ihren unmittelbaren Sitznachbarn. Das Ergebnis war ein dumpfes Stimmengewirr, das Miss Bradford gelegentlich mit affektiertem Lachen unterbrach. Jedenfalls war dem so, als ich den Raum mit den Fleischtellern verließ. Als ich jedoch mit dem Dessert zurückkam, hatte man schon vor Anbruch der Dunkelheit alle Kerzen angezündet, und nur noch der junge Londoner redete, der neben Mistress Mompellion saß. Er gehörte zu jener Sorte feiner Herren, von denen wir in unserem kleinen Dorf nicht viele zu sehen bekommen. Er trug eine derart üppige und kunstvolle Perücke, dass sein ziemlich verkniffenes, weiß gepudertes Gesicht unter der langen Lockenpracht fast verloren wirkte. Auf seiner rechten Wange saß ein Schönheitsfleck. Vermutlich hatte irgendeiner der Bradfordschen Diener, der ihm beim Ankleiden behilflich gewesen war, nicht recht gewusst, wie man solche modischen Pflästerchen anklebt, denn bei jedem Bissen tanzte das Ding irritierend auf der Wange des jungen Mannes. Auf den ersten Blick war er mir ziemlich lächerlich erschienen, aber inzwischen wirkte er ernst. Bei jedem Wort flatterten seine Hände wie weiße Motten aus den Spitzenmanschetten und warfen lange Schatten über die Tafel. Ringsum schauten ihn blasse und entsetzte Gesichter an.

»So etwas hat man auf den Straßen noch nie gesehen. Unzählige Reiter, Kutschen und überquellende Ochsenkarren. Ich sage Ihnen, jeder, der im Stande ist, die Stadt zu verlassen, tut es oder hat es vor. Die Armen schlagen inzwischen auf Hampstead Heath Zelte auf. Wer unbedingt zu Fuß gehen muss, geht genau in der Straßenmitte, um den ansteckenden Ausdünstungen der Häuser zu entgehen. Wer die ärmeren Viertel durchqueren muss, bedeckt das Gesicht mit Masken, die an große Vogelschnäbel erinnern und mit Kräutern gefüllt sind. Die Leute gehen wie betrunken durch die Straßen, wechseln von einer Straßenseite auf die andere, um an anderen Fußgängern nicht allzu dicht vorbeigehen zu müssen. Eine Droschke kommt leider auch nicht in Frage, da mit dem Atem des letzten Fahrgastes vielleicht die Krankheit zurückblieb.« Nun warf er einen Blick in die Runde und senkte die Stimme. Offensichtlich genoss er die Aufmerksamkeit, die seine Worte fanden. »Angeblich soll man die Schreie der Sterbenden hören können, die ganz allein in die mit roten Kreuzen markierten Häuser eingesperrt wurden. Die Großmächtigen hält es nicht mehr am Ort, sage ich Ihnen. Es geht das Gerücht, der König plane die Verlegung seines Hofstaates nach Oxford. Ich für meine Person zauderte nicht lange. Die Stadt entleert sich so rasch, dass sowieso kaum mehr wichtige Gesellschaft übrig ist. Höchst selten entdeckt man noch einen Edlen mit Perücke oder eine vornehme Dame, denn weder Reichtum noch Beziehungen schützen vor der Pest.«

Wie ein Amboss sauste das Wort nieder. Mir kam es vor, als würde es in dem strahlenden Raum dunkler, als hätte jemand urplötzlich alle Kerzen auf einmal gelöscht. Um die Platte nicht fallen zu lassen, umklammerte ich sie mit beiden Händen und blieb stocksteif stehen, bis ich mein Gleichgewicht wiedergefunden hatte. Ich sammelte mich und versuchte, wieder gleichmäßig zu atmen. Im Laufe meines Lebens hatte ich schon oft genug gesehen, wie Menschen von Krankheiten dahingerafft worden waren. Neben der Pest gibt es noch vielerlei Fieber, das einen Menschen töten kann. Außerdem war George Viccars schon über ein Jahr nicht mehr in die Nähe von London gekommen. Wie konnte ihn da der Pesthauch der Stadt gestreift haben?

Oberst Bradford räusperte sich. »Na, na, Robert! Beunruhigen Sie nicht die Damen. Demnächst werden sie noch aus Furcht vor Ansteckung Eure Gesellschaft meiden!«

»Scherzen Sie nicht, Sir. An der Mautschranke nördlich von London stieß ich auf eine zornige Horde mit Mistgabeln, die jedem Reisenden aus London den Zutritt zu ihrem Dorf verwehrte. Da es sich sowieso um einen üblen Ort handelte, an dem ich nicht einmal zu rabenschwarzer Nacht Zuflucht gesucht hätte, ritt ich unbelästigt weiter. Trotzdem wird sich binnen kurzem jeder, der sich als Londoner ausgibt, damit keinen Gefallen erweisen. Wir werden überrascht sein, wie viele von uns plötzlich ländliche Vorfahren erfinden werden. Sie werden noch an mich denken. Schon bald werden Sie erfahren, dass mein Hauptwohnsitz in den letzten Jahren Wetwang war, nicht Westminster.«

Daraufhin wurde es ein wenig unruhig, denn der Ort, über den sich der junge Mann mokierte, war um ein Erkleckliches größer als der, wo er momentan zu Gast war. »Nun, dann war’s ja gut, dass Sie rausgekommen sind, was?«, sagte der Oberst, um den Fehler zu vertuschen. »Saubere Luft hier droben, kein fauliges Fieber.«

Ich bemerkte, wie die Mompellions viel sagende Blicke wechselten. Ich versuchte, meine zitternden Hände zu beruhigen, setzte die Dessertplatte ab und trat wieder in den Schatten an der Wand zurück. »Auch wenn man’s kaum glauben möchte«, fuhr der junge Mann fort, »aber einige wenige bleiben in der Stadt, obwohl sie die Möglichkeit zur Abreise hätten. Lord Radisson – ich denke, Seine Lordschaft ist hinlänglich bekannt – hat verbreiten lassen, er halte es für seine Pflicht zu bleiben und ein Exempel zu statuieren^ Ein Exempel wofür? Für einen scheußlichen Tod?«

»Bedenken Sie Ihre Worte«, warf Mister Mompellion dazwischen. Seine Stimme – voll, laut, ernst – ließ das hohle Lachen der Bradfords verstummen. Der Oberst wandte sich mit erhobener Augenbraue ihm zu, als wolle er ihn wegen Unhöflichkeit tadeln, und Mistress. Bradford versuchte, ihr Kichern in Husten umzuwandeln. »Wenn alle, die die Möglichkeit haben, bei jedem Ausbruch dieser Krankheit davonlaufen«, fuhr Mister Mompellion fort, »dann wird die Pestsaat mit ihnen gehen und sich landauf, landab verteilen, bis auch die sauberen Orte angesteckt sind und die Seuche sich tausendfach vermehrt. Wenn Gott es für angebracht hielt, diese Geißel zu schicken, dann wäre es, glaube ich, Sein Wille, dass sich ihr jeder mutig an seinem bisherigen Platze stellt und damit das Übel begrenzt.«

»Ach?«, meinte der Oberst hochnäsig. »Und wenn Gott einen Löwen schickt, der Sie zerfleischen möchte, werden Sie dann auch unverwandt stehen bleiben? Das glaube ich nicht.

Vermutlich werden Sie genau wie jeder vernünftige Mann vor dieser Gefahr davonlaufen.«

»Ihr Vergleich ist exzellent, Sir«, sagte Mister Mompellion. Seine Stimme hatte jenen energischen Unterton, den er immer auf der Kanzel einsetzte. »Wollen wir ihn mal untersuchen. Ich werde sicher stehen bleiben und mich dem Löwen stellen, wenn ich durch meine Flucht das Untier in die Nähe der Hütten von Unschuldigen bringen würde, die meinen Schutz brauchen.«

Als der Begriff Unschuldige fiel, flammte Jamies kleines Gesicht vor meinem inneren Auge auf. Was, wenn der junge Londoner Recht hatte? Jamie hatte nur noch Augen und Ohren für George Viccars gehabt. Noch den ganzen Tag vor dem ersten Anzeichen der Krankheit war Jamie auf seinen Rücken geklettert und hatte mit ihm herumgetollt.

Der junge Mann unterbrach das Schweigen, das nach Mister Mompellions Worten herrschte. »Nun ja, Sir, wacker pariert. Trotzdem muss ich Ihnen sagen, dass die besten Kenner dieser Krankheit – worunter die Ärzte und Bader zu zählen wären besonders schnellfüßig die Stadt verlassen haben. Selbst wenn man einen ganzen Sovereign bezahlt, kann man sich nicht bei Husten schröpfen lassen oder bei einem Gichtanfall zur Ader gelassen werden. Die Herren Ärzte haben uns hier ein klares Rezept ausgestellt, das wie folgt lautet: Davonlaufen ist die beste Arznei gegen die Pest. Und ich für meine Person beabsichtige, dieses Rezept gewissenhaft zu befolgen.«

»Sie sagen gewissenhaft, und doch halte ich Ihre Wortwahl für unzutreffend«, entgegnete Mister Mompellion. »Wer von gewissenhaft redet, muss sich vergegenwärtigen, dass Gott die Macht besitzt, uns in Gefahren zu bewahren oder uns von eben jener Gefahr ereilen zu lassen, egal, wie weit oder schnell wir laufen.«

»In der Tat, Sir. Und viele, die daran glaubten, fahren inzwischen auf dem Weg zu den großen Gruben als stinkender Leichnam durch die Stadt.« Miss Bradford hob eine Hand an die Braue und mimte demonstrativ eine Ohnmacht, aber ihre gierigen Blicke straften sie Lügen. Der junge Mann wandte sich ihr zu, erkannte ihre Lust nach düsteren Details und fuhr fort: »Das weiß ich von einem, der sich auf seiner fruchtlosen Suche nach einem Verwandten verpflichtet fühlte, dorthin zu gehen. Nach seinem Bericht werden die Leichen einfach hineingekippt, genauso respektlos wie bei einem toten Hund. Eine Lage Körper, darüber ein paar Schaufeln Erde, und darauf dann noch mehr Körper. So liegen sie da, genau wie das Dessert dort drüben.« Er deutete auf den Schichtkuchen, den ich auf die Tafel gestellt hatte. Ich sah die Mompellions zusammenzucken, aber der junge Mann verzog über seine eigene Geschmacklosigkeit nur höhnisch das Gesicht und wandte sich dann an den Herrn Pfarrer.

»Und wissen Sie, Sir, wer hinter den Ärzten am schnellsten die Stadt verließ? Na, die anglikanischen Pfarrer, Ihresgleichen! Infolgedessen füllt sich manche Londoner Kanzel mit Nonkonformisten.«

Mister Mompellion senkte den Blick. Eingehend musterte er seine Hände. »Wenn Ihre Worte tatsächlich wahr sind, Sir, dann tut mir das aufrichtig Leid. In diesem Falle sind meine Brüder im Glauben tatsächlich schlechtere Menschen.« Seufzend schaute er seine Frau an. »Vielleicht glauben sie, Gott predige nun der Stadt, und ihr karges Gestammel könne dem Donnerwort des Allmächtigen nichts hinzusetzen?«

 

In jener Nacht war Vollmond, was ein Glück war, denn sonst wäre ich sicher in einen Graben gefallen, wie ich so heimstolperte. Trotz meiner Erschöpfung rannte ich fast. Disteln zerkratzten mir die Fesseln, Dornen krallten sich in meinen Rock. Nur mühsam fand ich Worte für das Martin-Mädchen, als es schlaftrunken neben dem Herd hochfuhr. Ich warf den Umhang ab und stürzte die Treppe hinauf. Die beiden kleinen Körper waren in einen silbrigen Lichtfleck getaucht. Beide Jungen atmeten leicht. Jamie hatte einen Arm um seinen Bruder gelegt. In entsetzlicher Angst vor dem, was mich erwarten könnte, legte ich ihm die flache Hand auf die Stirn. Sachte streiften meine Finger seine weiche Haut. Zum Glück war sie kühl.

»Danke«, sagte ich, »oh, ich danke Dir, mein Gott.«