Weiter grüner Kerker

 

An jenem Morgen verließ ich die Kirche mit einem seltsamen Glücksgefühl, und offensichtlich ging es allen so. Die ursprünglich abgezehrten und verhärmten Gesichter wirkten nun warm und lebendig. Wenn sich unsere Blicke trafen, lächelten wir im Bewusstsein der umfassenden Gnade, die unsere Entscheidung ausgelöst hatte. Deshalb war ich nicht auf Maggie Cantwell vorbereitet, die mit verstörter Miene vor meinem Tor auf und ab lief. Maggie war Köchin bei den Bradfords und infolge ihrer Tätigkeit heute Morgen nicht in der Kirche gewesen. Sie trug noch immer die große weiße Schürze wie in der Küche von Bradford Hall, und ihr Mondgesicht war vor Anstrengung knallrot. Im Schnee lag ein Bündel Habseligkeiten.

»Anna, sie haben mich vor die Tür gesetzt! Achtzehn Jahre, und dann einfach hinausbeordert!« Obwohl Maggie Familie in Bakewell hatte, wusste ich nicht, ob sie zu ihren Leuten gehen oder ob diese sie aufnehmen würden. Trotzdem wunderte ich mich, dass sie bei mir Zuflucht gesucht hatte, denn mein Haus war zusammen mit dem der Hadfields und der Sydells als Pestkate verschrien. Ich winkte sie herein, aber sie schüttelte den Kopf. »Danke, Anna. Ist auch nicht despektierlich gemeint, aber ich habe Angst, deine Kate zu betreten. Ich weiß, du hast Verständnis. Ich bin gekommen, um dich zu bitten, dass du mir hilfst, meine paar Habseligkeiten aus dem Herrenhaus zu holen. Denn man hat uns allen erklärt, dass nach ihrer Abreise das Herrenhaus versperrt und bewacht wird. Keiner von uns darf es mehr betreten. Stell dir vor, es war doch all die Jahre auch unser Zuhause, und jetzt wirft man uns ohne ein Dach über dem Kopf hinaus!« Die ganze Zeit über hatte sie nervös an einem Schürzenzipfel herumgedreht. Jetzt hob sie ihn an die Wange und wischte sich die Tränen ab.

»Komm, Maggie, dafür haben wir jetzt keine Zeit«, sagte ich. »Deine Sachen sind hier in Sicherheit. Ich suche einen Handkarren, und dann holen wir sofort noch den Rest.« Und so machten wir uns auf den Weg. Maggie war schon über vierzig und sehr untersetzt, da sie ihre eigene gute Küche gern genossen hatte. Mühsam rang sie nach Luft, während wir uns durch die Schneewehen den Hügel zum Herrenhaus hinaufkämpften.

»Stell dir mal vor, Anna«, keuchte sie, »da stand ich gerade und bestrich den Braten fürs Sonntagsessen, als sie alle von der Kirche hereinstürmten. Ganz schön früh, denke ich mir, und dann: Oho, das setzt was, wenn der Herr Oberst aufs Essen wartet und nichts auf dem Tisch steht. Also beeile ich mich und scheuche Brand, meinen Küchenjungen, herum. Da kommt doch der Herr Oberst persönlich herein. Und eines muss ich dir ja nicht sagen: Der hat gewiss bis auf den heutigen Tag noch nie ‘nen Fuß in die Küche gesetzt. Und dann heißt’s, Schluss für alle, einfach so. Kein Dankeschön, oder Wie wird’s euch denn gehen. Einfach nur: Essen auf den Tisch und dann raus.«

Obwohl wir noch ein ganzes Stück von Bradford Hall entfernt waren, konnten wir uns gut ausmalen, welcher Aufruhr dort herrschte. Das war kein heimlicher Rückzug. Das Herrenhaus brummte wie ein aufgestörter Bienenstock. Pferde stampften in der Einfahrt, während Zofen und Lakaien, unter schweren Truhen gebückt, hinein- und herausstolperten. Wir betraten das Haus durch die Küche. Über uns konnten wir eilige Schritte vernehmen, dazwischen die hohen herrischen Stimmen der Bradford-Damen. Da ich keinen besonderen Wert darauf legte, von ihnen bemerkt zu werden, schlich ich hinter Maggie über die rückwärtige Treppe zum Speicher hinauf, den sie mit den übrigen weiblichen Bediensteten teilte. Das kleine Zimmer lag unter einem steil abfallenden Dach und hatte ein rechteckiges Fensterchen, durch das kaltweißes Schneelicht hereinströmte. In diesen winzigen Raum hatte man drei Betten gezwängt. Auf dem einen kauerte mit weit aufgerissenen Augen ein blasses Mädchen namens Jenny. Schwer atmend versuchte sie, ihren zweiten Kittel und ihre wenigen Habseligkeiten zu einem Bündel zu schnüren. In ihrer Hast hatte sie Mühe, einen Knoten zu machen.

»Himmel, Köchin, sie sagt, wir sollen noch diese Stunde fort, gibt uns aber keine Zeit, uns um unsere eigenen Sachen zu kümmern. Ich bin nur noch auf den Beinen, um ihre Sachen zu holen und wegzubringen, und kaum hab ich ‘ne Schärpe eingepackt, heißt’s, nein, nimm sie raus, besser die hier. Die nehmen keinen von uns mit, nicht mal Mistress Bradfords Zofe Jane, und die war ja, wie man weiß, schon bei ihr, als sie noch ein kleines Mädchen war. Jane hat geheult und sie angefleht, aber sie hat nur den Kopf geschüttelt. Sie und wir alle hätten uns zu viel im Dorf herumgetrieben und vielleicht schon die Pest in uns. Also wollen sie uns einfach hier auf der Straße sterben lassen. Weiß ja keiner von uns, wohin er sonst gehen soll!«

»Niemand wird sterben, und schon gar nicht auf der Straße«, sagte ich so ruhig wie möglich. Maggie hatte eine schmale Eichentruhe unter ihr Bett gequetscht. Ich zerrte sie hervor, während Maggie die Bettdecke faltete, die ihr ihre Schwester gemacht hatte. Das also war ihr ganzes Hab und Gut, die Summe ihres Lebens, zusammen mit dem kleinen Sack Kleider, den sie vor meinem Haus gelassen hatte. Mit ein wenig Umsicht gelang es uns, die Truhe die schmale Treppe hinabzutragen. Sie fing das Hauptgewicht ab, während ich von oben dirigierte, so gut es ging. In der Küche blieb sie stehen. Ich dachte, sie müsse verschnaufen, aber dann sah ich, dass ihr schon wieder Tränen in die Augen stiegen. Mit ihren großen roten Händen strich sie über den zerkratzten Kiefernholztisch mit den Brandflecken. »Das da ist mein Leben«, sagte sie. »Jede Kerbe kenne ich darauf und weiß, wie es passiert ist. Jeden verflixten Messergriff kenne ich hier drinnen. Und jetzt soll ich mich einfach umdrehen und mit nichts fortgehen.« Sie ließ den Kopf hängen. Einen Augenblick hing eine Träne an ihrer fleischigen Wange, ehe sie auf den Tisch fiel.

In dem Moment drang vom Hof Lärm herein. Bei einem Blick zur Küchentür hinaus konnte ich gerade noch sehen, wie Michael Mompellion Anteros zügelte, dass der Kies nur so aufspritzte. Noch ehe der verblüffte Pferdeknecht die hingeworfenen Zügel aufgesammelt hatte, war der Herr Pfarrer schon vom Pferd herunter und die Treppe hinauf, ohne zu warten, bis man ihn ankündigte.

»Oberst Bradford!« Seine Stimme dröhnte so laut durch die Eingangshalle, dass auf der Stelle jedes Geklapper erstarb. Die großen Möbelstücke im Herrenhaus waren bereits gegen den Staub mit Tüchern abgedeckt. Verstohlen schlich ich hinter eine verhüllte Sitzbank. Im Schutz eines Deckenzipfels konnte ich den Oberst unter der Tür zu seiner Bibliothek auftauchen sehen. In der einen Hand hielt er ein Buch, das er offensichtlich einpacken lassen wollte, in der anderen einen Brief. Oben auf der Treppe erschien Miss Bradford mit ihrer Mutter. Beide blieben zögernd stehen, als wussten sie mit diesem Besuch nicht recht umzugehen.

»Hochwürden Mompellion!«, sagte der Oberst bewusst leise, ganz im Gegensatz zum Herrn Pfarrer. Sein fragender Ton war gespielt. »Sie hätten sich doch nicht persönlich hierher bemühen müssen, um uns Lebewohl zu sagen. So ein forscher Ritt wäre doch nicht nötig gewesen. Ich hatte beabsichtigt, mich von Ihnen und Ihrer Frau in diesem Brief zu verabschieden.«

Er streckte ihm die Hand mit dem Brief hin, den Mompellion geistesabwesend nahm, ohne ihn anzusehen. »Auf Ihre Verabschiedung lege ich keinen Wert. Ich bin hier, um Sie zu beschwören, Ihre Abreise nochmals zu überdenken. Ihre Familie nimmt hier am Ort die erste Stelle ein, die Dorfbewohner zählen auf Sie. Wie kann ich sie bitten, tapfer zu sein, wenn Sie vor Angst zittern?«

»Ich zittere nicht!«, erwiderte der Oberst kalt. »Ich tue lediglich das, was jeder mit gesundem Menschenverstand tun muss: Ich bringe das Meine in Sicherheit.«

Mister Mompellion trat mit ausgebreiteten Händen einen Schritt auf ihn zu. »Aber denken Sie doch an diejenigen, die Sie damit in Gefahr bringen …«

Der Oberst trat zurück, um den Abstand zum Pfarrer einzuhalten. Seine Stimme nahm einen langsamen und beiläufigen Plauderton an, als wolle er sich über den beschwörenden Ton seines Gegenübers lustig machen: »Ich glaube, Sir, dass wir diese Unterhaltung schon einmal geführt haben, genau hier in diesem Herrenhaus, damals allerdings in einem rein hypothetischen Zusammenhang. Nun ja, mittlerweile ist diese Hypothese eingetreten, und ich beabsichtige das zu tun, was ich für diesen Fall vorausgesagt hatte. Damals habe ich gesagt, und ich sage es wieder, dass mein Leben und das meiner Familie für mich weitaus wichtiger ist als irgendein entferntes Risiko für irgendwelche Fremde.«

Aber der Herr Pfarrer gab sich noch nicht geschlagen. Er trat auf den Herrn Oberst zu und ergriff seinen Arm. »Nun, wenn Sie schon nicht die Not Fremder rührt, dann bedenken Sie wenigstens, wie viel Gutes Sie hier tun könnten, unter jenen Dorfbewohnern, die Sie kennen und zu Ihnen aufschauen. In Zeiten großer Gefahr wird es vieles zu regeln geben. Sie sind weithin für Ihren Mut berühmt. Warum dem nicht ein neues Kapitel hinzufügen? Sie haben Männer in die Schlacht geführt.

Im Gegensatz zu mir haben Sie das Talent, uns alle durch diese Krise zu lenken. Obendrein bin ich noch neu an diesem Ort. Ich kenne diese Leute nicht so, wie Sie und Ihre Familie sie kennen, Sie, die hier seit vielen Generationen ansässig sind. Ihr kluger Rat über das Vorgehen im Laufe der weiteren Ereignisse könnte mich vieles lehren. Und während es meine Pflicht ist, diesen Menschen so gut wie möglich Trost zu spenden, würde selbst die kleinste Geste von Ihnen und Ihrer Frau und von Miss Bradford unendlich viel mehr bedeuten.«

Droben auf dem Treppenabsatz unterdrückte Elizabeth Bradford ein höhnisches Schnauben. Ihr Vater warf einen Blick zu ihr hinauf. Beide wirkten amüsiert. »Wie schmeichelhaft!«, rief er mit zynischem Grinsen. »Wirklich, das ist zu viel der Ehre. Mein lieber Sir, ich habe meine Tochter nicht erzogen, damit sie für den Pöbel die Amme spielt. Und wenn ich mich danach gesehnt hätte, den Mühseligen und Beladenen beizustehen, hätte ich es Ihnen gleichgetan und die Priesterweihe empfangen.«

Mompellion ließ den Arm des Oberst fallen, als hätte er etwas Verdorbenes in der Hand, was er eben erst bemerkt hatte. »Um Mensch zu sein, muss man kein Priester sein!«

Er drehte sich um und schritt zum Kamin, wo die beiden Prachtschwerter von Oberst Bradford wie ein schimmernder Bogen über dem Sims hingen. Obwohl der Herr Pfarrer noch immer den Brief des Oberst in der Hand hielt, schien er ihn vergessen zu haben. Als er die Hand nach dem Kaminsims ausstreckte und sich schwer dagegenlehnte, zerknitterte das Pergament. Mühsam rang er um Selbstbeherrschung. Von meinem Versteck aus konnte ich teilweise sein Gesicht erkennen. Er atmete tief ein. Beim Ausatmen schien er mit bloßer Willenskraft die tiefen Falten über seinen Brauen und neben dem Mund zu tilgen. Es war, als sähe man jemandem beim Anlegen einer Maske zu. Als er dem Kamin den Rücken zuwandte und wieder dem Oberst ins Gesicht schaute, wirkte seine Miene ruhig und gelassen.

»Wenn Sie schon unbedingt Frau und Tochter wegschicken müssen, dann beschwöre ich wenigstens Sie inständig, hier zu bleiben und Ihre Pflicht zu tun.«

»Maßen Sie sich nicht an, mir zu sagen, was meine Pflicht ist! Ich schreibe Ihnen ja auch nicht die Ihre vor, auch wenn ich sagen möchte, dass Sie gut daran täten, sich mehr um Ihre fragile Frau zu kümmern.«

Bei dieser Bemerkung wurde Mompellion rot. »Was meine Frau betrifft, Sir, so will ich wohl eingestehen, dass ich sie schon beim ersten Verdacht meinerseits auf das, was wir nun tatsächlich wissen, beschworen habe, diesen Ort zu verlassen. Aber sie lehnte mit der Bemerkung ab, es sei ihre Pflicht zu bleiben. Und mittlerweile sagt sie, ich müsse mich darüber freuen, da ich von anderen wohl kaum etwas verlangen könne, was ich meinen nächsten Anverwandten nicht auferlegt hätte.«

»So, so. Offensichtlich sind falsche Entscheidungen für Ihre Frau nichts Neues. Sie hatte ja schon durchaus Gelegenheit, sich darin zu üben.«

Diese Beleidigung war so grob, dass ich heftig schlucken musste, um nicht hörbar nach Luft zu schnappen. Trotz geballter Fäuste gelang es Mompellion, seinen gleichmütigen Tonfall beizubehalten. »Vielleicht haben Sie Recht. Aber ebenso ist es meine Überzeugung, dass Sie mit Ihrer heutigen Entscheidung einen Fehler begehen, und zwar einen schrecklichen. Wenn Sie das tun, wird man den Namen Ihrer Familie in den Gassen und Katen auszischen. Die Menschen werden Ihnen nicht verzeihen, dass Sie sie im Stich gelassen haben.«

»Und Sie glauben, mich interessiert die Meinung von ein paar verschwitzten Bergleuten samt ihren rotznäsigen Bälgern?«

Mister Mompellion sog kurz hörbar die Luft ein und trat einen Schritt vor. Der Oberst war ein stämmiger Mann, aber Mister Mompellion war einen ganzen Kopf größer. Obwohl ich von meinem engen Versteck aus sein Gesicht nicht mehr sehen konnte, kann ich mir gut vorstellen, dass er genauso wild entschlossen ausgesehen haben muss wie damals auf dem Hügelkamm in jener Nacht, als Anys ermordet wurde. Der Oberst hob die Hand mit der Handfläche nach unten zu einer beschwichtigenden Geste.

»Schauen Sie, Mann, glauben Sie nicht, ich würde Ihre derzeitigen Bemühungen herabsetzen. Dafür verdienen Sie jedes Lob. Ich behaupte auch nicht, dass Sie etwas falsch machen, wenn Sie Ihrer Gemeinde das Gefühl geben, sie täte etwas Heiliges, indem sie hier bleibt. Im Gegenteil. Ich finde, das haben Sie sogar sehr gut gemacht. Da ihnen keine andere Wahl bleibt, verdienen sie auch ein wenig Trost.«

Da ihnen keine andere Wahl bleibt. Ich spürte, wie ich aus der Höhe taumelte, auf die mich Mister Mompellions Predigt heute Morgen gehoben hatte. Welche Wahl hatten wir letztlich? Wenn meine Kinder noch gelebt hätten, hätte es vielleicht etwas zu entscheiden gegeben. Vielleicht hätte ich mich gezwungen gefühlt, über eine Flucht mit ungewissem Ziel nachzudenken. Und doch zweifelte ich daran. Wie hatte Aphra zu meinem Vater gesagt? Es ist nicht leicht, ein sicheres Dach über dem Kopf und die Aussicht auf Brot gegen die Gefahren auf offener Straße einzutauschen, zumal wenn der Winter einsetzt und man an seinem Ende kein klares Ziel sieht. Die Bewohner in dieser Gegend mögen Landstreicher zu keiner Jahreszeit und jagen sie rasch wieder fort. Wie viel weniger würde man uns willkommen heißen, wenn sich erst mal herumspräche, woher wir kamen? Die Flucht vor der einen Gefahr hätte meine Kinder noch viel größeren ausgesetzt. Aber da meine beiden Buben auf dem Kirchhof lagen, hatte ich gar keinen Grund zum Fortgehen mehr. Die Pest hatte mir bereits das Wichtigste geraubt, was ich zu verlieren hatte. Jetzt begriff ich auch, dass mein Schwur zu bleiben, eigentlich kaum der Rede wert war. Ich würde bleiben, weil ich nur noch wenig Überlebenswillen hatte und außerdem keinen Platz, wohin ich gehen sollte.

Der Oberst hatte sich vom Pfarrer abgewandt und schaute wieder in seine Bibliothek, wo sein Blick mit gespieltem Desinteresse über seine Bücherregale wanderte, während er weitersprach: »Hingegen habe ich, wie Sie schon so scharfsinnig angemerkt haben, tatsächlich eine Wahl. Und obendrein die Absicht, sie zu nutzen. Würden Sie mich nun entschuldigen? Sie werden verstehen, dass ich noch zahlreiche andere Entscheidungen treffen muss, zum Beispiel, ob ich den Dryden einpacken soll oder den Milton. Vielleicht den Milton? Dryden hat ehrgeizige Themen, aber seine Verse werden doch immer langweiliger, finden Sie nicht auch?«

»Oberst Bradford!«, donnerte Mompellions Stimme durchs Herrenhaus. »Genießen Sie Ihre Bücher! Und zwar jetzt! Denn ein Totenhemd hat keine Taschen! Vielleicht ist Ihnen das Urteil dieses Dorfes egal, aber wenn Sie schon diese Menschen nicht schätzen, so gibt es doch einen, der es tut. Er liebt sie über alle Maßen. Und seien Sie versichert: Er ist es, dem Sie Rede und Antwort werden stehen müssen. Ich nehme das Jüngste Gericht Gottes nicht leichtfertig in den Mund, aber über Sie sage ich, dass sich die Kelche Seines Zornes auftun und schreckliche Rache daraus ergießen wird! Fürchten Sie sie, Oberst Bradford! Fürchten Sie eine weit schlimmere Strafe als die Pest!«

Daraufhin drehte er sich um, stürmte zurück in den Hof, sprang auf Anteros und galoppierte davon.

 

Auf den Straßen gab es kein Gezischel, als die Bradfordsche Kutsche zum Dorf hinausfuhr. Die Männer zogen ihre Mützen, und die Frauen knicksten, wie wir es immer getan hatten, aus dem einfachen Grunde, weil wir genau das immer so gemacht hatten. Mit Ausnahme des Kutschers, der nach dem Eintreffen in Oxford entlassen werden sollte, hatten die Bradfords keinen einzigen ihrer Bediensteten behalten. Ja, Oberst Bradford hatte sogar noch am selben Morgen zwei von den Hancock-Söhnen, die noch nie für ihn gearbeitet hatten, zur Bewachung des verrammelten und verriegelten Herrenhauses gedungen. Als Grund dafür hatte er ihnen mitgeteilt, er traue keinem seiner Leute, die keine Zufluchtsstätte hatten, neben der Bradfordschen Kutsche auf die Knie fielen, die Säume der Reisemäntel der Damen ergriffen und dem Oberst die Stiefelspitzen küssten. Anscheinend waren Mistress Bradford und ihre Tochter im Fall ihrer Zofen aber zum Einlenken bereit und wollten vom Oberst wissen, ob diese zwei, drei Frauen nicht doch in den Ställen oder im Brunnenhaus unterschlüpfen könnten, aber Oberst Bradford verweigerte ihnen selbst das.

Und so geschah es wie üblich: Wer am meisten hat, gibt am wenigsten, während die mit dem wenigen bereit sind zu teilen. Bei Anbruch der Nacht waren alle Bradfordschen Bediensteten bei der einen oder anderen Familie im Dorf untergekommen. Mit einer Ausnahme: Maggie und Brand, der Küchenjunge. Beide kamen aus Bakewell. Da sie an den von uns inzwischen so genannten Sonntagseid nicht gebunden waren, beschlossen sie, dorthin weiterzureisen und zu sehen, ob ihre Blutsverwandten sie aufnähmen. Der Herr Pfarrer hat ihnen Begleitbriefe mitgegeben, wie er sie an alle Dörfer in der nächsten Umgebung geschrieben hatte. Denn alle sollten so rasch wie möglich ganz genau erfahren, wie wir weitermachen wollten. Aber das war auch schon fast alles, was sie mitnahmen. Nachdem sich Maggie in aller Eile ihre Truhe gesichert hatte, beschloss sie nun, sie doch hier zu lassen. Am Ende würden noch ihre Verwandten in Bakewell darin verborgene Pestsaaten befürchten. Maggie und Brand gingen zu Fuß fort, die untersetzte Frau am Arm des mageren Jungen. Als sie sich am Grenzstein winkend umdrehten, haben vermutlich nicht wenige im Dorf sie beneidet.

Und so machte sich der Rest von uns daran, das Leben im frei gewählten, weiten, grünen Kerker zu erlernen. In jener Woche wurde es wieder wärmer, und der Schnee schmolz zu einem klebrigen Brei. Normalerweise hätte ein solches Tauwetter kräftiges Hufegetrappel auf die Straßen gebracht, wenn Fuhrleute, die der Schnee aufgehalten hatte, verspätete Lieferungen nachholten und sich Reisende auf den Weg machten. Aber diesmal brachte das Tauwetter kein solch geschäftiges Treiben mit sich. Allmählich wurden uns die Folgen unseres Eides immer klarer.

Es ist schwer zu sagen, warum mich dieser Eid so belastete, da ich mich höchstens ein halbes Dutzend Mal im Jahr über jene Grenzen hinauswagte, auf die wir uns inzwischen beschränkt hatten. Und doch ertappte ich mich an jenem Montagmorgen dabei, wie ich Richtung Grenzstein spazierte, der am Rande einer Hochwiese lag, genau an jenem Punkt, wo ein vorspringendes Landstück plötzlich bis zum Dorf Stoney Middleton hügelab fiel. Vom vielen Begehen war der schmale Weg dort tief ausgetreten. Als Kinder waren wir am liebsten da hinuntergerannt, wobei wir oft ins Stolpern gerieten und drunten als schlammbeschmiertes Knäuel ankamen. Gar viele Male hatte ich den langen, schwierigen Aufstieg in dem Bewusstsein zurückgelegt, dass mir wegen meines fleckigen und zerknitterten Kittels eine Tracht Prügel drohte.

Jetzt stand ich einfach da und betrachtete sehnsüchtig den verbotenen Pfad. Der Sturm hatte die Buchen ihrer rötlichen Blätter und die Birken ihrer gelb gefleckten beraubt. Da lagen sie nun, glitschig vom geschmolzenen Schnee, in hohen Haufen am Wegesrand und moderten vor sich hin. Am Stein war der Steinmetz Martin Milne bei der Arbeit und bohrte Löcher für unsere seltsame neue Art des Warenaustausches hinein. Es war ein stiller Morgen. Laut fiel der Vorschlaghammer auf den Meißel, sodass es den ganzen Weg bis zum Dorf zurück wie eine Glocke hallte. Angelockt durch dieses Geräusch kamen mehrere Leute herbei, um der Arbeit zuzuschauen. Weit drunten im Tal konnten wir den wartenden Fuhrmann sehen, dessen Maultier mit gesenktem Kopf graste. Offensichtlich hatten die Briefe des Herrn Pfarrers ihr Ziel erreicht, denn der Fuhrmann würde erst auf das verabredete Signal hin näher kommen. Auch Mister Mompellion war da und gab Martin Milne Anweisungen. Als ihm die Löcher genügend tief erschienen, füllte er jedes mit Essig und legte die Münzen hinein. Die erste Lieferung bestand aus den üblichen Dingen: Mehl und Salz und ähnliche Grundnahrungsmittel. Bei der nächsten würden Sachen hinzukommen, die der Herr Pfarrer nach den Wünschen von Dorfbewohnern auf eine Liste geschrieben hatte, die neben dem Stein hinterlegt wurde. Dazu kam noch eine besondere Liste mit den Namen der Verstorbenen. Denn in den umliegenden Dörfern wohnten viele Freunde und Verwandte, die unbedingt wissen wollten, wie es uns erging. Auf der Liste jenes ersten Tages standen drei Namen: die Gastwirtstochter Martha Bandy sowie die Geschwister Jude und Faith Hamilton, die letzten Folterer der Gowdies, die neben ihnen in die Erde gelegt wurden.

Als alles fertig war, winkte Mister Mompellion zum Fuhrmann hinunter. Dann zogen wir uns alle in sichere Entfernung zurück, während der Mann sein Lasttier den Abhang hinaufführte. Er entlud es so rasch wie möglich, nahm das Geld und die Listen und winkte dann zu uns zurück. »Unsere Gebete und unser Segen seien mit euch allen!«, schrie er. »Gott vergelte euch eure Güte!« Damit lenkte er das Maultier wieder Richtung Abhang und stieg hinauf. Wir standen da und schauten zu, wie sich das Tier vorsichtig den Pfad entlangbewegte, bis zu der Stelle, wo der Vorsprung plötzlich abbrach. Immer leiser klirrte das Geschirr, bis sie die Stelle erreichten, wo der Weg flach ausläuft. Dort beschleunigten beide ihren Schritt und trabten weiter. Schließlich entzogen die grauen Häuser von Stoney Middleton sie unseren Blicken.

Neben mir seufzte Michael Mompellion. Als er merkte, dass wir alle reihum bedrückt wirkten, nahm er sich zusammen, lächelte und sagte so laut, dass es alle hören konnten: »Seht ihr? Dieser einfache Mann hat uns seinen Segen gegeben, und ihr könnt sicher sein, dass ähnliche Gebete in den umliegenden Ortschaften auf den Lippen aller liegen. Und sicher wird Gott all diese Gebete erhören und uns Seine Gnade schenken!« Doch er blickte nur in verhärmte und ernste Gesichter, denn jeder von uns war sich der Tragweite unserer Entscheidung wohl bewusst. Während wir uns auf den Rückweg zum Dorf machten, ging er von einem kleinen Grüppchen zum nächsten. Nach einem Gespräch mit ihm schienen die meisten ein wenig mehr Mut zu fassen.

So erreichten wir die Dorfstraße. Da in Kürze mein Arbeitstag im Pfarrhaus begann, ging ich mit Mister Mompellion weiter. Elinor Mompellion begrüßte uns schon mit ihrem Tuch um die Schultern an der Türe. Offensichtlich wollte sie unbedingt weg. Sie habe mich, meinte sie, schon erwartet, da sie etwas zu erledigen habe, wozu sie meiner Hilfe bedürfe. Noch ehe der Herr Pfarrer fragen konnte, worum es denn gehe, nahm sie mich ungeduldig beim Arm und schob mich fast den Weg hinunter.

Mistress Mompellion ging immer ziemlich schnell, aber heute rannte sie fast. »Randoll Daniel war heute Morgen hier«, sagte sie. »Seine Frau liegt in den Wehen. Da es die Gowdies nicht mehr gibt, wusste er nicht, wo er Hilfe für sie suchen sollte. Ich habe ihm erklärt, wir kämen direkt dorthin.«

Bei diesen Worten wurde ich blass. Meine eigene Mutter starb im Kindbett, als ich vier Jahre alt war. Das Ungeborene lag quer, und sie hatte vier Tage lang Wehen, währenddessen sich Mem Gowdie vergeblich bemühte, seine Lage zu ändern. Als schließlich meine Mutter vor Erschöpfung bewusstlos wurde, war mein Vater nach Sheffield geritten und mit einem Bader zurückgekehrt, mit dem er als Junge zur See gefahren war. Der von Wind und Salz gegerbte Mann wirkte entsetzlich auf mich. Ich konnte nicht glauben, dass sich seine harten Hände dem zarten Körper meiner Mutter nähern durften.

Er benutzte einen Dachdeckerhaken. Um seine eigene Angst zu dämpfen, hatte mein Vater so viel Grog getrunken, dass er nicht geistesgegenwärtig genug war, mich vom Zimmer fern zu halten. Als meine Mutter, vor Schmerzen brüllend, wieder zu Bewusstsein kam, kam ich hereingerannt. Mem schnappte mich und trug mich fort, aber zuvor sah ich noch das abgerissene Armchen meiner tot geborenen Schwester. Ich sehe es noch immer vor mir: das blasse, faltige Fleisch, die winzigen, makellosen Finger, die sich wie eine kleine Blume öffnen und nach mir greifen. Noch heute kann ich dieses blut- und kotbefleckte Schreckensbett riechen. Und die entsetzliche Angst davor hat mich bei jeder meiner eigenen Entbindungen begleitet.

Schon wollte ich Elinor Mompellion erklären, dass ich nicht mit ihr gehen könne und vom Hebammendienst keine Ahnung hätte, aber sie fiel mir einfach ins Wort. »Egal, wie wenig du davon verstehst, es ist jedenfalls mehr als ich, die weder je geboren noch irgendwelchen Tieren auf die Welt geholfen hat. Aber du hast das getan, Anna. Du wirst wissen, was zu tun ist, und ich werde dir dabei helfen, so gut es geht.«

»Mistress Mompellion! Gebären ist eine Sache! Geburtshilfe aber etwas ganz anderes. Und ein Lamm ist auch keine lebendige Menschenseele. Sie wissen ja gar nicht, worum Sie mich bitten. Die arme Mary Daniel verdient Besseres als uns beide!«

»Das ist zweifellos wahr, Anna, aber wir sind alles, was sie hat. O ja, vielleicht wüsste Mistress Hancock nach ihren sieben Geburten noch ein oder zwei Dinge, aber gestern ist ihr Zweitgeborener krank geworden. Ich glaube nicht, dass man sie bitten kann, sein Krankenbett zu verlassen. Außerdem halte ich es auch nicht für klug zu riskieren, dass frische Pestsaat in ein Geburtszimmer getragen wird. Also werden wir unser Bestes für Mary Daniel tun, die eine junge, gesunde Frau ist und mit Gottes Gnade leicht gebären wird.« Sie klopfte auf den Deckelkorb an ihrer Seite. »Sollte sie große Schmerzen leiden, so habe ich hier etwas Mohnsaft.«

Daraufhin schüttelte ich den Kopf. »Mistress Mompellion, meiner Ansicht nach sollten wir ihr keinen Mohnsaft geben, denn Wehen heißen nicht umsonst so. Eine Frau muss ihr Baby unter Schmerzen gebären. Wir wären übel dran, wenn sie einen Mohnrausch bekäme.«

»Siehst du, Anna, schon hast du mir geholfen, und Mary Daniels dazu! Du weißt eine ganze Menge mehr, als du dir zutraust.« Inzwischen waren wir bei der Kate der Daniels angekommen. Randoll Daniel hatte uns schon besorgt erwartet und öffnete die Türe, noch ehe wir angeklopft hatten. Mary lag allein auf einer Pritsche, die man aus ihrem Schlafraum im Speicher heruntergeschafft hatte. Aus Angst vor der Pest hatte Randoll alle Nachbarinnen und Freundinnen weggeschickt, die sich unter normalen Umständen im Zimmer gedrängt hätten. Die Läden waren geschlossen, über dem Eingang hing eine Decke. Dadurch war es im Zimmer sehr düster. Erst nachdem sich meine Augen einige Zeit umgewöhnt hatten, konnte ich erkennen, dass Mary mit dem Rücken an der Wand auf der Pritsche saß und die Knie an die Brust gezogen hatte. Sie war ganz still. Nur die dicken Schweißperlen über ihren Augenbrauen und die Adern, die an ihrem Nacken wie Schnüre hervortraten, verrieten, dass wir sie inmitten einer heftigen Wehe angetroffen hatten.

Angesichts des kühlen Tages hatte Randoll ein kräftiges Feuer angezündet. Elinor Mompellion wies ihn an, Wasser aufzusetzen. Ich bat ihn außerdem noch um frische Butter, deren Geruch mir noch von meiner eigenen ersten Entbindung in Erinnerung war. Als wir beim zweiten Mal keine hatten, hatte Mem Gowdie um das Fett eines frisch geschlachteten Hühnchens gebeten. Nach Toms Geburt hatten er und ich eine Woche lang nach Huhn gestunken. Sie hatte das Fett zum Massieren und Dehnen meiner Öffnung benutzt, damit sein großer Kopf leichter hindurchkam, ohne dass ich einriss. Ich hoffte, im Dämmerlicht würde Mary nicht sehen, dass meine Hände zitterten. Aber als ich näher trat, schloss sie die Augen und zog sich noch mehr in sich selbst zurück. Elinor Mompellion war meine Angst nicht entgangen. Zur Beruhigung legte sie mir eine Hand auf die Schulter, während ich mich hinkniete und die Decke von Marys Knien hob. Ganz sachte legte ich eine flache Hand auf jedes Knie. Als Mary spürte, was ich von ihr wollte, ließ sie sich zur Seite fallen. Murmelnd verfiel ich in den Singsang von Anys, obwohl ich seine Bedeutung nicht verstand: »Mögen die sieben Gebote dieses Werk leiten.« Elinor Mompellion warf mir einen merkwürdigen Blick zu, aber ich achtete nicht darauf. »Möge es meinen Großmüttern, den Urahnen, gefallen. So sei’s denn.«

Mary Daniel war eine kleine, kräftige Frau um die zwanzig. Ihr Fleisch fühlte sich unter meinen Händen fest und gesund an. Wie gesagt, in ein werfendes Mutterschaf hineinzugreifen ist eine Sache, das Eindringen in den Körper einer lebenden Frau etwas gänzlich anderes. Ich holte tief Luft und dachte daran, wie wichtig es für mich in meinem eigenen Geburtszimmer gewesen war, dass Mem und Anys im Bewusstsein ihres eigenen Könnens so gelassen gewirkt hatten. Ich war weder gelassen noch selbstbewusst und besaß keinerlei Fähigkeiten. Aber als meine Finger Marys Inneres berührten, schien mir ihr Fleisch so vertraut wie mein eigenes. Elinor Mompellion leuchtete mir mit einer Kerze. Trotzdem arbeitete ich nach Gefühl und nicht nach Augenschein. Was mir meine Finger erzählten, war zuerst gut und dann schlecht. Von jener festen Pforte zu Marys Schoß am Ende ihres Eingangs war nur noch ein winziger Rand spürbar. Glücklich raunte ich ihr zu, sie habe das Schlimmste schon überstanden. Daraufhin stöhnte sie. Es war der erste Laut, den wir von ihr hörten. Ein leises Lächeln huschte über ihr Gesicht, verwandelte sich aber auf der Stelle in ein Stirnrunzeln, als sich die nächste Wehe aufbaute. Jetzt hielt ich meine Hände still, und Elinor Mompellion streichelte sie, bis es vorbei war.

Was mich beunruhigte lag hinter jenem wulstigen Mund, der sich ständig zusammenzog. Eigentlich sollte ich dort einen harten Schädel spüren können, das wusste ich. Stattdessen streckte mir das zur Geburt bereite Kind weiches Fleisch entgegen. Zuerst wusste ich nicht, ob ich eine Pobacke, den Rücken oder einen Teil des Gesichts spürte. Ich zog meine Hände heraus und redete Mary leise zu, sie solle möglichst versuchen herumzugehen. Wenn wir sie zum Gehen bewegen könnten, dachte ich mir, würde sich vielleicht auch das Kind in eine bessere Lage bewegen. Mistress Mompellion stützte sie auf der rechten Seite, während ich die linke übernahm. Während wir in dem kleinen Zimmer auf und ab gingen, begann Mistress Mompellion dazu im Takt ein Lied in einer mir unbekannten Sprache zu singen. »Das kommt aus Cornwall«, meinte sie. »Meine Amme stammt dorther. Sie hat es mir als Kind immer vorgesungen.«

Die Zeit verging, eine Stunde, vielleicht auch zwei oder drei. In jenem dämmrigen Raum spürte man weder den hellen Morgen noch den Mittag, der sachte in den Nachmittag hinüberglitt. Der Lauf der Zeit wurde einzig und allein durch Marys immer heftiger werdende Wehen und jenen Abstand bestimmt, der zwischen den Schmerzen lag. Als sie schließlich erschöpft auf die Pritsche sackte, wartete ich, bis eine Wehe abklang.

Kaum war es so weit, drangen meine Finger rasch in sie ein. Der Muttermund war verschwunden, der Schoß weit offen. Jetzt gab es keinen Zweifel mehr: Das Kind lag quer. Eine Panikwelle wollte in mir hochsteigen. Ich musste an den blutigen Dachdeckerhaken denken.

Doch dann geschah etwas Merkwürdiges. Es war, als stünde die trotzige Anys neben mir und flüstere mir ungeduldig ins Ohr: »Dieser Mann war Schiffsbader. Er zog Zähne und amputierte Gliedmaßen. Von weiblichen Körpern verstand er nichts. Im Gegensatz zu dir. Du kannst das, Anna. Gebrauche deine Mutterhände.«

Daraufhin betastete ich sachte, ganz sachte den winzigen Körper dieses ungeborenen Kindes, seine Gelenke und Biegungen. Vielleicht konnte ich etwas erkennen. Einen Fuß brauchte ich, so schien es mir. Wenn es mir gelänge, die Füße zurechtzurücken, würden doch sicher die Pobacken an die richtige Stelle schlüpfen. Und Pobacken konnte man gut festhalten. Ich fand etwas, was sich wie ein Fuß anfühlte, war mir aber nicht sicher, ob es sich nicht doch um eine Hand handelte. Eine Hand war das Letzte, was ich wollte. Wenn ich aus Versehen an einer Hand zog, würde die Schulter nur im gebrochenen Zustand austreten können, indem sich ein kaputtes Knochenstück über das andere schob. Schon der Gedanke daran war mir unerträglich. Aber wie konnte ich sicher sein, dass das, was ich spürte, ein Fuß war? Zwischen den kleinen Stupsfingern eines Neugeborenen und seinen fleischigen Zehenknubbeln ist nicht viel Unterschied. Elinor Mompellion sah, wie ich die Stirn runzelte, und spürte mein Zögern.

»Was ist los, Anna?«, fragte sie mit leiser Stimme. Ich erklärte ihr meine Zwickmühle. »Was du da unter deiner Hand hast – taste nach dem fünften Glied«, meinte sie. »Und jetzt versuche, es abzubiegen. Steht es wie ein Daumen gegenüber oder nicht?«

»Nein!«, sagte ich, wobei ich fast schrie. »Es ist ein Zeh!« Zuversichtlich zog ich jetzt. Das Kind bewegte sich. Ein wenig. Gemeinsam mit den Wehen in Marys Körper gab ich langsam nach und zog wieder. Vorsichtig. Nachgeben und ziehen. Mary war stark und hielt die Schmerzen gut aus, die inzwischen ununterbrochen auf sie einstürmten. Als sich die Füßchen endlich durch die Öffnung des Schoßes schoben, änderte sich das Tempo. Alles drängte voran. Da ich wusste, dass die pulsierende Nabelschnur auf keinen Fall gequetscht werden durfte, zwängte ich meine Hand mit größter Mühe an den Pobacken vorbei und schob sie zurück. Mary schrie und zitterte vor Qual. Ich spürte, wie mir kochend heißer Schweiß über den Rücken lief. Innerhalb der nächsten Minuten wäre das Kind da, dessen war ich mir sicher. Ich hatte entsetzliche Angst, der Kopf würde sich nach hinten biegen und damit drinnen feststecken. Deshalb tastete ich nach dem winzigen Mund und zwängte sachte einen Finger hinein, um bei der nächsten Wehe das Kinn unten und den Kopf gebeugt zu halten. Mary wand sich schreiend. Ich schrie zurück und beschwor sie zu pressen. Noch fester. Als sie unmittelbar vor der letzten Anstrengung aufgab, war ich verzweifelt, denn ich spürte, wie das Kind wieder hineinrutschte. Endlich schoss eine blutig-braune Masse heraus, und da war er – ein kleiner glitschiger Junge. Und einen Augenblick später brüllte auch er aus vollem Halse.

Als Randoll seinen gesunden Sohn hörte, platzte er durch die Decke vor der Türe. Wie eine Motte flatterten seine großen Bergmannshände vom feuchten Kinderkopf zur erhitzten Wange seiner Frau und wieder zurück, als wüsste er nicht, wen er am liebsten berühren wollte. Während ich die fleckigen Tücher einsammelte, stieß Elinor die Fensterläden auf. Erst im Licht des schwindenden Tages dämmerte es mir, dass wir die Nabelschnur nicht durchtrennt hatten. Während Mary die glänzende Nachgeburt ausstieß, schickten wir Randoll um ein Messer und ein Stück Faden. Elinor Mompellion machte den Schnitt und band sie ab. Bei einem Blick auf die zerzauste und blutbespritzte Frau konnte ich mir vorstellen, dass ich selbst noch schlimmer aussah. Wir lachten. Und eine Stunde lang feierten wir mitten in dieser Todeszeit ein Leben.

Aber noch auf dem Höhepunkt dieser Freude wusste ich, ich würde das Neugeborene an der Brust seiner Mutter zurücklassen und in meine eigene stumme und leere Kate zurückkehren müssen. Und als einziges Geräusch würde mich in meiner Phantasie das Echo der Kinderschreie meiner beiden Buben begrüßen. Ehe wir uns von den Daniels verabschiedeten, suchte ich deshalb in Mistress Mompellions Deckelkorb nach jener Mohnphiole. Wie ein Gewohnheitsdieb schloss ich verstohlen meine Hand darum und vergrub sie in den Tiefen meines Kleiderärmels.