Lethes Mohn

 

Wie stürzen wir einen Hügel hinab? Ein Fuß tritt unvorsichtigerweise auf einen lockeren Stein oder eine lose Grassode, wir verdrehen uns den Knöchel oder knicken ein, und urplötzlich geht’s dahin. Wir verlieren die Kontrolle über unseren Körper und finden uns schließlich auf allen vieren ziemlich unrühmlich drunten wieder. Dieser Vergleich scheint tatsächlich auch auf den Sündenfall zuzutreffen. Denn auch am Beginn der Sünde steht lediglich ein Fehltritt, und plötzlich stürzen wir einem ungewissen Halt entgegen. Nur eines ist bei diesem Absturz gewiss: Drunten werden wir besudelt und verschrammt ankommen und unseren ehemaligen Standort nur mit größter Mühe wieder erreichen können.

Wie die meisten Knappen hatte auch Sam viele Unfälle vor dem einen, der ihn das Leben kostete. Einmal ließ er beim Erweitern einer Erzader einen großen Schwarzstein fallen, der ihm beinahe den Knöchel zerquetscht hätte. Mem Gowdie hatte den zersplitterten Knochen so kunstvoll wieder eingerichtet, dass er später zum Erstaunen aller, die den Bruch gesehen hatten, wieder ohne Hinken laufen konnte. Allerdings war das Einrichten mühsam gewesen. Da sie dabei viele Knochensplitter bandagieren hatte müssen, hatte sie sich von Anys einen Mohnextrakt holen lassen, damit er ihr Abtasten besser ertrug. Damals erzählte sie mir, sie habe den von ihr verwendeten Mohn sechs Wochen in Grog ziehen lassen. Sam, der außer einem kleinen Schluck Bier nichts trank, würgte nur widerwillig die fünf Esslöffel hinunter, die sie für nötig befand.

Später meinte er, danach habe er so süß geträumt wie noch nie in seinem Leben.

Kaum einen Tag, nachdem Elinor Mompellion und ich das Kind der Daniels entbunden hatten, reute mich schon mein Diebstahl. Ich nahm das gestohlene Fläschchen Mohn ins Pfarrhaus mit und wollte es irgendwie wieder in den Deckelkorb fallen lassen, ehe man sein Verschwinden bemerkte. Aber jedes Mal, wenn sich die Gelegenheit ergab, versagte mein Wille. Schließlich brachte ich es wieder mit nach Hause und versteckte es schuldbewusst in einem Tontopf. Ich hatte weder sechs Wochen Zeit noch etwas Grog für einen Aufguss. Stattdessen starrte ich in der Nacht, als Maggie Cantwell starb, die kleine gelbbraune Harzscheibe an und überlegte, welche Dosis wohl nötig wäre, um ein paar süße Träume zu gewähren. Ich zwickte ein klebriges Bröckchen davon ab und steckte es mir in den Mund. Es war zum Würgen bitter. Schließlich halbierte ich die Scheibe, formte das Stück zu einer Pastille, umhüllte sie gänzlich mit Honig und spülte alles mit einem Schluck Bier hinunter. Dann schürte ich das Feuer und starrte in seinen schwachen Lichtstreifen.

Die Zeit verwandelte sich in ein Seil, das sich träge zu einer Spirale aufdröselte. Der eine Strang verbreitete sich zu einer schwungvollen Kurve, auf der ich mich so leicht wie ein Blatt im Windhauch dahintreiben lassen konnte. Der Zephir, der mich trug, war mild und warm, sogar als ich auf seinen Schwingen hoch über den White Peak aufstieg, wo ich die graue Wolkendecke durchstieß und an einem Ort herauskam, wo die Sonne so blendete, dass ich die Augen schließen musste. Irgendwo heulte eine Eule. Immer länger schien der Ton zu werden. Er dehnte sich zu einem endlos vollen Klang, wie das Horrido eines Jagdhorns, aus dem zwanzig Hörner wurden, die alle gleichzeitig in schönster Harmonie ertönten. Die Sonne brach sich glitzernd in den aufgereihten Instrumenten.

Und dann konnte ich die Noten sehen, die wie goldene Regentropfen herunterfielen. Wo sie den Boden berührten, zerstoben sie nicht, sondern sammelten sich und stiegen wieder übereinander empor. Wände erhoben sich und himmelhohe Bogen, formten sich zu einer schimmernden Stadt aus Fabeltürmen, von denen der eine aus dem nächsten wuchs, wie Knospen, die sich aus tausenderlei Stängeln entfalteten. Ganz weiß und golden war diese Stadt, die sich in einem breiten Bogen an einem saphirblauen Meer hinzog. Beim Hinunterschauen sah ich mich selbst mit geblähtem Umhang durch das Straßenlabyrinth wandern. Auch meine Kinder, glückliche kleine Gestalten, die links und rechts von mir herumtollten, trugen Umhänge und klammerten sich an meine Hände. Von den hohen weißen Mauern strahlte glühend die Sonne und pochte und dröhnte wie ein Glockenklöppel.

Das langsame Geläut unserer Kirchenglocke weckte mich. Wieder einmal galt es den Toten. Ein blasser wintriger Lichtfinger schien mir durch ein frostbeschlagenes Fenster direkt ins Gesicht, das sich gegen den rauen Steinfußboden presste. Die ganze Nacht war ich an der Stelle gelegen, wo ich vom Hocker gerutscht war. Von der Kälte tat mir jeder Knochen weh. Ich war so steif, dass ich mich kaum aufrichten konnte. Mein Mund war staubtrocken und fühlte sich an, als hätte ich einen Gallapfel gelutscht. Ich kroch herum, stocherte das Feuer wieder an und wärmte mir mit den griesgrämigen Bewegungen einer Alten eine heiße Gewürzmilch.

Und doch war mein Sinn so heiter wie noch nie seit jenem warmen Tag – ach! Wie lange schien das schon her zu sein –, an dem ich mit den Zehen im Bach gesessen war und Tom gestillt hatte, einen lachenden Jamie neben mir. Der Lichtwinkel verriet mir, dass ich zehn Stunden geschlafen hatte, der erste ungestörte Schlaf, an den ich mich seit langem erinnern konnte. Ich suchte das Bord nach dem restlichen Stück Mohnharz ab und spürte, wie Panik in mir aufstieg, als ich es nicht sofort finden konnte. Steif, wie ich war, tastete ich auf Händen und Knien verzweifelt zwischen den Steinplatten herum, um festzustellen, wohin es gefallen sein könnte. Als meine Hand es zu fassen bekam, fühlte ich mich so erleichtert wie nach einem Freispruch. Vorsichtig legte ich es wieder ins Fläschchen und versteckte es erneut im Tontopf. Schon der Gedanke, dass es dort war und auf mich wartete, erwärmte mich innerlich genauso wie die Milch und das Feuer, das jetzt allmählich meine Knochen auftaute.

Als das Wasser nicht mehr eiskalt war, wusch ich mein Gesicht und zupfte die Nester aus meinem Haar. Gegen das zerknitterte Aussehen meines Kittels konnte ich nicht viel tun, aber wenigstens legte ich einen frischen Kragen um. Eine Gesichtshälfte hatte noch immer Dellen vom Abdruck der Steinplatte. Deshalb rubbelte ich mir fest beide Wangen und hoffte, die kalte Luft würde auf meinem Weg zum Pfarrhaus einen rosigen Schimmer darauf zaubern. Während ich auf die Straße hinaustrat, klammerte ich mich an den letzten Hauch von betäubter Heiterkeit, wie ein Mensch, der in einen Brunnen gefallen ist und sich nun mit aller Kraft an den Fäden eines ausgefransten Seils festhält. Doch ich hatte noch keine sechs Schritte getan, als ich wieder in die dunkle Höhle unserer neuen Wirklichkeit fiel.

Sally Maston, das gerade mal fünf Jahre alte Nachbarmädchen, stand mit weit aufgerissenen Augen stumm im Eingang ihrer Kate und hielt sich den blutigen Bauch. Sie hatte ein dünnes Nachthemdchen an, auf dessen Vorderseite sich das Blut aus ihrer aufgeplatzten Pestbeule rosenförmig abzeichnete. Ich lief zu ihr hin und nahm sie in die Arme.

»Ist ja gut, ist ja gut. Wo ist deine Mama?«

Ohne eine Antwort sackte sie gegen mich. Ich trug sie in die dämmrige Kate zurück. Das Feuer war über Nacht ausgegangen, der Raum eiskalt. Blass und kalt lag Sallys Mutter schon seit vielen Stunden tot auf einer Pritsche. Wo ihre Hand leblos vom Lager gefallen war, lag Sallys Vater neben seiner Frau auf dem Boden, Hand in Hand. Er hatte Fieber und rang mühsam nach Atem. Sein Mund war mit Blasen verkrustet. Aus einer hölzernen Krippe neben dem Herd drang das matte Wimmern eines Babys.

Konnte es so viel abgrundtiefes Elend an einem einzigen Tag geben? Vor Sonnenuntergang hatte die Heimsuchung sage und schreibe vier Familien getroffen. Die Mompellions taumelten von einer schmerzlichen Szene zur nächsten. Während der Herr Pfarrer mit den Sterbenden betete, ihren letzten Willen niederschrieb und tröstete, wo er konnte, half ich Mistress Mompellion dabei, die Waisen zu versorgen und Verwandte für sie zu finden, die sich ihrer annehmen wollten, was nicht einfach war, zumal wenn das Kind bereits krank war. Wie selbstverständlich hatten wir unsere Last auf diese Weise untereinander aufgeteilt: Der Herr Pfarrer kümmerte sich um alles, was mit dem Sterben zu tun hatte, während seine Frau und ich die Dinge der Überlebenden regelten.

An jenem Tag bestand meine Arbeit darin, die Maston-Kinder zu versorgen. Außerdem richtete ich den Leichnam ihrer Mutter für den Küster her. Für den Vater konnte ich nur wenig tun. Er lag bewusstlos da und atmete kaum. Als der arme, alte John Millstone mit seinem Karren kam und merkte, dass der Mann zwar schon fast tot war, aber eben noch nicht ganz, hörte ich ihn leise vor sich hinfluchen. Ich muss ihm wohl einen strengen Blick zugeworfen haben, denn er riss seine schmutzige Kappe vom Kopf und fuhr sich mit der Hand über die Augenbrauen.

»Ach, Anna Frith, Verzeihung, aber diese Zeiten, die machen aus uns allen Ungeheuer. Liegt doch nur daran, dass ich so hundemüde bin. Kann schon kaum den Gedanken ertragen, den Karrengaul zweimal anzuschirren, wenn einmal auch genügt hätte.« Daraufhin bat ich ihn, sich zu setzen, und ging in meine Kate, um einen Becher Suppe zu holen, denn der Alte arbeitete weit mehr, als seine Kräfte eigentlich erlaubten. Bis ich wieder zurück war und er die Brühe in kleinen Schlucken getrunken hatte, gab es doch noch zwei Leichen für seinen Karren.

Ich lauschte seinen Schritten nach und richtete mich auf eine trostlose Nacht ein, die eigentlich nur eine Totenwache war. Das Kleinkind klammerte sich an den letzten Lebensfunken. Sally warf sich in ihrem Fieber unruhig herum und nieste. Am Abend tauchte Mistress Mompellion unter der Türe auf. Ihr Gesicht war so blass, dass es durchsichtig wie eine frostbeschlagene Fensterscheibe wirkte. »Anna«, meinte sie, »ich komme gerade vom Hancock-Hof. Dort ist heute Nacht ein Totenhaus. Swithin, der jüngste Sohn, ist tot, und Lib liegt schwer krank darnieder. Anna, ich weiß, dass sie dir einmal sehr lieb gewesen sind. Wenn du möchtest, bleibe ich hier, während du zu ihr gehst.«

Wegen geringerer Gründe wäre ich weder den Kindern von der Seite gewichen, noch hätte ich Mistress Mompellion zusätzlich belastet. Aber die Kluft zwischen Lib und mir glich einer offenen Wunde, die ich so gerne heilen wollte. Doch bis ich mich mühsam zum Hancock-Hof geschleppt hatte, war meine alte Freundin bereits zu schwach zum Sprechen. Ich saß bei ihr und streichelte ihr Gesicht und wollte sie zum Aufwachen zwingen, damit ich wenigstens ein Wort sagen könnte, um den Bruch zwischen uns zu heilen, aber nicht einmal diese kleine Erleichterung wurde mir gewährt. Damit häufte auch dieses stumme Abschiednehmen von meiner ältesten Freundin neuen Kummer auf jenen Berg von Trauer, den ich bereits mit mir herumschleppte.

Als ich endlich zurückkam, um Mistress Mompellion in der Maston-Kate abzulösen, war es schon sehr spät. Und doch kam ich gerade noch rechtzeitig, denn kurz darauf fing es zu schneien an. Vermutlich hatte sie es um Haaresbreite zum Pfarrhaus zurückgeschafft. Es war ein wilder Schneesturm, einer von jener Sorte, die heftig gegen die Kate anstürmen. Ich schürte das Feuer an und deckte die Kinder mit jedem Stück Stoff zu, das ich finden konnte. Solche Stürme waren in den meisten Wintern gefürchtet, denn dann mussten wir tatenlos zusehen und abwarten, wie viel Schnee fallen und wie hoch unsere schmalen Gassen verweht würden. Und immer diese Unsicherheit, ob der Schnee unsere Straßen abschneiden würde. Jetzt aber konnten die weißen Wälle so hoch wachsen, wie sie nur wollten.

Dieser Sturm hatte sich jedoch rasch ausgetobt. Schon kurz nach Mitternacht schlief der Wind ein. In der darauf folgenden tiefen Stille starb das Baby. Klein Sally hielt noch bis zum folgenden Nachmittag durch, starb aber im frühen Dämmerlicht des kalten Schneeschimmers. Nachdem ich ihren schmalen Körper in sauberes Leinen gewickelt hatte, ließ ich sie allein liegen, bis John Millstone Zeit fände, sie zu holen. »Tut mir Leid, Kleine«, flüsterte ich, »eigentlich sollte ich heute Nacht bei dir sitzen. Aber ich muss meine Kraft für die Lebenden sparen.«

Und so mühte ich mich bei sinkender Nacht nach Hause. Beim Schafpferch blieb ich nur so lange stehen, um meiner Herde etwas Heu hinzuwerfen. Ich selbst machte mir nicht die Mühe zu essen, sondern schüttete stattdessen kochendes Wasser über das restliche Mohnharz, rührte eine halbe Tasse Heidehonig hinein, um den bitteren Geschmack zu überdecken, und nahm den Becher mit in mein Bett hinauf. In jener Nacht atmeten die Berge in meinen Träumen wie schlummernde Bestien, und der Wind warf tiefblaue Schatten. Ein geflügeltes Pferd flog mich durch einen schwarzen Samthimmel, über schimmernde Wüsten aus goldenem Glas, durch Unmengen von Sternschnuppen.

Wieder erwachte ich am Morgen herrlich ausgeruht. Doch die vom Mohn verursachte Heiterkeit hielt nicht lange an. Diesmal war es kein Schrecken von draußen, sondern eine Erkenntnis, die mich traf, während ich noch warm in meinem Bett lag: Von nun an hatte ich keine Möglichkeit mehr, mir ein solches Vergessen zu sichern. Während ich so dalag und zu meiner Balkendecke hinaufstarrte, fiel mir mein letzter Besuch bei den Gowdies ein. Wie die getrockneten Kräuterbündel das honiggoldene Haar von Anys gestreift hatten. Da mussten doch gewiss auch Mohnkapseln zwischen der Orangenwurz und der Klettenwurzel gehangen haben? Vielleicht gab es sogar schon sorgfältig zubereitete Tinkturen oben in den Regalen? Oder solche Fläschchen mit Harz, wie ich eines von Mistress Mompellion gestohlen hatte? Ich beschloss, auf der Stelle hinzugehen und nachzuschauen, was ich mir vielleicht sichern könnte.

An der dem Wind zugekehrten Seite von Felsen und Bäumen hatte sich der Schnee wie eine schimmernde Lackschicht aufgetürmt. Meine Hennen duckten sich mit aufgeplusterten Federn in einer frostfreien Gartenecke. Jede stand nur auf einem Bein, während sie das andere im Gefieder wärmte. Ich packte ein paar Hände voll Heu und stopfte damit meine Stiefel aus, um meine Füße während des langen, feuchten Weges trocken und warm zu halten. Aus dem tief hängenden, schwarzgrauen Himmel drohte weiterer Schneefall. Die Weiden waren gelbweiß gesprenkelt: Flecken mit aufgetauten Stoppeln stachen von breiten hellen Streifen ab, wo der Schnee noch immer in den Furchen lag. Vom höchsten Punkt aus konnte ich bis zum Riley-Hof hinunterschauen, wo die Erntegarben noch immer auf dem Feld standen, inzwischen verfault und nutzlos. Bei uns heißt es, die Kirchenglocken müssten drei Sonntage lang über den Garben läuten. Erst dann dürfe man die Ernte heimbringen. Aber über diesen Garben hatte das Totenglöcklein geläutet, und das mehr als dreimal. Seitdem dieses Feld abgemäht wurde, hatte Mutter Hancock ihren Mann, drei ihrer Söhne und eine Schwiegertochter beerdigt. Heute würde sie Swithin und Lib der Erde übergeben. Ich trottete weiter und bahnte mir einen Weg über gefrorene Grassoden, wobei ich versuchte, den aufgetauten Matschstellen auszuweichen. Plötzlich fiel mir auf, dass etwas anders war als sonst. Um diese Stunde müsste eigentlich aus der Talbotschen Schmiede ölig-schwarzer Rauch von der frisch entzündeten Esse dringen und bei dieser windstillen Kälte wie dunkle Nebelschwaden durchs Tal treiben. Aber die Esse war kalt und in der Kate der Talbots alles still. Schweren Herzens schlug ich den schmalen Pfad zum Schmiedehaus hinauf ein. Ich wusste nur allzu gut, was mich bei meiner Ankunft dort erwartete.

Kate Talbot öffnete die Tür. Sie presste eine Faust in ihr schmerzendes Kreuz. Sie war mit ihrem ersten Kind hochschwanger, das zu Fastnacht kommen sollte. Wie erwartet roch es im ganzen Haus nach fauligen Äpfeln. Dieser früher so geliebte Duft war inzwischen in meiner Vorstellung so sehr mit Krankenlagern verbunden, dass es mich würgte. Aber im Haus der Talbots roch es noch nach etwas anderem: nach verbranntem Fleisch, das in Verwesung übergegangen war. Richard Talbot, der stärkste Mann in unserem Dorf, lag ausgezehrt auf seinem Bett und wimmerte wie ein kleines Kind. Das Fleisch in seiner Lende war schwarz versengt wie Roastbeef. Unter dem glühenden Eisen war das grünlich verwesende Fleisch bis zum Muskel aufgeplatzt. Eiter suppte heraus.

Ich konnte die Augen nicht von dieser fürchterlichen Wunde abwenden. Als Kate meine Blicke sah, rang sie die Hände. »Er hat verlangt, dass ich’s tue«, flüsterte sie heiser. »Vor zwei Nächten ließ er mich die Esse anheizen und den Schürhaken rot glühend erhitzen. Anna, ich brachte es nicht fertig, ihn ihm aufzulegen. Da hat er ihn mir trotz seiner Schwäche aus der Hand gerissen und das Brandzeichen tief in sein eigenes Fleisch gedrückt. Seine Schreie höre ich jetzt noch. Anna, mein Richard ist ein Mann, der Huftritte und Hammerschläge ausgehalten und sich oft an heißen Eisen und herabfallenden Kohlen verbrannt hat. Aber der Schmerz, den er sich selbst zugefügt hat, muss wie Höllenfeuer gebrannt haben. Danach lag er zitternd eine Stunde da. Er meinte, wenn wir die Pestbeule ausbrennen, würde gewiss auch die Krankheit verschwinden. Aber seit jener Nacht hat sich sein Zustand nur noch verschlechtert, und ich weiß nicht, wie ich ihm helfen soll.« Ich murmelte lediglich ein paar hohle Trostworte, denn eines wusste ich genau: Richard Talbot würde wahrscheinlich noch vor dem Abend sterben, wenn nicht an der Pest, dann an der Fäulnis.

Da mir die Worte fehlten, blickte ich um mich; vielleicht gab es etwas zu tun. Kalt war es im Raum. Kate sagte, sie habe solche Kreuzschmerzen, dass sie jeweils nur ein Holzscheit habe hereintragen können. Das Feuer war bereits bis auf die Glut erloschen. Ich ging nach draußen, um einen Riesenkorb Holz zu holen. Beim Hereinkommen sah ich, wie sich Kate über Richard beugte und ein kleines Pergamentdreieck aufhob, das sie dicht neben seine Wunde gelegt hatte. Sie war zwar schnell, aber trotzdem sah ich deutlich, was sie zu verstecken versuchte. Einen Zauberspruch:

 

ABRACADABRA

BRACADABR

RACADAB

ACADA

CAD

A

 

»Kate Talbot!«, schalt ich. »Du wirst doch nicht diesen gottlosen Unsinn glauben!« Da fing sie zu weinen an. »Nein, nein«, sagte ich, denn sofort bedauerte ich meine barschen Worte, und nahm sie in die Arme. »Tut mir Leid, was ich gesagt habe. Ich weiß ja, dass du nur deshalb bei so etwas Zuflucht suchst, weil du nicht weißt, was du sonst noch tun sollst.«

»O Anna«, schluchzte sie, »in meinem Herzen glaube ich wirklich nicht daran. Und doch habe ich dieses Amulett gekauft, denn das, woran ich glaube, hat mich im Stich gelassen. Richard war immer ein guter Mensch gewesen. Warum martert ihn Gott so sehr? Unsere Gebete in der Kirche bringen keine Besserung. Deshalb flüstert mir die Stimme des Teufels zu. Wenn Gott dir nicht helfen will, sagt er, dann vielleicht ich …‹«

Zuerst wollte sie nicht sagen, wie sie an das Amulett gekommen war, denn jener Scharlatan, der sie dafür um einen ganzen Schilling geprellt hatte, hatte ihr auch erklärt, ein Todesfluch träfe sie, wenn sie auch nur ein Wort verrate. Aber ich drang in sie und versuchte, ihr klarzumachen, dass dahinter lediglich ein böswilliger Trick steckte, der ihrem Geld galt. Endlich schluckte sie heftig.

»Nein, Anna, das war kein Trick. Gottlos, ja, und vielleicht auch umsonst, aber doch echte Magie. Denn dieses Amulett hat mir der Geist von Anys Gowdie gegeben.«

»Blödsinn!«, platzte ich heraus. Aber sie war so blass wie draußen die Schneewehen. Etwas zurückhaltender bohrte ich weiter: »Warum sagst du so etwas?«

»Ich habe gestern Nacht ihre Stimme gehört, als ich draußen ein Holzscheit holen ging. Sie sagte, ich soll einen Schilling auf die Schwelle legen und am Morgen würde dort ein mächtiges Amulett liegen.«

»Kate«, sagte ich so sanft wie möglich, »Anys Gowdie ist tot und nicht mehr hier. Wenn sie noch lebte, was ich mir inständig wünschte, und uns helfen könnte, würde sie nicht mit wertlosen Amuletten kommen. Du weißt doch, dass ihre Arznei immer aus praktischen Dingen bestand, Dingen aus Kräutern und Wurzeln, deren heilkräftige Wirkung nur ihrem klugen Wissen bekannt war. Kate, wirf dieses Papier weg«, sagte ich. »Denn eines werden wir ganz sicher herausfinden: Die Stimme, die du in jener stürmischen Nacht gehört hast, ist die eines Dorfbewohners, eines verdorbenen und habgierigen Menschen, der aber höchst lebendig ist.«

Zögernd öffnete sie die Hand und ließ das Pergament auf die Kienspäne flattern. Als ich in die Glut blies, schoss eine helle Flamme hoch und ergriff es. »Und jetzt mach’s dir bequem«, sagte ich. »Ich werde das hier für dich erledigen. Nach ein wenig Ruhe sieht vielleicht auch für dich die Welt etwas heller aus.«

Sie setzte sich mit ihrem aufgeblähten Bauch neben ihren Mann aufs Bett. Als ich nach draußen ging, um noch mehr Holz zu holen, hörte ich es aus dem Kuhstall kläglich muhen. Die Kuh hatte ein steinhartes Euter und musste unbedingt gemolken werden. Als das Tier spürte, dass ihm meine Finger Erleichterung verschafften, drehte es sich um und schaute mich dankbar an. Danach sammelte ich ein paar Eier im Garten und buk daraus mit der frischen Milch ein Omelett, das Kate nach dem Aufwachen essen konnte.

Nachdem ich mein Möglichstes getan hatte, setzte ich meinen eigenen Weg fort. Während meines Aufenthalts bei den Talbots war ein steifer Wind aufgekommen, der das Eis auf den schwarzen Ästen unter lautem Knall bersten ließ. Um die Kate der Gowdies lagen unberührte Schneewehen, durch die ich wie durch einen Fluss knietief watete. An der Tür blieb ich stehen und kämpfte gegen das Schuldgefühl an, das ich beim Eindringen in das Eigentum von Verstorbenen verspürte. Während ich noch dastand und versuchte, allen Mut zusammenzuraffen, tropfte mir geschmolzener Schnee vom Strohdach direkt ins Genick. Mit meinen von der Kälte klammen Händen begann ich, ungeschickt gegen die Tür zu kämpfen, die durch die Feuchtigkeit aufgequollen war. Schließlich zerrte ich sie mühsam einen Spalt weit auf. Da schoss ein grauer Schatten an mir vorbei, so plötzlich und schnell, dass ich zusammenzuckte und mich an das nasse Holz presste. Doch es war lediglich der Kater der Gowdies, der aufs Dach sprang und mich wütend anfauchte. Endlich gab die Türe meinem Schieben und Drücken nach und öffnete sich knarzend so weit, dass ich hineinschlüpfen konnte. Vorsichtig schlich ich mich ins Dunkel. Etwas streifte mein Gesicht. Ich schnappte nach Luft. Aber es war nur ein Wedel Mädesüß, der sich aus einem Büschel neben der Tür gelöst hatte.

Draußen pfiff der Wind. Für Fensterglas waren die Gowdies zu arm gewesen. Die Kate besaß lediglich eine Luke unter dem Giebel, die seit den ersten kühlen Herbsttagen mit Schilf zugestopft war. Da ich völlig durchweicht war, musste ich unbedingt zum Aufwärmen ein Feuer anzünden. Außerdem wollte ich auch etwas sehen. Aber in dem rußgeschwärzten Zimmer war es so düster, dass ich zuvor auf dem ganzen Herd tastend nach Feuerstein und Zunder suchen musste. Als ich sie gefunden hatte, zitterten meine Hände so sehr, dass ich keinen Funken schlagen konnte, sooft ich es auch versuchte.

Plötzlich flammte hinter mir ein Licht auf.

»Bleib vom Herd weg, Anna.«

Vor Schreck ließ ich den Feuerstein fallen, verfing mich mit dem Fuß in einer losen Herdplatte und rutschte mit dem Gesicht voraus auf den gestampften Erdboden. Entsetzt hob ich den Kopf. Das Licht, das vom Geist der Anys Gowdie ausging, blendete mich. In einem weißen Gewand schwebte sie strahlend über mir.

»Alles in Ordnung?«, erkundigte sich Elinor Mompellion, während sie mit einer Kerze in der Hand die Speicherleiter herunterstieg.

Urplötzlich überfielen mich Erleichterung und Scham mit solcher Macht, dass ich in Tränen ausbrach. »Hast du dir wehgetan?«, fragte Mistress Mompellion, wobei sie sich im Kerzenschein mit sorgenvoll gerunzelter Stirn über mich beugte. Mit einem Zipfel ihrer weißen Schürze wischte sie die Stelle auf meiner Stirn ab, wo ich am Boden aufgeschlagen war.

»Nein, nein«, sagte ich, während ich mühsam um Fassung rang. »Ich bin nur auf mein Handgelenk gefallen. Ich ich habe nicht erwartet, heute jemanden hier anzutreffen, und bin nur erschrocken.«

»Anscheinend hatten wir beide den gleichen Einfall«, meinte sie. In meiner Verwirrung dachte ich, auch sie sei auf der Suche nach Mohnsaft hierher gekommen. »Ich kam gestern am späten Abend hierher«, fuhr sie fort, »weil mir genau wie offensichtlich auch dir klar ist, dass wir sämtliche Heilpflanzen und Arzneien aus der Hinterlassenschaft der Gowdies sichten müssen. Meiner Überzeugung nach muss sich der Schlüssel zur Bekämpfung der Pest hier befinden, in der Heilkraft von Pflanzen, die man zur Stärkung derer einsetzen kann, die noch gesund sind. Wir müssen unsere Körper kräftigen, damit wir auch weiterhin der Ansteckung widerstehen können.« Inzwischen hatte sie meinen Platz am Herd eingenommen, ein wenig Kerzenwachs auf einen Kienspan geträufelt und so eine Flamme entfacht.

»Ich hatte mich so sehr ins Sortieren der Pflanzen vertieft und dabei kaum auf das schwindende Tageslicht geachtet. Als mir klar wurde, dass ich mich umgehend auf den Heimweg machen müsse, hatte es zu schneien begonnen. Ich hielt es für das Beste, die Nacht hier zu verbringen, anstatt mich bei solchem Wetter auf den langen Weg zum Pfarrhaus zu machen. Mister Mompellion käme sicher auf den Gedanken, man würde mich die Nacht über an irgendeinem Krankenlager brauchen. Und tatsächlich habe ich an diesem stillen Ort so gut geschlafen, dass ich es vermutlich noch täte, wenn mich nicht dein Kampf mit der Tür geweckt hätte. Und jetzt müssen wir uns an die Arbeit machen. Denn eines steht fest, Anna: Hier liegen tatsächlich Schätze!« Dann zählte sie jene Pflanzen auf, die sie bisher identifiziert hatte, und berichtete über die Heilkräfte von Säften, die wir zubereiten und verteilen könnten.

Während ich ihren selbstlosen Plänen lauschte, spürte ich, wie erbärmlich mein eigenes egoistisches Streben nach Flucht in ein falsches Vergessen war.

»Mistress Mompellion, ich …«

»Elinor«, unterbrach sie mich, »wir beide können nicht unter den derzeitigen Bedingungen zusammenarbeiten und mit den alten Formen weitermachen. Du musst Elinor zu mir sagen.«

»Elinor Ich muss Ihnen etwas beichten. Ich bin nicht gekommen, um nach Kräutern für andere zu suchen, sondern nur für mich selbst.«

»Ach ja«, sagte sie leise, »deshalb bist du hier.« Mit einem Griff zum Dachsparren band sie wie selbstverständlich ein Bündel reifer Samenkapseln los. »Die alten Griechen haben sie die Blumen Lethes genannt. Weißt du noch? Wir haben zusammen darüber gelesen. Lethe – der antike Fluss des Vergessens. Sobald die Seelen der Toten sein Wasser kosten, vergessen sie ihr vergangenes Leben. Wenn jeder Tag randvoll von Traurigkeit ist, Anna, ist der Wunsch nach Vergessen ganz natürlich. Aber diese Seelen vergaßen auch alle, die sie je geliebt hatten. Und das möchtest du doch sicher nicht, oder? Ich habe schon in einigen Predigten gehört, Gott wolle, dass wir die Toten vergessen, aber das kann ich nicht glauben. Ich glaube, dass Er uns kostbare Erinnerungen schenkt, damit wir nicht gänzlich von jenen getrennt sind, die Er unserer Liebe anbefohlen hat. Anna, du musst deinen Kindern ein liebevolles Gedenken bewahren, bis du sie im Himmel wiedersiehst.«

»Ich habe in der Danielschen Kate den Mohn aus Ihrem Deckelkorb genommen.«

»Das weiß ich«, sagte sie. »Und, hat er dir schöne Träume geschenkt?«

»Ja«, flüsterte ich, »die schönsten meines Lebens.«

Sie nickte. Der Feuerschein zauberte einen Strahlenkranz um ihre feinen Haare. »Ja«, meinte sie, »ich erinnere mich noch gut daran.«

»Sie?«, sagte ich verblüfft. »Sie haben dieses Zeug genommen?«

»Ja, Anna, auch ich, denn es gab eine Zeit, in der auch ich vieles nur noch vergessen wollte. Der Mohn, den du mir entwendet hast – er war noch ein Relikt aus jenen Tagen. Wie du siehst habe ich ihn behalten, obwohl es schon einige Jahre her ist, dass ich ihn benutzt habe. Aber er ist ein eifersüchtiger Freund, der uns nicht leicht aus seiner Umarmung entlässt.« Dabei stand sie auf, griff in einen Tontopf in der Ecke und gab ein gerüttelt Maß getrocknete Kamille in einen Topf. Der Wasserkessel, der über dem Herd hing, hatte zu dampfen begonnen. Daraus goss sie gerade so viel Wasser, um einen kräftigen Tee aufzubrühen.

»Erinnerst du dich noch, Anna, was ich unterwegs zu den Daniels zu dir gesagt habe? Dass ich nie ein Kind geboren hätte?«

Ich nickte benommen, da ich mir nicht vorstellen konnte, worauf sie hinauswollte.

»Dass ich nie schwanger war, habe ich nicht gesagt.«

Ihre Worte mussten bei mir einen verwirrten Gesichtsausdruck hervorgerufen haben. Schließlich hatte ich für Elinor Mompellion gearbeitet, ihre Kleidung gewaschen und ihre Wäsche gewechselt, seit sie als frisch Vermählte in unser Dorf gekommen war. Wenn sie schwanger gewesen wäre, hätte ich das fast so schnell gewusst wie sie selbst. Da ich es mir so sehr für sie wünschte, hatte ich sogar den Verlauf ihrer monatlichen Tage beobachtet.

Jetzt streckte sie eine Hand aus und drehte mein Gesicht so, dass ich sie direkt ansah. »Anna, das Kind, das ich unter dem Herzen trug, stammte nicht von Mister Mompellion.« Aus meiner Miene erkannte sie, wie schockiert ich war. Ihre weichen Finger, die vom Halten des dampfenden Bechers noch ganz warm waren, flatterten über meine Wange, als wollte sie mich beruhigen. Anschließend sank ihre Hand nach unten und suchte nach meiner, die in meinem Schoß lag. »Obwohl es eine sehr schmerzvolle Geschichte ist, erzähle ich sie dir jetzt, denn ich möchte, dass du diejenige kennst, die dir das alles aufbürdet.«

Nun wandte sie ihr Gesicht zum Feuer. Während sie weitersprach, schauten wir beide in die Flammen. Ihre lange Geschichte begann auf einem riesigen und wunderschönen Landsitz in Derbyshire, in Räumen, die von nachdenklich blickenden Ahnenporträts bewacht wurden. Sie war die geliebte einzige Tochter eines Edelmannes mit großem Vermögen gewesen. Sie wurde verwöhnt – verzogen, sagte sie –, besonders nach dem Tod ihrer Mutter. Ihr Vater und ihr älterer Bruder waren liebevoll gewesen, aber oft nicht da, und hatten sie der Obhut einer Gouvernante anvertraut, die mehr Wissen als Weisheit besaß.

Elinors Kindheit war von zwei Dingen erfüllt: Vergnügen und dem Streben nach Wissen, was für sie fast dasselbe bedeutete. »Anna, wenn ich dir das sage, werde ich rot, denn ich weiß, was du aus den spärlichen Brocken gemacht hast, die dir dein Leben mitgab. Wenn ich mir dagegen irgendetwas – ob Griechisch oder Latein, Geschichte, Kunst und Naturkunde in den Kopf gesetzt hatte, musste ich es lediglich erwähnen, und schon wurden all diese Schätze vor mir ausgebreitet. Und ich habe diese Dinge gelernt. Aber vom Leben, Anna, und von der menschlichen Natur – darüber habe ich nichts gelernt.« Da ihr Vater es für besser hielt, sie vor der Welt zu schützen, verließ sie den Besitz nicht und bewegte sich auch nur in einem sehr ausgewählten Gesellschaftskreis. Sie war gerade mal vierzehn, als ein Nachbar, ein junger zwanzigjähriger Mann und Erbe eines Herzogtums, ihr nachzulaufen begann.

»Als mein Vater nach einer Zeit der Abwesenheit zurückkam und entdeckte, dass wir beide fast täglich allein ausgeritten waren, erklärte er mir, dies müsse sofort aufhören. O nein, streng war er nicht mit mir. Andernfalls hätte ich vielleicht mehr auf ihn gehört, aber vielleicht wäre auch das egal gewesen. Denn eines steht fest, Anna: Ich war von dem jungen Mann und seiner Aufmerksamkeit hingerissen. Er schmeichelte mir auf jede erdenkliche Weise. Mein Vater erklärte mir lediglich, für derart intensive Freundschaften sei ich noch viel zu jung. Er sagte, er habe viele Pläne für mich: eine Vorstellung bei Hofe, eine gemeinsame Reise mit ihm zu den großen Stätten der antiken Welt. Aber noch während er dies sagte, hegte ich mit schlechtem Gewissen nur einen einzigen Gedanken: Wie viel mehr würde ich dies am Arm von Charles, meinem jungen Mann, genießen. Was mir mein Vater nicht sagte, waren seine Zweifel an Charles selbst, seine Bedenken in Bezug auf seinen Charakter, die sich im Laufe der folgenden Ereignisse als sehr begründet herausstellten. Vielleicht wollte er sich nicht mit einer Reihe von Fragen konfrontiert sehen, die ich nach einer derartigen Mitteilung sicherlich gestellt hätte. Denn wir lebten ganz zurückgezogen, und man hatte mich gänzlich vor jener Welt behütet, die mein Vater und mein Bruder – und auch Charles – nur allzu gut kannten.«

Anfänglich hatte Elinor, die ihren Vater liebte, seinen Wünschen entsprochen, aber als ihn seine Geschäfte einen Monat später wieder von seinem Besitz forttrieben, stellte ihr der junge Mann erneut nach. »Er flehte mich an, mit ihm fortzulaufen, und versprach, später würde er sich wieder mit meinem Vater versöhnen, der sicher nichts gegen eine Heirat einwenden würde. Meine Gouvernante entdeckte den Plan und hätte ihn vereiteln können, aber ich flehte sie an, und Charles ließ seinen ganzen Charme spielen. Schließlich erkaufte er sich ihr Schweigen mit einem Geschenk. Erst später erfuhren wir, dass er den Rubinanhänger aus der Schmuckschatulle seiner Mutter entwendet hatte. Und so leistete sie unserem Plan Vorschub und hielt meinen Vater viel länger in Unkenntnis, als es sonst möglich gewesen wäre.

Mit ihrer Hilfe stahlen wir uns mitten in der Nacht fort. Wie kann ich dir heute klar machen, warum ich damals so etwas tat? Ich glich jenem verliebten Träumer aus Sidneys Gedicht: Getrübt mein junger Sinn, den Lieb’ so fest umschlungen hält. Ich dachte, wir würden, wie geplant, die Fleet Street ansteuern, wo man jederzeit ohne Lizenz eine Heiratsurkunde kaufen konnte. Leider hatte ich London noch nie gesehen. Als nun Charles vorschlug, wir sollten uns zuerst doch noch amüsieren oder den einen oder anderen Ausflug machen, war ich sofort einverstanden.

Du wirst längst vermuten, was nun kommt: Die Vereinigung wurde noch vor dem Segen vollzogen.« Elinor klang ganz verzagt: »Und danach dämmerte es allmählich sogar mir, dass er keinerlei Absichten hegte, sie absegnen zu lassen. Da ich dir wirklich alles erzählen möchte, Anna, sollst du auch das wissen: Ich war im Feuer meiner Begierden so gefangen, dass es mir nicht viel ausmachte.«

Nun weinte Elinor stumm vor sich hin. Ich streckte die Hand aus, wollte sie berühren und die Tränen wegwischen, aber der Respekt, den man mir von Geburt an eingebläut hatte, ließ meine Hand verharren. Daraufhin schaute Elinor mich an. Ihr Blick verriet, dass meine Berührung willkommen war. Und so strich ich ihr mit meinen Fingerspitzen die Tränen von der Wange. Anschließend ergriff sie meine Hand und hielt sie fest, während sie weitererzählte, wie sie mit Charles über vierzehn Tage zusammengelebt hatte, bis er eines schönen Abends einfach nicht mehr in das Gasthaus zurückkehrte, wo sie sich versteckten. Er hatte sie im Stich gelassen.

»Tagelang wollte ich es mir selbst nicht eingestehen und redete mir alle möglichen Sachen ein: Er sei irgendwo krank geworden, oder man habe ihn zu einem hochpolitischen Geheimauftrag abberufen. Es dauerte einige Zeit, bis ich mich der Tatsache stellte, dass ich ruiniert war, und mich an jene Menschen wandte, die mich trotz allem immer noch irgendwie liebten.« Vater und Bruder hatten verzweifelt nach ihr gesucht. Nun brachten sie sie nach Hause, wo über die ganze Sache Gras hätte wachsen sollen. Doch leider war sie bereits schwanger.

Diese Erinnerungen schienen für Elinor sehr schmerzhaft zu sein. Sie ließ ihren Tränen nun freien Lauf, allerdings ohne lautes Schluchzen.

»Ich war verzweifelt, war verwirrt«, fuhr sie fort. »Mit einem Schürhaken habe ich mich selbst verletzt.«

Bei diesem Satz sog ich entsetzt die Luft ein und barg das Gesicht in den Händen. Schon die Vorstellung von so viel Leid war mir unerträglich, und doch konnte ich nicht verhindern, dass sich mir schreckliche Bilder davon aufdrängten. Blind streckte ich eine Hand aus und umfasste die ihre erneut ganz fest.

»Mein Vater bestellte den besten Arzt. Das hat mir das Leben gerettet. Leider nicht meinen Schoß. Anna, angeblich besteht er inzwischen nur noch aus einer Ansammlung von Narben. Zuerst gab man mir Mohn gegen die Schmerzen; später vermutlich, um mich ruhig zu halten. Und wenn es nicht Michael gäbe, würde ich vielleicht noch immer wie verloren in jenen leeren Träumen herumirren.«

Und so erfuhr ich, dass Michael Mompellion entgegen meiner Vermutung nicht der Spross einer Familie von bedeutenden Geistlichen war. Sein Vater war zwar ein Mann der Kirche gewesen, das stimmte, aber eben nur ein Vikar. Beim Ausbruch des Bürgerkrieges war Michael, der Älteste von drei Kindern, erst ein kleiner Junge. Der Vater wurde in die Kriegswirren hineingezogen. Am Ende war die Familie mittellos, und Michael wurde dem Verwalter des Familienbesitzes von Elinor anvertraut. So wuchs er mit Pflügen und Heumachen auf, mit dem Zureiten junger Pferde und dem Beschlagen von Stuten. Er lernte die umfangreiche Gutsarbeit in allen Einzelheiten kennen.

»Nach kurzer Zeit machte er bereits Vorschläge für eine bessere Verwaltung.« Jetzt schien sich ihre Stimme zu kräftigen, denn auf diesen Teil der Geschichte war sie stolz. »Mein Vater wurde auf Michael aufmerksam und nahm sich seiner weiteren Ausbildung an. Er besuchte die besten Schulen, wo er brillierte, und ging von dort nach Cambridge. Als er heimkam, fand er mich geschwächt von meiner langen Krankheit vor. Täglich trug man mich in den Garten hinaus, wo ich einfach nur in meinem Stuhl saß und vor übergroßer Trauer und Reue nicht einmal aufstehen konnte. Anna, Michael bot mir seine Freundschaft an, und später seine Liebe.«

Jetzt lächelte sie verhalten. »Er brachte die Heiterkeit in meine Welt zurück. Leid war ihm nichts Fremdes, da er es am eigenen Leib erfahren hatte. Er brachte mich in die Katen unserer Pächter und zeigte mir Sorgen, die meine um vieles übertrafen. Er machte mir klar, wie nutzlos es ist, sich im Bedauern über unabänderliche Dinge zu suhlen, und wie man selbst die schwersten Sünden sühnen kann. Sogar meine, Anna. Sogar meine.«

Dank seiner Unterstützung kehrte sie ins Leben zurück. Bis zum inneren Frieden dauerte es aber länger. »Anfänglich borgte ich mir seine Heiterkeit und benützte sie als Licht auf meinem Wege, aber als ich mir angewöhnt hatte, die Welt aus seinem hellen Blickwinkel heraus zu betrachten, entzündete sich allmählich das Licht in meinem Inneren wieder von selbst.« Kurz nach dem Ende seiner Studienzeit heirateten sie. »Nach außen hin schien es, ich hätte mich zu einer Heirat mit ihm herabgelassen«, sagte sie, »aber wie du jetzt siehst, bringt in dieser Ehe einzig und allein mein lieber Michael ein Opfer, mehr, als sich alle vorstellen können.«

Eine Weile saßen wir da und starrten ins Feuer, bis plötzlich ein Holzscheit verrutschte und einen Funkenregen auf den gestampften Boden sprühte. Daraufhin stand Elinor abrupt auf und strich ihre Schürze glatt. »Und jetzt, meine liebe Anna, wo du alles weißt, willst du da immer noch bei und mit mir arbeiten?«

Alles Gehörte hatte mich so fassungslos gemacht, dass ich nichts sagen konnte, sondern stattdessen einfach von meinem Hocker aufstand, ihre beiden Hände ergriff und sie küsste. Wie wenig, dachte ich, wissen wir doch von den Menschen, mit denen wir leben. Wenn man mich gefragt hätte, hätte ich sicher nie gewagt, mir auch nur annähernd die Gedanken und Gefühle von zwei Menschen auszumalen, die im Leben so weit über mir standen. Aber ich hatte geglaubt, sie durch die Arbeit in ihrem Hause näher kennen gelernt zu haben. Schließlich hatte ich mich ja um ihre Bedürfnisse gekümmert und ihr Kommen und Gehen und ihren Umgang mit anderen beobachtet. Wie gering war dieses Wissen in Wirklichkeit gewesen, wie winzig!

Elinor umarmte mich. In diesem Moment spürte ich eine Gewissheit: Für diese Frau würde ich alles tun, alles, worum sie mich bäte. »Lassen wir’s damit gut sein«, sagte sie, »denn es gibt noch viel zu tun. Schau mal, schau dir das mal an.« Sie griff in ihre Schürzentasche und zog ein gefaltetes Blatt Pergament heraus. »Ich habe eine Liste aller bisheriger Pestopfer erstellt und diese dann auf eine Karte aller Gehöfte hier am Ort übertragen. Daraus können wir meiner Meinung nach ablesen, wie sich diese Pestilenz verbreitet und auf wen.«

Da lag es, unser pestverseuchtes Dorf, mit den Namen all seiner dreihundertundsechzig armen Seelen. Wie Insektenkörper auf einer Schautafel steckten sie auf der Karte. Annähernd fünfzig Namen hatte Elinor schwarz unterstrichen. Ich hatte mir nicht vorgestellt, dass die Krankheit schon so viele ausgelöscht hatte. Eines zeigte die Karte deutlich: wie sich die Ansteckung, einem tödlichen Sternenregen gleich, von meiner Kate aus verbreitet hatte.

Elinor zupfte mich beschwörend am Ärmel: »Schau dir die Namen der Opfer an. Was fällt dir dabei zuerst auf?« Stumm starrte ich auf die Karte. »Kannst du’s nicht sehen? Die Pest macht keinen Unterschied zwischen Männern und Frauen, beide stehen gleich oft auf der Totenrolle. Und doch macht sie einen Unterschied: Sie wählte eher die ganz Jungen als die Uralten. Fast die Hälfte unserer Toten war noch nicht einmal sechzehn. Der Rest sind Menschen in den besten Jahren. Bisher war noch kein Silberhaariger darunter. Warum, Anna, warum? Meiner Ansicht nach haben die Alten in diesem Dorf lange gelebt, weil sie Krankheiten gut bekämpfen können. Wenn man so will, sind sie Veteranen im Krieg gegen Krankheiten. Was müssen wir also tun? Wir müssen die Kinder stärker machen – ihnen Waffen geben, mit denen sie kämpfen können. Vergeblich haben wir versucht, die Kranken zu heilen, und sind daran gescheitert. Von allen, die sich mit der Pest angesteckt haben, hat nur einer länger als eine Woche überlebt die alte Margaret Blackwell.«

Margaret, die Frau des Hufschmieds Blackwell, war gleichzeitig mit den Sydells erkrankt und war es noch immer. Trotzdem schien es ihr bestimmt zu sein, ihr Martyrium zu überleben. Weil sie nicht gestorben war, bezweifelten inzwischen einige, dass sie überhaupt die Pest gehabt hatte. Ich allerdings hatte die Schwellung an ihrer Lende gesehen und sie gepflegt, als die Geschwulst beim Aufbrechen ihr eitriges Gift entließ. Andere behaupteten, es handle sich lediglich um ein Furunkel oder eine Zyste. Aber ich blieb dabei: Das war eine Pestgeschwulst. Und damit wäre Margaret vielleicht unsere erste Überlebende.

»Für die meisten«, fuhr Elinor fort, »bedeutet der Ausbruch dieser Krankheit das Ende. Deshalb müssen wir Folgendes tun: sämtliche Kräuter mit stärkender Wirkung finden und in einem Saft vereinen, der die Gesunden widerstandsfähiger macht.«

Und so hockten wir den ganzen restlichen Tag über den Büchern, die Elinor aus dem Pfarrhaus angeschleppt hatte. Zuerst suchten wir nach Pflanzennamen, die angeblich eine kräftigende Wirkung auf einen jener vielen Körperteile hatte, die offensichtlich von der Pest befallen wurden. Es war ein mühsames Vorgehen, denn die meisten Bücher aus dem Pfarrhaus waren in Latein oder Griechisch geschrieben. Elinor musste sie mir übersetzen. Schließlich entdeckten wir den besten Band: das Buch eines gewissen Avicenna, eines muselmanischen Arztes, der vor langer Zeit seine gesamte Erfahrung in einem umfassenden Kanon verzeichnet hatte. Als wir die Namen der Pflanzen hatten, gingen wir die Kräuterbüschel durch und versuchten, die getrockneten Blätter und Wurzeln den Beschreibungen in diesem Buch zuzuordnen, was manchmal sehr schwierig war. Draußen durchsuchten wir den schneeverwehten Garten nach irgendwelchen robusten Pflanzen, deren Wurzelwerk wir ausgraben könnten, ehe der Boden gänzlich gefror. Am Nachmittag hatten wir die Waffen für unsere Rüstung zusammen: Brennnessel fürs Blut. Schleieraster und Veilchenblätter für die Lunge. Anserine zum Fiebersenken. Kresse für den Magen. Für die Leber Löwenzahnwurzeln, Tollkirsche für die Drüsen und Eisenkraut für den Hals.

In Säckchen sammelten wir so viele Büschel, wie wir nur tragen konnten, um sie in die Pfarrhausküche zu schaffen. Gerade wollte ich das Herdfeuer löschen, da hielt Elinor meine Hand zurück. »Und was ist damit, Anna? Was sollen wir damit machen?« Sie hielt mir den Schlafmohn hin. »Die Entscheidung liegt bei dir.«

Ich spürte Panik in mir aufsteigen. »Aber die brauchen wir doch sicher, um den vielen Betroffenen hier beizustehen«, sagte ich, obwohl mir dabei sofort eher meine eigenen Bedürfnisse durch den Kopf geschossen waren als die der Sterbenden.

»Anna, die Gowdies waren sich der Gefahren dieser Pflanze wohl bewusst. Sie haben hier nur so viel, um bei wenigen schweren Fällen Erleichterung zu bringen. Wie sollen wir entscheiden, wer leiden muss und wessen Schmerzen gelindert werden?«

Wortlos griff ich nach dem Bündel und wollte es eigentlich ins Feuer werfen, merkte aber, dass ich nicht genug Willen besaß, die Hand zu öffnen. Ich kratzte mit dem Daumennagel über eine noch grüne Samenkapsel und sah, wie aus dem Einschnitt langsam der weiße Saft quoll. Am liebsten hätte ich meine Zunge darauf gelegt, die bittere Flüssigkeit aufgeleckt und ihre süße Wirkung verspürt. Elinor stand schweigend da und wartete. Ich versuchte, in ihren Augen zu lesen, aber sie wandte sich ab.

Wie sollte ich mich den kommenden Tagen und Nächten stellen? Nichts sonst würde mir Erleichterung verschaffen. In beiden Händen hielt ich meine einzige Chance, unser Dorf und seine Todesqualen hinter mir zu lassen. Aber dann begriff ich, dass dies nicht ganz der Wahrheit entsprach. Da war noch unsere Arbeit. Heute Nachmittag hatte ich erlebt, dass es möglich war, mich ganz darin zu verlieren. Und doch war dieser Verlust des eigenen Ichs kein selbstsüchtiges Vergessen. Aus diesem Lernen und seiner praktischen Anwendung könnte viel Gutes kommen. Daher packte ich das Bündel und warf es ins Feuer. Einen Augenblick zischte der Saft auf, dann platzten die Kapseln. Ihre winzigen Samenkörner ergossen sich in einem wahren Regen zwischen die Asche und verschwanden ins Nichts.

Als wir die störrische Türe hinter uns schlossen, war der Wind eingeschlafen. Die Luft wirkte milder. Ich würde versuchen, so zu sein, wie Elinor es wünschte. Und im Falle eines Scheiterns hatte ich aus unserem heutigen Tagewerk genug gelernt, um zu wissen, wo ich nach den blassgrünen Mohnschösslingen suchen musste, wenn sie sich im nächsten Frühling durch den Boden im Garten der Gowdies bohrten.