Rattenplage

 

Die Wochen nach George Viccars’ Tod leiteten den schönsten September ein, an den ich mich erinnern kann. Es gibt Leute, denen diese Berggegend trostlos vorkommt, was ich sogar verstehen kann: das ganze Land von Bergleuten zerfressen, ihre Göpel wie Schafotte auf den Mooren, und ihre Halden, Unkraut bewachsenen Maulwurfshügeln gleich, im graulila Auf und Ab des Heidekrauts. Eine bunte Gegend ist das nicht. Unsere einzige kräftige Farbe ist Grün, aber das haben wir in jeder Schattierung: smaragdgrüne Moospolster, glänzende Efeuranken, und im Frühjahr goldgrüne Grasschösslinge. Ansonsten bewegen wir uns durch einen Flickenteppich aus Grautönen. Weiß-grau ist der Kalkstein, während der Sandstein, aus dem wir unsere Katen bauen, einen wärmeren gelb-gräulichen Ton hat. Grau ist hier die Himmelsfarbe, und auf den Hügelkämmen türmen sich die taubengrauen Wolken so dicht, dass man manchmal das Gefühl hat, man könnte einfach hinaufgreifen und die Hände in ihrer Weichheit vergraben.

Aber diese Herbstwochen waren ganz ungewohnt von Sonnenschein durchflutet. Der Himmel war fast täglich strahlend blau, und statt eines Hauchs von Frost blieb die Luft warm und trocken. Ich war so erleichtert, dass Jamie und Tom nicht krank waren, dass ich in jenen Tagen in einer Art Hochstimmung lebte. Jamie hingegen war bedrückt, weil er seinen lieben Freund George Viccars verloren hatte. Den Tod seines Vaters hatte er, um ehrlich zu sein, leichter verkraftet. Da Sam die meisten Stunden, in denen Jamie wach war, drunten in der Grube gewesen war, hatten die beiden nur wenig Zeit gemeinsam verbracht. George Viccars aber war in den wenigen Monaten, die er mit uns gelebt hatte, ein unentbehrlicher Gefährte geworden, dessen Tod eine Leere hinterließ, die ich unbedingt füllen wollte. So nahm ich mir die Zeit, unsere einfache Hausarbeit in eine Art Spiel zu verwandeln, damit Jamie den Verlust nicht so tief empfand.

Am Ende des Tages überzeugte ich mich am liebsten immer selbst davon, dass jedes Mutterschaf seine Lämmer bei sich und keines sich in Dornenranken verfangen hatte. Wenn ich also nachmittags die Herde überprüfen ging, nahm ich Jamie und Tom mit. Unsere Herde ist klein, hat nur einundzwanzig Mutterschafe. Seit meiner Heirat mit Sam hatte ich regelmäßig jenes geschlachtet, das sich nicht zum Muttertier eignete, was zu einer einfachen Lammung führt, solange das Wetter mitspielt. Letztes Frühjahr hatten wir eine gute Lammung. Deshalb hätte ich an jenem Tag nichts weniger erwartet als ein Mutterschaf in den Wehen. Aber zum Glück fanden wir es, wie es keuchend im Schatten einer Eberesche lag und sich mit heraushängender Zunge abmühte. Ich knöpfte das Tragetuch auf und legte Tom auf einen Flecken Klee. Jamie stand hinter mir, während ich mich hinkniete, die Hände ins Innere des Mutterschafes steckte und das Lamm zu drehen versuchte. Obwohl ich ein Stückchen Nase und einen harten Huf spüren konnte, gelang es mir nur mühsam, alle Finger hineinzuzwängen, damit ich es zu fassen bekam.

»Mami, kann ich helfen?«, sagte Jamie. Nach einem Blick auf seine winzigen Finger bejahte ich. Mühelos glitten seine kleinen Hände ins Glitschig-Feuchte. Ich stemmte mich mit den Fersen gegen das Mutterschaf, und dann zogen wir gemeinsam. Er hielt mit seiner Kinderkraft die Knie fest, während ich mich an den Hufen abmühte. Plötzlich flog mit einem mächtigen Schmatzgeräusch ein Bündel nasser Wolle heraus, und wir beide fielen rücklings ins Gras. Es war ein prächtiges Lämmchen, klein, aber kräftig, ein unerwartetes Geschenk. Das Mutterschaf war noch jung und hatte nie vorher gelammt. Deshalb sah ich mit Befriedigung, wie es sich sofort daran machte, seinem Jungen die Glückshaube vom Gesicht zu lecken. Schon bald bedankte sich das Lamm mit einem kräftigen Niesen. Wir lachten. Jamie hatte vor Stolz und Glück kugelrunde Augen.

Wir ließen die Mutter weiter ihrem Jungen die gelbe Fruchtblase aus dem Fell lecken und wanderten vom Feld ins Wäldchen, um uns im Bach Blut und Schleim von Händen und Kleidung zu waschen. Weil es heute warm war, zog ich Jamie splitternackt aus und ließ ihn so herumplantschen, während ich seinen Kittel und meine Schürze auswusch und zum Trocknen über einen Busch hängte. Meinen Schulterkragen hatte ich gelöst, meine Haube aufgebunden und die Strümpfe ausgezogen. Während Jamie durchs Wasser watete, fand ich einen flachen Felsen, setzte mich mit geschürztem Rock drauf, um Tom zu stillen, und ließ mir kleine Rinnsale über die Zehen laufen. Ich streichelte den feinen Flaum auf Toms Kopf und schaute zu, wie Jamie im kühlen Wasser herumspritzte. Kürzlich hatte er ein Alter erreicht, in dem eine Mutter bei einem Blick auf ihr Baby entdeckt, dass es keines mehr ist, sondern ein voll entwickeltes Kind. Alles Runde hatte sich in die Länge gezogen: Die fetten, faltigen Beinchen hatten sich zu schlanken Gliedmaßen gestreckt, der Kugelbauch zu einem kerzengeraden Oberkörper gedehnt. Aus den Pausbacken hatte sich ein Gesicht herausgeschält. Nur allzu gerne betrachtete ich Jamies neues Ich, seine glatte Haut, die Biegung seines Nackens und seinen Goldschopf, der sich stets mit geneigtem Hals neugierig staunend in immer neue Wunder seiner Welt vertiefte.

Gerade hüpfte er auf der Jagd nach pfeilschnellen Libellen von Stein zu Stein und ruderte dabei heftig mit den Armen, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Vor meinen Augen landete eine davon auf einem Ast neben meiner Hand. Ihre durchsichtigen Flügel fingen das Licht in allen Regenbogenfarben, wie die bunten Glasfenster in unserer Kirche. Sachte legte ich einen Finger auf den Zweig und spürte das schnelle Zittern und hörte das leise Brummen, das von ihren vibrierenden Flügeln aufstieg. Dann hob sie ab und stürzte sich auf eine vorbeifliegende Wespe. Fadendünn hatten ihre Beine gewirkt, und doch schlossen sie sich wie eine Eisenfalle um die Wespe. Noch im Flug packte sie das Insekt mit ihren mächtigen Beißzangen und verschlang es. So geht das, dachte ich träge. Eine Geburt und ein Tod, beides unerwartet.

Ich lehnte mich gegen das Bachufer und schloss die Augen. Einen Augenblick war ich wohl eingenickt, sonst hätte ich sicher die nahenden Schritte unter den Bäumen gehört. Aber so stand er fast schon über mir, als ich die Augen öffnete und seinem Blick begegnete, der sich von dem aufgeschlagenen Buch hob, das er in der Hand trug. Ich sprang auf und zerrte an meinem Mieder herum. Tom öffnete seinen rosa Mund und heulte empört, weil seine Mahlzeit unterbrochen wurde.

Mit einem freundlichen Lächeln hob der Herr Pfarrer die Hand. »Er protestiert mit vollem Recht gegen mein Eindringen. Inkommodiere dich nicht, Anna. Tut mir Leid, dich derart überrascht zu haben, aber ich war dermaßen in mein Buch und in diesen zauberhaften Tag versunken, dass ich mir der Anwesenheit eines anderen Menschen im Wäldchen nicht bewusst wurde.«

Das plötzliche Auftauchen des Herrn Pfarrers hatte mich so überrascht und verlegen gemacht, dass ich zu keiner höflichen Antwort fähig war. Noch mehr erstaunte es mich, als er daraufhin nicht weiterging, sondern sich auf einen Nachbarfelsen setzte und seine Stiefel auszog, um seinen Füßen Kühlung zu verschaffen. Mit gewölbten Händen beugte er sich ins klare Wasser, spritzte sich kühles Nass ins Gesicht und fuhr sich dann mit den Fingern durch die langen schwarzen Haare. Im Halbschatten hob er sein Gesicht in die Sonne und schloss die Augen.

»Wie einfach verspürt man an einem solchen Tage Gottes Güte!«, flüsterte er. »Manchmal frage ich mich, warum wir uns in Kirchen einschließen. Kann ein Bau von Menschenhand das Göttliche so heraufbeschwören wie dieser Platz?«

Da ich noch zu aufgewühlt war, um mir eine Antwort auszudenken, verharrte ich weiter in dummem Schweigen, während Tom lauthals weiterbrüllte. Mister Mompellion sah, wie er sich in meinen Armen wand, und griff dann herüber, um ihn mir wegzunehmen. Verblüfft reichte ich ihn hinüber. Doch noch mehr erstaunte mich die geübte Art, wie ihn Mister Mompellion aufrecht gegen seine Schulter hielt und ihm kräftig den Rücken klopfte. Auf der Stelle hörte Tom mit dem Schreien auf und stieß einen lauten, nassen Rülpser aus. Hochwürden lachte. »Bei der Betreuung meiner kleinen Schwestern habe ich gelernt, dass mit Ausnahme von Mutter und Amme jeder ein Baby so halten muss. Aufrecht. Dann hört das Suchen nach der Brust auf.« Diese Bemerkung musste bei mir einen erstaunten Blick hervorgerufen haben, denn nach einem kurzen Seitenblick auf mich lachte Mister Mompellion erneut. »Du musst nicht glauben, dass sich das Leben eines Geistlichen ausschließlich zwischen hehren Kanzelworten bewegt.« Er deutete mit dem Kopf in die Richtung, wo Jamie bachabwärts so in den Bau seines Steckendammes vertieft war, dass er die Anwesenheit des Herrn Pfarrers lediglich mit einem kurzen Heben des Kopfes registriert hatte. »Wir alle gleichen zu Beginn nackten Kindern, die im Schlamm spielen.«

Mit diesen Worten gab er mir Tom zurück, stand auf und ging zu Jamie. Auf halbem Weg setzte er den Fuß auf einen glitschigen, moosbewachsenen Stein. Beim Versuch, sein Gleichgewicht wieder zu finden, ruderte er wie verrückt mit den Armen, und Jamie hüpfte im Wasser hoch und lachte so wild und unverblümt schadenfroh, wie das nur Dreijährige können. Stirnrunzelnd funkelte ich Jamie an, aber Mister Mompellion warf den Kopf zurück und stimmte in das Lachen ein, während er mit ausgestreckten Händen mitten durchs Wasser platschte, meinen quiekenden Kleinen schnappte und ihn hoch in die Luft warf. So spielten die zwei einige Zeit miteinander, ehe Mister Mompellion zu mir und Tom zurückkam und sich wieder in unserer Nähe auf die Böschung setzte. Seufzend schloss er erneut die Augen. Ein leises Lächeln spielte um seine Lippen.

»Mir tun alle Stadtbewohner Leid, denen die Liebe zu all dem nicht beigebracht wird – zum süßen Duft von nassem Gras und den ganz gewöhnlichen, alltäglichen Wundern der Schöpfung. Darüber las ich gerade, als ich dich störte. Möchtest du einige Zeilen aus meinem Text hören?«

Ich nickte, und er griff nach seinem Buch. »Das sind die Schriften des Augustinus von Hippo, ein Mönch, der vor langer Zeit an der afrikanischen Barbarenküste wegen seiner Theologie berühmt wurde. Hier fragt er sich selbst, was wir meinen, wenn wir von Wundern sprechen.«

Ich kann mich nur noch an Bruchstücke von dem erinnern, was er las, aber ich erinnere mich genau, wie seine Stimme mit den Rhythmen des Baches zu verschmelzen und den Worten eine bleibende Musik zu verleihen schien. »Denke an den Wechsel von Tag und Nacht an das Absterben der Blätter und ihr Wiedererscheinen an den Bäumen im nächsten Frühjahr, an die unendliche Kraft in den Samen und dann nenne mir irgendeinen Menschen, der diese Dinge zum ersten Mal sieht und erlebt, einen, mit dem wir noch immer sprechen können. Er staunt und ist von diesen Wundern überwältigt.«

Es tat mir Leid, als er zu lesen aufhörte. Wenn nicht die Ehrfurcht vor ihm mich stumm gemacht hätte, hätte ich ihn gebeten weiterzulesen. Doch obwohl ich tagtäglich in seinem Hause arbeitete, fiel mir nur mit seiner Frau das Reden leicht. Nicht, dass er in irgendeiner Weise barsch aufgetreten wäre, aber oft wirkte er so in wichtige Dingen versunken, dass er die Kleinigkeiten seines Haushalts nicht wahrnahm. Ich gab mir alle Mühe, ihn durch mein Kommen und Gehen und meine Arbeit nicht zu stören und kann mit einigem Stolz behaupten, dass er nur höchst selten Anlass hatte, mich wahrzunehmen. Deshalb saß ich nun stumm da. Ihm musste mein abwesender Blick leer oder gelangweilt erschienen sein, denn plötzlich stand er auf und ergriff sein Buch mit den Worten, er habe mich nun lange genug belästigt und müsse sich wieder um seine Belange kümmern.

Daraufhin fand ich tatsächlich zaghaft meine Stimme wieder und bedankte mich dafür, dass er diese großen Gedanken mit mir geteilt hatte. »Denn für mich ist es wundervoll, wenn ein derart erhabener Denker eine so enge Beziehung zu den ganz gewöhnlichen Dingen der Erde und der Jahreszeiten hat.«

Er lächelte freundlich. »Mistress Mompellion hat mir von deiner Auffassungsgabe berichtet, die sie für außergewöhnlich hält. Und ich sehe, dass sie Recht hat.« Daraufhin verabschiedete er sich und ging seines Weges. Ich blieb mit den Kindern noch eine Weile dort am Bach und dachte, dass man von Augustinus dasselbe sagen könne wie von unserem Geistlichen, und wie sonderbar es doch sei, einen derart offenen und freundlichen Mann auf unserer Kanzel zu haben.

Schließlich rief ich Jamie zu mir, und wir machten uns auf den Heimweg. Die ganze Strecke lief Jamie ständig auf die späten Wildrosen zu und pflückte ihre Blüten. Als wir uns der Kate näherten, ließ er mich an der Türe warten. »Mami, mach die Augen zu«, rief er aufgeregt. Folgsam wartete ich mit dem Gesicht in den Händen und überlegte, welches Spiel er jetzt wieder ersann. Wie immer, wenn er es eilig hatte, hörte ich ihn wie einen Welpen auf allen vieren die Treppe hinaufpoltern. Einige Augenblicke später ging droben der Fensterflügel auf.

»Jetzt, Mami! Schau rauf!« Als ich den Kopf zurücklegte und die Augen öffnete, fand ich mich in einem Samtregen aus Rosenblättern wieder. Der weiche süße Duftschauer streichelte meine Wangen. Ich zog meine Haube herunter und schüttelte meine langen Haare aus, damit sich die Blätter darin verfingen. Klein Tom gluckste vor Freude und hieb mit seinen fetten Fäustchen nach der leuchtenden Kaskade aus Rosa und zartem Gelb. Über mir beugte sich Jamie übers Fensterbrett und schüttelte die letzten Blütenblätter aus einem Betttuchzipfel.

Dies, dachte ich und lächelte zu ihm hoch, dieser Augenblick ist mein Wunder.

 

Und so vergingen die wundersamen Tage unserer Gnadenfrist. Ich war beschäftigt mit den Vorbereitungen für einen Winter, den man sich an jenen schläfrigen Nachmittagen nur schwer vorstellen konnte. Apfelleitern ragten durch die Bäume, und überall wurden in Erwartung eines kühleren Tages Dreifüße zum Schweineschlachten aufgestellt. Obwohl wir kein eigenes Schwein hatten, half ich immer meinen Nachbarn, den Hadfields, und bekam dafür eine Portion Speck und Schweinskopfsülze. Alexander Hadfield war ein pingeliger Mann, der lieber Stoffe zuschnitt, als an Fleisch und Knochen herumzuhacken. Deshalb erledigte der älteste Sohn aus Marys erster Ehe das Schlachten und Zubereiten. Jonathan Cooper war, wie sein verstorbener Vater, ein Riesenkerl und fackelte nicht lange herum, während sein kleiner Bruder Edward mit Jamie herumrannte. Immer wieder fanden sie Wege, sich um die Arbeiten zu drücken, die wir ihnen auftrugen. Jedes Mal wenn wir sie ein Holzscheit holen schickten, um das Wasser im Kessel am Kochen zu halten, verschwanden beide unter lautem Juchzen hinter dem Holzstoß, weil sie schon wieder ein neues Spiel erfunden hatten. Bis schließlich Mary aufhörte, Gedärme für die Wursthäute zu waschen, und nachschauen ging, welchen Schabernack die zwei ausgeheckt hatten. Sie kam mit beiden Händen voll zurück: Mit der einen hielt sie Edward am Ohr gepackt, die andere streckte sie so weit wie möglich von sich. Am Ende einer Schnur baumelte etwas Schwarzglänzendes. Als sie näher kam, konnte ich erkennen, dass es sich um eine tote Ratte handelte. Ein kläglicher kleiner, klatschnasser Körper mit wässrigen Augen und einer hellroten Blutspur um die Schnauze. Hinter ihr spazierte ein verlegener Jamie mit einer zweiten im Schlepptau. Im hohen Bogen warf Mary die eine, die sie trug, ins Feuer, und auf ihre Aufforderung hin tat es ihr Jamie widerwillig gleich.

»Kannst du dir vorstellen, Anna, die beiden haben mit diesen ekligen Tieren gespielt, als ob’s Kuscheltiere wären. Anscheinend wimmelt es im Holzstoß nur so davon. Alle tot. Na ja, man muss schon für Kleinigkeiten dankbar sein.« Da wir unsere Arbeit nicht unterbrechen konnten, rief Mary nach Alexander, er solle sich um die Rattenplage kümmern. Im Stillen lachten wir beide, als ihr Mann, der sich zu fein war, um beim Schweineschlachten zur Hand zu gehen, stattdessen blutige Nagetierkadaver einsammelte. Während wir weiter im Wettlauf gegen das schwindende Tageslicht schufteten, um das Fett auszulassen und die Speckseiten zu salzen, erleichterte uns sein Anblick ein wenig die schwere Arbeit, die uns wie immer verhasst war. Aber ich konzentrierte mich im Geiste auf den Geruch von brutzelndem Speck in meiner Pfanne und dachte daran, wie sich Jamie in wenigen Wochen darüber freuen würde.

 

Als sich der Himmel endlich bewölkte, war es fast eine Erleichterung. Der Nieselregen wirkte auf die Augen erholsam und wusch die Landschaft rein. Leider brachte die Feuchtigkeit nach dieser Hitze eine Flohplage von ungeahntem Ausmaß mit sich. Es ist schon merkwürdig, wie alle möglichen beißenden Ungeziefer den einen Menschen appetitlich finden, während ihnen ein anderer ganz und gar nicht schmeckt. In meinem Haus fielen die Flöhe über meine zarten Kinder her, sodass sie von Kopf bis Fuß mit juckenden Stellen übersät waren. Erst verbrannte ich alle unsere Strohbetten, dann machte ich mich auf den Weg zu den Gowdies, um eine Salbe zu holen. Halb hoffte ich, Anys erneut allein vorzufinden, da ich mich mit ihr gerne weiter unterhalten hätte. Darüber, wie man als Frau allein in der Welt zurechtkommt, wie ich meinen Zustand annehmen, ja sogar genießen konnte, so wie sie es offensichtlich tat. Sie hatte unverblümt genug auf ihre zahlreichen Liebhaber angespielt, und ich brannte darauf, mehr zu erfahren.

Deshalb war ich enttäuscht, als mir auf der Treppe nur die alte Mem entgegenkam. Ihr Umhang verriet, dass sie gerade fortgehen wollte, und ihr fahriges Verhalten brachte mich auf den Gedanken, man erwarte sie bei irgendeiner Niederkunft, obwohl mir diesbezüglich niemand einfiel. Jede der mir bekannten Schwangeren hatte noch mindestens einen Monat bis zur Geburt.

»Ach, Anna, den Gang hätte ich dir ersparen können, denn ich bin unterwegs zu den Hadfields. Der kleine Edward Cooper glüht vor Fieber, deshalb bringe ich ihm ein Tränklein.« Beunruhigt über diese Nachricht machte ich mich mit ihr auf den Rückweg. Trotz ihres hohen Alters und der dünnen Silberhaare, die unter der ausgefransten Haube hervorlugten, bewegte Mem sich so kraftvoll wie ein Mann. Während wir zu den Hadfields eilten, musste ich größere Schritte machen, um mit ihr mitzuhalten. Als wir zur Kate kamen, war an der Stange neben dem Wassertrog ein fremder Schecke angebunden. Mary kam uns an der Türe entgegen. Sie war vor Sorge ganz erhitzt, und anscheinend auch aus Verlegenheit. »Danke, Mem, wirklich, vielen Dank für dein Kommen, aber mein Mann hat nach Bakewell zum Bader geschickt, und der ist jetzt bei Edward. Ich bin überzeugt, dass wir alle für dein Wissen in diesen Sachen dankbar sind, aber mein Mann meinte, hier dürften wir nicht knausern. Außerdem hat mir Edwards Vater, Gott hab ihn selig, genug Mittel hinterlassen, um diese Ausgabe zu bestreiten.«

Mem zog ein saures Gesicht. Von Badern hielt sie genauso viel wie die meisten von uns von weisen Frauen. Und doch half uns Mem, so gut es ging, für ein paar Pence oder gegen Naturalien, wie es eben jedem von uns möglich war, während sich die Bader erst dann vom Fleck rührten, wenn ganze Schillinge in ihren Taschen klimperten. Mit einer kühlen Verbeugung drehte sich Mem um und ging weg. Aber ich war neugierig und blieb so lange, bis mir Mary bedeutete, ihr zu folgen. Der Bader hatte gebeten, das Kind nach unten zu bringen. Vermutlich ließ er sich zu keiner Arbeit im beengten Oberstock herab. Alexander Hadfield hatte seine Schneiderbank abgeräumt. Zuerst konnte ich das Kind nicht sehen, weil der dunkle massige Körper des Baders im Weg stand, aber als er einen Schritt beiseite trat, um etwas aus seiner Tasche zu holen, zuckte ich zusammen. Das arme Seelchen war über und über mit zuckenden Blutegeln besetzt, deren saugende Mundwerkzeuge tief in seinen zarten Armen und im Nacken steckten, während ihre runde, glitschige Kehrseite sich bei diesem Festmahl hin und her wand. Vermutlich konnte man von Glück sagen, dass Edward im Fieberwahn nicht begriff, was man ihm antat. Mit sorgenvoll gerunzelter Miene hielt Mary die schlaffe Kinderhand. Alexander Hadfield stand neben dem Bader, hielt ihm Tasche und Instrumente hin und nickte ehrerbietig zu jeder seiner Äußerung.

»Da er ein zierliches Kind ist, müssen wir nicht allzu viel ablassen, um die Balance seiner Säfte wiederherzustellen«, meinte der Bader zu Alexander Hadfield, der Edwards Schultern hielt. Als er mit der verstrichenen Zeit zufrieden war, rief er nach Essig, den er auf die aufgeblähten Kreaturen träufelte, sodass sie noch heftiger zuckten. Um dem Reizerreger zu entgehen, öffneten sich ihre Mundwerkzeuge. Nach mehrmaligem heftigem Ziehen klemmte er sie ab. Anschließend schoss hellrotes Blut heraus, das er mit kleinen Leinenläppchen stillte, die ihm Alexander Hadfield hergerichtet hatte. Jeden Blutegel reinigte er in einem Becher Wasser und ließ ihn dann in einen Lederbeutel fallen, in dem es von zuckendem Gewürm nur so wimmelte. »Sollte sich der Zustand des Kindes bis zum Anbruch der Nacht nicht verbessern, müsst ihr ihn purgieren und auf Diät setzen. Ich werde euch ein Rezept für eine Tinktur geben, die seinen Darm entleert.« Während sich Mary und ihr Mann überschwänglich bei ihm bedankten, packte er schon seine Tasche. Ich folgte ihm auf die Straße hinaus. Als die Hadfields außer Hörweite waren, wagte ich eine kühne Frage, die mich quälte.

»Bitte, verzeihen Sie, Sir, aber dieses Fieber bei dem Kind, könnte es sich um die Pest handeln?«

Der Mann wedelte herablassend mit der behandschuhten Hand und drehte sich nicht einmal um, um mich anzusehen. »Unmöglich«, sagte er. »Die Pest ist, dank Gottes Gnade, die letzten zwei Jahrzehnte nicht in unserer Grafschaft gewesen. Und außerdem finden sich am Kindeskörper keinerlei Anzeichen dafür. Es handelt sich lediglich um Fieberfäule. Wenn die Eltern meine Anweisungen befolgen, wird er am Leben bleiben.«

Er war so aufs Wegreiten versessen, dass er den Fuß bereits im Steigbügel hatte. Das Sattelleder knarrte, als er seinen breiten Oberkörper zurechtrückte. »Aber, Sir«, fuhr ich fort und mochte meiner eigenen Kühnheit kaum trauen, »wenn es hier in den letzten zwanzig Jahren keine Pest gab, dann haben Sie vielleicht auch keine Fälle gesehen, um den Zustand des Kindes richtig deuten zu können.«

»Unwissendes Weib!«, rief er, wobei er sein Pferd so achtlos wendete, dass feuchte Erdklumpen vom letzten Regen hochspritzten. »Willst du damit sagen, ich verstünde nichts von meinem Beruf?« Er schnalzte mit den Zügeln und wäre fort gewesen, wenn ich nicht das Pferd beim Zaumzeug gepackt hätte. »Sind Beulen im Nacken und rosige Ringe am Körper keine Anzeichen für Pest?«, rief ich.

Abrupt hielt er an und sah mir erstmals ins Gesicht. »Wo hast du so etwas gesehen?«, wollte er wissen.

»Auf dem Körper meines Logiergastes, der beim letzten Vollmond begraben wurde«, erwiderte ich.

»Und du lebst neben den Hadfields?«

»Im nächsten Haus.«

Bei diesen Worten bekreuzigte er sich. »Dann möge Gott dich und dieses Dorf retten«, sagte er. »Und sag deinen Nachbarn, sie möchten mich nicht mehr rufen lassen.« Damit war er fort, im gestreckten Galopp die Straße hinunter, dass er beinahe mit Martin Millers Heuwagen zusammengestoßen wäre, der soeben bei der Hauertaverne scharf um die Ecke bog.

 

Der kleine Edward Cooper war noch vor Sonnenuntergang tot. Sein Bruder Jonathan lag einen Tag später krank darnieder, und Alexander Hadfield ganze zwei Tage darauf. Binnen einer Woche war Mary Hadfield zum zweiten Mal in ihrem Leben Witwe, und ihre beiden Söhne lagen neben ihrem toten Vater auf dem Kirchhof. Ich war bei der Beerdigung nicht dabei, denn inzwischen hatte ich selbst genug Grund zur Trauer.

Mein Tom starb, wie es Babys tun, sanft und klaglos. Weil sie erst so kurze Zeit bei uns sind, scheinen sie am Leben nur schwach festzuhalten. Früher habe ich immer gedacht, das sei so, weil in ihnen noch immer die Erinnerung an den Himmel lebt. Wenn sie von hier scheiden, fürchten sie deshalb den Tod nicht so sehr wie wir, die nicht mehr mit Gewissheit sagen können, wohin unser Geist geht. Dies muss Gottes Güte sein, dachte ich, die Er ihnen und uns erweist, da Er so vielen Kindern nur ganz wenig Zeit lässt, bei uns zu verweilen.

Das Fieber stieg ganz plötzlich, noch vor Mittag, während ich im Pfarrhaus arbeitete. Jane Martin schickte auf der Stelle nach mir, wofür ich dankbar war. Sie nahm Jamie mit zu ihrer Mutter, damit ich mich voll und ganz Tom widmen konnte. Eine Weile schrie er, wenn er zu saugen versuchte und keine Kraft dafür aufbringen konnte. Dann lag er nur noch in meinen Armen, starrte mich aus weit aufgerissenen Augen an und wimmerte ab und zu. Bald schweifte sein starrer Blick ins Leere, bis er schließlich keuchend die Augen schloss. Ich saß neben dem Herd und hielt ihn voller Erstaunen. Wie konnte mir entgangen sein, dass sich sein kleiner Körper gestreckt hatte, sodass er, der einmal in meine Armbeuge gepasst hatte, jetzt über meine Arme hinausragte. »Bald wirst du bei deinem Vater sein«, flüsterte ich. »Er wird dich noch immer so halten können. In seinen starken Armen wirst du geborgen sein.« Lib Hancock kam mit frischem Schichtkäse, den ich nicht essen konnte, und sagte mir tröstliche Worte, die in meinem Kopf zu Unsinn gerannen. Nachmittags kam meine Stiefmutter, um sie abzulösen. An ihre Worte erinnere ich mich noch, so tief haben sie sich in mir eingebrannt.

»Anna, du bist eine Närrin.«

Erstaunt blickte ich auf. Zum ersten Mal riss ich an jenem Tag mühsam meine Augen von Toms Gesichtchen los. Hinter meinen Tränen tauchten ihre teigigen Gesichtszüge auf. Verzweiflung spiegelte sich in ihrer Miene, das sah ich.

»Warum gestattest du dir eine solche Liebe zu einem Wickelkind? Ich habe dich gewarnt. Habe ich dir nicht gesagt, du sollst dein Herz gegen so etwas wappnen?« Es stimmte. Aphra hatte schon drei eigene Kinder noch vor dem ersten Lebensjahr unter der Erde gesehen, eines wegen Fieber, das andere wegen Ruhr und der dritte, ein gesunder Junge, hatte einfach in seinem Bettchen zu atmen aufgehört, ohne irgendein äußeres Anzeichen. Ich hatte ihr bei all diesen Todesfällen beigestanden und mich über ihre trockenen Augen gewundert.

»Es ist Narretei und bringt Unglück, ein Kind zu lieben, bevor es läuft und gut gewachsen ist. Siehst’s ja jetzt selbst, siehst’s ja jetzt selbst …«

Als sie sah, wie mir die Augen überliefen, verlor ihre Stimme den herrischen Ton. Sie streckte eine Hand aus und wollte mich auf die Schulter tätscheln, aber ich schüttelte sie mit einem Schulterzucken ab. »Gott hat dein Herz verhärtet, Stiefmutter«, sagte ich. »Dafür kannst du dich bei Ihm bedanken. Mir hat Er diesen Gefallen nicht erwiesen, denn ich habe Tom von jenem Augenblick an geliebt, als ich zum ersten Mal seinen Scheitel berührte, auch wenn er noch ganz nass und blutig war …«

Nun weinte ich lauthals und konnte nicht mehr weitersprechen. Aphra gab mir einen Hexenstein und murmelte einige seltsame Worte darüber. »Den musst du über ihn hängen, damit nicht böse Geister seine Seele an sich reißen.« Ich nahm den Hexenstein entgegen und hielt ihn in der Hand, bis sie die Kate verließ. Dann warf ich ihn in hohem Bogen ins Feuer.

Als ich kurz darauf Schritte im Vorhof hörte, stöhnte ich auf, denn tief drinnen wusste ich, dass meine Zeit mit Tom in Windeseile verrann, eine Zeit, die ich mit niemandem sonst teilen wollte. Aber das sachte Klopfen und der leise Gruß verrieten mir, dass es Elinor Mompellion war. Ich bat sie einzutreten. Nach wenigen leisen Schritten kniete sie schon neben uns und nahm uns in ihre Arme. Sie schalt mich nicht wegen meines Kummers, sondern teilte ihn mit mir und linderte so mein Weinen und meine Wut. Später zog sie einen Stuhl ans Fenster und las mir Unseres Herren Worte über die Liebe zu kleinen Kindern vor, bis es zu dämmrig wurde. Ich lauschte ihr wie ein Wickelkind einem Wiegenlied, ohne auf die Worte zu merken, und wurde doch von ihrem Klang getröstet. Wahrscheinlich wäre sie die ganze Nacht geblieben, wenn ich ihr nicht gesagt hätte, ich würde Tom mit in mein Bett hinaufnehmen.

Beim Treppensteigen und während ich ihn auf unser Lager legte, sang ich ihm leise vor. Er blieb mit matt ausgebreiteten Armen liegen, wie ich ihn hinlegte. Ich bettete mich neben ihn, zog ihn dicht an mich und redete mir ein, er würde wie immer in den frühen Morgenstunden mit einem kräftigen Schrei nach Milch erwachen. Eine Zeit lang pochte sein kleiner Puls schnell, und sein winziges Herz klopfte, aber gegen Mitternacht wurde der Rhythmus unruhig und schwach, bis er zuletzt nur noch flatterte und schließlich erlosch. Ich sagte ihm, dass ich ihn liebte und nie vergäße. Und dann barg ich mit meinem ganzen Körper mein totes Baby und weinte, bis ich mit ihm in meinen Armen einschlief. Zum letzten Mal.

Beim Erwachen strömte Licht durchs Fenster, das Bett war nass, und eine Stimme heulte wild. Toms Lebensblut hatte sich über Hals und Darm aus dem kleinen Körper entleert. Wo ich ihn an mich gedrückt hatte, war mein eigenes Gewand klatsch-nass. Ich hob ihn von der blutigen Pritsche und rannte auf die Straße, wo schon alle meine Nachbarn standen. Alle Gesichter waren auf mich gerichtet, voller Trauer und Furcht. Einige hatten Tränen in den Augen. Aber die heulende Stimme gehörte mir.