Erlösung

 

Ich ging nicht wieder zu Aphras Hütte. Da das Kind tot war, redete ich mir ein, ich hätte dort nichts Sinnvolles zu tun. Mein Herz flüsterte, ich solle Aphra nicht ihrem Wahnsinn überlassen, aber ich horte nicht darauf. In Wahrheit hatte ich nicht das Gefühl, meinen eigenen Verstand so fest im Griff zu haben, dass ich dem Schrecken jenes Hauses gewachsen war. Mittlerweile werden wir nie erfahren, ob dies etwas geändert hätte. Inzwischen liegen schon viele Tage und Nächte hinter mir, in denen ich mir wegen meiner Entscheidung Vorwürfe mache.

Binnen ganz kurzer Zeit gelang es mir, jeden Gedanken an Aphra zu vermeiden. Dabei half mir, dass es sonst viel Grund zum Nachdenken gab. Denn während jener vierzehn Tage nach dem großen Brand geschah etwas im Dorf. Zuerst fiel es keinem von uns auf. Als es dann doch so weit war, sprach keiner von uns darüber. Aberglaube, Hoffnung, Nicht-glauben-Können – all das verbündete sich mit unserer alten Freundin, der Angst, und hielt uns davon ab.

Wie gesagt, etwas geschah. Doch in Wahrheit fiel mir eher auf, dass gewisse Dinge nicht geschahen. Nach dem letzten Julisonntag hörten wir nichts mehr von neuem Husten oder Fieberanfällen oder Pestbeulen. Die ersten zwei Wochen bemerkte ich das gar nicht. Noch immer machte mir eine ganze Anzahl Leute Sorgen, die schon seit Tagen krank waren und deren Ende sich nun abzeichnete. Aber bei unserer nächsten sonntäglichen Versammlung im Steinbruch zählte ich, wie gewohnt, alle Anwesenden und entdeckte zu meiner Überraschung, dass alle wieder hier waren, die auch bei unserem letzten Gottesdienst anwesend gewesen waren. Zum ersten Mal seit fast einem Jahr gab es niemand, den man vermisste.

Auch Mister Mompellion musste dies bemerkt haben, auch wenn er nicht direkt darauf anspielte. Stattdessen predigte er über die Auferstehung. Letzte Woche hatte es die meiste Zeit wie aus Kübeln geschüttet. Der nackte geschwärzte Kreis, wo wir unser Hab und Gut den Flammen übergeben hatten, war mit einem hoffnungsvollen grünen Schleier überzogen, auf den der Herr Pfarrer uns alle aufmerksam machte.

»Seht ihr, meine Freunde? Das Leben hat Bestand. Und wie das Feuer nicht den Lebensfunken auf einem schlichten Grasstück ersticken kann, so kann auch der Tod nicht unsere Seelen ersticken oder das Leid unseren Geist.«

 

Am nächsten Morgen ging ich auf der Suche nach Eiern in meinen Hof, wo ich einen fremden Hahn vorfand, der meine Hühner durcheinander brachte. Es war ein kühner Kerl und wich nicht von der Stelle, als ich ihn scheuchte, sondern lief tapfer auf mich zu, legte seinen schönen roten Kamm schief und musterte mich seitlich aus einem Auge.

»Na, jetzt schlägt’s aber dreizehn! Du bist doch der Hahn von Andrew Merrick, wenn ich nicht irre!« Noch während ich das sagte, flatterte er auf die Brunnenhaspel und begrüßte den Morgen mit einem mächtigen Krähen. »Sag mal, mein gefiederter Freund, was machst denn du hier, während dein Herr zum Zeitvertreib droben auf dem einsamen Gipfel hockt?« Daraufhin gab er mir keine Antwort, sondern flog davon, allerdings wider Erwarten nicht in Richtung der Einsiedlerhütte am Sir William Hill, sondern weiter östlich, zu Merricks schon lange verlassener Kate.

Woher wusste der Vogel, dass er sicher in sein altes Hühnerhaus zurückkehren konnte? Das wird für immer ein Geheimnis bleiben. Allerdings kam im Laufe dieses Tages auch Andrew Merrick heim, mit einem langen, buschigen Bart wie ein Prophet aus dem Alten Testament. Er käme, meinte er, weil er dem Urteil seines Vogels vertraue.

Soll ich sagen, dass wir jubelten, als Mensch wie Tier immer überzeugter wurden, dass die Pest wahrhaft fort war? Nein, von Jubel konnte keine Rede sein. Dazu gab es viel zu viele Verluste, zu tief war unser Inneres verletzt. Denn für jeden von uns, der immer noch auf Erden wandelte, lagen zwei darunter. Bei jedem Schritt kamen wir an den notdürftigen Gräbern unserer Freunde und Nachbarn vorüber. Obendrein waren wir alle völlig erschöpft. Hatte doch jeder Lebende im Laufe des Jahres die Pflichten und Aufgaben von zwei oder sogar drei Toten übernommen. An manchen Tagen kostete uns sogar das Nachdenken Mühe.

Trotzdem soll das nicht heißen, dass es nicht auch dem Bedrücktesten ein wenig leichter ums Herz wurde, als es einem nach dem anderen dämmerte, dass unsere Verluste endlich zum Stillstand gekommen und wir selbst verschont geblieben waren. Denn das Leben ist eben doch nicht nichts, nicht einmal für den Trauernden. Gewiss wurde das Menschengeschlecht so geschaffen. Wie sollten wir sonst weitermachen?

 

Im Pfarrhaus kam es zwischen Michael Mompellion und Elinor zu einer Meinungsverschiedenheit, der ersten, die mir je aufgefallen war. Sie vertrat die Ansicht, er solle einen Dankgottesdienst für unsere Erlösung halten, während er dagegenhielt, dafür sei die Zeit noch nicht reif. Eine vorzeitige Ansprache, das öffentliche Eingeständnis dessen, woran wir alle inzwischen in unserem Innersten glaubten, berge erheblich mehr Risiko als Nutzen.

»Welche Wirkung hätte es, wenn ich mich irrte?«, hörte ich ihn zu ihr sagen, während ich im Flur am Salon vorbeiging.

Etwas an seinem Tonfall erregte meine Aufmerksamkeit, sodass ich stehen blieb und lauschte, obwohl ich wusste, dass ich das nicht tun sollte.

»Wenn wir hier überhaupt etwas erreicht haben, dann das: Wir haben diese Qual auf unser Gebiet begrenzt. In ganz Derbyshire gibt es keinen Fall von Pest, der sich auf unser Dorf zurückführen lässt. Warum also unsere Opfer für ein oder zwei hastig vorgezogene Wochen riskieren?«

»Aber, mein Liebster«, erwiderte Elinor mit sanfter und doch nachdrücklicher Stimme, »hier gibt es Menschen – zum Beispiel die Witwen Hancock und Hadfield und Waisen wie Merry Wickford und Jane Martin und noch viele mehr –, die jedem Mitglied ihrer Familien ins Grab nachschauen mussten. Sie haben genug gelitten. Warum musst du dieses Leid verlängern, wenn du, wie ich weiß, glaubst, dass die Pest vorbei ist? Sie sollten keinen Tag länger als nötig hier in ihrer Einsamkeit verweilen. Es sollte ihnen freistehen, zu ihren Verwandten zu gehen oder sich von ihnen hier besuchen zu lassen, damit sie vielleicht allmählich ein Mindestmaß an Liebe und Trost und neuem Leben finden können.«

»Glaubst du nicht, dass ich an sie denke? Ich, der in diesen vielen erbärmlichen Monaten an nichts anderes gedacht hat?« Bei diesem letzten Satz hatte seine Stimme eine bittere Schärfe, die ich noch nie bei einem Gespräch zwischen ihnen vernommen hatte. »Die Verzweiflung ist eine Höhle unter unseren Füßen, auf deren schmalem Rand wir balancieren. Gesetzt den Fall, ich irre mich, und die Pest ist immer noch bei uns. Möchtest du, dass ich diese Leute in hoffnungslose Untiefen stürze, aus denen ich sie nie und nimmer herausholen kann?«

Ich hörte ihr Kleid rascheln, als sie sich umdrehte und zur Türe ging. »Wie du es für richtig hältst, mein Gemahl. Trotzdem flehe ich dich an, lass diese Menschen nicht ewig warten. Nicht jeder besitzt so viel unbeugsame Entschlossenheit wie du.«

Als sie aus dem Zimmer kam, zog ich mich schnell in die Bibliothek zurück. Sie sah mich nicht, als sie vorbeieilte, aber ich sah sie: Ihr hübsches Gesicht war ganz verzerrt. Nur mühsam konnte sie die Tränen zurückhalten.

 

Keine Ahnung, wie es schließlich zur Entscheidung gekommen war. Nur wenige Tage nachdem ich diese Unterhaltung belauscht hatte, flüsterte mir Elinor zu, der Herr Pfarrer habe sich für den zweiten Sonntag im August entschieden. Auch ohne offizielle Ankündigung sprach sich das irgendwie rasch im ganzen Dorf herum. Als der festgesetzte Tag endlich kam, versammelten wir uns unter dem Licht- und Schattenspiel des Steinbruchs und hofften inständigst, es wäre das letzte Mal. Ohne Scheu traten die Leute näher, schüttelten einander die Hand und plauderten unbeschwert, während sie auf den Herrn Pfarrer warteten.

Endlich kam er, bekleidet mit einem weißen Chorhemd, dessen Ränder mit feinster Spitze verziert waren, die an Schaum erinnerte. So etwas hatte er noch nie getragen. Da er die Kanzel von einem Puritaner übernommen hatte, hatte er sich für eine schlichte Kleidung entschieden, um die Stimmung nicht wegen Dingen aufzuheizen, die er für die Art und Weise unseres Gottesdienstes unerheblich fand. Auch Elinor neben ihm war ganz in Weiß gekleidet: ein schlichtes Kleid aus Sommerbaumwolle, zart bestickt mit weißen Seidenornamenten. Ihre Arme waren voller Blumen, die sie ganz impulsiv aus ihrem Garten und von den ungeschnittenen Hecken am Pfarrweg gepflückt hatte: zarte rosa Malvenblüten und dunkelblauer Rittersporn, hohe Lilienkelche und büschelweise duftende Rosen. Als der Herr Pfarrer zu sprechen begann, strahlte sie ihn an. Ihr Gesicht war von innen erleuchtet, das Schattenspiel brachte ihre blassgoldenen Haare rings ums Gesicht wie eine Krone zum Strahlen. Sie sieht wie eine Braut aus, dachte ich. Aber auch bei Beerdigungen gibt es Blumen, und Leichentücher sind ebenfalls weiß.

»Lasst uns Dank sagen«, war alles, wozu Michael Mompellion noch Zeit blieb. Als Antwort erhielt er ein grelles gellendes Gekreische, das die Luft durchschnitt und ringsum von den hohen gewölbten Steinbruchwänden widerhallte. Erst nachdem es aufgehört hatte, begriff ich, dass sich in diesem Lärm Wörter verbargen, englische Wörter.

»Wofüüüüüür?«, kreischte sie erneut.

Beim ersten Schrei hatte Mompellion ruckartig den Kopf hochgerissen. Jetzt drehten wir uns alle um und schauten in dieselbe Richtung.

Jeder von uns hätte Aphra aufhalten können. Ich hätte es tun können. Das Wüten ihres Wahnsinns hatte sie zum Strich abmagern lassen. In der Rechten hielt sie ein Messer, mit dem sie wie wild herumfuchtelte. Als sie an mir vorbeifegte, erkannte ich in ihm das große Knappenmesser wieder, das sie meinem Vater unter so viel Mühe aus den verwesenden Handsehnen gezerrt hatte. Ihr anderer Arm umklammerte die Überreste des Leichnams ihrer Tochter, in dem es von Würmern bereits wimmelte. Damit wäre es ein Leichtes gewesen, sie von links abzufangen. Aber statt über sie herzufallen, schraken wir alle zurück. Um möglichst viel Abstand zwischen uns und dem sich uns bietenden Schreckensbild zu legen, stolperten wir vor Hast über die eigenen Füße.

»Mom-pell-ion!« Wie ein Schrei entfuhr dieses Wort den Untiefen ihrer Kehle, wo normalerweise keine menschlichen Stimmen gebildet werden.

Er wich als Einziger nicht zurück, sondern trat zur Antwort auf sie zu. Ruhig verließ er seinen Felsvorsprung und schritt gleichmäßig über den grünen Rasen, der sie trennte. Er ging auf sie zu wie einer, der eine Liebste begrüßt. Als er die Arme hob, formte die Spitze seines Chorhemds einen weiten Bogen.

Ein leiser Windhauch bauschte das zierliche Material. Es ist ein Netz, und darin wird er sie fangen – dieser verrückte Gedanke schoss mir durch den Kopf. Jetzt rannte Aphra mit hoch erhobener Klinge los.

Er schnitt ihr den Weg ab. Seine Arme packten sie. Wie ein Vater, der ein allzu übermütiges Kind hochreißt, zog er sie an sich. Seine große Hand umspannte ihr zerbrechliches Handgelenk. Obwohl ich ihrem angespannten Unterarm ansah, dass sie sich alle Mühe gab, war er so stark, dass sie keine Chance hatte, sich loszureißen. Elinor rannte auf die beiden zu, ließ den großen Blumenstrauß vor ihren Füßen fallen und breitete die Arme weit aus. Wenn das Messer nicht gewesen wäre, hätte man sie für eine Familie halten können, die sich nach langer Trennung wiedersieht.

Mompellion redete auf Aphra ein. Seine Stimme glich einem tiefen, beruhigenden Summton. Was er sagte, konnte ich nicht verstehen, aber langsam schien die Anspannung aus ihrem Körper zu weichen. Als er seinen Griff lockerte, konnte ich erkennen, dass ihre Schultern vor Schluchzen bebten. Elinor streichelte mit der Linken Aphras Gesicht, während sie ihre Rechte ausstreckte, um ihr das Messer abzunehmen.

Alles hätte gut gehen können. Alles hätte hier enden können. Aber der Arm des Herrn Pfarrers, mit dem er Aphra so fest hielt, umfasste auch die fragilen Leichenreste von Faith. Der Druck jenes Griffs war für die zarten Knochen zu viel. Ich hörte es knacken. Ein trockenes Geräusch, als ob das Gabelbein eines Huhns zerbricht. Der kleine Schädel sprang vom Rückgrat und fiel ins Gras, wo er hin und her rollte. Starr blickten die leeren Augenhöhlen.

Angeekelt wandte ich mich um. Deshalb sah ich auch nicht genau, wie es zu den Messerstichen kam, die Aphra in einem neuen Anfall wilden Wahns austeilte. Eines weiß ich: Die Tat dauerte lediglich einen Augenblick. Einen Augenblick, um zwei Leben zu nehmen und ein weiteres zerstört zurückzulassen.

Die Wunde an Elinors Hals glich einer flachen Kurve. Eine Sekunde lang war sie nur ein schmaler roter Strich, der sich wie ein Lächeln nach oben zog. Dann aber spritzte in einem grellroten Schwall Blut hervor und färbte ihr weißes Kleid mit roten Streifen. Sie sackte zu Boden. Die verstreuten Blumen aus ihren Armen empfingen sie wie eine Bahre.

Aphra hatte das Messer gegen sich selbst gewendet und es sich bis zum Heft tief in die Brust gestoßen. Und doch stand sie noch immer aufrecht, wenn auch schwankend. Die unheimliche Kraft der Wahnsinnigen hielt sie auf den Beinen. Sie schleppte sich zu der Stelle, wo der Schädel ihres Kindes lag. Dann brach sie in die Knie, griff nach unten, barg ihn mit äußerster Zärtlichkeit in beiden Händen und drückte ihn an ihre Lippen.