Rosenkranz

 

Der Winter nach Sams Tod in der Grube war die härteste Jahreszeit meines bisherigen Lebens. Als daher im darauf folgenden Frühling George Viccars auf der Suche nach Logis an meine Türe trat und anklopfte, glaubte ich, Gott hätte ihn gesandt. Später gab es welche, die sagten, es sei der Teufel gewesen.

Um mir das zu sagen, kam Klein Jamie ganz erhitzt und aufgeregt zu mir gelaufen, wobei er über seine Füße ebenso stolperte wie über die Wörter. »Draußen, Mami, ‘n Mann. Draußen, an’er Tür, ‘n Mann.«

Als ich vom häuslichen Herd trat, zog George Viccars schwungvoll seinen Hut vom Kopf und richtete den Blick respektvoll zu Boden, ganz im Gegensatz zu all den anderen Männern, die dich wie ein Stück Rindvieh bei der Versteigerung mustern. Wer mit achtzehn Witwe ist, gewöhnt sich allmählich an diese Blicke und wird gegenüber den Männern, die sie einem zuwerfen, abgehärtet.

»Wenn’s beliebt, Mistress Frith, so hat man mir im Pfarrhaus erzählt, Sie hätten vielleicht ein Zimmer zu vermieten.«

Störschneider sei er, sagte er, und seine eigene gute und schlichte Kleidung verriet, dass er Talent besaß. Obwohl er schon den ganzen langen Weg von Canterbury zurückgelegt hatte, sah er sauber und ordentlich aus. Das beeindruckte mich vermutlich. Gerade eben hatte er sich eine Stelle bei meinem Nachbarn Alexander Hadfield gesichert, der zurzeit Aufträge im Übermaß befriedigen musste. Er wirkte bescheiden und unaufdringlich, aber als er mir sagte, er sei bereit, wöchentlich einen Sixpence für die Dachkammer unter meinem Giebel zu bezahlen, hätte ich ihn sogar genommen, wenn er wie ein Trunkenbold gegrölt hätte und schmutzig wie eine Sau gewesen wäre. Ich vermisste die Einkünfte von Sams Flöz schmerzlich. Da ich Tom immer noch stillte, konnte ich den kargen Ertrag vom Vieh nur wenig durch meine vormittägliche Arbeit im Pfarrhaus und gelegentliche Dienste im Herrenhaus aufbessern, wenn dort zusätzliche Hände gebraucht wurden. Mister Viccars’ Sixpence würde für unser Häuschen viel bedeuten. Aber am Ende der Woche hätte am liebsten ich ihn bezahlt, denn George Viccars brachte das Lachen wieder ins Haus. Und als ich später erneut einen klaren Gedanken fassen konnte, war ich froh, dass mir die Erinnerung an jene Frühlings- und Sommertage blieb, an denen Jamie lachte.

Während meiner Arbeit passte die junge Tochter der Martins an meiner Stelle auf das Baby und Jamie auf. Sie war ein braves Mädchen und ließ die Kinder nicht aus den Augen, aber ansonsten war sie eine Puritanerin durch und durch, die Lachen für gottlos hielt. Jamie mochte ihre ernste Art nicht und war immer so froh, wenn er mich heimkommen sah, dass er zur Türe sauste und ganz fest meine Knie umklammerte. Am Tag nach George Viccars’ Ankunft stand jedoch kein Jamie an der Türe, doch ich hörte hohes Kinderlachen. Ich weiß noch genau, wie verwundert ich war. Was war mit Jane Martin geschehen? Hatte sie sich tatsächlich überwunden, mit ihm zu spielen? Als ich zur Türe kam, rührte Jane mit ihrer üblichen schmallippigen finsteren Miene im Suppentopf, während George Viccars auf allen vieren mit einem vor Begeisterung quietschenden Jamie als Reiter auf dem Rücken durchs ganze Zimmer kroch.

»Jamie! Steig sofort von dem armen Mister Viccars herunter!«, rief ich, aber George Viccars warf nur lachend seinen Blondschopf zurück und wieherte. »Ich bin sein Pferd, Mistress Frith, wenn Sie nichts dagegen haben. Er ist ein ausgezeichneter Reiter und gibt mir kaum die Peitsche.« Am nächsten Tag fand ich beim Heimkommen einen Jamie vor, der wie ein Harlekin mit sämtlichen Stoffresten aus George Viccars’ Felleisen herausgeputzt war. Und wieder einen Tag später waren die zwei gerade dabei, die Stühle mit Hafersäcken zu verhängen, um daraus ein Haus zum Versteckspielen zu bauen.

Ich versuchte, George Viccars wissen zu lassen, wie sehr ich seine Freundlichkeit schätzte, aber er tat meinen Dank nur ab. »Ach, er ist ein prächtiger kleiner Junge. Sein Vater muss sehr stolz auf ihn gewesen sein.« Also versuchte ich, es ihm dadurch zu entgelten, dass ich besser auftischte, als es bei uns ansonsten üblich gewesen wäre. Und er lobte mich überschwänglich für meine Kochkünste. Da es damals in den Nachbardörfern keinen Schneider gab, hatte Mister Hadfield reichlich Arbeit für seinen neuen Gesellen. Mister Viccars nähte bis tief in die Nacht hinein und verbrannte eine ganze Unschlittkerze, während er mit flinker Nadel am Feuer saß. Wenn ich nicht zu müde war, suchte ich mir manchmal in Herdnähe eine Beschäftigung, um ihm ein wenig Gesellschaft zu leisten, was er mir mit vielerlei Geschichten aus jenen Orten vergalt, wo er sich schon aufgehalten hatte. Für einen jungen Mann hatte er bereits viel gesehen und konnte außerdem sehr lebendig erzählen. Wie die meisten in unserem Dorf hatte auch ich keine Möglichkeit, weiter zu reisen als bis zum sieben Meilen entfernten Marktflecken. Chesterfield, unsere nächste Stadt, liegt doppelt so weit weg, doch einen Anlass für eine Reise dorthin hatte ich nie gehabt. Mister Viccars kannte die großen Städte London und York, das rege Hafenleben von Plymouth sowie den nicht enden wollenden Pilgerstrom in Canterbury. Ich lauschte seinen Geschichten über diese Orte und über die Art, wie die Leute dort lebten, mit Vergnügen.

Solche Abende hatte ich mit Sam nie gehabt. Er hatte sich für jegliche Information aus der winzigen Welt, an der ihm lag, auf mich verlassen. Er wollte nur von den Dorfbewohnern hören, die er von Kindesbeinen an kannte, von den kleinen Ereignissen, die ihre Tage prägten. Und deshalb erzählte ich ihm so bedeutende Neuigkeiten wie vom neuen Stierkalb, das bei Martin Highfield eingetroffen war, und von der Witwe Hamilton, die auf ihre Schafschur wartete. Er war’s zufrieden, wenn er nur völlig erschöpft auf seinem Stuhl saß, der seinen mächtigen Körper nicht fassen konnte und darunter ganz winzig aussah. Wenn mir der Gesprächsstoff ausging, strahlte er mich noch breiter an und griff nach mir. Seine Hände waren große, schrundige Pranken mit zerbrochenen, geschwärzten Nägeln. In seiner Vorstellung bestand der Liebesakt aus einem raschen und verschwitzten Ringkampf, einem Erguss und danach Schlaf. Ich dagegen lag anschließend stets noch unter seinem schweren Arm wach und versuchte, mir die dämmrigen Untiefen seines Geistes auszumalen. Sams Welt war ein feuchtdunkles Labyrinth aus Schächten und Stollen, fünf Klafter unter der Erde. Er wusste, wie man mit Wasser und Feuer Kalkstein sprengt, kannte den gegenwärtigen Wert eines Bleibarrens, wusste, wessen Flöze vermutlich noch vor Jahresende erschöpft waren und wer wem etwas droben unter dem Edge geklaut hatte. So weit ihm die Bedeutung von Liebe bewusst war, wusste er, dass er mich liebte, umso mehr, nachdem ich ihm Söhne geschenkt hatte. In diesen engen Grenzen verlief sein ganzes Leben.

George Viccars schien nie Grenzen gekannt zu haben. Beim Eintritt in unser Häuschen brachte er die große weite Welt mit. Er stammte aus dem Peak District und war in einem Dorf am Fuße des Kinder Scout geboren worden. Allerdings hatte man ihn schon als Lehrling nach Plymouth geschickt, wo er im Hafen Seidenhändler gesehen und sich mit Spitzenmachern angefreundet hatte, sogar mit verfeindeten Holländern. Und welche Geschichten er erzählen konnte: von barbarischen Seefahrern, die indigoblaue Turbane um ihre kupferfarbenen Gesichter wickelten; von einem muselmanischen Kaufmann, dessen vier Frauen so tief verschleiert waren, dass jede beim Herumlaufen nur mit einem Auge aus ihrer Hülle blinzeln konnte. Am Ende seiner Lehrzeit war er nach London gegangen, da die Rückkehr von König Karl IL für Aufschwung in jeglichem Gewerbe gesorgt hatte. Dort war er reichlich damit beschäftigt gewesen, Livreen für die Bediensteten der Höflinge zu schneidern. Und trotzdem war er der Stadt überdrüssig geworden.

»London ist etwas für die ganz Jungen und die Schwerreichen«, sagte er. »Andere können dort nicht lange Erfolg haben.«

Angesichts der Tatsache, dass er noch nicht einmal Mitte zwanzig war, meinte ich lächelnd, auf mich wirke er aber noch jung genug, um Straßenräubern auszuweichen und von durchzechten Nächten in Bierschenken Abstand zu nehmen.

»Schon möglich, Mistress«, erwiderte er. »Trotzdem wurde ich es Leid, nicht weiter als bis zur rußgeschwärzten Wand auf der gegenüberliegenden Straßenseite zu sehen und immer nur den Krach von Kutschenrädern zu hören. Ich sehnte mich nach Platz und guter Luft. Man möchte nicht meinen, dass in London Menschen überhaupt noch Luft einatmen. Überall spucken die Kohlefeuer Ruß und Schwefel aus, vergiften das Wasser und verwandeln sogar die Paläste in schwarz-düstere Ruinen. Die Stadt gleicht einem korpulenten Mann, der sich in das Wams zu zwängen versucht, das er als kleiner Junge trug. So viele sind auf der Suche nach Arbeit dorthin gezogen, dass bis zu zehn und zwölf Menschen in einem einzigen Raum zusammengepfercht leben müssen, der nicht größer ist als der, in dem wir sitzen. Arme Seelen haben versucht, an ihre Behausungen anzubauen und möglichst viel Raum zu gewinnen. Nun ragen diese unförmigen Gebäudeteile so weit in die Gassen hinein und schwanken hoch über verrottenden Dächern, dass man sich nur wundern kann, wie sie dieses Gewicht tragen können. Irgendwie kleben überall Dachrinnen und Wasserspeier daran, sodass einem nach jedem Regen noch lange das Wasser auf den Kopf tropft und man immer klammfeucht ist.«

Außerdem hatte er, nach eigenen Worten, allmählich jene feinen Herren satt, die für ihren gesamten Haushalt maßgeschneiderte Livreen bestellten und ihn dann ein Jahr und mehr warten ließen, bis sie ihre Rechnungen beglichen. »Eines kann ich Ihnen versichern: Ich muss mich schon glücklich schätzen, wenn ich überhaupt bezahlt wurde«, fügte er hinzu, denn er hatte Kollegen gehabt, die durch die säumigen Zahler in den Ruin getrieben worden waren.

Nachdem er sich vergewissert hatte, dass ich keinerlei puritanische Neigungen hatte, verriet er mir einige Geschichten von derben Zechgelagen, die er selbst in der Stadt erlebt hatte, nachdem der König nach seinem Exil wieder heimatlichen Boden angelaufen hatte. Anfänglich war ich überzeugt, er würde diese genauso kunstvoll ausschmücken wie die Stoffe in seiner Hand. Deshalb forderte ich ihn eines Abends heraus, als wir einträchtig beieinander saßen. Er im Schneidersitz auf dem Boden unter dem Stück Leinen, das er gerade stickte, ich mit fettigen Fingern am Tisch, wo ich Haferkekse formte und zum Trocknen vor dem Feuer auffädelte.

»Nein, Mistress, ganz und gar nicht, im Gegenteil. Schließlich will ich Sie nicht beleidigen.«

Darüber lachte ich und erklärte ihm, wer wissen möchte, wie es in der Welt zugeht, müsse sich auf eine nicht allzu nette Wahrheit gefasst machen. Vielleicht habe ich ihn zu sehr in diese Richtung gedrängt, vielleicht war aber auch der zweite Becher meines selbst gebrauten guten Bieres daran schuld, das ich ihm einschenkte. Jedenfalls legte er mit einer Geschichte los, wie der König einmal verkleidet in ein Hurenhaus ging und dort gründlich von Taschendieben ausgenommen wurde. Mister Viccars war überrascht, als ich darüber lachte und zu ihm meinte, hoffentlich hätte sich die fragliche Dame mit einer stolzen Summe aus dem Staub gemacht, denn das hätte sie sich mit ihren Diensten an so einem Kerl redlich verdient.

»Sie tadeln sie nicht, weil sie ein Leben in Lust und Ausschweifung gewählt hat?«, erkundigte er sich mit gespieltem Ernst und zog die Augenbrauen hoch.

»Schon möglich«, erwiderte ich, »aber ehe ich einen Schuldspruch fälle, wüsste ich gerne, welche Möglichkeiten sie in jener harten Welt hatte, die Sie mir beschrieben haben. Wer in der Gosse ertrinkt, zerbricht sich vermutlich in erster Linie den Kopf übers Ertrinken und nicht über den Gestank.« Vielleicht war meine Bemerkung zu offen, denn was er nunmehr aus den Gedichten des königlichen Lieblingspoeten, des Earls von Rochester, zitierte, schockierte mich so sehr, dass ich noch immer den Großteil der Zeilen weiß. George Viccars war ein guter Schauspieler. Bevor er mir die Verse aufsagte, äffte er ein geckenhaftes Grinsen nach und änderte seine sanfte Stimme in ein vornehmes Gewiehere:

 

»Um elf aus dem Bett, zum Diner um zwei,

Vor sieben besoffen, und dann, eideidei,

Holt mir die Hure. Doch aus Angst vor der Fotze

Fick ich die Hand ihr und in den Schoß ich kotze …«

 

Weiter ließ ich ihn nicht aufsagen. Ich legte die Hände über die Ohren und entschuldigte mich auf der Stelle. Gewiss ist es mir zuwider, andere Menschen abzuurteilen, und doch fällt es mir schwer zu glauben, dass sich die Adeligen und Vornehmen, die sich so viel auf ihre Überlegenheit über uns zugute halten, so widerwärtig benehmen können, dass im Vergleich dazu die Miesesten von uns wie Engel wirken. Als ich später in meinem Zimmer zwischen meinen Kleinen, die sich neben mir zusammengerollt hatten, auf der Pritsche lag, bedauerte ich mein Verhalten. Eigentlich wollte ich doch unbedingt über Orte und Leute Bescheid wissen, die ich nie persönlich zu Gesicht bekommen würde. Deshalb befürchtete ich jetzt, Mister Viccars würde mich für derart prüde halten, dass er nicht mehr offen mit mir spräche.

Und tatsächlich wirkte der arme Mann am nächsten Tag ganz betreten und befürchtete, er habe mich unwiderruflich beleidigt. Daraufhin erklärte ich ihm, Wissen an und für sich sei nichts Böses, das habe mir unser Herr Pfarrer persönlich erzählt. Nur die Art und Weise, wie jemand damit umgeht, könne seine Seele in Gefahr bringen. Ich äußerte meine Dankbarkeit dafür, dass mir Einblick in den Zustand der höchsten Kreise unseres Landes gewährt worden war. Und noch dankbarer wäre ich, wenn ich weitere derartige Gedichte zu hören bekäme. Sei es denn nicht recht und billig, wenn sich alle loyalen Untertanen Seiner Majestät bemühten, es dem König gleichzutun? Damit zogen wir das Ganze ins Scherzhafte, und während der Frühling langsam dem Sommer wich, wurde unser Umgang immer selbstverständlicher.

Alexander Hadfield hatte aus London einen Ballen Stoffe bestellt. Als das Paket eintraf, herrschte große Aufregung, wie es eben immer ist, wenn Waren aus der Stadt ankommen. Schließlich wollten viele im Dorf unbedingt wissen, welche Farben und Schnitte man derzeit in der Stadt trägt. Weil das Paket feucht ankam – es hatte die letzte Wegstrecke in einem offenen Ochsenkarren ungeschützt im Regen zurückgelegt –, bat Alexander Hadfield seinen Gehilfen, sich um das Trocknen zu kümmern. Also zog George Viccars Leinen durch unseren Garten vor der Kate und schlang die Stoffbahnen darum. Damit hatte jeder reichlich Gelegenheit, sie sich anzusehen und seine Bemerkungen dazu abzugeben. Natürlich machte Jamie ein Spiel daraus, rannte zwischen den flatternden Bahnen hin und her und tat so, als sei er ein Ritter beim Turnier.

George Viccars hatte überreichlich Bestellungen. Umso überraschter war ich, als ich nur wenige Tage nach der Ankunft der Londoner Stoffe bei meiner Rückkehr von der Arbeit ein Kleid aus feinster Wolle zusammengefaltet auf dem Lager in meinem Zimmer vorfand. Es hatte die grün-goldene Farbe sonnengefleckter Blätter und einen schlichten, aber guten Schnitt, der trotzdem schmeichelte, da Kragen und Manschetten mit Genueser Spitze verziert waren. So etwas Hübsches hatte ich noch nie besessen. Sogar für meine Hochzeit hatte ich mir von einer Freundin ein Kleid geborgt. Und seit Sams Tod hatte ich ein und denselben formlosen Kittel aus rauer Serge getragen, puritanisch schwarz und ohne jegliche Verzierung. Eigentlich erwartete ich auch künftig nichts anderes, da ich weder über Geldmittel verfügte noch zur Putzsucht neigte. Und doch hielt ich das weiche Gewand vor mich hin, trat ans Fenster und versuchte, wie ein aufgeregtes Mädchen ein wenig von meinem Spiegelbild in der Scheibe zu erhaschen. Im Glas sah ich George Viccars hinter mir stehen und ließ das Gewand fallen. Ich schämte mich, weil man mich bei hoffärtigem Tun ertappt hatte. Aber er strahlte mich an, und als er meine Verlegenheit bemerkte, senkte er höflich die Augen.

»Verzeihen Sie mir, aber schon beim ersten Anblick dieses Tuches habe ich sofort an Sie gedacht, denn das Grün entspricht genau Ihrer Augenfarbe.«

Ich spürte, wie ich rot anlief. Und weil ich mich darüber ärgerte, brannten Wangen und Hals nur noch mehr. »Sie sind so freundlich, aber trotzdem kann ich dieses Gewand nicht von Ihnen annehmen. Sie wohnen hier bei mir zur Untermiete, und ich bin froh, jemanden wie Sie zu haben. Aber es muss Ihnen klar sein, dass es gefährlich ist, wenn Mann und Frau unter einem Dach wohnen. Ich fürchte, wir überschreiten die Grenzen zur Freundschaft allzu hastig …«

»Wenn’s doch nur so wäre«, warf er leise ein und machte ein ernstes Gesicht. Seine Augen suchten mich. Nun lief ich erneut puterrot an und wusste keine Antwort mehr. Auch er wirkte ziemlich erhitzt. Ob auch er rot wurde? Aber als er dann einen Schritt auf mich zu tat, stolperte er ein bisschen und musste sich rasch mit einer Hand an der Wand abstützen, um sein Gleichgewicht wiederzufinden. Plötzlich spürte ich, wie leiser Ärger in mir hochstieg, denn ich dachte, er hätte sich aus dem Bierkrug bedient. Ich wappnete mich, falls sich sein Benehmen jenen Grog umnebelten Tölpeln annähern sollte, mit denen ich mich manchmal seit Sams Tod auseinander setzen musste. Aber George Viccars hielt seine Hände im Zaum, hob sie an die Braue und rieb darüber, als ob er Schmerzen hätte. »Behalten Sie das Gewand auf alle Fälle«, meinte er leise. »Ich möchte Ihnen nur dafür danken, dass Sie mich in Ihrem Haus willkommen heißen.«

»Sir, ich danke Ihnen. Trotzdem kommt es mir nicht richtig vor«, sagte ich, wobei ich das Gewand faltete und ihm hinhielt.

»Warum holen Sie sich nicht morgen früh Rat, wenn Sie im Pfarrhaus sind?«, sagte er. »Falls Ihr Pastor nichts Unschickliches daran findet, dann gibt’s da wohl auch nichts zu finden, oder?«

Ich fand seinen Vorschlag ziemlich weise und stimmte zu, denn eines wusste ich: Wenn ich auch in einer derartigen Angelegenheit mein Herz nicht dem Herrn Pfarrer ausschütten konnte, so wüsste doch Elinor Mompellion einen Rat. Außerdem entdeckte ich zu meiner Überraschung, dass in mir noch immer genug Weiblichkeit lebte, um dieses Gewand tragen zu wollen.

»Werden Sie’s denn nicht wenigstens anprobieren? Jeder Handwerker wüsste doch nur allzu gern, wo er in seinem fachlichen Können steht. Und sollten Sie morgen erfahren, dass Sie dieses Geschenk nicht annehmen dürfen, dann haben Sie meine Mühen und meinen Stolz auf meine Handwerkskunst wenigstens damit vergolten, dass Sie mich sehen lassen, wie ich gearbeitet habe.«

Habe ich Recht getan, weil ich auf seinen Vorschlag so bereitwillig eingegangen bin? Da stand ich nun im Türrahmen und betastete den feinen Stoff. Meine Neugierde, dieses Gewand am eigenen Körper zu haben, siegte über mein Gespür dafür, was sich schickte und was nicht. Ich winkte Mister Viccars die Treppe hinunter, wo er auf mich warten sollte, und zog meine grobe Serge-Tunika aus. Erstmals seit Monaten fiel mir auf, wie verschmuddelt meine Unterwäsche war, voller Schweiß- und Milchflecken. Da ich es unschicklich fand, das neue Kleid über diese unsauberen Teile anzuziehen, schlüpfte ich auch aus diesen. Einen Augenblick stand ich da und betrachtete meinen Körper. Harte Arbeit und ein karger Winter hatten mir die weichen Polster geraubt, die von Toms Geburt zurückgeblieben waren. Sam hatte es gemocht, wenn ich etwas auf den Rippen hatte. Was mochte wohl George Viccars? Der Gedanke erregte mich so, dass ich rot anlief und meine Kehle eng wurde. Ich hob das grüne Kleid auf. Weich glitt es über mein nacktes Fleisch. Mein Körper fühlte sich so lebendig wie schon lange nicht mehr, und ich wusste nur allzu genau, dass dies nur teilweise damit zu tun hatte, wie gut sich dieses Kleid anfühlte. Bei jeder Bewegung schwang der Rock mit, und ich hätte am liebsten getanzt wie ein Mädchen.

George Viccars hatte mir den Rücken zugedreht und wärmte sich die Hände am Feuer. Als er meine Schritte auf der Treppe hörte, drehte er sich um und hielt die Luft an. Dann strahlte er übers ganze Gesicht. Ich drehte mich im Kreise, wodurch der Rock um mich herumwirbelte. Er klatschte in die Hände und breitete sie anschließend weit aus. »Mistress, Ihnen würde ich ein Dutzend solcher Gewänder machen, um Ihre Schönheit zu unterstreichen!« Dann schwand der spielerische Ton aus seiner Stimme, sie wurde leiser, belegt. »Ich wünschte, Sie würden mich für wert halten, Sie in jeder Hinsicht zu versorgen.« Er kam durchs Zimmer auf mich zu, umfasste meine Taille, zog mich zärtlich an sich und küsste mich. Ich will nicht behaupten, dass ich wüsste, was passiert wäre, wenn sich seine Haut bei der leisesten Berührung nicht derart heiß angefühlt hätte, dass ich zurückwich.

»Aber Sie haben ja Fieber!«, rief ich und legte ihm mütterlich die Hand auf die Stirn. Damit war der Zauber dieses Augenblicks gebrochen.

»Das ist wahr«, sagte er, wobei er mich losließ und sich erneut die Schläfen rieb. »Schon den ganzen Tag habe ich mich gefühlt, als ob eine Krankheit im Anzug sei. Jetzt ist sie wohl da, denn mein Kopf dröhnt, und ein schrecklicher Schmerz wühlt in meinen Knochen.«

»Gehen Sie zu Bett«, sagte ich zärtlich. »Ich werde Ihnen ein kühles Getränk mit nach oben geben. Morgen, wenn Sie wieder ganz gesund sind, werden wir über diese Dinge sprechen.«

 

Ich weiß nicht, wie George Viccars in jener Nacht schlief. Ich jedenfalls fand nur mühsam Ruhe. Meine Gedanken purzelten durcheinander und verwirrten mich, Gefühle erwachten wieder, die mir nicht gänzlich willkommen waren. Lange Zeit lag ich im Dunkeln da und lauschte den leisen weichen Atemzügen meiner Kleinen, die wie Tiere neben mir atmeten. Ich schloss die Augen und beschwor jenes Gefühl herauf, das ich empfunden hatte, als sich George Viccars’ Hände zärtlich um meine Taille legten. Ich glich einer Frau, die den ganzen Tag das Essen vergisst, bis der Duft aus einer fremden Bratpfanne sie an ihren unbändigen Hunger erinnert. In der Dunkelheit umschloss meine ausgestreckte Hand Toms winzige Faust, die an eine Knospe erinnerte. Dabei wurde mir eines klar: Ich liebte die Berührung durch die Händchen meiner Kinder, und doch war da noch eine andere Art von Berühren, wonach mein Körper hungerte – hart und drängend.

Am Morgen erhob ich mich noch vor dem ersten Hahnenschrei, um meine Haushaltspflichten zu erledigen, bevor George Viccars aus seiner Dachkammer herunterkam. Ich wollte ihm erst dann begegnen, nachdem ich mir über meine Wünsche klar geworden war. Die Kinder ließ ich schlafend in einem Knäuel zurück, den Winzling Tom, der sich wie eine Nuss in ihre Schale kuschelte, während Jamie die dünnen Armchen weit über die Pritsche breitete. So süß dufteten die beiden, wie sie da lagen, warm vom Nachtschlaf. Auf ihren Köpfchen spross das zarte blonde Flaumhaar ihres Vaters und schimmerte hell in der Dämmerung. Zwischen meinen dichten dunklen Haaren und ihren blassen Locken konnte es keinen größeren Unterschied geben. Allerdings meinte jeder, ihre kleinen Gesichter würden eher meinem ähneln als dem ihres Vaters, falls man so etwas in derart unausgeprägten Gesichtszügen bereits unterscheiden kann. Ich drückte mein Gesicht in ihren Nacken und atmete ihren Hefegeruch ein. Gott warnt uns, wir sollen kein irdisch Gut mehr lieben als Ihn, und doch erweckt Er im Herzen einer Mutter eine so glühende Zuneigung zu ihren Kindern. Es ist mir unbegreiflich, wie Er uns nur so hart prüfen kann.

Drunten fachte ich die Glutbrocken an, bis das Feuer wieder brannte, und ging dann nach draußen zum Brunnen, um die tägliche Wasserration zu holen. Ich setzte einen großen Kessel aufs Feuer und goss mir selbst eine Schüssel voll ein, um mich zu waschen, sobald es nicht mehr ganz so kalt war, wie es aus der Erde kam. Nachdem ich noch mehr heraufgezogen hatte, schrubbte ich die Sandsteinplatten. Während sie trockneten, wickelte ich mich in mein Tuch, nahm Suppe und Brot in den Küchengarten hinaus, wo es bereits hell wurde, und schaute zu, wie sich der Himmel am Rande rosig färbte und die Nebelschwaden von den beiden Flüssen aufstiegen, die unseren Weiler einschließen. Von unserem Dorf hat man eine schöne Aussicht, und an jenem Morgen lag lehmig-schwerer Sommerduft in der Luft. Genau der richtige Morgen, um über einen neuen Anfang nachzusinnen. Beim Anblick eines Braunkehlchens, das einen Wurm als Futter für seine Jungen heranschleifte, kam ich ins Grübeln. Sollte auch ich mich auf die Suche nach jemandem machen, der mir beim Aufziehen meiner Buben half?

Sam hatte mir zwar die Kate samt Schafhürde hinterlassen, aber als man seine Leiche aus der Grube brachte, wurde sein Bergrecht noch am selben Tag gestrichen. An diesem Tag erklärte ich ihnen, sie müssten nicht drei, sechs oder neun Wochen warten, bis sie das erneut tun könnten, da ich weder die eingestürzten Wände abstützen konnte noch Geldmittel besaß, um dies von jemand anderem machen zu lassen. Jetzt gehört das Flöz Jonas Howe. Da er ein guter Mensch und ein Freund von Sam ist, hat er das Gefühl, er hätte mich betrogen, obwohl ich wirklich nicht weiß, wieso. Man kann wohl kaum von Betrug reden, wenn hier seit Urzeiten ein striktes Gesetz gilt, dass niemand eine Grube behalten darf, wenn er nicht binnen drei Schichten einen Trog Blei fördern kann. Er meinte, er würde meine Buben zusammen mit seinen eigenen zu Knappen machen, sobald sie im richtigen Alter seien. Obwohl ich ihm für sein Versprechen dankte, war dies nicht ehrlich gemeint. Ich hoffe inständig, sie nicht in jenem Maulwurfsleben zu sehen, wo sie an Felsen nagen und Wassereinbrüche und Feuer und einstürzende Schächte fürchten müssen. Da war das Schneiderhandwerk doch aus ganz anderem Garn gestrickt. Das würde ich sie mit Freude lernen lassen. Außerdem war George Viccars ein guter Mensch mit rascher Auffassungsgabe. Ich genoss seine Gesellschaft. Und noch eines war gewiss: Seine Berührung hatte mich nicht abgestoßen. Sam hatte ich aus weit geringeren Gründen geheiratet. Andererseits war ich auch keine fünfzehn mehr, und Entscheidungen ließen sich nicht mehr unbesonnen treffen.

Nach meinem Frühstück suchte ich unter den Sträuchern ein paar Eier, eines für George Viccars, das andere für Jamie. Meine Hühner sind widerspenstig und werden nie auf ihren Stangen legen. Dann ging ich wieder ins Haus, um für das morgige Brotbacken Teig zu kneten. Die restlichen Dinge beschloss ich, mir für den Nachmittag aufzuheben, und begab mich wieder nach oben, um Tom an die Brust zu legen, damit ihn Jane Martin bei ihrer Ankunft mit vollem Bauch vorfände. Wie erhofft, regte er sich kaum, als ich ihn hochhob. Zur Begrüßung starrte er mich nur einmal lange an, ehe er die Augen wieder schloss und zufrieden zu saugen begann.

Mein frühes Aufstehen hatte zur Folge, dass ich weit vor sieben Uhr im Pfarrhaus war. Und doch befand sich Elinor Mompellion bereits in ihrem Garten, wo sich neben ihr ein hoher Haufen abgeschnittener Äste türmte. Im Gegensatz zu den meisten feinen Damen zauderte Mistress Mompellion nicht, mit eigenen Händen zuzupacken. Ganz besonders liebte sie ihre Gartenarbeit, sodass man sie nicht selten wie eine Putzfrau mit Dreckspuren im Gesicht antraf, weil sie achtlos Haarsträhnen zurückstrich, die sich beim Graben und Jäten gelöst hatten.

Mit fünfundzwanzig besaß Elinor Mompellion die zerbrechliche Schönheit eines Kindes. Sie hatte eine blasse Perlmutthaut, die so dünn war, dass man an ihren Schläfen das Blut in den Adern pochen sehen konnte. Ihre Haare umrahmten wie ein zarter heller Heiligenschein ihren Kopf. Sogar ihre Augen waren blass und von einem weißlichen Blau wie ein Winterhimmel. Bei unserer ersten Begegnung erinnerte sie mich an die Pusteblume eines Löwenzahns, so schwerelos, dass ein Atemhauch sie forttragen konnte. Aber das war, ehe ich sie kannte. Denn zu diesem fragilen Körper gesellte sich ein kraftvoller Geist, der zu Begeisterungsstürmen neigte und von einer treibenden Kraft besessen war, diese auch umzusetzen. Manchmal schien es, als hätte man die falsche Seele in diesen zierlichen Körper gesteckt, denn sie forderte sich bis an ihre Grenzen und darüber hinaus. Da war irgendetwas in ihr, was nicht die von der Welt gewünschten Unterschiede sehen konnte oder wollte, die Unterschiede zwischen schwach und stark, zwischen Frau und Mann, Tagelöhner und Herr.

An jenem Morgen duftete es im ganzen Garten durchdringend nach Lavendel. Farben und Pflanzmuster schienen sich täglich unter ihren erfahrenen Händen zu ändern, wenn das Milchblau von Vergissmeinnicht dem nachtblauen Rittersporn wich und behutsam ins zarte Rosa der Malven überging. Unter jedes Fenster hatte sie große Gefäße mit Jasmin und Nelken gestellt, damit ihr Duft angenehm durchs Haus schwebte. Mistress Mompellion bezeichnete ihren Garten als ihr kleines Eden, was Gott meiner Ansicht nach nicht missfiel, denn hier gediehen mannigfach Blumen, weit mehr, als was normalerweise die harten Winter in dieser Berggegend übersteht.

An jenem Morgen fand ich sie, wie sie auf Knien abgeblühte Gänseblümchen abknipste. »Guten Morgen, Anna«, sagte sie, als sie mich erblickte. »Wusstest du, dass der Tee aus dieser unscheinbaren kleinen Blüte Fieber senkend wirkt? Als Mutter tätest du gut daran, dir zusätzlich ein wenig Kräuterkunde anzueignen. Du weißt ja nie genau, wann möglicherweise das Wohlergehen deiner Kinder davon abhängt.« Mistress Mompellion ließ keine Minute verstreichen, ohne den Versuch zu unternehmen, mich weiter zu bringen, und meist war ich eine willige Schülerin. Kaum hatte sie meinen Lernhunger entdeckt, begann sie mich genauso eifrig mit Wissen zu überhäufen, wie sie mit dem Spaten Kuhfladen in ihre Blumenbeete grub.

Ich war bereit, alles Gebotene anzunehmen. Schon immer hatte ich die Hochsprache geliebt. Meine größte Freude als Kind war der Kirchgang gewesen, nicht weil ich besonders fromm war, sondern weil ich mich danach sehnte, den schönen Gebetsworten zu lauschen. Lamm Gottes, Schmerzensmann, Fleisch gewordenes Wort. In der Melodie dieser Ausdrücke verlor ich mich. Auch wenn unser damaliger Pastor, der alte Puritaner Stanley, die Heiligenlitaneien und die abgöttischen Fürbitten der Papisten an Maria anprangerte, klammerte ich mich an jene Worte, die er schlecht machte: Du makellose Blume des Lebens, Du geheimnisvolle Rose, Du Morgenstern. Siehe, ich hin die Magd des Herrn, mir geschehe nach Deinem Worte. Kaum hatte ich begriffen, dass ich mir die schönsten Messeteile merken konnte, machte ich mich unverzüglich jeden Sonntag ans Werk und mehrte meine Ernte wie ein Bauer, der Garbenbündel auftürmt. Falls es mir mitunter gelang, den Augen meiner Stiefmutter zu entwischen, trieb ich mich im Kirchhof herum und versuchte, die Formen der Buchstaben auf den Grabsteinen nachzuzeichnen. Wenn ich die Namen der Toten kannte, konnte ich die dort eingravierten Zeichen den Lauten zuordnen, die meiner Vermutung nach dafür stehen mussten. Als Stift benutzte ich einen angespitzten Stecken, als Tafel einen glatten Erdfleck.

Einmal ertappte mich mein Vater dabei, als er gerade eine Fuhre Brennholz zum Pfarrhaus karrte. Bei seinem Anblick zuckte ich derart zusammen, dass mir der Stecken unter der Hand zerbrach und mir einen Splitter in die Handfläche trieb. Josiah Bongt machte nicht viele Worte, und die meisten seiner Worte bestanden aus Flüchen. Von ihm erwartete ich mir kein Verständnis für meinen Herzenswunsch, der ihm aller Voraussicht nach als nutzlose Fähigkeit erscheinen musste. Wie schon gesagt, liebte er den Krug. Dem sollte ich noch hinzufügen, dass der Krug diese Liebe nicht erwiderte, sondern ihn in eine übellaunige und böswillige Kreatur verwandelte. In Erwartung eines Fausthiebs duckte ich mich an jenem Tag vor ihm, denn er war ein großer Mann, dem schnell die Hand ausrutschte – und das oft aus weit nichtigerem Grund. Und doch setzte es keine Hiebe, weil ich mich vor meinen Aufgaben gedrückt hatte. Nach einem stummen Blick auf die Buchstaben, an denen ich mich versucht hatte, fuhr er sich mit der dreckigen Faust übers Stoppelkinn und ging seines Weges.

Erst später, als mich mehrere andere Dorfkinder deswegen neckten, erfuhr ich, dass mein Vater an besagtem Tag sogar in der Hauertaverne mit mir geprahlt und gesagt hatte, er wünschte sich das Geld, um mich zur Schule gehen zu lassen. Dies war leicht dahergeredet. Da es in Dörfern wie unserem keine Schulen gab, nicht einmal für die Buben, würde er für diese Prahlerei nie einstehen müssen. Und doch wurde mir bei dieser Mitteilung ganz warm ums Herz, und die Neckereien der Kinder waren fast unwichtig. Noch nie hatte mein Vater mich gelobt. Nun erfuhr ich, dass er mich für schlau hielt. Vielleicht hatte er ja Recht. Ich wurde kühner und murmelte bei meiner Arbeit Psalmenfetzen oder Sätze aus der Sonntagspredigt vor mich hin, was als reiner Ohrenschmaus gedacht war, mich aber unverdientermaßen in den Geruch religiösen Eifers brachte. Und dieser Ruf führte dazu, dass man mich für eine Stellung im Pfarrhaus empfahl. Damit öffnete sich genau jene Tür zum heiß ersehnten wahren Lernen.

Binnen eines Jahres nach ihrer Ankunft hatte mir Elinor Mompellion die Buchstaben so gut beigebracht – leider blieb meine Handschrift unschön –, dass ich nur wenig Mühe hatte, fast alle Bände ihrer Bibliothek zu lesen. Oft kam sie nachmittags bei meiner Kate vorbei, während Tom schlief, und gab mir eine Aufgabe, mit der ich mich beschäftigen musste, während sie ihren übrigen Besuchen bei Gemeindemitgliedern nachging. Auf dem Heimweg schaute sie dann nochmals vorbei, um zu sehen, wie ich damit zu Rande gekommen war, und um mir eventuell auf die Sprünge zu helfen. Manchmal hielt ich mitten im Unterricht inne und lachte aus purer Freude. Dann lächelte sie, denn meine Begeisterung fürs Lernen war so groß wie die ihre fürs Lehren.

Manchmal schlichen sich leise Schuldgefühle in mein Vergnügen, da ich meiner Ansicht nach all diese Aufmerksamkeit nur bekam, weil sie kein Kind empfangen konnte. Als sie und Mister Mompellion ganz jung und frisch verheiratet hier ankamen, beobachtete sie das ganze Dorf erwartungsvoll. Wochen vergingen, dann ganze Vierteljahre, aber Mistress Mompellions Taille blieb mädchenhaft schlank. Doch wir alle zogen Nutzen aus ihrer Unfruchtbarkeit. Sie bemutterte jene Kinder, die in den übervollen Katen nicht genug Mutterliebe bekamen; sie nahm sich viel versprechender Jugendlicher an, die nicht gefördert wurden; sie gab den mühselig Beladenen Rat und besuchte die Kranken und wurde für alle unentbehrlich.

Aber mit ihrer Kräuterkunde wollte ich nichts zu schaffen haben. Wenn eine Pfarrersfrau solch ein Wissen besitzt, ist das eine Sache, aber bei einer verwitweten Frau meines Standes ist das etwas ganz anderes. Ich wusste, wie rasch eine Witwe in den Köpfen der Leute zur Hexe wird. Der erste Schritt in diese Richtung geschieht meistens, wenn sie sich irgendwie in die Heilkunde einmischt. Als ich noch ein kleines Mädchen war, hatte es in unserem Dorf eine Hexenjagd gegeben. Die Angeklagte Mem Gowdie war genau jene weise Frau gewesen, die alle wegen Heilmitteln und als Hebamme aufsuchten. Es war ein grausames Jahr mit Missernten und vielen Fehlgeburten gewesen. Als ein merkwürdiges Zwillingspaar, das am Brustbein zusammengewachsen war, tot zur Welt kam, hatte man reihum von Teufelswerk zu murmeln begonnen. Die Blicke waren zur Witwe Gowdie gewandert und hatten sie zur Hexe gestempelt. Pastor Stanley erklärte sich persönlich bereit, die Angeklagte auf die Probe zu stellen, und nahm Mem Gowdie allein mit aufs Feld hinaus, wo er sich viele Stunden ernsthaft mit ihr auseinander setzte. Ich weiß nicht, welchen Prüfungen er sie unterzog, aber danach erklärte er feierlich, er habe sie jenes Übels gänzlich unschuldig befunden, und rügte alle Männer und Frauen, die sie bezichtigt hatten. Allerdings ging er auch heftig mit Mem ins Gericht und meinte, sie habe Gottes Willen getrotzt, als sie dem einfachen Volk erzählt hätte, sie könnten mit ihren Tees Krankheiten vorbeugen. Pastor Stanley glaubte, Gott würde Krankheiten zur Prüfung und Züchtigung jener Seelen schicken, die Er erretten wolle. Mit jedem Versuch, diesen aus dem Weg zu gehen, würden wir uns jenen Lehren entziehen, die uns nach Gottes Willen auferlegt waren, und müssten stattdessen nach unserem Tod weit schlimmere Qualen erdulden.

Obwohl niemand je wieder die alte Mem auch nur im Flüsterton eine Hexe zu nennen wagte, gab es einige, die ihre junge Nichte Anys, die bei ihr lebte und ihr bei Entbindungen sowie beim Anbau, Trocknen und Mischen ihrer Tränklein half, schief anschauten. Meine Stiefmutter war eine davon. In ihrem simplen Gemüt hegte Aphra Aberglauben in Hülle und Fülle und war allzeit bereit, an Himmelszeichen oder Amulette oder Zaubertrank zu glauben. Sie näherte sich Anys mit einer Mischung aus Angst und Ehrfurcht, ja vielleicht sogar mit etwas Neid. Ich war in meines Vaters Kate gewesen, als Anys mit einer Salbe gegen verklebte Augen gekommen war, worunter mitunter alle Kleinen litten. Zu meiner Überraschung musste ich mit ansehen, wie Aphra verstohlen eine weit geöffnete Schere, die an ein Kreuz erinnerte, unter einem Stück Decke verbarg, das auf einem Stuhl lag. Den bot sie Anys zum Sitzen an. Nachdem Anys gegangen war, schalt ich sie deswegen, aber sie zeigte mir den Hexenstein, den sie aufs Lager der Kinder gelegt hatte, und das im Türpfosten versteckte Salzfläschchen.

»Sag, was du willst, Anna, aber für eine arme Waise spaziert dieses Mädel viel zu stolz herum«, hielt meine Stiefmutter dagegen. »Sie benimmt sich wie eine, die weitaus mehr weiß als wir.« Nun ja, meinte ich, so sei’s doch auch. Verstand sie denn nicht viel von Arzneien? Und profitierten wir denn nicht alle davon? Hatte uns Anys etwa nicht soeben eine Salbe gegen verklebte Augen vorbeigebracht, die den Kindern viel rascher die Schmerzen nehmen würde, als Aphra oder ich es könnten?

Aphra zog nur eine Grimasse. »Du hast doch gesehen, wie die Männer, alte und junge, um sie herumschnüffeln. Wie um eine läufige Hündin. Du kannst das ja Arzneikunde nennen, aber meiner Ansicht nach braut sie dort in ihrer Kate mehr als nur Fruchtsäfte.«

Ich wies darauf hin, dass man Männer wohl schwerlich verhexen müsse, damit sie sich für eine Frau interessieren, die so gut gebaut ist wie Anys und so ein hübsches Gesicht hat. Besonders wenn diese junge Frau weder Vater noch Brüder hat, um ihnen klarzumachen, wo sie ihre Augen haben sollen. Als mich Aphra bei diesen Worten finster ansah, hatte ich das Gefühl, ins Schwarze getroffen zu haben.

Aphra, die weder hübsch noch geistreich war, hatte sich in eine Heirat mit meinem liederlichen Vater geschickt, nachdem sie die Sechsundzwanzig überschritten hatte, ohne dass ihr ein Besserer einen Antrag gemacht hätte. Da keiner von beiden große Erwartungen hegte, kamen sie leidlich miteinander aus. Aphra genoss einen kräftigen Schluck fast so sehr wie mein Vater, und beide verbrachten ihr halbes Leben betrunken im Bett. Und doch sehnte sich Aphra meiner Ansicht nach noch immer tief im Herzen nach jener weiblichen Macht, die eine wie Anys ausüben könnte. Wie ließe sich sonst ihre Ablehnung gegen eine erklären, die ihr und ihren Kindern nur Gutes tat? Anys war eigenwillig, gewiss, und scherte sich nicht um die Regeln im Dorf, wo jeder jeden beobachtete, und doch gab es andere, weniger Aufrichtige, die nicht so viel Missbilligung auf sich zogen wie sie. Aphras Getuschel fand viele willige Ohren unter den Dorfbewohnern, und manchmal machte ich mir deshalb um Anys Sorgen.

Ich ließ Mistress Mompellion weiter begeistert von der Wirksamkeit von Raute und Kamille erzählen und beschäftigte mich mit dem Jäten von Disteln. Bei dieser mühsamen Arbeit muss man kräftig ziehen, was bei Mistress Mompellion gern zu Ohnmachtsanfällen führt, wenn sie sich zu lange vornüberbeugt. Schon bald ging ich in die Küche, um meine eigentliche Tagesarbeit zu beginnen, und verbrachte die Vormittagsstunden mit dem Schrubben von Holzdielen und dem Absanden von Zinn. Es gibt ja einige, die sich die Arbeit eines Hausmädchens als stumpfsinnigste Plackerei vorstellen, aber mir ist das nie so vorgekommen. Sowohl im Pfarrhaus wie im großen Herrenhaus der Bradfords hat mir die Pflege schöner Dinge viel Freude gemacht. Wer in einer nackten Kate aufwächst und mit Holzlöffeln von groben Tellern isst, empfindet hundertfaches Vergnügen an winzigen Kleinigkeiten: das Gefühl, eine spiegelglatte, zierliche Porzellantasse in einem Becken voller Seifenflocken unter den Händen zu haben, oder der Ledergeruch eines Buches, sobald man Bienenwachs in den Einband reibt. Und doch waren bei diesen einfachen Arbeiten lediglich die Hände beschäftigt, während die Gedanken frei schweifen durften. Manchmal betrachtete ich beim Polieren der Mompellionschen Damaszener Truhe eingehend die feinen Einlegearbeiten und dachte dabei an den Handwerker, der sie in fernen Landen gefertigt hatte; dann versuchte ich, mir sein Leben unter einer heißen Sonne und einem fremden Gott vorzustellen. George Viccars besaß einen prächtigen und schönen Stoff, den er Damast nannte. Hatte dieser Stoffballen etwa im selben Basar wie die Truhe gestanden und dieselbe lange Reise von der Wüste in dieses feuchte Bergland gemacht? Der Gedanke an George Viccars riss mich aus meiner Tagträumerei und erinnerte mich daran, dass ich das Problem mit dem Kleid nicht bei Mistress Mompellion zur Sprache gebracht hatte. Erst dann merkte ich, dass schon beinahe Mittag war. Tom würde schrecklich Hunger haben und nach seiner Milch jammern. Also verließ ich hastig das Pfarrhaus. Die Sache mit dem Kleid und seiner Schicklichkeit könnte man auch zu einem späteren Zeitpunkt erörtern, dachte ich.

Aber dieser spätere Zeitpunkt sollte nie kommen, denn bei meiner Ankunft an der Kate herrschte drinnen dieselbe Stille wie in den Tagen, bevor George Viccars zu unserem Haushalt gestoßen war. In der Küche fand ich eine mürrische Jane Martin vor, die Tom mit einem Stück Pfeilwurz und Wasser ablenkte, während Jamie bedrückt allein neben dem Herd spielte, wo er aus Kienholz Türme baute und dabei ringsherum Kienspäne verstreute. George Viccars’ Schneiderwinkel war noch so, wie ich ihn am Morgen verlassen hatte: alle Garne und Schnittmuster ordentlich gestapelt und seit letzter Nacht unberührt. Die Eier, die ich für ihn dagelassen hatte, lagen immer noch auf seinem Felleisen. Bei meinem Anblick wand sich Tom in Jane Martins Armen und sperrte wie ein Vogeljunges seinen zahnlosen Mund weit auf. Ich packte ihn und legte ihn an die Brust, ehe ich mich nach George Viccars erkundigte.

»Ich habe ihn nicht gesehen. Ich dachte, er sei schon ganz früh zu den Hadfields rüber.«

»Aber sein Frühstück ist doch unberührt«, erwiderte ich. Jane Martin zuckte die Schultern. Durch ihr Verhalten hatte sie klar gemacht, dass sie die Gegenwart eines männlichen Untermieters in diesem Hause nicht guthieß. Da uns aber Hochwürden Mompellion George Viccars geschickt hatte, konnte sie nicht offen dagegen protestieren.

»Er in Betti«, sagte Jamie verzweifelt. »Ich gingst rauf, ihn suchen, aber er schreit, Geh weg

Daraus schloss ich, dass George Viccars tatsächlich krank sein musste. Kaum hatte ich Tom fertig gefüttert, holte ich einen Krug frisches Wasser, schnitt eine Scheibe Brot ab und kletterte zu George Viccars’ Dachkammer hinauf. Schon beim ersten Tritt auf die Speicherleiter konnte ich ihn stöhnen hören. In meiner Sorge vergaß ich zu klopfen und öffnete einfach die Luke zu dem niedrigen Raum.

Beinahe hätte ich vor Entsetzen den Krug fallen lassen. Auf der Pritsche vor mir lag nicht mehr jenes hübsche junge Gesicht vom Vorabend. Ein Klumpen von der Größe eines neugeborenen Ferkels drückte George Viccars’ Kopf zur Seite, eine glänzende lila-gelbe Beule aus pulsierendem Fleisch. Wegen dieser Wucherung wandte er mir sein Gesicht nur halb zu. Es war erhitzt und tiefrot, besser gesagt, es hatte Flecken, die sich wie die Blätter eines Rosenkranzes unter seiner Haut abzeichneten. Seine blonden Haare lagen ihm als dunkelnasse Masse auf dem Kopf, und sein Kissen war schweißgetränkt. Ein süßlich stechender Geruch durchzog die Dachkammer, ein Geruch wie nach fauligen Äpfeln.

»Bitte, Wasser«, flüsterte er. Ich hielt ihm den Becher an den ausgedörrten Mund, und er trank gierig mit schmerzverzerrtem Gesicht, so musste er sich anstrengen. Erst als Schüttelfrost und heftiges Niesen seinen Körper beutelten, hielt er im Trinken inne. Wieder und wieder goss ich ein, bis der Krug leer war. »Danke«, keuchte er, »aber jetzt flehe ich Sie an, gehen Sie weg, ehe diese üble Seuche Sie ansteckt.«

»Nein«, sagte ich, »erst muss ich dafür sorgen, dass es Ihnen besser geht.«

»Mistress, das kann inzwischen außer dem Priester keiner mehr. Ich flehe Sie an, holen Sie Mompellion, falls er zu mir zu kommen wagt.«

»Sagen Sie so etwas nicht!«, schalt ich ihn. »Dieses Fieber wird sinken, und Sie werden schon bald wieder fast gesund sein.«

»Nein, Mistress, ich kenne die Anzeichen dieser verfluchten Krankheit. Machen Sie nur, dass Sie von hier fortkommen, Ihren Kindern zuliebe.«

Daraufhin ging ich, allerdings nur in mein eigenes Zimmer, um meine Decke und mein Kissen zu holen. Das eine, um den Zitternden zu wärmen, und das andere, um es gegen das klatschnasse Etwas unter seinem Kopf auszutauschen. Er stöhnte, als ich wieder die Dachkammer betrat. Beim Versuch, ihn zu heben, um das Kissen an Ort und Stelle zu bringen, schrie er jämmerlich auf. Jener monströse Furunkel schmerzte schrecklich. Dann platzte dieses lila Ding urplötzlich wie eine Erbsenschote auf, und zähflüssiger Eiter quoll heraus, ganz mit abgestorbenen Fleischfetzen durchsetzt. Verschwunden war der ekelhaft süßliche Apfelgeruch, stattdessen machte sich ein Gestank nach Wochen altem Fisch breit. Würgend beeilte ich mich, dem armen Mann die Schweinerei von Gesicht und Schulter zu wischen und seine suppende Wunde zu stillen.

»Um Gottes willen, Anna« – mit letzter Kraft, die er von Gott weiß woher holte, mühte sich seine heisere Kehle ab. Seine Stimme brach wie bei einem Buben, doch mehr als ein Flüstern kam nicht heraus – »mach, dass du hier fortkommst! Du kannst mir nicht helfen! Kümmere dich um dich!«

In meiner Angst, seine Erregung könnte ihn in diesem geschwächten Zustand umbringen, raffte ich das Bettzeug zusammen und verließ ihn. Drunten begrüßten mich zwei entsetzte Gesichter. Während Jamie nur die Augen aufriss, ohne zu begreifen, wusste die schreckensbleiche Jane, was kommen würde. Bei meinem Erscheinen hatte sie bereits ihre Schürze ausgezogen, um uns für den heutigen Tag zu verlassen, ihre Hand lag schon auf dem Türgriff. »Ich bitte dich, bleib bei den Kindern, während ich den Herrn Pfarrer hole, denn ich befürchte, dass Mister Viccars’ Zustand ernst ist«, sagte ich. Bei diesen Worten rang sie die Hände. Ich erkannte, wie ihr Mädchenherz mit ihrem puritanischen Pflichtbewusstsein kämpfte, wartete aber nicht, bis ich sah, wer diesen Kampf gewann, sondern eilte einfach an ihr vorbei und ließ das Bettzeug im Vorübergehen im Vorhof fallen.

Da ich im Laufschritt die Augen auf den Weg heftete, sah ich nicht den Herrn Pfarrer, der auf dem Rückweg von einer Besorgung im nahen Hathersage auf Anteros angeritten kam. Aber er sah mich, drehte sich um, wendete das mächtige Pferd und lenkte es neben mich.

»Gütiger Himmel, Anna, was ist passiert?«, rief er, wobei er aus dem Sattel glitt und mir zum Halt eine Hand reichte, während ich keuchend nach Luft rang. Stoßweise berichtete ich ihm, wie ernst George Viccars’ Zustand war. »Das tut mir aber ehrlich Leid«, sagte der Herr Pfarrer. Ohne weitere Worte zu verlieren, hob er mich aufs Pferd und stieg wieder auf.

Noch immer steht mir ganz lebendig vor Augen, welch ein Mann er an jenem Tage war. Ich weiß noch genau, wie selbstverständlich er die Sache in die Hand nahm und zuerst mich und dann den armen George Viccars beruhigte. Wie er damals unermüdlich den ganzen Nachmittag und auch noch den folgenden Tag an seinem Bette weilte, zuerst im Kampf um den Körper dieses Mannes, und, als es eindeutig hoffnungslos wurde, im Kampf um seine Seele. George Viccars murmelte und delirierte, tobte, fluchte und schrie vor Schmerz. Die meisten seiner Worte waren unverständlich, aber von Zeit zu Zeit hörte er auf, sich auf seinem Lager herumzuwerfen, riss die Augen weit auf und rasselte: »Verbrennt alles! Verbrennt alles! Um Gottes willen, verbrennt alles!« Zu Beginn der zweiten Nacht schlug er nicht mehr um sich, sondern lag einfach da und starrte in die Luft, gefangen in einer Art stummem Ringkampf. Sein ganzer Mund war mit Schwären verkrustet. Stündlich träufelte ich ein wenig Wasser auf seine Lippen und tupfte sie ab. Daraufhin schaute er mich mit verzerrten Augenbrauen an, so sehr quälte er sich, seinen Dank auszudrücken. Im weiteren Verlauf der Nacht war klar, dass sich sein Zustand verschlechterte, aber Mister Mompellion wollte nicht von ihm weichen, nicht einmal, als George Viccars gegen Morgen in einen unruhigen Schlaf fiel. Er atmete flach und unregelmäßig. Veilchenblaues Licht drang durchs Dachfenster, und die Lerchen sangen. Ich halte mich gerne an dem Gedanken fest, dass ihm dieser liebliche Klang vielleicht doch ein klein wenig Erleichterung in seinem langen Delirium gebracht haben könnte.

Sterbend umklammerte er das Bettlaken. Sanft löste ich jede Hand und streckte seine langen welken Finger. Schöne Hände waren das, weich, bis auf eine verhornte Stelle, die sich unter lebenslangen Nadelstichen verhärtet hatte. Beim Gedanken daran, wie geschickt sie sich im Feuerschein bewegt hatten, stiegen mir Tränen in die Augen. Du weinst wegen dieser Vergeudung, redete ich mir ein, und weil diese Finger, die so viele Fertigkeiten gelernt hatten, nie wieder etwas Hübsches gestalten würden. In Wahrheit weinte ich vermutlich wegen einer ganz anderen Vergeudung und plagte mich mit dem Gedanken, warum ich fast bis zu seinem Tod gewartet hatte, um die Berührung dieser Hände zu spüren.

Ich faltete sie auf George Viccars’ Brust zusammen, und Mr. Mompellion legte seine eigene Hand zu einem letzten Gebet darüber. Ich weiß noch, wie sehr es mich damals verblüffte, dass die Hand des Herrn Pfarrers so viel größer war – eher die Hand eines schwer arbeitenden Mannes als eine schlaffe weiße Priesterpfote. Dafür hatte ich keine Erklärung, da er in meiner Vorstellung aus einer Pfarrersfamilie kam und bis vor kurzem in Cambridge über seinen Büchern gesessen hatte. Mister Mompellion und George Viccars waren fast gleich alt. Der Pfarrer war eben erst achtundzwanzig geworden. Und doch hatten sich bei genauerem Hinsehen in seinem Jungmännergesicht über den Brauen Falten eingegraben und neben den Augen sternförmig Krähenfüße – die Spuren eines Gesichtes, das beim Nachdenken oft die Stirn gerunzelt und in Gesellschaft viel gelacht hat. Wie schon gesagt, man könnte es für ein Durchschnittsgesicht halten, aber vermutlich möchte ich damit ausdrücken, dass es seine Stimme war, die aufmerksam machte, und nicht sein Gesicht. Schon beim ersten Wort klang sie so bezwingend, dass man sich mit allen Gedanken nur auf die Worte konzentrierte und nicht auf den Mann, von dem sie kamen. Es war eine Stimme voll Licht und Dunkel, ein Licht, das nicht nur schimmert, sondern mächtig strahlt, ein Dunkel, das nicht nur Kälte und Furcht mit sich bringt, sondern auch Ruhe und Schatten spendet.

Danach blickte er mich an und sprach zu mir in einem seidigen Flüsterton, der sich wie ein wärmendes Tuch über meinen Kummer zu breiten schien. Er dankte mir für meine Hilfe während der ganzen Nacht. Ich hatte mein Möglichstes getan, hatte kalte und heiße Kompressen zur Linderung von Fieber und Schüttelfrost gebracht, hatte Aufgüsse gebrüht, um die Luft in dem kleinen, übel riechenden Krankenzimmer zu reinigen, hatte Bettpfannen voller Galle und Pisse und schweißdurchtränkte Fetzen weggeschafft.

»Es ist schwer«, sagte ich, »wenn ein Mensch unter Fremden sterben muss, ohne Familie, die um ihn trauert.«

»Der Tod ist immer schwer, wo auch immer er einen Menschen trifft. Und ein frühzeitiger Tod ist meist noch schwerer.« Er stimmte einen Gesang an, langsam, als ob er in seinem Gedächtnis nach den Worten suchte:

 

»Meine Wunden stinken und eitern,

Meine Lenden verdorren ganz,

und ist nichts Gesundes an meinem Leibe.

Meine Lieben und Freunde treten zurück

und scheuen meine Plage,

und meine Nächsten stehen ferne …«

 

»Kennst du diesen Psalm, Anna?« Ich schüttelte den Kopf. »Nein; er ist unschön und wird nicht häufig gesungen. Aber du hast dich vor George Viccars nicht gescheut, du bist nicht ferne gestanden. Ich glaube, dass er seine letzten Wochen glücklich in deiner Familie verlebt hat. Du solltest dich mit der Freude trösten, die du ihm mit deinen Söhnen schenken konntest, und mit der Barmherzigkeit, die insbesondere du gezeigt hast.«

Er meinte, er würde den Leichnam nach unten tragen, wo ihn der Küster, ein älterer Mann, leichter holen könne. George Viccars war hoch gewachsen und musste über zwanzig Kumpf gewogen haben, aber Mister Mompellion hob dieses Totgewicht wie nichts auf und stieg mit dem schlaffen Körper auf den Schultern die Speicherleiter hinab. Drunten legte er George Viccars so zärtlich auf ein Laken, wie ein Vater, der ein schlafendes Kind hinbettet.