Von ihren Geistern bedrängt

 

An jenem Nachmittag weinte ich um meinen Vater. Ich war in die Pfarrküche gegangen, um für Elinor eine Schale Eisenkrauttee zu kochen. Während ich dastand und darauf wartete, dass das Wasser kochte, kamen die Tränen, liefen mir übers Gesicht und ließen sich kaum mehr eindämmen. Seit Beginn der Pest hatte ich nicht genügend Raum zum Trauern gehabt, weder um meine Buben noch um mein zerstörtes Leben, das ich mir so schön ausgemalt hatte. Ein Leben, in dem ich beide zu ehrsamen Männern hatte erziehen wollen.

Trotz meines klatschnassen Gesichts und bebender Schultern versuchte ich, den Tee zuzubereiten. Ich hob den Kessel vom Kamineinsatz. Doch dann stand ich wie erstarrt da, unfähig, mich an die einfache Abfolge von Handlungen zu erinnern, die ich als Nächstes tun musste. Als Elinor hereinkam, stand ich immer noch reglos da. Sie nahm mir den Kessel aus der Hand, ließ mich hinsetzen, fuhr mir übers Haar und hielt mich fest. Zuerst sagte sie nichts, aber als mein Schluchzen verebbte, flüsterte sie: »Erzähl’s mir.«

Und das tat ich auch. Endlich. Alles. Das volle Ausmaß seiner Brutalität. Jede Vernachlässigung und jeden Missbrauch aus meiner einsamen Kindheit. Danach erzählte ich ihr, was ich über die Hintergründe seiner Verderbtheit in Erfahrung gebracht hatte, die gleichen Geschichten, die er vor den widerstrebenden Ohren eines verschreckten Kindes ausgekippt hatte. Eines Kindes, das sie nicht hatte hören wollen. Wie ihn als Junge die groben Kerle auf See vergewaltigt hatten, wie er gelernt hatte, so lange Rum zu schlucken, bis es ihm egal war. Wie ihn ein Bootsmanngehilfe ausgepeitscht hatte, ohne sich die Mühe zu machen, die neunschwänzige Katze nach jedem Hieb zu entwirren, sodass ein blutiger Lederklumpen heruntersauste und auf seinem Rücken eine so tiefe Narbe hinterließ, dass er seinen linken Arm danach nie wieder ganz heben konnte.

Bei meiner Nacherzählung zuckte Elinor genauso zusammen, wie ich damals zusammengezuckt sein musste, als man mich mit diesen Geschichten belastete und ich vergeblich versuchte, mir die Ohren zuzuhalten. Auch er hatte damals nicht mit dem Erzählen aufhören wollen. Und nun merkte ich, dass auch ich es nicht konnte. Ich hörte, wie meine eigene Stimme unaufhaltsam die Litanei dieser Qualen herunterleierte: Wie er mitansehen musste, dass die Seepocken seinen einzigen Freund bei einem ungerechten Kielholen vom Kinn bis zur Wade aufschlitzten. Wie er seine Lehrzeit überlebt und endlich an Land gekommen war, nur um von einer Patrouille aufgegriffen und mit Gewalt wieder auf See geschafft zu werden. Wie er seitdem in der Angst gelebt hatte, man würde ihn erneut irgendwie zum Dienst pressen und zurück in seine Albträume zerren. Und dies, obwohl wir ganz weit im Landesinneren lebten.

Irgendwie reinigte dieses Erzählen meinen Sinn und ließ mich wieder klar denken. Das Bündeln und Sortieren meiner eigenen Empfindungen brachte mich schließlich so weit, dass ich einen Maßstab fand, um das Wesen meines Vaters zu ermessen und eine Balance zwischen meinem Ekel vor ihm und dem Verständnis für ihn zu finden. Meine Schuld an der Art seines Sterbens gegen jene Schuld, die er bei mir für die Art und Weise meines Lebens stehen hatte. Als alles abgeschlossen war, fühlte ich mich von ihm befreit.

Eine Weile saß Elinor still da. »Ich habe mich stets gefragt«, sagte sie schließlich, »warum sich einer wie dein Vater durch den Sonntagseid an diesen Ort gebunden hat. Denn auf mich machte er immer den Eindruck eines Menschen, der bei der erstbesten Gelegenheit flieht, um seine eigene Haut zu retten. Vermutlich hatte das mit seiner Angst vor den Patrouillen zu tun.«

»Vielleicht«, sagte ich. »Und doch steckt meiner Ansicht nach noch mehr dahinter. Inzwischen glaube ich, dass er sich beschützt fühlte.« Jetzt erzählte ich ihr von Aphras merkwürdigem Benehmen, als wir den Grabhügel meines Vaters aufschichteten und seinen Leichnam zur letzten Ruhe betteten. »Aphra war schon immer abergläubisch. Wahrscheinlich hat sie meinen Vater überzeugt, sie hätte sich irgendwie Zaubersprüche oder Amulette verschafft, um sie alle vor der Ansteckung zu schützen.«

»Wenn das tatsächlich so ist«, meinte Elinor, »dann stehen Aphra und dein Vater mit der Hinwendung zu solchem Aberglauben nicht allein da.« Sie ging zu ihrem Deckelkorb und holte ein ausgefranstes Stoff stück hervor, das sie mir zeigte, ehe sie es in das Herdfeuer warf. Sie hatte für uns beide Tee gekocht. Daran nippte sie nun geistesabwesend, während sie zusah, wie das Gewebe verbrannte. Auf dem Stoff standen ungelenke Zeichen, als ob die Hand, die sie geschrieben hatte, das Schreiben nicht gewohnt sei. Soweit ich noch erkennen konnte, bevor die Flammen alles einschwärzten, bildeten die Wörter eine Vierergruppe, die keinen Sinn ergab: AAB, ILLA, HYRS, GIBELLA.

»Dies habe ich von Margaret Livesedge, die gestern ihre kleine Tochter verlor. Eine Hexe, angeblich der Geist von Anys Gowdie, hat es ihr gegeben. Diese Worte seien Chaldäisch, erklärte ihr der Geist. Ein mächtiger Bannspruch von Zauberern, die bei jedem Vollmond nackt und mit Schlangen bemalt Satan anbeten. Sie wies Margaret an, dieses Tuch dem Kind wie eine Schlange an der Stelle um den Hals zu wickeln, wo sich die Pestbeule befand. Mit abnehmendem Mond sollte dann auch die Pestbeule schwinden.« Traurig schüttelte Elinor den Kopf. »Entweder hat Margaret den Verstand verloren, oder sie hat Visionen von Frauen, die gar nicht da sind, oder jemand hat ihr für diesen Unsinn einen Silberschilling abgenommen. Anna, ich weiß nicht, was mich dabei am meisten schockiert: dass Leute ihre verzweifelten Mitmenschen ausplündern? Dass sie das Andenken von Anys Gowdie beschmutzen, indem sie sich als ihr Schatten ausgeben? Oder dass die Menschen hier so leichtgläubig sind, dass sie auf dieses mitternächtliche Geflüster hören und ihren letzten Heller für diesen wertlosen Plunder ausgeben.«

Daraufhin erzählte ich ihr, wie ich an jenem Schneetag, an dem wir einander unerwartet in der Gowdie-Hütte begegnet waren, bei Kate Talbot dieses ABRACADABRA gefunden hatte. »Wir müssen Mister Mompellion von diesen Dingen berichten«, meinte sie. »Er muss dagegen predigen und die Leute davor warnen, auf diesen Aberglauben hereinzufallen.« Der Herr Pfarrer war nicht da. Er setzte gerade das Testament des Webers Richard Sopes auf, aber schon bald hörten wir Anteros im Stallhof schnauben. Elinor ging hin, um ihn zu begrüßen. Unterdessen bereitete ich ein wenig Brühe und Haferkuchen vor. Als ich es in die Bibliothek trug, waren beide ins Gespräch vertieft. Elinor wandte sich zu mir.

»Auch Mister Mompellion ist schon auf solche Talismane gestoßen. Anscheinend verbreitet sich der Irrsinn genauso rasch unter uns wie die Krankheit.«

»In der Tat«, sagte er. »Eigentlich bin ich hierher zurückgekommen, um eine von euch zur Hütte der Mowbrays mitzunehmen. Dort bedarf das Kind eures Kräuterwissens.« Er war ohne Mantel aus dem Stallhof gekommen und sah so durchgefroren aus, dass ich ihm schnell eine Jacke holte.

»Dann handelt es sich also nicht um die Pest, Herr Pfarrer?«, fragte ich, während ich mich streckte, um ihm in die Jacke zu helfen.

»Nein, nein, diesmal nicht, wenigstens nicht bisher. Aber ich fand die törichten Eltern des Säuglings draußen auf dem Rileyschen Feld, wie sie sich das arme Kind immer wieder nackt durch eine Brombeerhecke zureichten. Bis ich bei ihnen war, war sein zartes Körperchen schon ganz zerkratzt, während diese Narren lächelnd behaupteten, damit hätten sie ihn vor dem Eindringen der Pestsaat bewahrt.« Seufzend zupfte er an seinem Hemdsärmel. »Um ihnen die Wahrheit zu entlocken, bedurfte es harter Worte und strafender Blicke, aber schließlich erzählten sie mir, diese Anweisungen und Beschwörungen hätten sie vom Geist der Anys Gowdie, die sie im Dunkeln besucht hätte. Ich habe das arme Kind in meinen Umhang gewickelt und es von ihnen heimtragen lassen. Ich sagte, ich würde eine von euch mit einer Salbe für seine Kratzer direkt dorthin schicken.«

Da ich zur Ablenkung eine sinnvolle Beschäftigung brauchte, erklärte ich Elinor, ich würde gehen, und bereitete die Salbe schnellstmöglich zu. Im Blatt der Brombeere steckt etwas, womit sich Ritzwunden von ihren Dornen beruhigen lassen. Deshalb zerstieß ich einige zusammen mit Anserine, Kampfer und ein bisschen kühlender Minze und band den Brei mit Mandelöl zu einer süß duftenden Salbe, deren Geruch an meinen Händen haften blieb. Als ich mich der Hütte der Mowbrays näherte, wurde dieses Parfüm allerdings durch einen scheußlichen Gestank vertrieben.

Als hätte das arme Kind nicht schon genug mitgemacht, hielt es Lottie Mowbray hoch in die Luft, sodass sein dünner Urinstrahl direkt in einen Kochtopf fiel, den sie offensichtlich gerade erst vom Feuer genommen hatte. Dieser Topf mit Urin musste bereits einige Zeit gekocht haben, denn die ganze Hütte stank durchdringend danach. Bei meinem Eintreten schaute sie mit leerem Blick auf, wobei ihr die letzten Pipitropfen auf den Rock fielen.

»Lottie Mowbray, welche neue Narretei ist denn das?«, wollte ich wissen, während ich ihr das wimmernde Kind sachte aus den Händen nahm. Genau diesen Buben hatte ich kurz nach Fastnacht entbunden. Schon damals hatte ich mir Sorgen gemacht, wie eine wie Lottie, die selbst noch in vielerlei Weise ein Kind war, es schaffen würde, für ihn zu sorgen. Tom, der Vater, war auch nicht viel mehr als ein Einfaltspinsel, der als Pflüger oder Säuberbube mühsam sein Leben fristete, je nach den niederen Arbeiten, für die ihn seine Nachbarn gerade brauchten. Trotzdem war er eine freundliche Seele, der nett zu Lottie und in sein Kind völlig vernarrt war. »Die Hexe hat uns gesagt, wir sollen die Kinderhaare in seinem Pipi kochen. Und dass das die Pest von ihm abhält, von innen und von außen«, rechtfertigte sich Tom. »Und weil der Herr Pfarrer wegen dem Brombeerzauber gar so bös mit uns war, dacht ich, wir probieren mal das aus statt dem.«

Ich hatte aus meiner Kate ein Lammfell mitgebracht, das ich vor dem Feuer ausbreitete. Darauf legte ich den Kleinen möglichst zärtlich und schälte ihn aus den schmutzigen Tüchern, in die ihn Lottie gewickelt hatte. Er stieß einen kläglichen Schrei aus, denn an einigen Stellen klebte der Stoff an den blutenden Kratzern.

»Und wie viel«, fragte ich in möglichst ruhigem Ton, um das kleine Kind nicht aufzuregen, »hat euch die Frau für diesen Rat abgenommen?«

»‘n Dreier für den ersten und zwei Pence für den zweiten«, erwiderte Lottie. »Ich schätz, ‘s war ein guter Handel, denn sie sagt, wenn die Pest erst mal voll in ‘nem Kind steckt, kostet der Talisman zum Wegmachen mehr als nur der zum Bannen.« Da Tom Mowbray manchmal für Sam gearbeitet hatte, wusste ich zufällig, dass sein Wochenlohn selbst in guten Zeiten nur fünf Pence betrug.

Nur mühsam konnte ich an mich halten. Schließlich konnte man Einfaltspinsel wie den Mowbrays keine Vorwürfe machen, wenn sie auf solchen Aberglauben hereinfielen. Aber in mir pochte der Zorn auf dieses räuberische Weib, egal, wer es war. Während ich die Kratzer des Säuglings wusch und mit meiner Salbe bestrich, versuchte ich, meine Finger schmetterlingsleicht zu halten. Als ich fertig war, wickelte ich den Buben in das saubere Leintuch, das mir Elinor gegeben hatte, und bettete ihn mit dem Lammfell in den ausgehöhlten Baumstamm, der den Mowbrays als Wiege diente. Dann trug ich den Nachttopf zur Tür und schüttete seinen Inhalt im hohen Bogen in den Hof hinaus. Als Lottie dabei laut aufschrie, packte ich sie an den Schultern und schüttelte sie. »Hier«, sagte ich und streckte ihr die Salbe hin. »Sie kostet dich nichts. Wenn der Raum am Morgen warm genug ist, lässt du ihn eine Weile nackt. An der Luft heilen seine Schnitte besser. Dann bestreichst du sie genau so mit der Salbe, wie du’s bei mir gesehen hast. Füttere ihn, so gut es geht, und meide jeden, von dem du weißt, dass er krank ist. Das ist alles, was wir gegen die Pest tun können. Und nur das. Im Übrigen bete zu Gott um Erlösung, denn Satan wird sie nicht bringen, und auch jene nicht, die in seinem Schatten arbeiten.« Alles Zeitverschwendung. Ihr leerer Blick verriet es mir. Ich seufzte.

»Sieh zu, dass du diesen Topf gründlich scheuerst, ehe du wieder darin kochst«, sagte ich. »Füll ihn mit Wasser und lass ihn heute Nacht über dem Feuer auskochen. Verstehst du?« Nun nickte sie stumm. Wenigstens das konnte sie begreifen: Töpfe scheuern.

Als ich die Hütte verließ, blieb ich mit der Zehe an einem losen Stein hängen und stolperte, wobei ich mir die Hand aufschürfte, mit der ich den Sturz abfangen wollte. Wut stieg in mir auf, und ich fluchte. Während ich die Schürfwunde aussog, fragte ich mich, warum wir alle, vom Herrn Pfarrer auf seiner Kanzel bis zur dummen Lottie in ihrer Hütte, ganz versessen darauf waren, die Pest unsichtbaren Mächten zuzuschreiben? Warum sollte sie eine von Gott gesandte Probe für unseren Glauben oder das böse Werk des Teufels auf Erden sein? Ersteres glaubten wir mit Inbrunst, das andere verachteten wir als Aberglaube. Vielleicht war aber beides gleichermaßen falsch. Vielleicht schicken weder Gott noch der Teufel die Pest. Vielleicht war sie nichts weiter als ein Teil der Natur, genau wie jener Stein, an dem wir unsere Zehe stoßen.

Doch glaubte ich wirklich, Gott lege mir diesen Fels in den Weg, um mich zu Fall zu bringen? Einige würden das mit Gewissheit bestätigen: Gottes Finger bewegt jedes Staubkorn. Ich sah das nicht so. Und doch wäre ich eher geneigt gewesen, darin ein Werk von Gottes Händen zu erkennen, wenn ich mir an diesem Stein den Kopf angeschlagen hätte und nun schwer verletzt daläge. Wo also im Weltenlauf würden Ereignisse nach meinem Glauben die Waagschale so weit kippen lassen, dass sie Gottes Aufmerksamkeit erregten? Wenn es mir schon nicht einleuchtete, dass Er sich um die Lage eines Steins kümmert, warum sollte ich dann glauben, dass ihm ein winziges Leben wie meines am Herzen liegt? In dem Moment wurde mir klar, dass wir, jeder Einzelne von uns, ungeheuer viel Zeit mit dem Nachdenken über solche Fragen verschwenden, die wir letztendlich doch nicht beantworten konnten. Wenn wir die Zeit, die wir mit Gedanken an Gott verbrachten, eher darauf verwenden würden zu begreifen, wie sich die Pest ausbreitet und unser Blut vergiftet, kämen wir vielleicht der Rettung unseres Lebens einen Schritt näher.

Derlei Gedanken mochten frevlerisch sein, bargen aber auch einen kleinen Hoffnungsschimmer in sich. Denn wenn wir uns gestatten könnten, die Pest lediglich als etwas Natürliches zu betrachten, müssten wir uns nicht den Kopf über irgendeinen himmlischen Plan zerbrechen, der sich erst vollenden müsste, ehe die Krankheit abflaute. Dann könnten wir uns damit einfach wie ein Bauer auseinander setzen, der sich abmüht, sein Feld von unerwünschten Wicken zu säubern. Eines wussten wir dann: Wenn wir erst die nötigen Mittel und Methoden und ein gerüttelt Maß an Entschlossenheit gefunden hätten, würden wir uns aus eigenen Stücken befreien können, egal, ob wir ein Dorf voll Sünder oder ein Hort von Heiligen wären.

 

Mit einer Mischung aus Hoffnung und Angst begrüßten wir den Mai. Mit jener Hoffnung, die sich vermutlich ganz natürlich am Ende eines harten Winters einstellt. Mit der Angst, das mildere Wetter würde zu einem verstärkten Aufflackern der Krankheit führen. Behutsam hob die Jahreszeit mit ungewöhnlich beständigem Wetter an, als wüsste der Himmel, dass wir die plötzlichen Wetterumschwünge, die für diese Gegend typisch sind – ein milder Tag, der die zarten Grasschösslinge hervorlockt, gefolgt von einem klirrenden Frosttag, der jeden frischen Trieb zu einem graubraunen leblosen Etwas versengt –, in diesem Jahr nicht ertragen könnten. Heuer öffneten sich die Triebe ohne Braunfäule, die Knospen schwollen zu prächtigen Blüten an. Auf den von Narzissen gelb schimmernden Feldern wimmelte es von kleinen unsichtbaren Lebewesen. Die alten Apfelbäume waren mit schneeweißen Blüten bedeckt und ließen ihren Duft in der milden Luft treiben. Auf einem Weg durch ein blassblaues Meer von Sternhyazinthen durchfuhr mich plötzlich ein Satz aus der Erinnerung: »Dies hat mich einmal froh gemacht.« Ich blieb stehen, hielt einen Augenblick inne und versuchte, diese Empfindung zu begreifen. Während ich so dastand, dachte ich an Jamie, wie er schon als Säugling versucht hatte, den Mond zu fassen, und dazu seine winzigen Armchen in die Höhe gereckt hatte. War mein Bemühen nicht ebenso zum Scheitern verurteilt?

Dank des schönen Wetters lammten meine Schafe leicht. Welch ein Segen angesichts meiner sonstigen Mühe. Manchmal rührte mich der Anblick dieser winzigen Geschöpfe, deren Fell sich blendend weiß vom üppigen frischen Gras abhob. In ihrer Lebensfreude sprangen sie mit allen vieren in die Luft. Staunend betrachtete ich sie. Würde ich es noch erleben, wie sie groß wurden, ich sie scheren und zum Hammel bringen konnte, damit sie eigene Lämmer warfen? In solchen Momenten verspürte ich eine törichte Wut auf ihr dummes Herumtollen. »Blödes Vieh«, stieß ich dann hervor. »Ist froh, hier zu sein, an einem der verfluchtesten Orte dieser Welt.« Dies geschah immer dann, wenn mir ein neuer Krankheitsfall zu Ohren gekommen war, und noch einer, und noch einer.

Denn das warme Wetter brachte mehr Tod mit sich, als wir für möglich gehalten hätten. Nicht einmal der Cucklett Delf in seiner neu erwachten Schönheit konnte unsere geschrumpfte Zahl verbergen, obwohl ihn Kaskaden von Schlehenblüten über und über bedeckten, zarter als die Spitze an unseren schönsten Altartüchern. Jeden Sonntag wurden die Lücken zwischen uns größer, verringerte sich die Entfernung zwischen der Felsenkanzel des Herrn Pfarrers und der letzten Reihe von Gläubigen.

»Wir sind Golgatha geworden – die Schädelstätte«, sagte Michael Mompellion am letzten Maisonntag bei seiner Predigt. »Und doch sind wir auch Gethsemane, der Garten des Wartens und des Gebetes. Gleich unserem heiligen Herrn und Heiland können wir Gott nur anflehen: Lass diesen Kelch an mir vorübergehen. Aber danach, geliebte Freunde, müssen wir wie er die Worte hinzufügen: Nicht mein Wille geschehe, sondern der Deine.«

Am zweiten Junisonntag hatten wir einen traurigen Wendepunkt erreicht: Nun lagen ebenso viele unter der Erde, wie noch auf ihr wandelten. Mit dem Hinscheiden von Margaret Livesedge hatte die Anzahl der Toten einhundertundachtzig Seelen erreicht. Wenn ich manchmal abends auf der Hauptstraße durchs Dorf ging, spürte ich, wie mich ihre Geister bedrängten. Dabei fiel mir auf, dass ich mittlerweile nur noch kleine Schritte machte, den Kopf einzog, die Arme verschränkte und seitlich eng an den Leib presste, als wolle ich ihnen Platz lassen. Hegten auch andere diese schrecklichen Gedanken? Oder wurde ich allmählich wahnsinnig? Immer hatte es Furcht gegeben, vom ersten Moment an, aber was bisher vertuscht wurde, war nun in nacktes Entsetzen umgeschlagen. Wer von uns noch übrig war, fürchtete den Nächsten und die Ansteckung, die vielleicht jeder insgeheim schon in sich trug. Verstohlen wie Mäuse huschten die Leute herum und versuchten zu kommen und zu gehen, ohne einer anderen Seele zu begegnen.

Ich brachte es nicht mehr fertig, einem Nachbarn ins Gesicht zu schauen, ohne ihn mir tot vorzustellen. Anschließend ertappte ich mich bei der Vorstellung, wie wir ohne seine Handwerkskunst am Pflug und Webstuhl oder auf dem Schusterschemel zurecht kommen würden. Längst gab es in allen Gewerben große Lücken. Seit dem Tod des Hufschmieds mussten Pferde, die ein Hufeisen verloren, unbeschlagen herumlaufen. Mälzer und Steinmetz fehlten uns ebenso wie Zimmermann und Tuchweber, Dachdecker und Schneider. Auf vielen Feldern lag die Scholle ungebrochen da, ohne Egge, ohne Saatgut. Ganze Häuser standen leer. Ganze Familien waren von uns gegangen und damit auch Namen, die man hier seit Jahrhunderten kannte.

Jeden von uns packte die Furcht anders. Der Mälzer Andrew Merrick zog sich, lediglich in Begleitung seines Hahns, auf ein Einsiedlerleben in eine Hütte zurück, die er sich selbst nahe dem Gipfel des Sir William Hill notdürftig erbaut hatte. Im Dunkel der Nacht stahl er sich regelrecht zum Mompellions Well hinunter, um wissen zu lassen, was er brauchte. Da er nicht schreiben konnte, ließ er einfach einen Becher mit einem Rest der benötigten Dinge zurück: ein paar Haferkörner, Heringsgräten.

Einige betäubten ihren Schrecken mit Alkohol und ihre Einsamkeit in schamloser Umarmung. Darunter auch Jane Martin, jenes strenggläubige Mädchen, das auf meine Buben aufgepasst hatte. Die Ärmste musste ihrer ganzen Familie ins Grab nachschauen. Anschließend trieb sie sich im Wirtshaus herum, wo sie bis zur Bewusstlosigkeit trank. Binnen eines Monats hatte sie ihre Trauerkleidung und die sauertöpfische Miene abgelegt. Es tat mir weh, wenn ich mit anhören musste, wie einige junge Säufer über ihre Veränderung witzelten: von einer, die »so kalt wie ‘ne Hundeschnauze« war, zu »‘nem derben Weibsstück, das kaum die Beine zusammenhalten kann«. Eines Abends begegnete ich ihr, als sie im Dunkel unsicher nach Hause schwankte, und nahm sie mit in meine Kate in der Absicht, sie warm und nüchtern sicher ins Bett zu verfrachten und am Morgen ein ernstes Wort mit ihr zu reden. Ich fütterte ihr ein bisschen Lammeintopf, den sie aber umgehend wieder unverdaut von sich gab. Am nächsten Morgen war sie immer noch so schrecklich krank, dass sie von meinem gut gemeinten Vortrag vermutlich nicht allzu viel begriff.

Aber auf den seltsamsten Weg führte die Furcht John Gordon. Gordon, der seine Frau in jener Nacht, als Anys Gowdie ermordet wurde, geschlagen hatte, war schon immer ein Einzelgänger gewesen. Deshalb war keiner sehr überrascht, als er mit seiner Frau im Frühjahr nicht mehr zum Sonntagsgottesdienst nach Cucklett Delf kam. Da die beiden am hintersten Dorf ende lebten, hatte ich John schon seit vielen Wochen nicht mehr gesehen, im Gegensatz zu Urith, mit der ich ab und an kurz gesprochen hatte. Daher wusste ich, dass sie dem Steinbruch bewusst fern blieben, und das nicht aus Krankheitsgründen. Urith hatte noch nie viele Worte verloren. Ihr Mann hielt sie so unter der Knute, dass sie verängstigt und stumm herumschlich und jedes Gespräch scheute. Könnte es sie doch zu einem Verhalten verleiten, das ihr Mann nicht billigte. Mir war aufgefallen, dass Urith dünner, ausgemergelter und hagerer als sonst aussah, aber da dies auf die meisten von uns zutraf, dachte ich mir nicht recht viel dabei.

Da war das völlig veränderte Aussehen von John Gordon schon etwas ganz anderes. An einem Tag, der ganz der Krankenpflege gegolten hatte, war ich noch spätabends zum Well gegangen, um einen für die Pfarrküche bestellten Sack Salz zu holen. Im schwindenden Tageslicht dauerte es eine ganze Weile, ehe ich die gebeugte Gestalt erkannte, die sich auf einem steilen Pfad durch die Bäume langsam bergan bewegte. Trotz des kühlen Abends war der Mann bis zur Taille nackt und hatte sich nur ein Stück Sackleinen um die Hüften geschlungen. Er war bis zum Skelett abgemagert. In der Linken trug er einen Stab, auf den er sich schwer stützte. Offensichtlich kostete ihn der Aufstieg sehr viel Mühe. Anfänglich konnte ich in der hereinbrechenden Dämmerung nicht sehen, was er in der Rechten trug. Aber als ich vom Well nach unten stieg und näher an ihn herankam, erkannte ich es endlich. Es handelte sich um eine geflochtene Lederpeitsche, durch deren Enden man kurze Nägel getrieben hatte. Während John Gordon den Pfad hinaufstieg, sah ich, wie er ungefähr alle fünf Schritte stehen blieb und die Peitsche hob, um sich selber zu schlagen. Einer der Nägel war wie ein Angelhaken gekrümmt, sodass er bei jedem Schlag ein winziges Stück Fleisch herausriss.

Nun ließ ich den Salzsack fallen und lief unter lautem Rufen auf ihn zu. Aus der Nähe konnte ich erkennen, dass er nur noch aus Schorf und blauen Flecken bestand. Frisches Blut tröpfelte in die getrockneten Spuren früherer Verletzungen.

»Bitte«, rief ich, »hör damit auf! Bestraf dich doch nicht selbst so! Komm lieber mit, und lass mich deine Wunden salben!«

Gordon starrte mich nur an und murmelte weiter. »Te Deum laudamus, te judice te Deum laudamus, te judice …« Im Takt seines Gebetes geißelte er sich selbst. Der krumme Nagel verfing sich in seinem Fleisch und hob ein kleines Hautstück an. Er riss daran, die Haut zerfetzte. Ich zuckte zusammen. Seine leise Stimme blieb ungerührt.

Er schob sich an mir vorbei, als wäre ich nicht da, und ging weiter Richtung Edge. Ich nahm das Salz und lief eilends ins Pfarrhaus. Obwohl ich Mister Mompellion eigentlich mit nichts Neuem mehr belasten wollte, wusste ich, dass ich ihm John Gordons Verhalten nicht verheimlichen durfte. Er war in der Bibliothek und arbeitete an einer Predigt. Normalerweise hätte ich ihn dort nie gestört, aber als ich Elinor von meiner Begegnung berichtete, bestand sie darauf, dass diese Nachricht keinen Aufschub dulde.

Auf unser Klopfen hin erhob er sich sofort und musterte uns mit ernster Miene. Wegen einer Kleinigkeit würden wir ihn nicht stören, das wusste er genau. Als ich ihm berichtete, was ich mit eigenen Augen gesehen hatte, hieb er mit der Faust auf den Tisch.

»Flagellanten! Ich hab’s befürchtet.«

»Aber wie?«, sagte Elinor. »Wie kann so etwas hier auftauchen, wo wir doch so weit von den großen Städten entfernt sind?«

Er zuckte die Achseln. »Wer weiß das schon? Gordon kann lesen und schreiben. Anscheinend verbreiten sich diese gefährlichen Ideen sogar mit dem Wind und suchen uns mir nichts, dir nichts heim, ob fern oder nah, genau wie die Krankheitssaaten.«

Ich hatte keine Ahnung, wovon die Rede war. Elinor, die meine Verwirrung spürte, wandte sich zu mir.

»Sie gehören seit je zu den Schreckgespenstern, die zusammen mit der Pest umgehen, Anna«, sagte sie. »Schon vor vielen Jahrhunderten zogen Flagellanten in Seuchen- und Kriegszeiten über die Straßen dieses Landes. Zu Zeiten des Schwarzen Todes tauchten sie erneut auf, manchmal in riesigen Mengen. So schreiten sie von Stadt zu Stadt und ziehen die Seelen der Verstörten an sich. Nach ihrem Glauben kann man durch schmerzhafte Selbstbestrafung Gottes Zorn brechen. Sie betrachten die Pest als Seine Strafe für menschliche Sünden. Sie sind arme Seelen …«

»Arme Seelen und doch hoch gefährlich«, warf Mister Mompellion ein, der aufgeregt auf und ab lief. »Meistens leiden sie selbst unter dem Schaden, den sie anrichten. Allerdings gab es auch schon Zeiten, wo sie sich zusammenrotteten und den Sünden anderer die Schuld an der Pest gaben – häufig den Juden. Ich habe gelesen, wie sie in fernen Städten hunderte Unschuldiger dem Feuertod überantwortet haben. Bei einem ähnlichen Wahnsinnsanfall haben wir die Gowdies verloren. Noch eine Seele werde ich nicht verlieren.«

Nun hielt er inne. »Anna, sei so lieb und packe Haferkuchen und ein paar von deinen Salben und Heiltrunken zusammen. Ich glaube, wir müssen die Gordons noch heute Nacht besuchen. Ich dulde nicht, dass sich dieses Credo hier verbreitet.«

Wie gebeten, füllte ich einen Korb und legte noch etwas Sülze und die Reste eines großen Puddings dazu, den ich heute zum Abendessen zubereitet hatte. Draußen hob er mich auf Anteros, und dann ritten wir zum Hof der Gordons. Wir waren eben von der Hauptstraße abgebogen, als ich bemerkte, wie sich auf einer Grasböschung neben der Straße etwas Weißes hin und her wand. Wäre mir klar gewesen, worum es sich handelte, hätte ich nie ein Wort darüber verloren, aber ich hielt es für einen Menschen in Not und rief dem Herrn Pfarrer zu, er solle anhalten. Mit einem leisen Kommando brachte er Anteros zum Stehen und lenkte das Pferd in die von mir gewiesene Richtung. Offensichtlich erkannte er die wahre Sachlage viel rascher als ich, denn bereits nach einem Augenblick zugehe er Anteros. Ich dachte, er wolle wieder zurück auf die Straße und das Paar allein lassen. Aber die Frau hatte ihn gesehen und stieß einen kläglichen Schrei aus. Daraufhin sprang der Mann, der auf ihr lag, hoch, zerrte mit einer Hand an seiner Hose herum und versuchte mit der anderen, seine nackte Kehrseite zu bedecken. Jane Martin lag rücklings auf ein paar Grasbüscheln. Ihr Kleid war bis zum Hals hochgeschoben. Sie war so betrunken, dass sie sich trotz ihrer Nacktheit nicht einmal bedeckte.

Ich rutschte vom Pferd, ging zu ihr, zog ihren Rock herunter und suchte im Gras nach ihrer fehlenden Unterwäsche. Albion Samweys stand inzwischen stumm vor dem Herrn Pfarrer, der hoch zu Ross sitzen geblieben war, und scharrte mit den Füßen. Samweys war ein Knappe, dessen Frau vor einem Monat gestorben war. Ruhig sprach der Herr Pfarrer mit ihm. Seine Stimme klang seltsam flach und traurig, nicht zornig, wie ich – und Albion – erwartet hatten.

»Albion Samweys, du hast dich heute Nacht hier versündigt. Doch für diese Predigt brauchst du mich nicht. Mach, dass du heimkommst, und entehre dich zukünftig nicht mehr.«

Auf unsicheren Beinen entfernte sich Samweys rückwärts gehend unter vielen Bücklingen und nickte dabei dem Herrn Pfarrer zu. Ich dachte schon, er würde das Gleichgewicht verlieren, doch dann drehte er sich um und lief, wenn auch leicht schwankend, ziemlich rasch in die Dunkelheit hinein. Jetzt stieg auch der Herr Pfarrer ab und ging mit großen Schritten zu der Stelle, wo ich bei Jane saß und versuchte, ihre Füße zurück in die Stiefel zu stopfen.

»Jane Martin! Auf die Knie mit dir!« Die Stimme war ein einziges wütendes Gebrüll, bei dessen Klang ich zusammenzuckte. Sogar Jane erbebte trotz ihrer Volltrunkenheit.

»Auf die Knie, Sünderin!« Er trat einen Schritt auf uns zu, eine schwarze Riesengestalt. Seine Miene ließ sich im Dunkeln nicht erkennen. Mühsam rappelte ich mich auf die Beine und stellte mich zwischen ihn und das zerzauste Mädchen, das vergeblich aufzustehen versuchte. Immer und immer wieder fiel sie zurück. Ihre Glieder verweigerten den Dienst.

»Herr Pfarrer!«, sagte ich. »Sie sehen doch sicher, dass das Mädchen derzeit nicht in der Lage ist, Sie zu begreifen! Ich flehe Sie an, wenn Sie sie schon tadeln müssen, dann sparen Sie sich das, bis sie wieder bei klarem Verstand ist.«

»Du vergisst dich.« Seine Stimme klang inzwischen ruhig, aber kalt. »Diese Frau weiß ganz genau, was sie heute Nacht hier tut. Sie kennt die Heilige Schrift so gut wie ich. Sie hat das reine Gefäß ihres Körpers mit Verderben gefüllt. Dies hat sie im vollen Bewusstsein getan. Sie soll bestraft werden.«

»Herr Pfarrer«, unterbrach ich ihn. »Sie wissen genau, das wurde sie schon.«

Jetzt herrschte Schweigen. Nur noch ein mahlendes Geräusch war zu vernehmen. Anteros rupfte mit weicher Schnauze nasses Gras. In meinem Schädel dröhnte das Blut. Ich konnte kaum glauben, dass ich so etwas ausgesprochen hatte. Dann hörte ich hinter mir ein Würgen. Der Gestank in der stillen Luft verriet mir, dass Jane Martin den Bierinhalt ihres Magens erbrochen hatte.

»Mach sie sauber, und halt dann das Pferd, während ich sie hinaufsetze«, sagte er. Ich wischte Jane mit einem der Tücher aus meinem Korb den Mund ab. Der Herr Pfarrer hob sie in den Sattel und bedeutete mir dann, hinter ihr aufzusitzen, um sie so gut wie möglich auf dem Pferd zu halten, während er uns zu ihrer Kate brachte. Während des Abstiegs fiel kein Wort, weder als wir sie herunterhoben und ihr aufs Lager halfen, noch als wir erneut zu unserem ursprünglichen Ziel aufbrachen.

Ich war über die Dunkelheit froh. Dadurch musste ich dem Herrn Pfarrer nicht in die Augen schauen. Das Ganze war mir äußerst peinlich. War ich doch auch der Grund gewesen, dass er Zeuge dieser Paarung wurde, und ich umgekehrt Zeuge eines merkwürdigen Wutausbruchs, der so gar nicht zu dem passen wollte, was ich von ihm kannte. Als wir an der Stelle vorbeikamen, wo ich das Pärchen entdeckt hatte, stieß er einen tiefen Seufzer aus. »Keiner von uns ist noch Herr über sich selbst, wie wir es in diesen Zeiten eigentlich sein sollten. Ich möchte dich bitten, meinen Ausbruch von heute Abend zu vergessen, so, wie ich es auch mit deinem tun werde.«

Murmelnd erklärte ich mich damit einverstanden. Anteros hatte erst ein paar Schritte weiter getan, als der Herr Pfarrer erneut anhob. »Ganz besonders wäre ich froh«, sagte er leise, »wenn meiner Frau kein Wort über diesen Vorfall zu Ohren käme.«

»Natürlich, Herr Pfarrer«, nuschelte ich. Selbstverständlich würde er Elinor das Wissen über unsere so derb zur Schau gestellte tierische Natur ersparen wollen.

Schweigend ritten wir weiter. Als wir zum Hof der Gordons kamen, weigerte sich Urith anfänglich, uns die Türe zu öffnen. »Mein Mann duldet es nicht, wenn ich in seiner Abwesenheit Männerbesuche empfange«, sagte sie mit bebender Stimme.

»Sorge dich nicht, Anna Frith ist hier bei mir. Es kann doch sicher nicht unschicklich sein, den Ortsgeistlichen und seine Dienerin zu empfangen? Wir haben ein wenig Proviant mitgebracht. Möchtest du nicht das Brot mit uns brechen?«

Daraufhin öffnete sich die Türe einen Spalt, und Urith lugte heraus. Bei meinem Anblick und dem meines Korbes leckte sie sich hungrig die Lippen. Ich trat vor und schlug das Tuch zurück, damit sie den Inhalt sehen konnte. Zitternd öffnete sie die Tür. Sie trug eine Art grobe Decke, die sie um die Taille mit einem Strick festgebunden hatte. »In Wahrheit«, sagte sie, »bin ich am Verhungern. Mein Mann hat mich vierzehn Tage fasten lassen, mit nur einer Schale Brühe und einem Ranken Brot täglich.«

Beim Betreten der Kate schnappte ich nach Luft. Sämtliche Möbel waren verschwunden. Stattdessen standen in jedem Winkel grob gezimmerte Holzkreuze herum. Einige große lehnten an der Wand, kleinere Astkreuze hingen an Schnüren von den Deckenbalken. Urith bemerkte meinen starren Blick. »Damit verbringt er mittlerweile seine Zeit. Nicht auf dem Feld, sondern mit Kreuzebauen, eines nach dem anderen.« Drinnen in der Kate war es kälter als draußen im Freien. Offensichtlich hatte im Herd schon einige Zeit kein Feuer mehr gebrannt. Ich richtete Haferkuchen, Sülze und Pudding auf den Tüchern an, in die ich sie eingewickelt hatte. Urith kniete sich auf den Boden und verschlang alles gierig. Sogar den grünen Heiltrank leerte sie bis zum letzten Tropfen. Da es keinen Stuhl zum Hinsetzen gab, standen wir da und schauten ihr beim Essen zu. Ich schlug die Arme um mich und versuchte, mich durch Abklopfen mit den Händen aufzuwärmen.

Als sie fertig war, setzte sie sich mit einem tiefen Seufzer in die Hocke. Zum ersten Mal seit vierzehn Tagen war sie satt. Dann rappelte sie sich hoch und sah uns ängstlich an. »Ich flehe euch an, sagt meinem Mann nichts davon, er ist bereits schwer gekränkt, weil ich nicht so halb nackt herumlaufen will wie er. In dieser Sache habe ich mich ihm widersetzt und musste dafür bitter büßen. Wenn er weiß, dass ich ihm auch beim Fasten den Gehorsam verweigert habe …« Hier brach sie ab. Was sie meinte, war offensichtlich. Ich sammelte die Tücher ein und suchte den Boden nach Krümeln ab, um ihr Geheimnis nicht zu verraten. Unterdessen erkundigte sich Mister Mompellion vorsichtig danach, wie ihr Mann ihrer Meinung nach zu den Lehren der Flagellanten gekommen war.

»Wie, weiß ich nicht«, meinte sie. »Aber irgendwann mitten im Winter bekam er ein Traktat aus London, das er eingehend las. Danach wurde er sehr merkwürdig. Bitte, nehmen Sie es nicht persönlich, Herr Pfarrer, aber er beurteilte ihre Predigten immer kritischer. Er sagte, es sei falsch von Ihnen, wenn Sie die Leute ermuntern, in der Pest etwas anderes als den leibhaftig gewordenen Zorn Gottes zu sehen. Er sagte, Sie sollten jeden von uns zu einer öffentlichen Beichte jeder einzelnen Sünde anregen. Dabei würden wir dann vielleicht auf jenen Verstoß kommen, der Gottes Zorn über uns gebracht hat, und ihn für immer ausmerzen können. Es genügt nicht, sagt er, unsere Seele zu erforschen, wir müssten auch unser Fleisch geißeln. Er begann zu fasten, wobei er immer strenger wurde. Dann verbrannte er alle unsere Strohsäcke und bestand darauf, dass wir auf dem nackten Stein schlafen.« Flüsternd fuhr sie fort: »Unter keinen Umständen durften wir beieinander körperlichen Trost suchen, sondern immer nur ganz keusch daliegen.«

Er ließ den Hof Hof sein und beschimpfte sie, wenn sie von ihrem Platz neben ihm auf den Knien aufstand und selbst Hand an den Pflug legte. »Schließlich zerrte er vor einer Woche Tisch und Bänke hinaus und verbrannte sie und warf auch noch seine beiden Anzüge ins Feuer.« Ihr hatte er dasselbe befohlen, aber sie hatte sich mit der Bemerkung, seine Art Kleidung sei unanständig, geweigert.

»Daraufhin hat er mich verflucht und erklärt, ich solle ihm dankbar sein, weil er wüsste, wie man die Pfeile von Gottes Pest von uns abhält.« Ihr Flüstern wurde so leise, bis ich die Worte kaum mehr hören konnte. »Er zog mich nackt aus und verbrannte meine Kleidung.« Er erklärte, ihre Schwäche und ihre Unfähigkeit zu angemessener Buße würde sie beide zwingen, ihr Fleisch umso stärker abzutöten. Er fertigte die Lederpeitsche an und trieb Nägel hinein. Zuerst schlug er sie, dann sich selbst. Seither geißelte er sich täglich.

»Herr Pfarrer, Sie können schon versuchen, mit ihm zu reden, aber ich bezweifle, ob er Ihnen zuhört.«

»Wo könnte ich ihn heute Nacht finden? Was glaubst du?«

»Um die Wahrheit zu sagen, ich weiß es nicht«, sagte sie. »Allerdings hat er sich angewöhnt, möglichst keine Minute zu schlafen. Um sich wach zu halten, spaziert er durchs Moor, bis er erschöpft zusammenbricht. Dann wieder legt er sich am Edge auf einen Felsvorsprung. Er behauptet, die Angst vor dem Herunterfallen hilft ihm dabei, bis Tagesanbruch wach zu bleiben.«

»Als ich ihn sah, ging er in Richtung Edge«, murmelte ich.

»Tatsächlich?«, sagte der Herr Pfarrer. »Nun, dann muss auch ich mich dorthin auf den Weg machen.«

Mister Mompellion legte Urith sachte eine Hand auf die Schulter. »Versuche, dich ein wenig auszuruhen. Ich werde mein Bestes tun, die Qualen deines Mannes zu lindern.«

»Danke schön«, flüsterte sie. Und so ließen wir sie in jener trostlos nackten Kate zurück. Ich machte mich auf den Weg zu meinem eigenen warmen Herd und der Herr Pfarrer auf seine Suche. Wie Urith Gordon auf diesen nackten rauen Steinen Ruhe finden sollte, hätte ich beim besten Willen nicht sagen können.

 

Mister Mompellion fand John Gordon in jener Nacht nicht, obwohl er auf Anteros am Edge hin und her ritt, bis der Mond aufging. Auch am nächsten Tag konnte er kein Zeichen von ihm entdecken, und auch am übernächsten nicht. In der Tat verging eine ganze Woche, ehe Brand Rigney auf der Suche nach einem vermissten Lamm aus der Merrillschen Herde zufällig die Leiche erblickte, die am Fuß der steilsten Edgewand zwischen herabgefallenen Felsen lag. Es gab keine Möglichkeit, den zerschmetterten Körper zu bergen, ja nicht einmal zudecken konnte man ihn, denn um in die Nähe zu kommen, musste man einen schmalen Weg benutzen, der von Stoney Middleton her kam. Und das wiederum hieß, durch die Stadt gehen, wogegen unser Eid sprach. Deshalb verging John Gordons Fleisch im Tode, wie er gelebt hatte. Nackt lag er unter dem Himmel, den rohen Naturgewalten überlassen.

Am nächsten Sonntag hielt der Herr Pfarrer im Steinbruch eine Predigt über Liebe und Verständnis. Er sagte, Gordon habe Gott wohlgefällig sein wollen, auch wenn er einem Verhalten anheim fiel, das Gott nicht gefällt. »Denn, meine geliebten Freunde, erinnert euch an Gottes Aussage in der Bibel: Mein Joch ist sanft, und meine Last ist leicht. Gott liebt nicht den Schmerz um seiner selbst willen. Bei ihm liegt die Entscheidung, wer leiden soll. Er und die von ihm berufenen Geistlichen legen euch Buße auf. Wenn aber ihr dies tut, ist das Anmaßung.« Urith war da, in Kleidung, die ihr andere Dorfbewohner geschickt hatten, als sie von ihrer Not erfuhren. Trotz ihres Verlustes sah sie ein wenig besser aus, denn in den Tagen seit dem Tod ihres Mannes hatte sie wieder ordentlich essen können. Die Leute aus dem Dorf hatten ihr Essen und Bettzeug geschickt.

Leider konnte sie nur kurz aufatmen, denn schon in der nächsten Woche riss die Pest sie fort. Während ich noch darüber nachgrübelte, ob die Pestsaat mit den guten Absichten jener Leute in ihr Haus getragen worden war, die ihr Strohsack und Kleidung geschenkt hatten, zogen andere einen anderen Schluss. Im Flüsterton hieß es, Mister Mompellions Predigt sei falsch. Die meisten wiesen derartiges Gerede von sich, aber wie schon gesagt, die Furcht rief in uns allen merkwürdige Veränderungen hervor, indem sie unsere Fähigkeit zu klarem Denken zerstörte. Binnen einer Woche hatte Martin Miller seine Familie in Sackleinen gewandet und sich eine Geißel angefertigt. Randoll Daniel tat es ihm gleich. Gott sei Dank verlangte er dies nicht auch noch von seiner Frau und dem Kind. Gemeinsam zogen Randoll und Miller durchs Dorf und forderten andere auf, sich an ihrer blutigen Selbstkasteiung zu beteiligen.

Im Pfarrhaus schwankte Mister Mompellion zwischen Wut und Selbstvorwürfen. Wann immer ich zum Putzen in die Bibliothek ging, fand ich viele, dicht beschriebene Seiten mit Streichungen und neuen Einfügungen aus seiner Feder vor. Mit jeder Woche schien er mehr Mühe zu haben, Worte für seine Predigten zusammenzustellen, die Mut machen sollten. Während dieser Zeit begannen seine Treffen mit seinem alten Freund Mister Holbroke, Pfarrer von Hathersage. Obwohl ich »Treffen« sage, verwende ich dieses Wort nicht im üblichen Sinn. Dazu begab er sich auf die Anhöhe oberhalb von Mompellions Well, wo er auf seinen Amtsbruder wartete. Mister Holbroke näherte sich so weit, wie er wagte – auf ungefähr eine Messkette. Dann begann das Gespräch, wenn man es so nennen möchte. Mit lauten Zurufen überbrückten sie den Abstand zwischen sich. Wenn Mister Mompellion dem Grafen oder seinem Gönner, Elinors Vater, einen Brief schicken wollte, diktierte er ihn Mister Holbroke. Auf diese Weise würde sich der Briefempfänger keine Gedanken machen, weil er ein Blatt aus einer Hand erhielt, die die Hände von Pestopfern berührt hatte.

Manchmal kehrte Mister Mompellion von diesen Begegnungen ein wenig froher gestimmt zurück. Bei anderen Gelegenheiten schien ihn der Kontakt mit der Außenwelt sogar noch mehr zu bedrücken. Während ich meiner Arbeit nachging, hörte ich, wie ihm Elinor mit ihrer tiefen, beruhigenden Stimme leise zuredete. Stets ermunterte sie ihn und erklärte ihm, er sei für uns alle der Urheber vieler guter Dinge, egal, wie dunkel gegenwärtig die Tage auch scheinen mochten.

An einem solchen Nachmittag war ich mit einem Tablett Erfrischungen vor der Tür gestanden, hatte ihre leisen Stimmen – hauptsächlich ihre – gehört und mich davongestohlen, um sie nicht zu stören. Als ich kurze Zeit später mit dem Tablett wiederkam und nichts hörte, hatte ich die Tür einen Spalt geöffnet und hineingespäht. Elinor war erschöpft in ihrem Stuhl eingeschlafen. Hinter ihr stand Michael Mompellion und beugte sich leicht über sie. Seine Hand schwebte in der Luft, knapp über ihrem Kopf.

Er will ihre Ruhe nicht stören, dachte ich, nicht einmal für eine Zärtlichkeit. Ist je ein Paar so zärtlich miteinander umgegangen? Herrgott, ich danke dir, dass du sie füreinander bewahrt hast, dachte ich. Doch während ich noch dastand und gierig ihre Intimität belauschte, überfiel mich ein durch und durch niederträchtiges Gefühl. Warum sollten sie einander haben, während ich niemanden hatte?

Sofort war ich auf beide eifersüchtig. Auf ihn, weil Elinor ihn liebte und ich nach einem größeren Teil ihrer Liebe hungerte, als ich mir je erhoffen konnte. Und doch war ich auch auf sie eifersüchtig. Eifersüchtig, weil sie von einem Mann so geliebt wurde, wie eine Frau geliebt werden sollte. Warum sollte ich mich in meinem kalten und leeren Bett herumwälzen, während sie bei ihm Trost fand? Verstohlen entfernte ich mich von der Türe und versuchte, meine zitternden Hände ruhig zu halten, damit mich das klappernde Tablett nicht verriet. Ich betrat die Küche und ging zum Waschtrog, wo ich das Tablett abstellte. Dann nahm ich die zierlichen Schalen, erst seine, dann ihre, und warf sie nacheinander gegen den unnachgiebigen Stein.