Hexenzeichen

 

Als ich ein Kind war, erzählte mein Vater manchmal von seiner Zeit als Schiffsjunge. Normalerweise tat er dies, um uns, wenn wir etwas angestellt hatten, durch Abschreckung zu besserem Betragen anzuhalten. Von der Peitsche erzählte er und vom anschließenden Beizen, bei dem ein frisch Bestrafter vom Mast gebunden und in ein Fass mit beißender Lake getunkt wurde. Er sagte, der grausamste Bootsmann führe die Peitsche so, dass die Hiebe immer wieder auf dieselbe Stelle träfen, wo sich bereits die Haut in langen Streifen abgeschält habe. Der Geschickteste wiederum könne die Peitsche so genau landen lassen, dass sie den Muskel durchschnitt und den Knochen bloßlegte.

Die Pest ist genauso grausam. Immer und immer wieder fallen ihre Hiebe auf nacktes Leid, und noch ehe man einen geliebten Menschen betrauert hat, hält man schon den nächsten krank im Arm. Jamie weinte noch bitterlich um seinen Bruder, als seine Tränen in fiebriges Wimmern übergingen. Mein Kleiner liebte sein Leben und kämpfte hart darum, es festzuhalten. Elinor Mompellion stand mir von Anfang an zur Seite. An ihre sanfte Stimme erinnere ich mich noch am besten aus jenen düsteren Tagen und Nächten.

»Anna, ich muss dir gestehen, dass in meinem Michael bereits beim ersten Besuch an George Viccars’ Krankenlager der Verdacht auf Pest aufgekeimt ist. Du weißt ja, dass er bis vor kurzem an der Universität Cambridge studiert hat. Deshalb hat er sofort seinen Freunden geschrieben und sie gebeten, durch Befragen der dort lehrenden großen Ärzte herauszufinden, was man über die neuesten Heilmittel weiß. Eben heute hat er eine Antwort bekommen.« Sie zog den Brief aus ihrer Rocktasche, entfaltete und überflog ihn. Ich lugte über ihre Schultern und versuchte, mir so gut wie möglich einen Reim darauf zu machen, denn mit handschriftlichen Dingen hatte ich bisher nur wenig Bekanntschaft gemacht. Trotz der äußerst sauberen Schrift fiel mir das Entziffern schwer. »Der Briefschreiber ist ein lieber Freund von Mister Mompellion, deshalb hält er sich, wie du siehst, recht lange mit Gruß Worten und besorgten Äußerungen auf. Gleichzeitig äußert er die Hoffnung, Mister Mompellion möge sich vielleicht doch hinsichtlich der wahren Natur jener Krankheit täuschen, die unter uns ausgebrochen ist. Aber hier kommt er zu guter Letzt doch noch auf den Punkt und erklärt, dass die gelehrten Doktores bei der Bekämpfung der Pest große Hoffnung auf diese neuen Methoden setzen.« Und so kam es, dass mein armer Junge mit höchster Autorität und besten Absichten einige Behandlungen über sich ergehen lassen musste, die am Ende vielleicht doch nur seine Qual verlängerten.

Während die Geschwulst bei George Viccars im Nacken ausgebrochen war, bildete sie sich bei Jamie unter der Achsel, sodass er vor Schmerzen jämmerlich schrie und sein schmales Ärmchen seitlich weitab hielt, um den Druck auf sein eigenes Fleisch zu lindern. Ich hatte mich bereits an Zugpflastern mit einer Paste aus Meersalz, Roggenschrot und Eigelb versucht, die ich mit einem weichen Lederstreifen über der Geschwulst befestigte. Aber das Geschwür wuchs einfach weiter, von Walnussgröße bis zum Ausmaß eines Gänseeis, ohne aufplatzen zu wollen. Mister Mompellions Freund hatte in allen Details ein Rezept der medizinischen Fakultät aufgeschrieben, das ich als Nächstes mit Mistress Mompellions Hilfe versuchte. Dazu war es nötig, eine große Zwiebel in der Glut zu rösten, sie auszuhöhlen und mit einer Feige, gehackter Raute und einem Schluck Venezianischem Sirup zu füllen. Zum Glück für uns, dachte ich damals, hatte Mem Gowdie beides: die getrockneten Feigen und den Sirup, der aus einer Honigmixtur mit seltenen Ingredienzen besteht, deren Herstellung langwierig ist und höchste Sorgfalt erfordert.

Diese Zwiebeln röstete ich, eine nach der anderen, obwohl sie so unangenehm auf die geschwollene Stelle drückten, dass mein Kind sich laut schreiend herumwälzte und vor Schmerz schweißgebadet war. Dem eigenen Kind wehzutun, ist das Bitterste auf der Welt, sogar wenn man glaubt, man täte es zu seiner Rettung. Weinend band ich die verhassten Zugpflaster um, dann nahm ich ihn in den Arm, wiegte ihn und versuchte ihn so gut wie möglich zu trösten, indem ich ihn mit all seinen Lieblingsliedern und sämtlichen Geschichten ablenkte, die ich mir ausdenken konnte.

»Vor langer Zeit lebte in einem fernen Lande ein kleiner Junge«, flüsterte ich ihm in den frühen Morgenstunden zu, denn ich verspürte das Bedürfnis, die dunkle Stille durch einen beständigen Redestrom zu bannen. »Er war ein guter kleiner Junge, aber sehr arm. Sein ganzes Leben verbrachte er in einem dunklen Raum, wo er lange und hart arbeiten musste und sich von früh bis spät plagte, bis er sehr müde war. Dieser Raum besaß nur eine einzige Türe. Und doch hatte der kleine Junge sie noch nie durchschritten und wusste nicht, was dahinter lag. Und weil er das nicht wusste, hatte er vor dieser Türe Angst. Obwohl er so gern gewusst hätte, was sich außerhalb seines Raumes befand, hatte er nie den Mut besessen nachzusehen. Aber eines Tages erschien dem kleinen Jungen ein strahlender Engel, und der sagte zu ihm: Es ist Zeit. Du bist sehr brav gewesen und hast deine Arbeit gut gemacht. Jetzt kannst du sie beiseite legen und mit mir kommen. Er öffnete die Türe, und dahinter lag im Sonnenschein der schönste Garten, den der Junge je gesehen hatte. Kinder waren dort und lachten und spielten. Die nahmen den kleinen Jungen bei der Hand und zeigten ihm alle Wunder seines neuen Zuhauses. Und so lebte und spielte er in alle Ewigkeit in diesem goldenen Licht, und nichts tat ihm je wieder weh.« Seine Lider flatterten, matt lächelte er mich an. Ich küsste ihn und flüsterte: »Hab keine Angst, mein Schatz, hab keine Angst.«

Am Morgen brachte Anys Gowdie einen Saft vorbei, einen Absud aus Mutterkrautblüten mit ein bisschen Wermut in gezuckertem Sherry. Dann tat sie das, was sie und ihre Tante immer taten, wenn sie ihre Heilmittel vorbeibrachten. Bevor sie Jamie den Trunk gab, legte sie ihm sanft die Hände auf und murmelte: »Mögen die sieben Gebote dieses Werk leiten. Möge es meinen Großmüttern, den Urahnen, gefallen. So sei’s denn.« Außerdem hatte sie eine kühlende, nach Minze duftende Salbe mitgebracht und fragte mich, ob sie diese dem Kind zur Fiebersenkung auftragen dürfe. Sie setzte sich mit dem Rücken zur Wand auf den Boden, zog die Knie an und legte seinen kleinen Körper so auf ihre Schenkel, dass sein Kopf auf ihren Knien ruhte, und seine Füße auf ihren Hüften. Zärtlich war ihre Berührung und ganz regelmäßig. Ohne abzusetzen strichen ihre Hände über seine Augenbrauen und weiter hinunter über Körper und Gliedmaßen. Dazu sang sie leise: »Zwei Engel kamen von Osten herein. Der eine bracht Feuer, der andere Frost. Hinaus mit dem Feuer! Frost, komm herein! Lasst alle guten Geister der Mütter um uns sein.« Obwohl Jamie unruhig vor sich hin gewimmert hatte, beruhigte er sich unter ihrer Berührung. Seine Augen suchten die ihren und schauten sie unverwandt an. Schließlich fiel er in einen willkommenen Schlaf.

Als ich ihn von ihrem Schoß nahm und auf die Pritsche legte, hatte seine Haut die fieberrote Farbe verloren und fühlte sich unter meinen Händen kühl an. Von ganzem Herzen dankte ich ihr für die Erleichterung, die sie ihm gebracht hatte. Üblicherweise tat sie Dank oder Lob mit einem barschen Rüffel ab, aber an jenem Morgen ergriff sie sanft meine ausgestreckte Hand. »Du bist eine gute Mutter, Anna Frith.« Sie musterte mich ernst. »Deine Arme werden nicht für immer leer bleiben. Denke daran, wenn dir der Weg düster erscheint.«

Anys wusste allzu gut, dass ihre Fürsorge meinem Jungen nur kurz Erleichterung bringen würde, das verstehe ich jetzt. Als die gute Wirkung des Trankes und der Salbe nachließ, stieg das Fieber erneut, Stunde um Stunde, und gegen Nachmittag fiel er ins Delirium. »Mami, Tom ruft nach dir!«, flüsterte er eindringlich und ruderte dabei mit den Armen, als wollte er mich holen.

»Ich bin hier, mein Schatz. Sag Tommy, dass ich ganz nahe bin.« Ich versuchte, die Tränen in meiner Stimme zu unterdrücken, aber als Toms Name fiel, begannen meine Brüste so viel Milch abzusondern, dass sich außen auf meinem Mieder große dunkle Flecken abzeichneten.

Elinor Mompellion brachte Jamie ein Seidesäckchen, durch das sie ein weiches Band gezogen hatte. »Es enthält ein Palliativ, das ein Bekannter des Pfarrers aus Cambridge geschickt hat«, sagte sie. »Laut seiner Anweisung soll man es so aufhängen, dass es auf die linke Brustwarze des Kranken fällt, also ungefähr über seinem Herzen, weißt du.«

»Aber was ist drin?«, fragte ich hoffnungsvoll.

»Nun ja, äh, ich habe mich bezüglich des Inhalts erkundigt und war nicht überzeugt, dass es viel nützen könnte Aber der Mann, der es schickte, ist ein angesehener Arzt und sagt, es sei eine Medizin, von der die Florentiner Ärzte, die ja eine große Erfahrung mit der Pest haben, viel halten.«

»Aber was ist es?«, fragte ich erneut.

»Es enthält eine getrocknete Kröte«, sagte sie. Daraufhin weinte ich, obwohl ich wusste, dass sie nur Gutes im Sinn hatte. Ich konnte nicht anders.

Elinor Mompellion brachte auch Essen mit, obwohl ich nichts davon hinunterbrachte. Sie saß bei mir und hielt meine Hand und flüsterte mir irgendwelche Worte zu, von denen sie dachte, ich könnte sie ertragen. Erst später erfuhr ich – damals kreisten meine Gedanken nur um meinen eigenen Kummer –, dass sie nach langen Stunden bei mir zur nächsten Haustüre ging, zu Mary Hadfield, deren Mutter gekommen war, um sie wegen ihres großen Verlustes zu trösten und nun selbst krank darnieder lag. Und von dort über die Straße zu den Sydells, bei denen es drei Bettlägrige gab, und weiter zu den Hawksworths, wo die schwangere Jane krank neben ihrem Mann Michael lag.

Fünf Tage litt Jamie, ehe Gott es endlich für richtig befand, ihn zu sich zu nehmen. Am Tag seines Todes erblühten diese seltsamen Kreise auf ihm: Ringförmig zeichneten sich hellrote Striemen unter seiner obersten Hautschicht ab. Binnen Stunden wurden sie violett und dann dunkelpurpurn und bekamen harte Krusten. Es sah aus, als würde sein Fleisch inwendig bereits sterben, während er noch atmete. Verwesendes Fleisch schob sich stoßweise aus seinem immer schwächer werdenden Körper. Beide Mompellions kamen, als sie erfuhren, dass erneut diese Pestzeichen aufgetreten waren. Jamie lag auf einem Notlager vor dem Herd, in dem ich ein kleines Feuer gegen die Abendkühle entzündet hatte. Ich saß am Kopfende, bettete Jamies Kopf in meinen Schoß und streichelte seine Augenbrauen. Der Herr Pfarrer kniete sich auf den harten Sandsteinboden und begann zu beten. Seine Frau glitt stumm vom Stuhl und kniete sich neben ihn. Ich hörte die Worte wie aus weiter Ferne.

»Allmächtiger Gott und allergnädigster Vater, neige Dein Ohr unserem Flehen, und lass Dein Auge schauen das Elend Deines Volkes. Siehe, wir rufen zu Dir um Gnade. Zügle deshalb Deinen Arm, und lass nicht den Pfeil des Todes los, der dieses Kind in sein Grab schickt. Rufe Deinen Engel des Zorns zurück, und lass dieses Kind nicht unter dem schweren Hieb dieser entsetzlichen Pest fallen, die nunmehr unter uns weilt …« Das Herdfeuer warf einen warmen Schein auf das kniende Paar, dessen Köpfe, dunkel und hell, sich dicht nebeneinander neigten. Erst am Ende des Gebetes hob Elinor Mompellion die Augen und sah mich an. Ich schüttelte den Kopf, während mir die Tränen übers Gesicht liefen. Da wusste sie, dass ihr Mann vergebens gebetet hatte.

An die folgenden Tage habe ich keine Erinnerung. Ich weiß, dass ich gegen den Küster kämpfte, als er kam, um Jamies Körper fortzubringen. Dass ich in meinem verstörten Zustand unter lauten Schreien versuchte, ihm die Leinenbinden abzukratzen, aus Angst, er könne nicht durch sie atmen. Ich weiß, dass ich viele Male zur Kirche ging. Ich sah, wie Jamie dort neben Tom in die Erde gelegt wurde, und dann Mary Hadfields Mutter und drei von den Sydell-Kindern und der Mann von Jane Hawksworth und danach ihr Sohn, der zu früh auf die Welt kam und einen Tag später tot war. Ich stand bei Lib Hancock, während ihr Mann begraben wurde. In unserem Kummer klammerten wir uns aneinander. Aber bis auf eine Zeile kann ich nicht sagen, welche Worte in der Kirche oder am offenen Grabe fielen: »Mitten im Leben sind wir vom Tod umgeben.« Dies erschien mir tatsächlich eine umfassende Beschreibung unserer damaligen Not.

Nach ein, zwei Tagen fand ich einen Weg, mich erneut durch meine Arbeit zu quälen, obwohl meine Hände getrennt von meinem Kopf funktionierten. Die Tage und Nächte glitten einfach vorbei. Ein dichter Nebel schien sich auf mich und alles ringsherum gelegt zu haben, und ich tastete mich von einer lästigen Pflicht zur nächsten, ohne etwas wirklich klar zu sehen. Wenn ich keine Beschäftigung für meine Hände fand, verbrachte ich viel Zeit im Kirchhof. Nicht an den Gräbern meiner Buben, wie man glauben möchte, sondern in dem stillen Hain hinter der Kirche, wo die alten Gräber sind. Der grasbewachsene Boden ist dort teilweise eingesackt, und wilde Rosenranken mit rötlichen Hagebutten wuchern ungezähmt über Gräbern, deren Inschrift verwittert und kaum mehr lesbar ist. Unter ihnen konnte ich verweilen. Sie legen Zeugnis für den Verlust und das Leid mir unbekannter Menschen ab, deren Schmerz ich nicht teilte. Und von hier aus konnte ich auch nicht die Schaufelgeräusche des Totengräbers hören oder die frisch aufgeworfene Scholle sehen, die schon den nächsten Leichnam eines Nachbarn erwartete.

Zwischen diesen alten Gräbern erhebt sich ein großes Kreuz, das nach alter Art von Menschen aus Stein gehauen wurde, die lange vor unserer Erinnerung über diese Hügel gingen. Angeblich hat man es von jenem einsamen Pfad heruntergebracht, der sich kurz unterhalb des Gipfels des White Peak dahinzieht. Jetzt überragt es wie ein beunruhigender fremder Besucher die kleinen Monumente unserer Hände. Ich lehnte mich ans Kreuz und ließ meine Stirn auf seiner rauen, vom Wind zerfurchten Oberfläche ruhen. Aus der Erinnerung tauchten Gebetsfragmente auf und verschwanden wieder, unterbrochen von meinen wirren Gedanken. Siebe, die Magd des Herrn. Warum gehörte ich nicht zu den vielen im Beinhaus? Mein Mann tot, aber ich nicht. Verstorben mein Logiergast, aber ich nicht. Meine Nachbarn, aber ich nicht. Meine Kinder – meine Kinder! Meine Augen brannten. Ich presste mein Gesicht gegen den Stein und atmete seinen Geruch ein, kühl und moosig und beruhigend. Mir geschehe nach Deinem Worte. Meine Finger zogen auf beiden Seiten die verschlungenen Bänder nach, und ich stellte mir die Hände vor, die sie herausgehauen hatten. Wie gerne hätte ich mich mit diesem Handwerker aus längst vergangenen Tagen unterhalten. Ich wollte wissen, wie seine Leute mit ihrem von Gott auferlegten Geschick zurechtgekommen waren. Engel waren in den Stein geschnitten, aber auch seltsame Wesen, deren Natur ich nicht kannte. Elinor Mompellion hatte mir einmal erzählt, dieses Kreuz käme aus einer Zeit, als der christliche Glaube noch neu in Britannien war und mit den alten Riten, wie zum Beispiel Menhiren und Blutopfern, wetteifern musste. War es aus einem festen und sicheren Glauben heraus entstanden? Oder war es die Geste eines Menschen gewesen, der einen Gott gnädig stimmen wollte, der offensichtlich nicht jene Liebe und Ehrfurcht begehrte, zu denen uns die Heilige Schrift auffordert, sondern ein nie endendes Übermaß unseres Leides. Nach Deinem Worte. Warum waren Gottes Worte immer so hart?

Wenn sich nicht eines meiner Herdentiere droben im Moor verlaufen hätte, hätte ich mich vermutlich weiterhin ganz der Trauer hingegeben. Es geschah in der dritten Woche nach Jamies Tod. Ich hatte die Schafe vernachlässigt, und einige waren auf der Suche nach besserer Weide, wohin ich sie längst hätte führen sollen, auf eigene Faust losgezogen. Zinngrau war der Himmel an jenem Nachmittag, und die Luft schmeckte metallisch nach erstem Schnee. Deshalb blieb mir nichts anderes übrig, als sie suchen zu gehen, obwohl mir jeder Schritt hügelan schier übermenschlich erschien. Ich verfolgte gerade oben an einer Klamm am Rande des Moores ihre Spuren, als ich einen entsetzlichen Schrei hörte. Er drang aus einer nahe gelegenen Grube herüber, die man vor gut einem halben Dutzend Jahren durch Fluten stillgelegt hatte.

An die zehn, zwölf Leute drängten sich dort auf unsicheren Beinen im Kreis. Ihre lauten Stimmen klangen so undeutlich, als wären sie direkt aus der Hauertaverne gekommen. Auch Lib Hancock befand sich darunter, die unter den Nachwirkungen des Alkohols herumtaumelte. Und daran war sie überhaupt nicht gewöhnt, das wusste ich genau. Mitten drin lag Mem Gowdie auf dem Boden, die dünnen Arme mit einem ausgefransten Seilstück gefesselt. Auf ihrer Brust kniete Brad Hamilton, während seine Tochter Faith die alte Frau an ihren wenigen Haaren gepackt hielt und ihr mit einem Weißdornstecken die Wange zerkratzte. »Und ich bekomm’s doch noch, du Hexe!«, schrie sie, während Mem stöhnend versuchte, ihre gefesselten Hände vors Gesicht zu heben, um die Schläge abzuwehren. »Dein Blut wird diese Krankheit aus dem Körper meiner Mutter vertreiben.« Im Kreis hielt Jude, der älteste Sohn der Hamiltons, seine Mutter in den Armen. Faith rieb Mem mit der Hand über die zerkratzte und blutende Wange, ehe sie schwankend aufstand und ihrer Mutter das Blut in den Nacken schmierte, wo sich pochend die Pestgeschwulst zeigte.

Noch während ich auf sie zu rannte und dabei die steile Klammwand hinabschlitterte und rutschte, dass die losen Steine nur so um mich polterten, löste sich Mary Hadfield aus der Schar, warf sich neben Mem zu Boden und schob ihr wutverzerrtes Gesicht bis auf wenige Zoll an das der alten Frau heran. »Du hast meine Familie getötet, Zauberin!« Mem zuckte zusammen und versuchte, verneinend den Kopf zu schütteln. »Ich habe doch gehört, wie du ihn verflucht hast, weil er den Bader zu Edward gebracht hat! Ich hab’s gehört, als du fortgingst! Deine Bosheit hat über meinen Mann und meine Mutter und meine Söhne die Pest gebracht!«

»Mary Hadfield!«, schrie ich gellend. Mit letzter Kraft versuchte ich, mir über das betrunkene Gemurmel Gehör zu verschaffen. Einige Gesichter wandten sich um, als ich mich keuchend in den Kreis drängte. »Mem Gowdie hat so etwas nicht getan! Warum sagst du das? Auch ich stand mit ihr auf deiner Türschwelle, als dieser Quacksalber bei dir zu Hause war. Sie hat dein Haus mit stummen Lippen verlassen. Behaupte lieber, dieser Bader mit seinen Blutegeln und seinem Purgieren habe den Tod deines Edwards beschleunigt, als diese brave Seele zu verleumden!«

»Warum verteidigst du sie, Anna Frith? Verrotten deine eigenen Kinder vielleicht nicht wegen ihres Fluches unter der Erde? Du solltest uns lieber hier helfen. Verschwinde, wenn du nur stören willst.«

»Werft sie ins Wasser!«, brüllte eine andere sturzbetrunkene Stimme. »Dann werden wir ja sehen, ob sie ‘ne Hexe ist oder nicht!«

»Jawohl!«, brüllte es zurück, und die von den Hieben halb bewusstlose Mem wurde zum Mundloch der gefluteten Grube gezerrt. Ihr altes, oft geflicktes Mieder hatte dem Gezerre nicht standgehalten. Eine verschrumpelte Brustwarze lag bloß, die sich unter den Schlägen dunkelrot gefärbt hatte. Die Grube war breit. Ich konnte die glitschigen Steine im Dunkeln verschwinden sehen.

»Wenn ihr sie hinunterwerft, seid ihr alle Mörder!«, brüllte ich, wobei ich mich Brad Hamilton in den Weg zu stellen versuchte, der noch den vernünftigsten Eindruck von allen machte. Aber als ich ihn am Arm packte, sah ich, dass Alkohol und Kummer sein Gesicht verzerrt hatten. Da fiel mir wieder ein, dass er heute seinen Sohn John begraben hatte. Er stieß mich beiseite. Ich verlor das Gleichgewicht und schlug heftig hin, wobei mein Kopf gegen eine Sandsteinnase knallte. Als ich ihn zu heben versuchte, drehte sich die Erde und wurde dunkel.

Als ich wieder zu mir kam, heulte Mary Hadfield gerade: »Sie sinkt! Sie sinkt! Sie ist keine Hexe! Gott verzeih uns, wir haben sie umgebracht!« Zuerst zerrte sie den einen Mann am Ärmel und dann den anderen und versuchte, sie zum Mundloch zu ziehen. Jude hielt das ausgefranste alte Seilende, mit dem man Mem gefesselt hatte, und starrte es an, als erwarte er, in den zerfetzten Strängen eine Antwort zu finden. Mühsam rappelte ich mich auf die Beine und spähte angestrengt ins Dunkel, aber außer dem verzerrten Spiegelbild meines eigenen blutverschmierten Gesichts, das mich seinerseits von der Wasseroberfläche anstarrte, konnte ich nichts erkennen. Als ich merkte, dass keiner etwas unternehmen wollte, schob ich alle mit Gewalt zur Seite, warf mich über den Stollenrand und tastete nach dem ersten Trittbrett. Aber als ich meinen Stiefel daraufsetzte, gab das morsche Holz nach und brach durch. Hilflos hing ich einen Augenblick über der Grube, ehe jemand einen Arm ausstreckte und mich hochzog. Wer das war, sah ich zunächst nicht.

Es war Anys Gowdie. Da sie den ganzen steilen Weg vom Dorf herauf gerannt war, atmete sie schwer und verschwendete kein Wort. Offensichtlich hatte ihr irgendjemand genau berichtet, was hier los war, denn sie hatte sich ein neues Seil um die Taille gebunden, das sie um die Rolle der alten Seilwinde schlang und am Göpel befestigte. Anschließend glitt sie ins glitschige Dunkel hinunter. Die anderen waren vor ihr zurückgewichen, aber nun drängten sie vorwärts und lugten in die Grube hinunter. Einer von ihnen taumelte gegen mich und drückte mich mit dem ganzen Gewicht seines Körpers in die Knie und gegen einen Felsen. Mit aller Macht rammte ich ihm einen Ellbogen in die Seite und schob ihn zurück. Nachdem ich mir das Blut aus den Augen gewischt hatte, schaute ich angestrengt in den Einstieg hinunter, wo ich lediglich die Haare von Anys ausmachen konnte, die sich hell vom schwarzen Wasser abhoben. Es platschte laut, dann begann sie mit dem Aufstieg. Ihre Tante hatte sie sich auf den Rücken gebunden. Zum Glück waren viele Trittbretter noch stabil genug, um so viel Gewicht zu tragen. Als sie sich dem Rand näherte, griffen Mary Hadfield und ich nach unten, packten ihre Arme und zogen sie das letzte Stück herauf.

Mary und ich legten Mem auf die Erde, und Anys drückte gegen ihre Brust, genau wie die Missetäter vor wenigen Minuten. Dunkles Wasser sprudelte aus ihrem Mund. Die alte Frau atmete nicht. »Sie ist tot!«, jammerte Mary, und das verstörte Grüppchen stimmte ein. Anys beachtete sie gar nicht, sondern kniete sich neben den Körper, legte ihren Mund auf den ihrer Tante und atmete hinein. Ich kniete neben ihr und zählte mit. Nach dem dritten Mal hielt Anys inne. Mem Gowdies Brust hob sich von selbst. Stöhnend spuckte sie und schlug die Augen auf. Die Erleichterung, die ich empfand, hielt nur einen winzigen Moment an, denn dann begann Lib mit irrsinniger Stimme zu schreien: »Anys Gowdie hat die Tote wieder auferweckt! Sie ist die wahre Hexe! Packt sie!«

»Lib!«, schrie ich, erhob mich taumelnd vom Boden neben Mem und packte sie bei beiden Armen. »Sei keine Närrin! Wer von uns hat noch nicht den Mund an ein frisch geborenes Lamm gelegt, das nicht atmete?«

»Halt du deinen Mund, Anna Frith!«, brüllte Lib, schüttelte meine Arme ab und machte gleichzeitig einen Schritt auf mich zu. Ihr Gesicht war nur noch wenige Zoll von meinem entfernt. »Du hast mir doch selbst erzählt, diese Hexe habe mit dem Satansbraten verkehrt, der die Pest hierher gebracht hat! Weißt du denn nicht, dass Viccars ein Hexer war? Und sie war sein Weibsbild!«

»Lib!«, rief ich, wobei ich sie an den Schultern packte und schüttelte. »Red nicht so über den untadeligen Toten! Liegt nicht der arme George Viccars genauso im Grab wie dein Mann?«

Hasserfüllt musterten mich ihre starren Augen.

Mittlerweile ertönten aus jedem verzerrten Mund Schreie wie »Hure«, »Drecksstück« und »Schlampe«. Der Mob drängte dorthin, wo Anys neben ihrer Tante kniete, und fiel mit Zähnen und Klauen leibhaftig über sie her. Nur Mary Hadfield hielt sich mit schmerzerfülltem Gesicht zurück. Anys war stark und wehrte sich gegen ihre Angreifer, und ich versuchte, ihr zu helfen. Immer wieder packte ich einen um den anderen und zog sie weg, bis sich mir erneut alles im Kopfe drehte. Dann schrie Urith Gordon los.

»Ich kann mich nicht in ihren Augen sehen! Hexenzeichen! Hexenzeichen! Sie hat meinen Mann verhext, damit er mit ihr schläft!« Daraufhin begann John Gordon wie ein Besessener auf sie loszugehen. Ich packte ihn am Unterarm und versuchte, ihn von ihr wegzuzerren, aber inzwischen lief mir das Blut aus der Platzwunde an der Schläfe. Es pochte in meinem Schädel, sodass alles zugleich grell und dunkel erschien. Da wusste ich, dass ich gegen seine Raserei machtlos war. Muss Mompellion holen, war mein letzter Gedanke. Aber noch während ich mich umdrehte, um fortzulaufen, versetzte mir jemand einen Hieb, dass ich der Länge nach hinfiel.

Stöhnend versuchte ich aufzustehen, aber meine Gliedmaßen wollten mir nicht gehorchen. Ich sah, wie sich die Schlinge um Anys’ Hals legte, und ich wusste, dass sie sie mit ihrem eigenen Seil aufhängen wollten und dabei den Göpel als Galgen benutzten. Doch was dann geschah, sah ich nicht vorher: Anys Gowdie hörte auf, sich zu wehren, und richtete sich zu ihrer ganzen eindrucksvollen Länge auf. Ihre Haube war heruntergefallen, ihre nassen Haarsträhnen umrahmten ihr Gesicht wie seltsam goldene Schlangen. Aus ihrem Mund rann ein hellroter Blutfaden.

»Ja«, sagte sie mit tiefer und unheimlicher Stimme, »ich bin ein Geschöpf des Teufels. Und eines merkt euch: Er wird mein Leben rächen!« Die Männer, die sie festhielten, traten ein wenig zurück und schlugen die Kreuzzeichen und noch das andere, ältere Zeichen gegen starke Magie.

»Anys!«, stöhnte ich. »Sag doch nicht so etwas! Du weißt doch, dass das nicht stimmt!«

Mit einem gespenstischen Lächeln wanderte ihr Blick zu der Stelle hinüber, wo ich am Boden lag. In ihren Augen jedoch stand mein Urteil: Meine lose Zunge hatte zu ihrem Verrat beigetragen. Dann wandte sie den Blick ab und starrte ringsum ihre Verfolger an. Die Sonne, die soeben hinter dem Horizont verschwand, fand einen schmalen Schlitz in den finsteren Wolken, durch den urplötzlich ein einsamer Lichtfinger strahlte, der über die Hügel jagte und dabei jeden Baum und jeden Strauch berührte, bis er Anys erreichte und sie wie einen Feuerball aufleuchten ließ. Gelb glitzerten ihre Bernsteinaugen wie die einer Katze.

»Ich habe ihm beigewohnt. Ja! Ich habe dem Teufel beigewohnt, und er ist mächtig, und seine Berührung kalt wie Eis. Auch sein Samen ist kalt und strömt wie ein üppiger Fluss zwischen unseren Schenkeln. Denn ich habe ihm nicht allein beigewohnt! Nein! Jetzt sage ich euch: Ich habe eure Frauen bei ihm liegen sehen! Deine, Brad Hamilton, und deine, John Gordon, und deine auch, Martin Highfield!« Mit Stöhnen oder lautem Geschrei machten die Frauen ihrer Empörung Luft, aber ihre Männer starrten Anys fassungslos an.

»Und wie gerne tun wir es, wir alle zusammen, und ohne Scham, viele Male, eine nach der anderen, und manchmal sogar zwei oder mehr auf einmal. Wir lutschen ihn und nehmen ihn mit allem auf, wo er in uns einzudringen wünscht. Kein Mann hat einen so großen Schwanz wie er. Im Vergleich zu euch ist er ein Hengst unter Wallachen.« Dabei fixierte sie die Männer, die sie namentlich genannt hatte. Ich sah, wie sie zusammenzuckten. »Jede Frau hat gesagt, dass ihre Lust bis aufs Äußerste befriedigt wird, weit mehr als mit einem von euch!« Und bei diesem letzten Satz lachte sie, lachte, als hätte sie sich nicht mehr unter Kontrolle. Daraufhin brüllten die Männer wie Ochsen und zerrten am Seil, bis es straff war, und ihr Gelächter verstummte. Ihre langen Beine zuckten, während sie sie über den Eingang stießen.

Und zuckten noch immer, als John Gordon das Seil fahren ließ und wie wild nach seiner Frau suchte. Die sah den Irrsinn in seinen Augen und begann, voller Todesangst wegzurennen. Ihr Stöhnen glich einem erstickten Aufschrei. John Gordon holte sie ein, streckte sie mit einem Fausthieb nieder, packte ihre Haare, riss ihr Gesicht vom Boden hoch und wälzte sie wie einen Mehlsack herum. »Ist das wahr?«, brüllte er, während die Knöchel seiner geballten Faust drohend über ihr hingen. »Hast du mit dem Satan geschlafen?« Noch ehe sie antworten konnte, drosch er ihr die Faust ins Gesicht. Blut strömte aus ihrer Nase. Wieder hob er den Arm zum nächsten Schlag.

Michael Mompellions Stimme donnerte die Klamm herunter, lauter und grimmiger als der Wind.

»Im Namen Gottes, was habt ihr hier getan?«

John Gordons Arm sackte herunter. Er drehte sich um und starrte dem Pfarrer entgegen. Einen solchen Ausdruck hatte noch keiner von uns je an ihm gesehen. In der Hand trug er eine Fackel, die sein Gesicht von unten so anstrahlte, dass seine Augen grimmig leuchtenden Kugeln glichen. So muss eine Eule einer Maus in den letzten Sekunden erscheinen, ehe sich ihr die Fänge ins Fleisch bohren! Als ich sah, dass sich hinter ihm im Sattel Mary Hadfield duckte, wurde mir klar, dass sie so geistesgegenwärtig gewesen war, ihn zu holen. Zuerst ging er auf Brad Hamilton los, der dem Göpel am nächsten stand. Hamilton riss beide Arme hoch, als wollte er sich verteidigen, aber Anteros bäumte sich wie ein Schlachtross auf und trieb ihn zurück. Der Pfarrer wendete das Pferd, glitt aus dem Sattel und warf dabei die Fackel weg, sodass sie zischend in den Schlamm fiel. Er zog ein Messer aus dem Gürtel, reckte die Hände, barg Anys und durchtrennte das Seil. Ihr schönes Gesicht war nicht wieder zu erkennen, dunkelrot und aufgedunsen. Die Zunge hing wie bei einem Straßenköter heraus. Er zog seinen Umhang hoch und bedeckte sie damit.

Einer – vermutlich Martin Highfield – war immer noch betrunken oder verrückt genug, dass er die Tat zu rechtfertigen versuchte.

»Sie sie hat’s gestanden«, nuschelte er matt. »Sie hat bekannt, dass sie mit dem Teufel geschlafen hat …«

Mompellions Stimme steigerte sich zu einem Brüllen. »O ja, heute Abend ist der Teufel hier gewesen! Aber nicht in Anys Gowdie! Narren! Unwissende Toren! Anys Gowdie hat euch mit der einzigen Waffe bekämpft, die sie zur Hand hatte – mit euren eigenen hässlichen Gedanken und üblen Zweifeln aneinander! Fallt auf die Knie, sofort!«

Sie sackten wie ein Mann zu Boden. »Betet zu Gott, dass Er in seiner Unendlichen Gnade eure erbärmlichen Seelen rettet.« Dann holte er Luft und seufzte. Als er weitersprach, war der Zorn aus seiner Stimme verschwunden, und doch war jedes Wort deutlich zu hören, sogar über das Jammern des Windes hinweg. »Gibt es in diesem Dorf nicht schon genug Leid? Gibt es hier nicht genug Tod für euch alle? Müsst ihr auch noch die Sünde des Mordes unter uns bringen? Betet, dass Gott von euch nicht den Preis einfordert, den die Tat dieses Tages verdient.«

Wie aus einem Munde fielen die Stimmen ein: Einige murmelten undeutlich, andere riefen lauthals den Herrn an, wieder andere schlugen sich weinend die Brust. Damals glaubten wir noch alle, dass Gott solchen Gebeten lauscht.