Gleich denen, die in die Grube fahren

 

Als wir uns dem Pfarrhaus näherten, sahen wir Mister Mompellion ohne Rock im Kirchhof stehen. Seine weiten weißen Hemdsärmel hatte er über die muskulösen Unterarme aufgekrempelt, seine Haare waren nass geschwitzt. Er hob Gräber aus. Rings um ihn standen schon drei lange Gruben offen, an der vierten arbeitete er gerade.

Rasch lief Elinor zu ihm und wollte ihm die Stirn abwischen, aber er trat einen Schritt zurück und winkte ihre Hand fort. Vor Erschöpfung war er ganz grau im Gesicht und lehnte sich schwer auf den Spaten.

Sie beschwor ihn aufzuhören und sich auszuruhen, aber er schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht aufhören. Wir brauchen heute sechs Gräber, und eines davon für den armen John Millstone.« Unser betagter Küster war heute Morgen gestorben. Der Pfarrer hatte ihn gefunden, wie er halb drinnen, halb vor dem Grab lag, an dem er noch gearbeitet hatte. »Sein Herz hat versagt. Er war zu alt für die schwere Arbeit, die ihm in jüngster Zeit aufgebürdet wurde.«

Bei einem Blick auf Mister Mompellion befürchtete ich, auch er könnte zusammenbrechen. Offensichtlich hatte er die letzte Nacht nicht geschlafen, sondern war von einem Totenbett ans nächste geeilt. Sein Versprechen, keiner müsse allein sterben, war eine schwere Last für ihn geworden. Eines war klar: Er würde es nicht überleben, wenn er nun auch noch versuchte, die Arbeit des Küsters zu übernehmen. Ich eilte in die Küche, wärmte ihm einen Becher mit bitterem Kräutersud auf und brachte ihn hinaus, wo er bis zum Bauch im Dreck stand.

»Sir, diese Arbeit schickt sich nicht für Sie«, sagte ich. »Lassen Sie mich dazu einen der Männer aus der Hauertaverne holen.«

»Und wer wird kommen, Anna?« Er legte sich eine Hand in den Rücken. Beim Aufrichten zuckte er zusammen. »Die Bergleute versuchen alles, um genug Erz aus ihrer Ader zu holen, damit ihr Anbruch nicht eingezogen wird. Die Bauern werden immer weniger, sodass sie weder Getreide ernten noch ihr Vieh melken können. Wie könnte ich ihnen da noch diese zusätzliche Arbeit aufbürden? Obendrein sollte man keinen, der noch gesund genug ist, bitten, freiwillig dem Tod so nahe zu kommen.«

Und so arbeitete er bis zum sinkenden Tageslicht weiter. Anschließend ließ er den verschiedenen Häusern ausrichten, sie könnten ihre Toten zum Begräbnis bringen. Es war eine armselige Prozession. Inzwischen bemühte sich niemand mehr um Särge; die Familien trugen ihre Lieben einfach so zum Grab. Und wenn sie dazu nicht genug Kraft hatten, schleppten sie die Toten mit einer Decke zum Kirchhof, die man dem Leichnam unter den Achseln durchzog. Mister Mompellion sprach über jeden das Gebet und half anschließend, die Erde wieder in die Gräber zu häufen. Während er sich noch auf dem Kirchhof abmühte, erreichten ihn die Bitten zweier Familien, er möge sich ihrer Nöte erbarmen. Ich hätte ihm dies bis zum nächsten Morgen verheimlicht, aber Elinor meinte, das wäre nicht richtig. Als er hereinkam, brachte sie ihm heißes Wasser zum Waschen und holte ihm frische Wäsche, während ich ein nahrhaftes Mahl zubereitete. Er aß rasch, zog dann seinen Mantel an und ritt fort, um sein Wort zu halten.

»So kann er nicht weitermachen«, sagte ich, während das Getrappel von Anteros’ Hufen schwächer wurde.

»Das weiß ich«, erwiderte sie leise. »Sein Körper ist stark, und doch befürchte ich, dass sein Wille weitaus stärker ist. Er kann ihn zu Taten treiben, die kein normaler Mensch fertig bringt. Glaube mir, ich habe es schon gesehen, in guten wie in schlechten Zeiten.«

In jener Nacht fand der Herr Pfarrer nur wenig Schlaf, und auch der nächste Tag brachte keine Ruhepause. Ich ließ daher meinen Stolz fahren und nahm stattdessen meinen ganzen Mut zusammen. Ohne Elinor mein Vorhaben mitzuteilen, machte ich mich auf den Weg zur Hütte meines Vaters. Ich hoffte, der Tag wäre noch jung genug, um ihn nüchtern vorzufinden. Zum Glück blieben Aphra und ihre Kinder gesund, auch wenn die Kleinen wie immer dünn und unterernährt wirkten, denn mein Vater und Aphra hatten mehr Lust, Kinder zu zeugen, als für sie zu sorgen.

Mir fiel auf, dass ihr Ältester, Steven, einen bösen Striemen auf der Wange hatte. Wie es dazu gekommen war, musste ich nicht fragen. Ich hatte einige von den Kräutern dabei, die wir hergerichtet hatten, und zeigte Aphra, wie sie daraus jenen Saft machen konnte, den sich Elinor und ich ausgedacht hatten. Während unserer Unterhaltung rührte sich mein Vater, der sich bisher noch nicht von seinem Lager erhoben hatte. Er stand auf, fluchte über seinen Brummschädel und wollte von mir wissen, ob ich ihm auch einen Trank mitgebracht habe. Da ich heute seine Hilfe wollte und sie wohl kaum bekäme, wenn ich ihn reizte, biss ich mir auf die Zunge und verzichtete auf die Bemerkung, dass ein wenig Enthaltsamkeit sein Leiden kurieren würde.

In einem respektvollen Ton, nach dem mir ganz und gar nicht zu Mute war, erklärte ich den traurigen Zustand im Pfarrhaus und beschwor ihn zu helfen, indem ich ihm mit seiner großen Kraft und Tapferkeit schmeichelte. Wie erwartet meinte er fluchend, er hätte schon mehr als genug Arbeit.

Außerdem täte es meinem »Faselpfaffen« ordentlich gut, wenn er sich seine weißen Hände dreckig mache. Deshalb bot ich ihm ein erstklassiges Lamm aus meiner Herde für den nächsten Sonntagsbraten an und ein weiteres zu Neumond. Dies war ein großzügiges Angebot. Mein Vater feilschte zwar fluchend weiter und hieb auf den Tisch, dass die Teller klapperten, aber schließlich einigten wir uns doch. So erkaufte ich Mister Mompellion eine Erholungspause vom Kirchhof. Außerdem bekamen die hungrigen Kinder meines Vaters auf diese Weise vielleicht ein Stück Fleisch ab.

 

Die Wochen dieser kalten Jahreszeit machten aus mir ein Gespenst. Die Weihnachtszeit verging, ohne dass wir es recht merkten. Zu Fastnacht entband ich Kate Talbot von einem gesunden Mädchen. Als ich ihr das Kind in die Arme legte, hoffte ich, es könnte ihre Trauer über den Verlust ihres Mannes mildern. Eine Woche später war ich Hebamme bei Lottie Mowbray, einer armen und einfachen Frau. Dennoch brachte sie es fertig, ihr Kind unter so wenig Jammern oder Mühen zu gebären, wie es mir bisher nicht untergekommen war. Leute wie Kate Talbot, die von ihres Mannes Hände Arbeit gelebt hatte, oder Lottie und ihr Mann Tom, die schon in guten Zeiten ums Überleben kämpften, wären in diesem Winter ohne Versorgung durch den Grafen von Chatsworth verhungert. Getreu seinem Versprechen versorgte er uns weiterhin. Jeden Tag kamen die Fuhrleute mit ihrer Ladung zum Grenzstein oder an die kleine Quelle, die bei uns inzwischen nur noch Mompellions Well hieß. Von den Bradfords, die sicher in ihrem Oxforder Hafen saßen, hätten wir uns wenigstens ein kleines Zeichen Mitgefühl erwartet, aber von ihnen erhielten wir weder irgendein Almosen, geschweige denn ein mitfühlendes Wort.

Drinnen in der Pfarrküche sah es allmählich wie in einem Alchemistenkabinett aus. Saft von gehackten Blättern tropfte auf meine schön geschrubbte Tischplatte und färbte das gebleichte Holz grasgrün. Das regelmäßige Schneidegeräusch meines eigenen Messers bestimmte meine Vormittage und verschmolz für mich zu einer hoffnungsvollen Musik der Heilkunst, die Elinor nicht mehr ganz fremd war. Beim Studium diverser Bücher las sie sich die Augen rot.

Hauptsächlich aber lernten wir aus der praktischen Anwendung, durch unsere Versuche, die pflanzlichen Heilkräfte auf diese oder jene Weise zu extrahieren. Einige Blätter weichte ich in zähflüssigem Öl ein, andere in stechendem Alkohol und wieder andere nur in sauberem Wasser. Dann wartete ich ab, mit welchem Element die besten Ergebnisse erzielt wurden. Viele Vormittage arbeitete Elinor Seite an Seite mit mir. Da ihre zarte Haut von den Pflanzensäften schnell Flecken bekam, sah es manchmal aus, als trüge sie blassbraune Handschuhe. Aus unseren getrockneten Kräutervorräten kochten wir Tees. Wenn sie zu bitter waren, träufelten wir löffelweise dicken Honig hinein und machten daraus Sirup. Einige Tees verdampften wir zu kräftigen Destillaten, da wir gemerkt hatten, dass viele Leute lieber kleine Mengen tranken als große. Und dann machte ich mich wieder ans Kleinhacken. Bündelweise hatten wir dem gefrorenen Boden Wurzeln abgetrotzt. Einige häufte ich in Tontöpfe und bedeckte sie zum Durchziehen mit reichlich Öl. Sobald die Heilkraft einer Pflanze meiner Meinung nach erschöpft war, griff ich mit den Händen in den seidigen Brei und knetete so lange brockenweise Bienenwachs hinein, bis ich eine geschmeidige Salbe zum Auftragen auf entzündete Pestbeulen hatte. Unsere Arbeit verfolgte zwei Ziele: erstens die Leiden der bereits Erkrankten zu lindern und zweitens die Abwehrkräfte der Gesunden zu stärken. Letzteres war zwar weitaus wichtiger, der Erfolg jedoch umso ungewisser.

Elinor und ich verteilten unsere Präparate und versuchten den Leuten zu zeigen, wie sie die frischen Sprossen wilder Blätter finden und erkennen könnten, die sie zur Kräftigung ihrer Gesundheit essen sollten. Dabei lernten wir auch vieles über die Linderung normaler Gebrechen und Verletzungen. Obwohl wir unsere Hauptarbeit nur ungern unterbrachen, wandte man sich immer öfter wegen Präparaten an uns, die früher die Gowdies so bereitwillig geliefert hatten. Nach kurzer Zeit begannen wir, uns einiges von ihrem Wissen anzueignen: dass eine Mischung aus Königskerze und Raute, Süßdolde und Senföl einen ausgezeichneten Hustensirup ergibt; dass Weidenrindensud Gelenkschmerzen und Fieber lindert; dass zu einem grünen Pflaster zerstoßener Heilziest die Heilung von Wunden und Abschürfungen beschleunigt. Auch in dieser Arbeit lag etwas Befriedigendes, brachte sie doch bei kleineren Verletzungen Trost, Linderung und Heilung.

Aber auf unseren sehnlichsten Wunsch mussten wir warten. Denn eines war uns klar: Möglicherweise könnten wir erst in vielen Wochen ein Abnehmen der Neuerkrankungen beobachten, das auf unsere Bemühungen zurückging. Als die Tage länger wurden, verbrachten wir viel Zeit bei den Gowdies. Wir versuchten, den Pflanzplan des Arzneigartens zu begreifen, studierten die Samenpäckchen, um herauszufinden, was welche Pflanze enthielt, und bereiteten den Boden vor, damit uns der Vorrat an stärkenden Kräutern auch künftig nicht ausging.

Nur sonntags unterbrachen wir unseren stetigen Kreislauf aus Sammeln und Gartenarbeit, Arzneimittelherstellung und Krankenbesuchen. Und vor dieser Unterbrechung fürchtete ich mich inzwischen am meisten. Mein ehemaliger Lieblingstag schien unter einem bösen Fluch zu stehen, denn besonders am Sonntag zeigte sich an den stetig leerer werdenden Bänken und fehlenden Gesichtern in der Kirche, dass unser Bemühen, das Wüten der Pest einzudämmen, gescheitert war. Trotzdem sollte ich auch erzählen, dass es ein paar neue Gesichter gab.

Seit dem Sonntagseid hatte Mister Stanley auch weiterhin die Gottesdienste von Mister Mompellion besucht, und inzwischen waren sogar die Familie Billings und einige andere Nonkonformisten gekommen. Auch wenn sie nicht alle Lieder mitsangen und den Worten des Buches für das gemeinsame Gebet folgten, so war es doch ein Wunder, dass sie sich überhaupt zu uns gesellten. Offensichtlich war ich nicht die Einzige, die darüber froh war.

Am ersten Märzsonntag schickte sich Michael Mompellion ins Unvermeidliche und schloss die Kirche. An jenem Morgen mühte er sich mit letzter Kraft, auf der Kanzel stehen zu bleiben. Weiß hoben sich seine Knöchel vom Eichenholz ab. Elinor hatte darauf bestanden, dass ich aufrückte und ihre Bank teilte. Sie meinte, mittlerweile sei ich ein Teil der Pfarrfamilie. Deshalb war ich nahe genug, um zu sehen, wie er am ganzen Körper vor Erschöpfung zitterte, und ich sah auch die tiefen Falten in seinem Gesicht, während er mühsam um seine Stimme rang.

»Meine lieben Freunde«, sagte er, »Gott hat uns in diesen Monaten schmerzlich auf die Probe gestellt. Ihr habt Seine Prüfung mutig angenommen. Seid eures Lohnes dafür gewiss. Wie wir alle hatte auch ich zu hoffen gewagt, dass diese Prüfung nicht so lange und so hart ausfallen würde, wie sie es tat und weiter tut. Aber wer kann sich erdreisten, Gottes Gedanken zu lesen? Wer kann Seinen großartigen Plan in allen Feinheiten verstehen? Nicht immer deutet Er Seine Absichten an, sondern lässt uns im Dunkeln, sodass wir Sein Gesicht suchen und Ihn anflehen müssen, damit Er sich uns in Seiner Gnade offenbart. Geliebte im Herrn, verliert über dieser unserer Sache Gottes große Liebe und Zärtlichkeit nicht aus den Augen. Denn ihr alle, die ihr eure Kinder liebt, wisst, dass auch Züchtigung ein lebendiger Ausdruck eurer Sorge um sie sein kann. Wer lässt schon seine Kinder aufwachsen, ohne sie manchmal durch Bestrafung auf den rechten Weg zu bringen? Nur ein nachlässiger Vater. Und doch runzelt ein guter Vater in solchen Zeiten nicht wutentbrannt die Stirn, sondern erteilt die notwendigen Strafen mit liebendem Blick, in der Hoffnung, dass sich seine Kinder bessern.«

Jetzt hielt er inne und versuchte, seine Kräfte zu sammeln. »Meine lieben Freunde, bald schickt uns Gott eine neue Prüfung, vielleicht die härteste, der wir uns je gegenübersahen. Denn schon bald wird es hier wieder wärmer. Und diese Pest – das wissen wir aus alten Berichten von Überlebenden –, diese Pest gedeiht in der Wärme prächtig. Wir können nur hoffen und beten, dass ihr Wüten hier bereits dem Ende zugeht; darauf bauen können wir nicht. Meine geliebten Freunde, nun müssen wir uns gegen die Möglichkeit wappnen, dass uns das Schlimmste vielleicht noch bevorsteht. Und wir müssen demgemäß Anordnungen treffen.«

Während seiner Predigt stöhnten die in der Kirche verstreuten Menschen auf. Einige begannen zu weinen. Als er sagte, er müsse die Kirche schließen, begann auch Mister Mompellion zu weinen. In seiner Erschöpfung konnte er nicht mehr gegen die Tränen ankämpfen. »Verzweifelt nicht!«, rief er und rang sich ein Lächeln ab. »Eine Kirche ist nicht nur ein Gebäude! Unsere Kirche werden wir behalten! Wir werden uns unter dem Himmelszelt treffen und miteinander beten, im Cucklett Delf, wo die Vögel unser Chor, die Steine unser Altar, die Bäume unsere Kirchtürme sein werden! Freunde, im Steinbruch können wir in sicherem Abstand voneinander stehen, damit die Kranken nicht die Gesunden anstecken.«

Ungeachtet des Tenors seiner Worte verhärmte sich sein Gesicht noch mehr, als er zu jenem Teil seiner Botschaft kam, der uns am härtesten treffen würde. »Geliebte im Herrn, wie unsere Kirche müssen wir auch unseren Kirchhof schließen. Inzwischen ist es unmöglich, unsere Toten rechtzeitig zu begraben. Und mit dem Anbruch des warmen Wetters wird das Ungebührliche zur Gefahr. Geliebte im Herrn, wir müssen die bittere Bürde auf uns nehmen, unsere eigenen Toten so rasch wie möglich zu begraben, in der nächstbesten Erde …«

Jetzt heulten alle laut auf und schrien entsetzt: »Nein!«

Er hob die Hand und bat um Ruhe. »Geliebte im Herrn, ich kenne eure Befürchtung, glaubt mir, ich kenne sie. Ihr befürchtet, Gott wird keinen finden, den man außerhalb geweihter Erde zur Ruhe bettet. Ihr fürchtet, eure Lieben wären in Ewigkeit für euch verloren. Aber am heutigen Tage sage ich euch: Ihr habt den ganzen Boden dieses Dorfes geweiht! Durch euer Opfer habt ihr ihn geweiht, hier und jetzt! Gott wird euch finden! Er wird euch um sich scharen! Er ist der Gute Hirte und wird nicht den Geringsten seiner Herde im Stiche lassen!«

Jetzt war die Anstrengung zu viel für ihn. Er senkte die Hände, um sich am Kanzelgeländer festzuhalten, fand aber keinen Halt. Ohnmächtig sank er zu Boden.

Elinor und ich stürzten nach vorne, während die Gemeinde in Wehklagen und Weinen ausbrach. Ich weiß nicht, was geschehen wäre, wenn Mister Stanley nicht vorgetreten wäre und mit einer Stimme, die sein Alter Lügen strafte, »Ruhe!« gebrüllt hätte.

In die plötzliche Stille hinein hielt er eine Predigt, die mich an meine Kindheit erinnerte. Aufs Strengste verurteilte er den Aberglauben und wetterte gegen unreformierten Papismus, der sich immer noch in unseren Herzen herumtrieb. »Wenn eure Kuh stirbt und ihr sie auf eurem Feld eingrabt, pflügt ihr sie dann ein Jahr später wieder heraus, weil ihr vergessen habt, wohin ihr sie gelegt habt? Nein! Kein fähiger Verwalter würde einen solchen Fehler machen. Nun denn, wenn ihr also ein geliebtes Kind beerdigt, werdet ihr euch dann nicht jeden Tag eures Lebens daran erinnern, wo ihr es begraben habt? Ja, sagt ihr wieder. Wie könntet ihr das vergessen? Welche Narretei bringt euch dann auf den Gedanken, der allmächtige Gott in Seiner unendlichen Macht und Weisheit könnte in irgendeiner Weise Mühe haben, diese Gräber zu finden, die Gräber Seiner Herde, die Gräber Seiner Kinder, die wir jetzt aus reiner Notwendigkeit in alle Winde verstreuen.

Lasst euer klägliches Weinen! Erhebet eure Stimmen! Lasst uns den achtundachtzigsten Psalm singen und uns in Erinnerung rufen, dass wir nicht die Einzigen sind, die Gott geprüft hat. Und dann geht heim in Frieden und versammelt euch am nächsten Sonntag im Cucklett Delf.«

Der junge Brand war Mister Mompellion zu Hilfe geeilt. Nun stützte er den benommenen Pfarrer auf seinem Weg die Stufen hinab, während in der Kirche die Gläubigen das verzweifeltste aller Gebete um Heilung bei Krankheit anstimmten:

 

»Herr, Gott, mein Heiland,

ich schreie Tag und Nacht vor dir.

Ich bin geachtet gleich denen,

die in die Grube fahren

Meine Freunde hast Du fern von mir getan,

Du hast mich ihnen zum Gräuel gemacht.

Ich liege gefangen und kann nicht auskommen.«

 

Hinter uns fiel die schwere Kirchentüre ins Schloss. Aber Michael Mompellion, der mit Brands Hilfe Richtung Pfarrhaus taumelte, flüsterte den Psalm mit seiner gebrochenen und müden Stimme weiter:

 

»Und mein Gebet kommt frühe vor Dich.

Warum verstoßest Du, Herr, meine Seele

und verbirgst Dein Antlitz vor mir?«

 

Drinnen im Haus wurde uns klar, dass wir ihn nur mit Mühe die Treppe hinaufschaffen könnten. Deshalb liefen Elinor und ich ins Schlafzimmer und brachten einige Daunendecken herunter, um im Salon ein Lager zu bereiten. Als ihm Brand beim Hinlegen half, rezitierte er noch immer:

 

»Ich leide Dein Schrecken,

dass ich schier verzage.

Dein Grimm gehet über mich,

Dein Schrecken drücket mich.«

 

Mit diesen Worten drehte er sich um und überließ sich endlich dem Schlaf der Erschöpften.

 

Am nächsten Nachmittag raffte er sich auf, zwei Sterbelager zu betreuen, während Elinor und ich übereinkamen, ihm eine weitere Neuigkeit zu verheimlichen, die eher die Lebenden betraf. Angesichts von so viel Tod rings um uns war es schwer, irgendeinen Gedanken an die Zukunft zu verschwenden, geschweige denn an materielle Dinge, und doch belastete mich die Zukunft eines Kindes schon seit langem: die Zukunft eines neunjährigen Mädchens namens Merry Wickford.

George und Cleath Wickford, ein junges Quäkerpaar mit drei Kindern, hatten sich vor gut fünf Jahren in einer verlassenen Hütte am Dorfrand angesiedelt. Sie stammten aus dem schottischen Tiefland und waren wegen ihres eigenartigen Glaubens von ihrem Pachthof vertrieben worden. Auch hier hatte man sie nicht gerade mit offenen Armen empfangen, aber wenigstens mussten sie nicht befürchten, dass ihre Raufen angezündet und ihr Geflügel vergiftet wurde, was ihnen angeblich an ihrem früheren Platz passiert war. Bis zu einer Sommernacht vor einem Jahr hatten sie ein bettelarmes Leben gefristet. George Wickford war noch spät auf gewesen und herumgelaufen. Die Sorge, wie er seine Familie durchfüttern sollte, ließ ihn nicht schlafen. Da sah er, wie ein mächtiger brennender Drache einen weißen Streifen über den Himmel zog. Hier bei uns heißt es, ein brennender Drache am Nachthimmel weise auf eine verborgene Bleiader hin. Deshalb wartete George Wickford nicht einmal bis Tagesanbruch, sondern rannte eilends zu der Stelle, wo seiner Meinung nach der Weg des Drachens übers Moor geführt hatte. Am Morgen hatte er bereits sein Kreuz zur Markierung seines Schurfs aus dem Torf gestochen und sieben Stämme für den Göpel geschlagen; nun schnitt er Holzkeile für die Befestigung im Boden zurecht. Seit tausend Jahren, heißt es, ist es rechtens, dass sich jedermann auf diese Weise einen Schürf abstecken kann, ohne Rücksicht auf den eigentlichen Besitzer dieses Landes. Anschließend hat er neun Wochen Zeit, dem Bergmeister einen Zentner Erz zu zeigen. Und danach darf ihm keiner seinen Schürf wegnehmen, solange er ihm etwas abwirft und er der Krone jenen festgelegten Erzanteil bezahlt, der als Königsfron bekannt ist.

Unermüdlich hatten George Wickford, seine Cleath und ihre drei Kinder auf ihrem Schürf herumgegraben, den sie »Brennender Drache« nannten. Zuerst hatten sie lediglich mit einer wackeligen Heugabel und einer Pflugschar im Boden herumgewühlt. Obwohl Knappen normalerweise Himmelszeichen ernst nehmen, lachten die Übrigen den jungen Wickford aus. In diesem Landstrich deutete nichts auf ein unterirdisches Bleivorkommen hin, und keiner hatte hier je einen Schlag mit der Keilhaue getan. Aber Wickford lachte als Letzter. Er hatte seinen benötigten Zentner Blei weit vor den vom Bergmeister verlangten neun Wochen beisammen – und noch viel mehr. Sein Schürf entpuppte sich als röhrenförmige Ader. Diese können ungewöhnlich ertragreich sein, da es sich um mit Erzen durchzogene Höhlen handelt, die ein unterirdischer Strom vor langer Zeit ausgewaschen hat. Weil an der Oberfläche nichts darauf hindeutet, sind sie nur schwer zu finden.

Seither galt Wickford als Glückspilz.

Doch dann war die Pest gekommen, und George Wickford war unter den ersten Opfern dieser Seuche gewesen. Dann raffte sie seinen Ältesten dahin, einen gut gewachsenen Zwölfjährigen. Cleath und ihre beiden jüngeren Kinder hatten mühsam weitergeschürft, aber dann war der Junge krank geworden. Die Mutter hatte sich zwischen seiner Pflege und ihren eigenen schwindenden Kräften aufgerieben und binnen drei Wochen nicht mehr die vorgesehene Erzmenge aus ihrer Grube holen können. David Burton, ein benachbarter Hauer, ergriff die Gelegenheit und hieb die erste Kerbe in ihre Göpelspindel. Im Dorf wurde viel darüber geredet, ob das rechtens oder falsch sei, wobei viele David rügten und meinten, dies sei nicht die richtige Zeit für so etwas. Andere verteidigten ihn mit dem Argument, dass das Bleirecht eben so sei und dass ein Schürf nicht zum ersten Mal wegen eines Missgeschicks auf der Kippe stünde. Mich plagte nur ein Gedanke: Hätten die Dorfbewohner auch so hart geurteilt, wenn die Wickfords Mitglieder unserer Kirche gewesen wären? Jedoch muss ich fairerweise zugeben, dass nicht einmal ich mir meines Standpunktes sicher war. Denn bei Sams Tod hatte auch ich mir nichts anderes als den Verlust unserer Grube erwartet. Und dennoch schien die neue Zeit von uns allen jedes erdenkliche Opfer zu fordern. Warum dann nicht auch diese Tradition opfern?

Als David Burton am Ende der sechsten Woche seine zweite Kerbe einschlug, gab es noch mehr Gerede. War dies doch zufälligerweise derselbe Tag, an dem Cleath Wickford ihren zweiten Sohn zu Grabe trug. Es hieß, der Schock darüber habe ihren eigenen Tod beschleunigt, denn die Pest raffte sie schneller dahin, als wir es bisher bei irgendeinem erlebt hatten. Morgens begrub sie ihren Sohn und wirkte dabei so gesund, wie jemand bei so einem traurigen Anlass sein kann. Bei Anbruch der Nacht war sie tot. Die Pest hatte dem ganzen Leichnam ihren Stempel in Form von rosigen Ringen aufgedrückt. Damit war nur noch das Mädchen übrig, jenes Kind Merry, dessen Name inzwischen wie ein grausamer Scherz wirkte. Obwohl ihre Familie zu den Ärmsten im Ort gehört hatte, war sie ein fröhliches, liebenswertes Kind gewesen. Es tat mir weh mitanzusehen, wie viele Verluste sie ertragen musste. Obendrein blieb sie unter entsetzlichen Umständen zurück, da George Wickford außer seinem Namen nur die Grube besessen hatte. Doch er war ein umsichtiger Mann gewesen. Das Geld aus dem Erlös seiner ersten Bleifuhren hatte er in besseres Hauwerkzeug gesteckt und für seine Familie ordentliche Nahrungsmittel und Kleidung gekauft, die sie so lange hatten entbehren müssen. Aber der wahre Reichtum der Grube steckte noch im Boden. Doch der schien für Merry verloren zu sein. Es sei denn, jemand würde einen Zentner Blei für sie fördern. Während die Tage verstrichen, lag ich jedem Hauer, den ich gut genug kannte, mit der Frage in den Ohren, ob nicht einer von ihnen einer Waise diesen Gefallen tun würde. Aber selbst der beste Mann meinte, er müsse eher zu David Burton stehen als zu einem Kind, dessen Familie weder zu den Leuten vom Peakrill gehörte noch ihren Glauben hatte. Und so schwanden mit den Wochen auch die Chancen des Kindes, bis das Ende der neunten Woche näher rückte und schließlich nur noch ein Tag zwischen ihr und einer trostlosen Zukunft im Armenhaus stand.

Vermutlich hätte ich es besser wissen sollen, anstatt diesen Fall bei Elinor zur Sprache zu bringen. Oder sagen wir, der darauf folgende Vorschlag hätte mich nicht überraschen sollen. »Anna, von Erzadern verstehst du etwas. Wir beide, du und ich, werden diesen Zentner für das Kind herausholen.«

Doch dieser Vorschlag stieß bei mir auf noch weniger offene Ohren als ihre frühere Aufforderung, ich solle bei Mary Daniel Hebamme spielen. Schon lange ehe das Erz meinen Sam holte, habe ich mich vor den Gruben gefürchtet. Für düsterfeuchte, stickige Orte bin ich nicht geschaffen. Ich liebe alles, was auf der Erdoberfläche lebt und wächst. Die Eingeweide dieses ausgehöhlten Landes sind mir egal. Ich habe Sam nie gebeten, mich in die Grube mitzunehmen. Wahrscheinlich hätte er es auch gar nicht getan, auch wenn er mir nie eine Bitte abgeschlagen hat. Bergleute sind abergläubisch, und viele glauben, in jeder Grube wohne ein Elfkobold, der auf seinen Hauer eifersüchtig ist und dessen Frau nicht mag.

Aber Elinor hatte jenen Gesichtsausdruck, den ich inzwischen nur allzu gut kannte. Jemandem, der es nicht selbst gesehen hat, kann man nur schwer beschreiben, wie sich ihre feinen Gesichtszüge derart verändern konnten. Ich habe gelesen, die Griechen hätten Marmorbildnisse angefertigt, dass der Stein zu atmen schien. In diesen Berichten stand, die steinernen Bildnisse hätten lebendigem Fleisch zum Verwechseln ähnlich gesehen. Wenn ich’s recht bedenke, glich Elinors Gesicht vielleicht einer dieser Marmorfiguren, wenn sie zu etwas entschlossen war, was sie für richtig hielt. Jedenfalls wusste ich nun, dass wir uns auf den Weg zur Wickford-Grube machen würden, ob ich wollte oder nicht.

Wir brachen früh auf, denn die Grube liegt weit vom Dorf entfernt. Ich hörte Elinor in der Bibliothek mit Mister Mompellion sprechen und ihm sagen, wir gingen auf die Suche nach fehlenden Kräutern. Als sie aus dem Zimmer kam, fiel mir auf, dass ihre durchsichtige Haut ganz erhitzt war. Unter meinen Blicken flatterte ihre Hand an den roten Hals.

»Nun gut, Anna, dann werden wir also Taschen mitnehmen, um unterwegs geeignete Pflanzen zu sammeln.« Man konnte deutlich erkennen, wie viel selbst die winzigste Heimlichkeit oder ein Hauch von Trug sie kostete, sogar wenn diese Lüge lediglich dem Wohlergehen ihres Mannes galt. »Denn eines weißt du ja nur zu gut«, fügte sie hinzu, »wenn er von unserem wahren Plan für heute Wind bekommt, wird er darauf bestehen, sich selbst an dieser Arbeit zu versuchen. Und das wäre bei seiner gegenwärtigen Erschöpfung vermutlich sein Ende.«

Zuerst begaben wir uns zur Wickfordschen Hütte, um dem Kind Merry unseren Vorschlag zu unterbreiten. Als wir den matschigen Pfad zu ihrer Hütte hinaufkletterten, stürzte sie mit freudestrahlendem Gesicht zur Tür heraus. Was lebten wir doch in merkwürdigen Zeiten, in denen wir ein so kleines Kind einfach einem Leben allein in seiner Behausung überließen! Ich hatte zwar daran gedacht, sie mit zu mir nach Hause zu nehmen, hatte mich aber dann dagegen entschieden. Hier draußen, in einiger Entfernung zum Dorf, schien sie sicherer und gesünder zu leben, als wenn sie täglich mit Pestopfern zusammenkam.

Irgendwie gelang es ihr zu überleben, ja, sie gedieh sogar prächtig. Selbst jetzt war sie ein Kind, das vor Gesundheit strotzte: mit rosigen Pausbacken, einem tiefen Grübchen am Kinn und einem dunklen Lockenschopf, der auf und ab wippte, während sie um uns herumtanzte. Drinnen in der Hütte sah ich auf dem Tisch die Frühstücksreste von heute Morgen: einen irdenen Schmalztopf – schmale Fingerabdrücke auf seiner glatten weißen Oberfläche verrieten, dass sie es mit den Händen gegessen hatte –, dazu Eierschalen, deren Inhalt sie roh ausgesaugt hatte, und eine Zwiebel, die sie wie einen Apfel angebissen hatte. Nicht sehr fein, mag sein, aber nahrhaft.

Als wir die winzige Hütte mit dem gestampften Boden betraten, beeilte sie sich, den Tisch abzuräumen, und bat uns höflich, Platz zu nehmen. Ich bewunderte ihre Selbstbeherrschung und hatte ein schlechtes Gewissen, weil ich mich nicht besser bemüht hatte, ihre Eltern kennen zu lernen. Es müssen brave Leute gewesen sein, die ihrem Kind solche Manieren beigebracht hatten.

Elinors Gedanken waren wohl ähnlich. »Deine Mutter wäre sehr stolz auf dich, Merry, wenn sie sähe, wie tapfer und gut du hier zurechtkommst.«

»Glauben Sie?«, sagte sie. Ihre dunklen Augen blickten ernst. »Ich danke Ihnen für diese Worte. Ich spüre, dass Mutter immer noch auf mich aufpasst, genau wie Vater und meine Brüder. Der Glaube daran tröstet mich und lasst mich mein Leben hier weniger einsam empfinden. Ich danke Ihnen beiden, dass sie am heutigen Tag an einen Besuch bei mir gedacht haben. Es ist schwer für mich, den Verlust meiner Familiengrube allein mit ansehen zu müssen.«

»Wenn es nach uns geht, wirst du nichts dergleichen mit ansehen müssen«, platzte ich heraus. Plötzlich war ich froh, dass mich Elinor zu dieser Tat überredet hatte.

»Wenigstens«, fügte Elinor hinzu, »hoffen wir, dass es nicht so weit kommt.«

Merrys Dankbarkeit verwandelte sich in helle Freude, als wir erklärten, wir seien nicht nur auf einen Besuch gekommen, sondern wollten versuchen, ihre Grube zu retten. Das Mädchen bestand darauf mitzukommen und seinen Teil dazu beizutragen. »Merry, du kannst uns genauso helfen wie deinen Eltern«, sagte ich. »Du wirst alle Hände voll zu tun haben, das Haufwerk in Erzbrocken und taubes Gestein zu sortieren und das Erz im Waschtrog vom Schwarzstein zu trennen. Wir verlassen uns darauf, dass du uns drunten benachrichtigst, wenn wir einen Zentner voll haben. Aber denk daran, ein ordentlicher Zentner muss es sein, denn David Burton sieht sich schon als Besitzer des »Brennenden Drachens« und wird vom Bergmeister ein ganz genaues Maß verlangen.« Merry nickte. Sie kannte die Ausmaße der großen Waagschale des Bergmeisters nur allzu gut.

Trotzdem wirkte das Kind besorgt und beteuerte, es sei schon früher drunten in der Grube gewesen und möchte uns führen. Elinor schien fast schon zustimmen zu wollen, aber ich nahm sie rasch beiseite und flüsterte: »Mit den Eltern drunten im Dunkeln zu sein, die jeden Stein der Grube kannten und täglich geschürft hatten, ist etwas ganz anderes als mit zwei Leuten unseres Schlages, die von Hauen und Schrämen kaum Ahnung hatten. Elinor, ich möchte diesem Kind helfen, nicht es begraben!« Elinor war einverstanden und machte dem Kind klar, dass wir es oben brauchten, falls etwas schief laufen sollte und wir bis zum Nachmittag nicht wieder auftauchten. Dann und nur dann, mahnte Elinor, solle sie stracks ins Pfarrhaus rennen und Mister Mompellion unser Vorhaben erzählen.

Nach Sams Tod hatte ich sein Werkzeug in einen öligen Fetzen gewickelt und verräumt. Eines Tages wollte ich es einem bedürftigen Knappen schenken. Mit schlechtem Gewissen wurde mir nun klar, dass genau die Wickfords so ein Geschenk verdient hätten. Aber als sie damals ihre Ader gefunden hatten, war ich so sehr mit meinen eigenen Problemen beschäftigt gewesen, dass ich Sams unbenutztes Gezähe und meine Pläne dafür restlos vergessen hatte. Beim Auspacken spürte ich, wie schwer es mir in den Händen lag. Beim Gedanken an Sams große, zerschundene Fäuste und seine dicken Armmuskeln kamen mir Bedenken, wie ich es schwingen sollte. Unter allen Werkzeugen wählte ich die drei aus, die für den Bleihauer unentbehrlich sind: Keilhaue, Schlägel und Eisen.

Merrys Familie hatte aus Sparsamkeit ein anderes Werkzeug verwendet: ein gebogenes Metallstück, das an einem Ende durch einen Hammer im Gleichgewicht gehalten wurde und wahlweise als Picke oder als Vorschlaghammer eingesetzt wurde. Damit würde Elinor arbeiten, da dieses Werkzeug leichter, aber weniger wirkungsvoll war. Leider hatte ich weder Sams alte Hose noch sein Lederwams. Beide waren bei seinem Unfall zerstört worden. Fetzenweise hatte ich das Leder aus seinem zerquetschten Körper ziehen müssen.

Elinor war so schlank, dass sie Hose und Wams des älteren Wickford-Sohnes tragen konnte. Hoffentlich war beides noch nicht mit Pestsaat infiziert, fuhr es mir durch den Kopf. George Wickford war ein schmaler Mann gewesen, den die Armut schlank gehalten hatte. Ich nahm seine Lederhose. Um sie passend zu machen, schnitt ich mit einer scharfen Wollschere von den Beinen ein Drittel ab. Dann bohrte ich am Bund ein paar Löcher hinein und zog eine Schnur hindurch, damit die Hose auch hielt. Das Wams schlotterte mir um die Schultern, aber das war mir egal. Dann nahmen wir noch die Lederhüte mit breiter Krempe für die brennenden Unschlittkerzen, die uns den Weg durchs Dunkel erleuchten und gleichzeitig unsere Hände zum Arbeiten freihalten würden.

Als Elinor ihre Knappenkluft anhatte, schaute ich sie an und wunderte mich erneut über die seltsamen Entwicklungen, die uns dieses Jahr brachte. Anscheinend hatte sie meine Gedanken erraten und lachte über sich selbst. »Was würden wohl all die Ahnen, die mich als Mädchen aus ihren Porträts angestarrt haben – diese feinen Damen in Seidenkleidern und die Herren mit den vielen Schleifen –, zu ihrer Nachfahrin sagen, wenn sie mich jetzt sehen könnten?« Dass ich ziemlich gut wusste, was mein Sam sagen würde, verriet ich ihr nicht. Gelacht hätte er sicher nicht.

Aber hier gab es ja nur Merry Wickford. Wenigstens machten wir auf sie keinen absurden Eindruck. Ihr kleines Gesicht strahlte. In ihren Augen waren wir ihre einzige Hoffnung. So brachen wir zum Mundloch auf. Merry ging voran. Beim Gedanken an den vor uns liegenden Tag fühlten sich meine Füße bei jedem Schritt bleiern an. Schon jetzt atmete ich schwer. Die Angst vor einem Aufenthalt an einem Ort ohne Luft brachte mich zum Keuchen, als wäre ich bereits drunten in der Grube.

Wickford hatte seinen Schacht gut gebaut. Die hiesigen Leute mochten ja auf die Quäker wegen ihres seltsamen Glaubens herabschauen, aber eines mussten alle zugeben: dass sie in jeder Hinsicht umsichtige Handwerker waren. Wickford hatte die Wände mit großen grauen Kalksteinplatten verkeilt und kräftige Äste für stabile Sprossen gehauen. Trotzdem lief, wie in den meisten Gruben, auch an diesem Schacht die Feuchtigkeit herunter. Überall keimten Moose und Farne. Ich konnte nicht sehen, wie weit es in die Tiefe ging, bis die röhrenförmige Ader vom Schacht abzweigte. Eines jedoch wusste ich: Je länger ich zauderte, umso schwerer würde mir das Weitermachen fallen. Deshalb schwang ich mich über den Rand und tastete nach der ersten Sprosse.

Wie sich herausstellte, war der Schacht an die sechs Faden tief und knickte dann waagrecht zum Mundloch ab. Klugerweise hatte Wickford einen gut achtzehn Fuß langen Steigerschacht getrieben, bevor der Schacht erneut nach unten führte. Dadurch konnte man den Kübel mit dem Haufwerk leichter in Einzelabschnitten ans Tageslicht befördern. Aber kaum war das Mundloch verschwunden, war es so vollständig dunkel, dass ich stehen blieb und meine Kerze anzündete. Um die Kerze zu fixieren, tropfte ich für eine Unterlage Unschlitt auf meine Hutkrempe. Im zitternden Lichtschein schob ich mich zollweise vorwärts und weiter hinunter. Merry hatte gesagt, am Grunde dieses zweiten Schachtes würde ich den Höhleneingang finden, und so war es. Im unruhigen Licht meiner Kerze konnte ich sehen, wo Wickford den Fels weggehauen hatte, um den Zugang zu erweitern. Mühelos zwängte ich mich hinein. Der schlammverschmierte, glitschige Boden fiel steil ab. Sofort verlor ich mein Gleichgewicht und landete unsanft auf dem Boden. Beim Versuch, den Sturz abzumildern, schürfte ich mir die Handfläche auf. Obwohl es nur wenige Schritte bis zum Schacht waren, regte sich in der abgestandenen Luft kein Hauch. Wie ich so im Matsch saß, spürte ich Panik aufsteigen. Trotz der Kälte brach mir der Angstschweiß aus. Ich schnappte heftig nach Luft. Vergeblich. Aber nun war Elinor hinter mir. Ich spürte, wie mir ihre Hand auf- und voranhalf.

»Alles ist gut, Anna«, flüsterte sie. »Du kannst atmen. Hier gibt es Luft. Du darfst dich nicht von deinen Ängsten beherrschen lassen.« Während ich mich mühsam hochrappelte, spürte ich, wie sich Dunkelheit um mich legte. Aus Angst vor einem Ohnmachtsanfall setzte ich mich wieder hin. Elinor redete weiter freundlich, aber entschlossen auf mich ein und befahl mir, meinen Atemrhythmus ihrem eigenen, ruhigen anzupassen. Binnen weniger Augenblicke war mein Kopf klar, und ich konnte weitergehen. So kamen wir zollweise voran. Manchmal gebückt auf zwei Beinen, dann wieder auf Händen und Knien, wenn sich die Höhle verengte. Und manchmal robbten wir auch auf dem Bauch dahin, wenn der Felsboden ungemütlich nach unten abfiel.

Schließlich tauchte im flackernden Unschlittlicht eine Wand mit Schräm- und Ritzspuren auf. Diesen Abbaulinien folgten wir. Sie erzählten die Geschichte, wie die Familie immer mehr geschrumpft war. Anfänglich war die Oberfläche sauber behauen und ohne jedes Erz. Wo George Wickford seine Spitzhacke geschwungen hatte, glänzte es im Kerzenschein glatt auf. Im weiteren Verlauf wurden die Hiebe rauer, flacher und weniger sorgfältig. Hier hatten Cleath und ihr Junge allein weitergemacht. Als Elinor und ich zum letzten Schlag kamen, knieten wir uns nebeneinander nieder, banden unser Gezähe los und fingen Hand in Hand zu arbeiten an. Die Anstrengung, die Hiebe richtig zu setzen, vertrieb vordergründig meine Ängste. Mein ganzes Leben habe ich schwer gearbeitet: Wasser holen, Holz hacken, Heu rechen. Diese Arbeit aber, wo es darum geht, Fels dem Felsen abzuringen, war das Härteste, woran ich je Hand angelegt hatte. Nach einer halben Stunde zitterten meine Arme. Für Elinor musste es noch viel schlimmer gewesen sein. Ich konnte sehen, wie rasch sie unter dieser Belastung ermüdete. Jedem ihrer Hiebe folgten immer längere Pausen. Einmal schlug sie sich mit der Keilhaue auf den Daumen und stieß einen Schrei aus. Ich konnte sehen, wie es blutete und der Nagel sofort schwarz wurde. Sie ließ sich nicht von mir versorgen, sondern schickte mich mit einer Handbewegung wieder an die Arbeit, während sie einen Fetzen um die Wunde wickelte. Dann hieb sie langsam weiter. Ihr schweißnasses Gesicht mit den Schmutzstriemen wirkte steinhart.

Was mich betraf, so kostete es mich am meisten Mühe, meine Panik im Zaum zu halten. Ich versuchte, meiner Todesangst dadurch Herr zu werden, indem ich mich einzig und allein auf die Arbeit konzentrierte und nicht auf die Wände aus glitschiger Dunkelheit, die bei jeder Kerzenbewegung näher oder weiter weg zu rücken schienen. Auch auf die erstickend feuchte Luft, die einen Geschmack hatte, als sei alles Gute längst herausgesaugt worden, achtete ich nicht, und auch nicht auf das Gewicht der Erde und der Felsen, die sich in dicken Schichten hoch über mir auftürmten. Jeder Aufprall des Schlägels fuhr mir durch die Armknochen bis in die Zähne hinauf. Viele, viele Hiebe waren nötig, bis ich einen kleinen Spalt geöffnet hatte, der zum Ansetzen des Eisens genügte. Kaum saß der Keil fest, musste ich den schweren Hammer heben und mit größtmöglicher Macht fallen lassen. Auf diese Weise hoffte ich, große Felsbrocken abzusprengen. Aber mein Schlag ging weitaus öfter daneben oder prallte vom Keil ab, sodass das Ding im hohen Bogen aus dem Spalt und hinunter in den kalten Matsch flog, wo ich blindlings danach tasten musste, um dann wieder von vorne anzufangen. Vom Matsch wurden Keil und Hände glitschig. Die Kälte machte meine Finger klamm. Anstatt mit zunehmender Übung besser zu werden, wurden meine tauben Hände immer fahriger. Stunden verstrichen. Vor Schmerz und Enttäuschung hätte ich am liebsten geheult. So sehr wir die Schlägel auch schwangen, das Haufwerk neben uns wuchs nur zentimeterweise.

Elinor sprach aus, was ich nicht wagte. Trotz aller Bemühungen hatte sie lediglich ein paar klägliche Steinbröckchen gelockert. Sie ging in die Hocke und ließ die Keilhaue schwer neben sich auf den Felsen fallen. »Mit dieser Geschwindigkeit werden wir bis zum Tagesende keinen Zentner fördern.« Dumpf klang ihr Flüstern durch die Höhle.

»Ich weiß«, sagte ich, wobei ich die tauben Finger beugte und meine schmerzenden Arme rieb. »Was für ein törichter Gedanke, wir könnten an einem einzigen Tag Dinge beherrschen lernen, die starke Männer erst nach jahrelanger Übung meistern.«

»Ich kann dem Kind nicht in die Augen sehen«, sagte Elinor. »Ich kann seinen enttäuschten Blick nicht ertragen.«

Einen langen Augenblick dachte ich intensiv über meine nächsten Worte nach. Ein Teil von mir war über unseren Misserfolg enttäuscht, ein kleinerer Teil war mächtig froh, dass Elinor kurz davor stand, dieses erbärmliche Unternehmen abzublasen. Der schlimmste Teil von mir gewann. Wortlos sammelte ich mein Gezähe ein. Stumm machten wir uns auf den Rückweg durch den Tunnel. Meine Arme waren so müde, dass ich mich kaum an den Sprossen festhalten konnte. Während ich dankbar die kühle Luft einatmete, redete ich mir ein, dass wir angesichts unserer Erschöpfung nie und nimmer Erfolg gehabt hätten, auch wenn ich Elinor gebeichtet hätte, was ich sonst noch wusste.

Was mich umwarf, war Merrys Gesicht, ihre hoffnungsvollen Augen, als wir aus dem Tunnel kletterten. Beim Anblick des kläglichen Hauwerks, das wir gefördert hatten, verschwand jedoch ihr strahlendes Lächeln, ihre Lippen bebten. Und doch weinte sie nicht, sondern zügelte ihr Stimmchen und dankte uns überschwänglich für unsere Bemühungen. Ich schämte mich für meine Feigheit.

»Es gibt noch einen Weg, das Erz herauszuholen«, platzte ich heraus. »Sam griff ab und zu darauf zurück, wenn seine Ader unter taubem Gestein verschwand. Aber genau dafür hat er schließlich mit seinem Leben bezahlt.« Nun wandte ich mich an Elinor und erzählte ihr alles, was ich über diese Methode gehört hatte: wie man die entgegengesetzten Kräfte von Feuer und Wasser zusammenspannen kann, um die Arbeit vieler Bergleute zu tun.

Elinor lehnte sich rücklings gegen den Göpel und legte ihre rauen Hände über die Augen. So verharrte sie eine ganze Weile. »Anna, in diesen Tagen hängt unser aller Leben an einem Faden. Wer heute verschont wird, den rafft am Ende morgen die Pest dahin. Ich meine, wir sollten es riskieren und einen Versuch wagen Aber nur, wenn du willst.«

Merry wirkte besorgt. Hauerkinder lernen rasch, wovor sich Bergleute fürchten. Und im Zusammenhang mit Feuer gibt es vieles zu befürchten: Rauchschwaden können in Verbindung mit der erstickenden Feuchtigkeit der Höhle unbemerkt die letzte atembare Luft entziehen. Durch Feuersetzen kann verstecktes Wasser frei werden, das wie ein Sturzbach die Grube überflutet. Unter dem Druck können die Knochen und Sehnen der Erde brechen, sodass der darüber liegende Boden einbricht und dich darunter begräbt, anstatt eine Tonne Blei freizusetzen. Genau das war bei Sam passiert. Jeder Gebrauch von Feuer ist so gefährlich, und seine Auswirkungen so unvorhersehbar, dass er nur dann erlaubt ist, wenn einer die Zustimmung aller Hauer in den benachbarten Grubenfeldern hat. Da diese einsame Grube aber keine Nachbarn hatte, waren wir auf uns selbst gestellt.

Ich sammelte möglichst rasch Hülsezweige. Trockener Zunder war schwieriger zu finden, da es jüngst geregnet hatte. Schließlich rannte Merry den ganzen Weg zu ihrer Hütte zurück, um vom Herd getrocknetes Zündholz zu holen. Nachdem ich in den Schacht zurückgeklettert war, ließ Merry in Ledereimern kaltes Wasser aus dem Bach herunter. Den ersten verschüttete ich beim Kriechen durch die Höhle. Bis ich sie Nachschub holen schickte, verging kostbare Zeit. Beim zweiten Mal gelang es Elinor und mir, die Eimer ans Ziel zu bringen.

Auf der Suche nach Rissen tastete ich die Felsoberfläche ab und bearbeitete sie zum Erweitern mit dem Stufeisen. Als ich einen genügend großen Spalt im Fels hatte, zeigte ich Elinor, wie wir in jeden Winkel Hülsezweige stecken und alle so tief wie möglich hineinklopfen mussten. Anschließend verteilte ich das trockene Zunderholz zum Anbrennen über die ganze Felswand. »Sie müssen jetzt wieder nach oben«, sagte ich dann zu Elinor. »Wenn wir Erfolg haben, ziehe ich am Seil, um Sie zu holen.«

»O nein, Anna, ich werde dich hier unten nicht allein lassen«, sagte sie.

Das konnte eine lange Diskussion werden. Um sie in Bewegung zu setzen, brauchte es Gewalt. Deshalb sagte ich scharf: »Elinor! Dafür haben wir jetzt keine Zeit. Haben Sie denn nicht genug Verstand, um zu kapieren, dass Sie mir von draußen mehr helfen können, wenn das hier schief geht? Besser, Sie graben nach mir, als wenn Sie hier drinnen gemeinsam mit mir umkommen.«

Selbst in diesem matten Licht konnte ich es in ihren Augen verräterisch glitzern sehen. Schon stiegen ihr Tränen der Erschöpfung in die Augen. Aber meine Worte erfüllten ihren Zweck. Sie ließ den Kopf hängen. »Wie du meinst«, sagte sie und machte sich auf den langen Rückweg. Als ihre schlurfenden Schritte verebbten, blieb mir nur noch Schweigen. Irgendwo tropfte unsichtbar Wasser durch den Stein. Jetzt machte ich mich rasch daran, das Holz anzuzünden, ehe es dafür zu feucht wurde, aber meine Hände mit dem Feuerstein und dem Zunder zitterten. In meiner Kehle stieg ein Schluchzen auf.

Lieber sterbe ich an den giftigen Pestflecken, dachte ich, als hier unten mein Leben auszuhauchen, lebendig im Dunkeln begraben. Aber dann flammte das Feuer auf, und es war nicht mehr dunkel. Die Hülse begann zu brennen. Der Saft zischte. Dann der erste Knall. Ein Fels zerbarst unter dem wachsenden Druck. Warten war schwer, so schwer, während Rauch die Luft füllte. Ich hielt mir einen nassen Lumpen vor den Mund, kauerte mich zitternd hin und wartete und wartete. Mit aller Gewalt zwang ich mich, den nächsten Schritt nicht übereilt zu tun. Schließlich hatten wir nur eine einzige Chance. Für einen erneuten Versuch war die Zeit zu kurz. Wenn der Fels nicht genügend heiß war, wäre die ganze Mühe vergebens und unsere Tagesarbeit für immer verloren. Als ich schließlich glaubte, meine Brust würde vom Einatmen verbrannter Luft zerspringen, griff ich blindlings nach dem Eimer und schüttete in hohem Bogen Eiswasser neben den heißen Fels. Es zischte und dampfte, dann klang es, als würde ein Dutzend Musketen abgefeuert. Schichtweise fiel Blei herunter.

Blind vor Rauch versuchte ich, mich in Sicherheit zu bringen. Ich hustete so, dass ich dachte, es würde mir die Kehle zerreißen. Ein scharfer Splitter traf mich an der Schulter, dann landete ein schwererer Brocken direkt im Kreuz. Ich wand mich darunter hervor, indem ich mich auf die Unterarme stützte, die sich vom morgendlichen Hauen wie Pudding anfühlten.

»Aufhören!«, betete ich. »O bitte, aufhören, jetzt!« Aber das Knallen hörte nicht auf, sondern ging weiter und immer weiter, und jedem Knall folgte ein neuer Steinregen. Ich schlug mit den Armen wild um mich, meine Finger tasteten über den harten Stein. Aber die Last wurde immer schwerer und schwerer, bis ich mich schließlich nicht mehr bewegen konnte.

Und so, dachte ich, endet hier doch noch alles. Tot, im Dunkeln, wie Sam. Über mir türmten sich immer mehr Platten. Ich spürte, wie der ganze schwere Abhang in Bewegung geriet, als Stein gegen Stein rutschte, und wie sich die Erde in jede neue Öffnung ergoss. Wie ein widerlicher Kuss presste sich nasser Schlamm in meinen Mund. Ich hörte den Pulsschlag in meinen Ohren. Das dröhnte und hämmerte, immer lauter. Schließlich zerbarst der Fels.

Doch dann geschah etwas Merkwürdiges. Die Panik wich von mir. In meinem Inneren stiegen Bilder meiner Buben auf. Mittlerweile fiel es mir schwer, mich an die genauen Einzelheiten ihrer Gesichter zu erinnern: Jamies Locken, die ihm in die Stirn hingen; Toms süße Stirn, die er beim Trinken immer ganz ernst runzelte. Jetzt standen sie mir ganz lebendig vor Augen. Ich hörte auf, um Freiraum zu kämpfen, und atmete die angehaltene Luft aus. Inzwischen gab es nichts mehr zum Einatmen. Ich barg meine Wange im Fels, der mir Grabhügel und Grabstein sein würde.

Alles wird gut, endlich. Dieses Ende kann ich ertragen. Das Bild meiner Buben bekam einen dunklen Rand. Ich zwang es zurück. Noch nicht. Noch nicht. Lass sie mich noch ein paar Augenblicke sehen. Aber das Dunkel drang nach innen, und ihre strahlenden Gesichter wurden matt. Mit dem Dunkel kam gnädige Stille. Plötzlich war es vorbei, mit dem Pulsschlag und mit dem Urgebrüll des Felsens.

 

Wahrscheinlich wäre ich tot, und keiner könnte davon berichten, wenn Elinor meinen Anweisungen gefolgt und wie befohlen den Schacht hinaufgeklettert wäre. Und vielleicht wäre ich auch tot, wenn Merry uns beiden gehorcht hätte. Aber Elinor hatte sich knapp hundert Meter von der Stelle, wo ich das Feuer entzündete, hinter eine Steinsäule gekauert, und Merry war bis knapp hinter dem Schacht zur Höhle heruntergeklettert. Als sie den großen Bruch hörten, waren beide herbeigestürzt, um mich zu retten. Als ich wieder zu Bewusstsein kam, war ich zwar noch immer bis zum Hals begraben, aber wenigstens hatten sie mein Gesicht freigescharrt.

Die Stille, die mich überwältigt hatte, als ich das Bewusstsein verlor, war echt gewesen. Das Donnern hatte aufgehört und damit auch der Gesteinsregen. Letztlich hatte ich doch nicht den ganzen Abhang über mich hereinstürzen lassen. Als sich der Rauch allmählich verzog, konnten wir tatsächlich sehen, was ich bewerkstelligt hatte: Es war mir gelungen, einen Berg regelmäßiger glänzender Bleibrocken zu lösen, die Merry Wickford heute ihren Zentner sichern würden und wenn nötig noch viele weitere Tage. Gemeinsam wälzten Elinor und Merry das Gestein Platte um Platte von mir, bis ich schließlich mit ihrer Hilfe unter Schmerzen zum Schacht kroch und mich langsam an die Oberfläche arbeitete.

Keine Ahnung, wie ich wieder zurück ins Dorf getaumelt bin. Mir tat alles weh. Es war ein Wettrennen gegen das schwindende Tageslicht. Mit dem einen Arm stützte Elinor mich, mit dem anderen hielt sie einen Zipfel des Sackleinens, in dem sie gemeinsam mit Merry das Blei schleppte. An der Wickfordschen Hütte gab es keine Pause zum Umziehen. Stattdessen begaben wir uns schnurstracks in die Kate des Bergmeisters Alun Houghton. Unter anderen Umständen hätte ich Elinor angefleht, sie möge sich die Demütigung ersparen, in einem solchen Aufzug angestarrt zu werden, aber als ich etwas in dieser Hinsicht murmelte, hieß sie mich schweigen. »Anna, nach allem, was wir durchgemacht haben, damit diesem Kind Gerechtigkeit widerfährt, möchte ich den Vollzug dieser Gerechtigkeit mit eigenen Augen erleben.«

Schon möglich, dass der alte Alun über unseren Anblick schlammverschmiert, zerschrammt und rußgeschwärzt – schockiert gewesen war. Doch er erholte sich rasch und waltete seines Amtes, indem er David Burton und möglichst viele Männer des Bergrats als Augenzeugen in die Hauertaverne holen ließ. Während sich die Knappen versammelten, ließ Elinor das Pfarrhaus benachrichtigen.

Schon kurze Zeit später hörte ich das helle Geklapper von Anteros’ Hufen. Am liebsten hätte ich mich verdrückt, anstatt mich dem Herrn Pfarrer zu stellen. Aber Elinor hatte mich bei Alun Houghton vor den Herd gesetzt und wusch meine aufgeschürfte Haut mit angewärmtem Wasser. Um ihre eigene Toilette hatte sie sich nicht gekümmert. Als nun der Herr Pfarrer die Kate betrat, erhob sie sich zu seiner Begrüßung so, wie sie eben war. Vermutlich hat er sie einen winzigen Augenblick nicht wiedererkannt. Ihren Hut hatte sie irgendwann während meiner Rettung verloren und stand nun barhäuptig da. Ihre feinen Haare waren schlammverkrustet und fielen ihr in harten braunen Strähnen ins Gesicht. Auch die Lederkleidung war voll Ruß und Dreck. Um ihren verletzten Daumen hatte sie einen blutgetränkten Fetzen gewickelt.

Der Herr Pfarrer blieb gleich hinter dem Eingang wie angewurzelt stehen. Einen langen Augenblick schwieg er. Ich fürchtete schon, er ringe mühsam um Beherrschung. Stattdessen lachte er laut auf und breitete seine Arme für Elinor aus. Ich dachte, er würde sie umarmen, aber dann fiel ihm vielleicht das Kind ein oder nur sein schönes weißes Jabot. Jedenfalls trat er einen Schritt zurück und klatschte lediglich in die Hände. Dann erkundigte er sich ausführlichst nach unserem Tagewerk.

Zu meiner Erleichterung begleitete uns der Herr Pfarrer zur Hauertaverne. Auch wenn wir in seltsamen Zeiten lebten wusste ich nicht so recht, wie Elinors guter Ruf die heutigen Vorfälle überstehen würde. Immerhin hatte sie alles weit hinter sich gelassen, was sich nach allgemeiner Auffassung für eine Frau schickte, insbesondere für eine vornehme Dame. Aber bei unserem Anblick erhoben sich die Männer, die in Grüppchen im Gerichtssaal waren, anstatt sich wie früher im Schankraum zu drängen, von ihren Bänken. »Ein Hoch auf die neuen Knappen!«, rief eine Stimme aus dem Hintergrund. Fast einstimmig ließ man uns hochleben. Nur David Burton schwieg mit saurer Miene. Der Bergmeister hängte seine große Waagschale auf – so lang wie das Bein eines großen Mannes und so breit wie ein muskulöser Oberschenkel. Dann trat Merry vor. Nur mit Mühe konnte sie den Sack voll Blei schleppen. Der Bergmeister half ihr auf den Tavernentisch, damit sie die Waagschale erreichen konnte. Sorgfältig schichtete sie mit ernster Miene das Blei hinein, bis die Schale voll war. Daraufhin brach die Versammlung erneut in Jubel aus.

»Freunde«, sagte Alun Houghton, »die junge Merry Wickford behält weiterhin die Schürfrechte an der Grube zum »Brennenden Drachen«. So bleibt es, bis irgendwann einmal drei Kerben in ihrem Göpel sind.« Jetzt wanderte sein Blick unter den eindrucksvollen buschigen Augenbrauen durch den ganzen Raum. »Und obgleich ich kein Wort über das Recht dazu verlieren werde, würde ich doch jedem Mann raten, lang und fest nachzudenken, ehe er in der nächsten Zukunft irgendwelche Kerben in den Göpel dieses Kindes haut. So sei’s denn gemäß unserer Bergordnung.«

In jener Nacht musste ich auf meinem aufgeschürften Gesicht schlafen. Mein Rücken, wo mich die Steinplatte erwischt hatte, war ein einziger blauer Fleck. Aber noch mehr schmerzten Arme und Schultern. Viele Tage sollten vergehen, ehe ich sogar beim Heben einer Gabel nicht mehr das Gefühl hatte, ich hätte die schwere Keilhaue in der Hand. Trotzdem schlief ich in jener Nacht besser als seit jenen mohnsaftgetränkten Nächten. Seit dem Ausbruch der Pest war so viele Mühe vergeblich gewesen. So viele Leben konnten nicht gerettet, so viele Wunden nicht geheilt werden. Aber wenigstens ein einziges Mal hatte ich in dieser schweren Zeit das befriedigende Gefühl, etwas getan zu haben, was sich letztlich als richtig erwiesen hatte.