Die Knappschaft

 

In den folgenden Tagen bekam ich eine Ahnung von meiner fernen Zukunft, sollte ich diese Zeit überstehen und mein eigenes Alter erleben. Jugend und ein Leben ohne Schmerzen sind ein kostbares Gut. Und doch wissen nur wenige von uns es zu schätzen. Bis wir es verlieren. Viele Tage tat mein Körper bei jeder Bewegung weh. Einen Tontopf von einem hohen Regal herunterzuheben kostete unendlich Mühe. Wenn ich einen Eimer Wasser heraufzog, litt ich Höllenqualen. Deshalb musste ich mir für die einfachsten Arbeiten neue Methoden ausdenken. Manchmal half mir Mary Hadfield, wenn sie sah, wie ich mich abmühte, aber ich wollte ihr nicht auch noch meine Not aufbürden.

Daher war ich eines schönen Morgens, als ich zum Kampf mit dem Brunneneimer ins Freie trat, ungewöhnlich froh über das Erscheinen meines Vaters. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass er mir nicht zur Hand gehen würde. Wie gewohnt taumelte er daher, heute allerdings nicht vom Alkohol. Als er näher kam, sah ich, dass ihn das Gewicht, das er schleppte, aus dem Gleichgewicht brachte. Es war ein großer Sack, in dem es bei jedem Schritt klapperte.

Vermutlich wäre er vorbeigegangen, ohne mich zu bemerken, so drückte ihn diese Last zu Boden. Aber als ich ihm einen guten Tag entbot, hob er den Kopf und winkte seinerseits, ehe er den Sack absetzte. Ich hörte das Klirren von Metall.

»He, Mädel, und was für’n guter Tag das ist. Die Witwe Brown hat mich mit Zinn für die Gräber von Mann und Sohn bezahlt. Sollt mich wahrscheinlich bei dir bedanken. Du hast mir schließlich beigebracht, dass man heutzutage mit Löchergraben Geld machen kann.«

Da mir darauf keine Antwort einfiel, bat ich ihn, mir beim Wasserholen zu helfen. Er tat es. Allerdings konnte er sich nach einem kurzen Blick auf mein geschwollenes Gesicht voll blauer Flecken nicht die Bemerkung verkneifen, »ich sähe schlimmer aus wie ein Kuhfladen«. Als er seinen Sack schulterte und weiterging, stand ich da und starrte ihm nach. Hatte ich vielleicht in bester Absicht etwas Übles angerichtet?

Im Laufe dieser Woche fiel mir auf, dass Nachbarn ihre Gespräche unterbrachen, wenn ich mich näherte. Allmählich wurde mir bewusst, dass man über meinen Vater redete, und zwar schlecht.

Nach eigenen Worten hatte er sich zum Totengräber für die Verzweifelten ernannt. Von allen, die zu krank oder schwach waren, um ihre Toten zu begraben, forderte er eine hohe Gegenleistung. Dafür nahm er das Kostbarste, was Haus und Feld hergaben, sei es das Fass Heringe, auf das die Kinder als winterliche Notration zählten, die trächtige Sau oder den kostbaren Messingleuchter, der seit Generationen vom Vater auf den Sohn vererbt worden war. Manchmal nahm er seine Trophäen in die Hauertaverne mit, stellte sie auf den Tresen und prahlte mit seiner Schlauheit. Als sogar seine besten Freunde dagegen protestierten, bestach er alle mit Bier, das er mit dem Geld der Toten bezahlte. In der Hauertaverne endeten alle seine Tage. Er trank, bis er kaum noch heimtorkeln konnte. Als ich ihm diese Arbeit vorgeschlagen hatte, hatte ich erwartet, er würde wenigstens etwas auf sein Äußeres achten, um Aphra und seine Kinder nicht der Pestsaat auszusetzen, die er vielleicht von den Leichen anschleppte. Aber Tag für Tag sah ich ihn in derselben vor Schmutz starrenden Hose kommen und gehen. Wie konnte er so nachlässig sein?

Bei einer Begegnung mit Aphra am Grenzstein flehte ich sie an, darauf zu bestehen, dass er diesbezüglich mehr Sorgfalt walten ließ, aber sie lachte nur. »Du steckst doch die ganze Zeit bei den Gowdies und vergräbst die Nase in Unkraut und Tees«, sagte sie. »War vielleicht besser, sich den Kopf darüber zu zerbrechen, was die zwei sonst noch alles im Hirn hatten.« Ich beschwor sie, offen auszusprechen, was sie damit meinte, aber es war sinnlos. Aphra konnte störrisch wie ein Maulesel sein. Je mehr ich versuchte, mit ihr darüber vernünftig zu reden, umso mehr wich sie aus und meinte nur, mein Vater entpuppe sich nun zum ersten Mal in seinem Leben als guter Ernährer. Und ihr stünde es nicht an, ihn deswegen zu schelten.

Kurze Zeit später entdeckte ich bei einem zufälligen Blick aus dem Katenfenster meinen Vater, wie er mit einem Ballen feingesponnener Wolle aus der Weberhütte auf den Schultern die Straße entlangschwankte. Wütend stürzte ich in meinen Garten hinaus und rief: »Vater! Du weißt genau, dass du Mistress Martin mit diesem Ballen übers Ohr gehauen hast. Für eine Stunde Totengräberarbeit bei ihrem Mann. Wie kannst du Trauernde so betrügen? Mit solchem Benehmen bringst du uns alle in Verruf.« Er gab mir keine Antwort. Stattdessen räusperte er sich, spuckte mir einen grün glänzenden Schleimbatzen vor die Füße und setzte seinen Weg zur Taverne fort.

Obwohl sich Mister Mompellion seit seinem Zusammenbruch in der Kirche etwas erholt hatte, war ihm inzwischen klar, dass er zu seiner eigenen Arbeit nicht auch noch die des Küsters erledigen konnte. Daher gebot niemand der wachsenden Gier meines Vaters Einhalt. Sonntags versammelten wir uns auf Geheiß des Herrn Pfarrers im Cucklett Delf. Wie ich so in dem steilen Kessel unter dem schwarzen Zweiggewölbe der Ebereschen stand, erkannte ich die große Weisheit hinter der Tat des Herrn Pfarrers. Hier mussten wir uns nicht den Erinnerungen an die Vergangenheit stellen, keine fehlenden Gesichter quälten uns hier. Auf diesem Rasen konnte jeder stehen, wo er wollte. Trotzdem hielten sich die meisten von uns an die alte Ordnung: Freibauern und Knappen ganz vorne, dann die Handwerker, gefolgt von Kleinpächtern und Gesinde. Wir stellten uns so, dass zwischen jeder Familie ungefähr zehn Fuß Abstand waren, was wir für ausreichend hielten, um die Übertragung der Infektion zu vermeiden.

Mein Vater kam nicht zum Steinbruch, weder am ersten Sonntag noch an den nächsten. Normalerweise hätte man ihn für ein solches Benehmen auf den Dorfanger geschleppt und an den Pranger gestellt. Aber inzwischen hatte keiner mehr die Kraft oder den Willen, solche Dinge zu ahnden. Schon viele Monate stand der Pranger leer. Die Folge war, dass mein Vater im Laufe der Wochen noch niederträchtiger wurde. Inzwischen hatte er seine Nachmittage beim Bierkrug so lieb gewonnen, dass er kundtat, nach dem Mittagsläuten würde er niemanden mehr begraben. In seiner Rohheit klopfte er an die Türen der Kranken mit den Worten, wenn sie ein Grab haben wollten, dann würde er es jetzt sofort graben oder gar nicht. So kam es, dass ein Mensch, der noch am Leben war, von seinem Krankenlager aus den regelmäßigen Spatenstichen meines Vaters lauschen musste. Wahrscheinlich hat sein herzloses Verhalten mehr als einen schneller unter die Erde gebracht.

Mister Mompellion suchte ihn in seiner Hütte auf. Er wollte versuchen, an den letzten Funken Güte zu appellieren, der vielleicht noch in ihm steckte. Ich ging mit ihm. Dazu fühlte ich mich verpflichtet. Trotz der frühen Nachmittagsstunde lag mein Vater bereits schwer benebelt in einem fleckigen Kittel auf seiner Pritsche. Bei unserer Ankunft stand er auf und drückte sich mit einem Grunzen am Herrn Pfarrer vorbei. Kaum war er aus der Türe, schlug er auch schon vor unser beider Augen schamlos sein Wasser ab.

Vom ersten Schritt an hatte ich gespürt, dass der Herr Pfarrer hier seine Mühe verschwenden würde; nun wusste ich es mit Sicherheit. Lange war es her, seit ich wegen der derben Art meines Vaters rot geworden war. Nach meiner Heirat mit Sam hatte ich versucht, meine Gefühle so zu zügeln, dass ich mich nicht länger für meinen Vater verantwortlich fühlte. Trotzdem tat es mir weh, dass der Herr Pfarrer so behandelt wurde.

»Sir«, stieß ich hervor, »lassen Sie uns gehen, denn in diesem Zustand kann man meinem Vater nichts Gutes abringen.«

Der Herr Pfarrer schaute mich nur freundlich an und schüttelte mit leisem Lächeln den Kopf. »Hier sind wir, Anna, und ich werde das sagen, wozu ich hergekommen bin.«

Seine Beweisführung war beredt und, was meinen Vater betraf, eine einzige Verschwendung. Mister Mompellion sagte, das ganze Dorf schätze den Wert seiner Arbeit und habe Verständnis für das Risiko, das er sich aufbürde. Dies sei keine schöne Arbeit, für die er mit Recht einen Lohn beanspruche. Habe doch selbst in den alten Sagen jener Fährmann, der die Seelen über den Styx trug, seinen Obolus verlangt. »Und doch, Joss Bongt, flehe ich Sie an, Maß zu halten.«

»Maß halten!«, brüllte mein Vater. »Jaja, das ist alles, was ihr wollt, ihr Blutsauger. Mich arm halten!« Anschließend spulte mein Vater einen langen Sermon voller Selbstmitleid darüber ab, wie schlecht man ihn als Jungen auf See behandelt und wie er seither noch kein einziges Mal in seinem Leben einen ordentlichen Tageslohn verdient habe.

»Ausbluten, das tut ihr uns. Euresgleichen denkt sich doch nichts dabei, uns für einen Hungerlohn das Rückgrat zu brechen. Und dann tut ihr so, als sollten wir euch für den halben Penny, den ihr uns zuwerft, auch noch die Stiefel küssen.« Während seine Stimme immer lauter wurde, bildeten sich Schaumblasen in seinen Mundwinkeln. Sein Speichel spritzte durch den Raum. »Und wenn ich dann endlich ‘nen Weg finde, mir meinen Schweiß ein bisschen zu entlohnen, kommt ihr her und versucht mir zu sagen, was ich für meine Plackerei nehmen kann und was nicht! Ha! Meiner Tochter habt ihr vielleicht so viel Honig ums Maul geschmiert, dass sie eure Pisspötte leert, aber Joss Bongt wickelt keiner von euch ein! Wenn ihr euch so stark vorkommt, dann begrabt doch die Blatterntoten selber.« Jetzt drehte er uns den Rücken zu. »Mädel, schaff deinen Pfaffen hier raus, sonst tu ich’s eigenhändig«, sagte er.

»Spar dir deine Kraft für deinen Spaten, Joss Bongt.« Mister Mompellions Miene war gelassen. Lediglich seine Stimme war so kalt, dass ich dachte, sie würde meinen Vater wie ein Eissturm hinwegfegen. »Verschwende sie nicht dafür, mich hinauszuwerfen. So wie auch ich keinen Atemzug mehr verschwenden werde, das Gute in deinem Herzen zu suchen, da ich erkenne, dass dir nichts davon geblieben ist.«

Darauf gab mein Vater keine Antwort, sondern warf sich einfach wieder auf sein Lager, rollte sich herum und zeigte uns seine Kehrseite, während ich dem Herrn Pfarrer die Tür zur Hütte aufhielt. In den nächsten paar Wochen nahm der Herr Pfarrer tatsächlich seine Arbeit als Totengräber wieder auf. Irgendwie fand er die Kraft, alle zu begraben, die so arm waren, dass sie nichts besaßen, was mein habgieriger Vater begehrte. Ich dagegen war froh, dass ich nicht mehr seinen Namen trug, denn immer öfter verfluchte man ihn in allen Hütten und Katen.

Bis er schließlich eine so scheußliche Untat beging, dass sich selbst unsere geschundene Dorfgemeinschaft endlich zum Handeln gezwungen sah. Neun Tage war Christopher Unwin, der letzte überlebende Sohn einer ehemals zwölfköpfigen Familie, auf seinem Krankenlager gelegen, weitaus länger als die meisten, wenn sie erst einmal befallen waren. Ich hatte ihn mehrmals besucht, genau wie Elinor und Michael Mompellion. Inzwischen beteten wir schon, er möge, wie Margaret Blackwell, einer der wenigen sein, die trotz Ansteckung die Pest überlebten.

Doch dann fand ich eines Morgens, kurz nachdem ich Sülze und Haferkuchen für das Frühstück der Mompellions hereingebracht hatte, einen aufgeregten Randoll Daniel im Küchengarten vor. Mary oder das Baby sind krank, war mein erster Gedanke. Mein Mut sank, denn der kleine Junge war mir ans Herz gewachsen, war er doch das erste Baby, das ich entbunden hatte.

»Nein, um Gottes willen«, sagte Randoll, »beide sind wohlauf. Nein, es geht um meinen Freund Christopher Unwin. Seinetwegen bin ich hier. Gestern Abend hat mir Mary Schweinskopfsülze zum Essen gemacht, und heute Morgen dachte ich mir, ich bring ihm einen Teller. Aber er wollte keinen Bissen davon und meinte, er spüre seine Kräfte schwinden. Er bat mich, den Herrn Pfarrer zu holen.«

»Danke, Randoll, ich werde es Mister Mompellion sagen.«

Da der Herr Pfarrer noch kaum zu essen begonnen hatte, wollte ich die Nachricht so lange aufsparen, bis er fertig war. Aber Elinor hatte im Garten Stimmen gehört und bat mich zu sich. Nun blieb mir nichts anderes übrig, als es zu erzählen. Der Herr Pfarrer legte seine Gabel sofort weg, schob seinen unangetasteten Teller fort und stand müde vom Tisch auf. Auch Elinor wollte schon aufstehen, aber an jenem Morgen sah sie noch blasser aus als sonst. Deshalb schlug ich rasch vor, ich würde Mister Mompellion begleiten, während sie sich hier um unsere Kräuterkessel kümmerte.

Gemeinsam gingen wir zum Haus der Unwins. Unterwegs erkundigte sich der Herr Pfarrer ausführlich nach meiner gestrigen Arbeit: Wen ich besucht hätte, und wie es den Leuten ginge, welchen Trank ich verordnet hätte, und was mir am nützlichsten erschiene. Im Laufe der letzten Wochen hatte ich meine Scheu in seiner Gegenwart verloren und konnte mich freier mit ihm unterhalten. Er erzählte mir von den Leuten, die er besucht hatte, doch dann seufzte er tief auf. »Wie merkwürdig ist es doch, Anna. Den gestrigen Tag habe ich innerlich als guten Tag abgehakt, obwohl er übervoll war mit tödlicher Krankheit und der Trauer über jüngste Todesfälle. Und doch ist es ein guter Tag, aus dem einfachen Grund, weil keiner gestorben ist. Wirklich, wir leben in einem kläglichen Zustand, wenn wir das Gute mit einem so kurzen Zollstock messen.«

Das Haus der Unwins stand neben dem Dorfanger. Als wir an dem überwucherten Platz vorbeigingen, deutete der Herr Pfarrer mit dem Kopf auf den Pranger. Eine Efeuranke hatte sich durch eines der Fußlöcher geschlungen. Auf den Riegeln blühte der Rost. »Ich möchte sagen, auch das könnte man zu den guten Dingen rechnen, die diese grimmige Zeit mit sich gebracht hat: Pranger, Schandstuhl und alle anderen barbarischen Werkzeuge sind außer Gebrauch geraten. Wenn ich doch nur die Leute hier überzeugen könnte, dies auch nach dieser Prüfung beizubehalten.«

Wir hatten das Tor der Unwins erreicht. Das Haus stand, von der Straße zurückgesetzt, in einem ehemals hübschen Garten. Viele Jahre hatte die Familie aus ihrer Bleiader Gewinn geschöpft. Stattliche Anbauten hatten ihr Haus zu einem der schönsten im Dorf gemacht. Jetzt, nach so vielen Todesfällen, wirkte der Ort bedrückt und vernachlässigt. Im Laufe der schweren Prüfungen, die diese Familie getroffen hatten, war der Herr Pfarrer häufig hier zu Besuch gewesen. Nun ließ er sich selbst zur Vordertüre ein und rief zu Christopher hinauf, der allein in jenem Zimmer lag, das er bis vor kurzem mit seiner Frau und ihrem kleinen Sohn geteilt hatte. Mit schwacher Stimme antwortete der junge Mann. Aber schon allein, dass er antwortete, war eine große Erleichterung.

Während ich einen Becher aus der Anrichte holte, um dem Kranken etwas Fruchtsaft einzugießen, ging der Herr Pfarrer nach oben ins Schlafzimmer. Als ich wenige Augenblicke später eintrat, stand er mit dem Rücken zu mir am Fenster und starrte auf das Feld der Unwins hinaus. Mir fiel auf, dass er seine Fäuste seitlich verkrampft hatte, als ob ihn der Anblick heftig errege. Als er sich umdrehte, erkannte ich, dass es tatsächlich so war. Finster schaute er unter zusammengezogenen Augenbrauen hervor.

»Wie lange geht das schon?«, wollte der Herr Pfarrer von Christopher wissen, der an einem Polster lehnte und weniger krank aussah, als ich erwartet hatte.

»Seit kurz nach Sonnenaufgang. Das Geräusch seines Spatens hat mich geweckt.«

Nun trieben mir Scham und Zorn gleichermaßen die Röte ins Gesicht. Ich trat ans Fenster. Unten sah ich meinen Vater bis zum Bauch in der halb ausgeschaufelten Grube stehen. Ich konnte mir gut vorstellen, wie sein gieriger Blick bereits die Beute zählte, die er aus dem Haus der Unwins schleppen würde. Wer würde schon gegen seinen Diebstahl Einspruch erheben, wenn erst der junge Christopher bei seiner Familie unter der Erde läge? Von einem war ich inzwischen überzeugt: Schon die Tatsache, dass mein Vater draußen grub, hatte den jungen Mann dazu gebracht zu glauben, sein Zustand hätte sich verschlechtert. Doch seine Mimik war rege, er hatte eine gesunde Hautfarbe, und ich konnte keinerlei Pestzeichen an ihm erkennen.

»Ich werde gehen und mit meinem Vater reden«, erklärte ich dem Herrn Pfarrer mit leiser Stimme. »Ich werde ihn auf der Stelle fortschicken, denn ich glaube nicht, dass der junge Herr solcher Dienste bedarf, weder heute noch in den nächsten Tagen.«

»Nein Anna, du bleibst hier und kümmerst dich um Mister Unwin. Die Sache mit Josiah Bongt übernehme ich.«

Ich widersprach nicht, sondern fühlte mich erleichtert. Gerade als ich Christopher Unwins Gesicht in ein wenig Lavendelwasser badete und ihm zur Aufmunterung die Anzeichen für seine Besserung erzählte, drangen von unten erregte Stimmen herauf. Mein Vater verfluchte Michael Mompellion auf übelste Weise. Er wollte nicht hören, dass der junge Mann drinnen in keiner Weise des Grabes bedurfte, das er gegraben hatte. Auch der Herr Pfarrer stand nicht stumm dabei, sondern antwortete meinem Vater in einer Sprache, die ich noch nie von ihm gehört hatte. Derart derbe Worte hatte er sicher nicht bei den großen Theologen in Cambridge gelernt.

Mein Vater bellte, er werde sich seine Bezahlung holen. Schließlich habe er ja dafür geschuftet. »Egal, ob Unwins Arschloch heute noch Dreck schluckt oder nicht.«

Als ich nun ans Fenster trat, sah ich, wie er mit geschwellter Brust fast gegen die des Herrn Pfarrers stieß. Dicht an dicht standen sie am Grabesrand. Er machte schon Anstalten, aufs Haus zuzusteuern – wahrscheinlich, um sich seine Beute zu sichern –, aber da streckte der Herr Pfarrer die Hand aus und packte ihn. Mein Vater versuchte, sich aus dem Griff zu befreien. Als er merkte, dass es nicht ging, wirkte er plötzlich überrascht. Er hob die Faust. Da ich deren Wucht kannte, zuckte ich zusammen. Michael Mompellion stand reglos da. Doch er wartete lediglich so lange, bis mein Vater mit geballter Wucht zum Schlag ausholte, dann trat er im allerletzten Moment einen großen Schritt zur Seite, sodass mein Vater durch seinen eigenen Schwung ins Straucheln geriet. Während sein Kopf nach unten fiel, versetzte ihm der Herr Pfarrer rasch einen Nackenhieb. Als er daraufhin zusammensackte, gab er ihm einen harten Schubs. Einen Augenblick hing mein Vater mit wild rudernden Armen über dem Grab. Sein Mund stand vor Erstaunen weit offen. Es wirkte beinahe komisch. Und dann stürzte er hintüber und landete mit einem Plumps drunten im Schlamm. Ich sah, wie der Herr Pfarrer ins Loch schaute. Vermutlich wollte er sich vergewissern, dass mein Vater nicht schwer verletzt war. Der ununterbrochene Schwall von Flüchen, der aus der Grube drang, bewies allerdings hinreichend, dass ihm nicht viel fehlte.

Als sich der Herr Pfarrer wieder dem Haus zuwandte, wich ich vom Fenster zurück. Vermutlich wollte er nicht, dass es für diese Szene einen Zeugen gab. Ich ging in die Küche, um für Christopher etwas zu essen herzurichten. Er meinte, er verspüre leisen Appetit. Als ich wiederkam, aß er wie der gesunde junge Mann, der er schon bald wieder sein würde, während der Herr Pfarrer mit ihm scherzte und meinte, heute Morgen hätten sie mehr als nur dem Schnitter Tod ein Schnippchen geschlagen.

 

Im Laufe des Tages erfuhr ich noch, dass man meinen Vater aus der Hauertaverne geworfen hatte, so gewalttätig war er geworden, während er im Suff wegen seiner verlorenen Beute und der Demütigung im Schlamm jammerte. Einerseits war ich froh, dass der Schankwirt seinem Benehmen endlich Grenzen gesetzt hatte, und doch sorgte ich mich um Aphras Kinder. Ich trug meine Sorgen Elinor vor, und sie hatte eine Idee, die Kinder unter dem Vorwand kommen zu lassen, im Heilgarten der Gowdies gäbe es Arbeit für sie. Gewiss gab es dort vieles zu tun, was wir bisher nicht geschafft hatten: Umgraben und Jäten und Düngen, alles in Erwartung der reichen Pflanzenernte in diesem Jahr. Diese Botschaft überbrachte ich mit möglichst taktvollen Worten. Vielleicht begriff Aphra auf diese Weise, dass dort auch Platz für sie sei, falls sie nicht weiter in ihrer Hütte bleiben wollte. Aber Aphra durchschaute meine Anspielung und lachte mich offen aus.

»Mach dir um mich keine Sorgen, Mädel. Ich hab so meine Mittel, diesen Maulesel zu bändigen.«

Damit überließ ich sie ihren Möglichkeiten und beschloss für meinen Teil, nicht mehr an meinen Vater zu denken und die Scham über ihn auf einen weiteren leisen Kummer schrumpfen zu lassen. Noch ein düsterer Gedanke für meine schlaflosen Nächte.

Kurz vor Tagesanbruch erhob ich mich wie erschlagen und ging zum Wasserholen an den Brunnen. Es war einer jener seltenen Tage im frühen April, in denen uns die Natur einen Vorgeschmack auf den kommenden Frühling bietet. Die unerwartet milde Luft ließ mich im Garten verweilen, wo ich den weichen Duft der langsam wärmer werdenden Erde einatmete. An jenem Morgen war der Himmel wunderschön. Überall flauschige Wolkenknäuel, vom Horizont bis hoch hinauf, als hätte ein Scherer frisch geschorene Wolle in die Luft geworfen. Vor meinen Augen streiften die Strahlen der aufgehenden Sonne jeden Wolkenrand und verwandelten ihn in reines Silber. Dann wechselte das Licht erneut, aus dem Silbergrau wurde ein tiefes Rosenrot. Abendröte – keine Nöte, Morgenrot – Seemanns Tod. Diesen Spruch hatte mir mein Vater beigebracht. Flüchtig dachte ich daran, die Schafe in den Pferch zu bringen, ehe sich der Sturm zusammenbraute, den dieser wunderschöne Himmel ankündigte.

Lautes Gebrüll ließ mich zusammenfahren. Eine Gestalt aus einem Albtraum tauchte auf, mit einer klaffenden Wunde quer über dem Schädel und blutverkrusteten, verfilzten Haarsträhnen. Sie war von Kopf bis Fuß mit Dreckbatzen und Lehm verschmiert und bis auf die zerfetzten Reste eines Leichentuchs, das sie hinter sich herzog, nackt. Wieder schrie diese Gestalt auf, und mir wurde bewusst, dass sie den Namen meines Vaters rief. Mein erster Gedanke war, dass eines der flachen Gräber meines Vaters einen von den Toten Auferstandenen ausgespuckt hatte, ein Rachegespenst. Aber mein Verstand sagte mir, dass dies nicht möglich war, und mir dämmerte, dass es sich um Christopher Unwin handelte.

Auf Christophers Geschrei hin waren meine Nachbarn aus ihren Katen gekommen. Auf ihren Gesichtern stand blankes Entsetzen. Daraufhin lief ich zu ihm hin und beschwor ihn, mit hineinzukommen, wo ich seine Wunden versorgen könne. »Nein, Mistress, ich will nicht. Was mich am meisten schmerzt, liegt außerhalb Ihrer Heilkunst.« Jetzt versuchte ich, ihn am Arm zu nehmen, aber er schüttelte mich ab und suchte stattdessen an der rauen Wand Halt.

»Ihr Vater hat heute Nacht versucht, mich im Schlaf umzubringen. Als ich in meinem Bett erwachte, sah ich gerade noch, wie sein Spaten auf mich herabfuhr. Und wie ich dann erneut zu mir kam, lag ich in meinem Grab! Dieser Satansbraten hat mich einfach dorthin gelegt. Zu meinem Glück hat er mich vor lauter Gier nach meinem Besitz nur mit einer dünnen Schicht Erde bedeckt, die nicht genügte, um mich ganz zu ersticken. Außerdem bin ich Knappe und habe keine Angst davor, mit dem Gesicht im Boden zu liegen.« Hier nickten die umstehenden Männer. »Trotzdem«, fuhr Christopher fort, »musste ich wie ein Maulwurf rudern, um freizukommen. Eines sage ich euch: Der wird noch heute Dreck fressen und nie wieder das Morgenlicht sehen!«

»Genau!«, schrie gellend eine Stimme von der anderen Straßenseite. »Genau! Höchste Zeit, dass man diesem Schurken das Handwerk legt!« Inzwischen sammelten sich immer mehr Menschen an, wie Garn, das sich von selbst um die Spindel wickelt. Irgendjemand hatte einen Umhang geholt und Christopher übergeworfen. »Ich danke dir«, stieß er zwischen seinen blutverkrusteten Lippen hervor. »Dieses Schwein hat nicht nur versucht, mir mein Leben zu rauben. Sogar die Kleider, in denen ich schlief, hat er mir gestohlen.«

Als sie in Richtung der Hütte meines Vaters davoneilten, fühlte ich mich wie gelähmt. Inzwischen waren es ihrer zehn oder zwölf. Ich stand nur da, reglos. Ich warnte ihn nicht, holte nicht Mister Mompellion, unternahm nichts zu seiner Rettung.

Ich stand nur da. Mein einziger Gedanke galt dem stechenden Schmerz, den seine Faust hervorrief, und seinem stinkenden Atem. Ich stand da, bis der Mob über den Hügel und außer Sichtweite war. Und dann ging ich nach drinnen und rüstete mich für meine Tagesarbeit.

 

Am frühen Nachmittag fegte der Sturm herein, der sich am Morgen angekündigt hatte. Von Nordosten blies er, mit Schneeschauern, die in einzelnen Wellen wie die Blätter eines Briefes, die einem ein Windstoß aus der Hand reißt, durchs breite Tal trieben. Es war ein seltenes Schauspiel. Wie angewurzelt stand ich ganz oben im Obstgarten und starrte auf die langsam näher rückende Wand, die sich weiß von den dahinter liegenden schwarzen Wolken abhob.

Dort war ich auch, als sie mich suchen kamen, eine Schar Bergleute. Wie damals in jener Nacht, als Sam starb, stapften sie durch die Bäume hügelan. Diesmal ging Alun Houghton voran. Man wolle mich, meinte er, als Zeugin vor dem Berggericht haben, für das, was ich im Haus der Unwins gesehen hatte. »Und um Ihren Vater zu verteidigen, wenn Sie wollen.«

»Bergmeister, ich möchte nicht gehen.« Nach Alun Houghtons tiefer rauer Stimme wirkten meine Worte seltsam gewichtslos. Der Wind trug sie fort. »Es gibt nichts, was ich sagen möchte. Alles, was ich gesehen habe, haben andere auch gesehen. Bitte, verlangen Sie das nicht von mir.«

Aber Houghton ließ sich nicht abweisen. Und so machte ich mich mit diesen Männern auf den Weg, während wütendes Schneetreiben über uns hereinbrach. Sie würden über das Schicksal meines Vaters entscheiden. In der Hauertaverne. Einen besseren Ort gab es dafür nicht.

Im Innenhof versammelten sie sich, genau wie an jenem Abend, als Merry Wickford dem Bergmeister ihren Zentner brachte. Natürlich waren es weniger, denn in den dazwischen liegenden Wochen hatte die Pest drei von den letzten zwanzig Mitgliedern der Knappschaft gefällt. Im Hof standen zwei lange Tavernentische. Einen Stock höher verlief ringsum eine Galerie, von der in besseren Tagen die Wirtshausgäste Zugang zu ihren Zimmern hatten. Doch seit jenem Sonntagseid hatte es keine Reisenden mehr gegeben, und die Zimmer standen leer. Einige Knappen standen oben auf der Galerie. Ob sie dies taten, um sich besser gegen den Schnee zu schützen oder um zu ihren Kameraden größeren Abstand zu wahren, kann ich nicht sagen. Als die Gruppe um den Bergmeister in den Hof kam, traten an die sechs oder sieben näher ans Geländer und schauten zu uns herab. Die Männer in unserer Nähe an den Tavernentischen verkrochen sich tief unter ihre Decken oder Umhänge, während der Schnee seine weißen Flocken auf uns fallen ließ. Alle machten grimmige Gesichter. Ich suchte mit meinen Blicken Aphra, fand sie aber nicht. War sie zu eingeschüchtert, um zwischen diesen zornigen, finsteren Männern zu erscheinen? Der Schneefall schien jedes Geräusch im Hof zu dämpfen, sogar die dröhnende Stimme von Alun Houghton, der am Kopfende des größeren Tisches Platz genommen hatte.

»Josiah Bongt

Mein Vater stand mit gefesselten Händen am anderen Tischende. Zwei Knappen hielten ihn fest. Als er dem Bergmeister keine Antwort gab, versetzte Henry Swope, der Größere von beiden, meinem Vater mit der Hand einen heftigen Schlag auf den Hinterkopf.

»Wirste wohl dem Bergmeister mit Anwesend antworten!«

»Anwesend«, murmelte mein Vater mürrisch.

»Josiah Bongt, die Verbrechen, die ihn an diesen Ort gebracht haben, sind ihm wohl bekannt. Er ist kein Knappe, und in normalen Zeiten hätte dieses Gericht mit einem seinesgleichen nichts zu schaffen. Aber wir sind der letzte Rest Gerechtigkeit an diesem Ort, und Gerechtigkeit werden wir hier walten lassen. Alle hier Versammelten müssen außerdem wissen, dass dieses Berggericht nicht für Mord und versuchten Mord zuständig ist. Und deshalb ziehen wir Josiah Bongt nicht für diese Dinge zur Verantwortung. Aber für alles Weitere tun wir es. Zum Ersten halten wir fest, dass er bezichtigt wird, am dritten Apriltag im Jahre unseres Herrn 1665 das Haus von Christopher Unwin, Knappe allhier, betreten und daraus einen silbernen Wasserkrug entwendet zu haben. Was sagt er dazu?«

Wieder schwieg mein Vater. Sein Kopf war auf die Brust gesackt. Swope riss meines Vaters Kopf hoch und zischte ihn an: »Schau er dem Bergmeister dort ins Auge, Joss Bongt, und sprech er deutlich Ja oder Nein, sonst setzt’s was.«

Die Stimme meines Vaters war kaum hörbar. Er musste den Hass gespürt haben, der ihm von den Männern in diesem Hof entgegenschlug. Und sogar sein vom Grog umnebeltes Gehirn musste sich ausgerechnet haben können, dass sie ein längerer Aufenthalt in der Kälte nur noch mehr in Rage bringen und dadurch seine Bestrafung noch heftiger ausfallen würde.

»Ja«, sagte er schließlich.

»Zum Zweiten halten wir fest, dass er bezichtigt wird, am selben Tag aus selbigem Hause ein silbernes Salzfass entwendet zu haben. Was sagte er dazu?«

»Ja.«

»Zum Dritten halten wir fest, dass er am selben Tag aus selbigem Hause kunstvoll geflochtene, schmiedeeiserne Leuchter entwendet hat. Was sagt er dazu?«

»Ja.«

»Zum Vierten halten wir fest, dass er am selben Tag dem Christopher Unwin in persona ein Nachthemd aus Kammertuch entwendet hat. Was sagt er dazu?«

Bei diesem letzten Satz schien sich sogar mein Vater zu schämen. Wieder ließ er den Kopf hängen. Gedämpft fiel sein »Ja« auf seine Brust.

»Josiah Bongt, da er diese Verbrechen gesteht, befinden wir ihn für schuldig. Hat jemand den Wunsch, für diesen Mann zu sprechen, bevor ich seine Strafe verkünde?«

Jetzt wandten sich aller Augen zu der Stelle, wo ich rechts hinter Alun Houghton an der Wand stand und versuchte, im Schatten zu verschwinden. Alle Augen, einschließlich die meines Vaters. Zuerst starrte er mich unverwandt mit einem hochmütigen Blick an, als sei er der Allergrößte. Aber als ich seinen Blick stumm erwiderte, wurde daraus Verblüffung, dann Verwirrung, bis schließlich sein ganzes Gesicht zusammensackte, als er begriff, dass ich nichts sagen würde. Wut stand nun darin zu lesen, aber auch Enttäuschung. Und langsam dämmerte ein trauriges Verstehen herauf. Jetzt musste ich wegschauen, denn dieser Anflug von Kümmernis war mehr, als ich ertragen konnte. Oh, eines wusste ich: Für mein Schweigen würde ich bezahlen. Und doch konnte ich nicht für ihn sprechen oder, besser gesagt, ich wollte es nicht.

Füße scharrten, Gemurmel machte sich breit. Denn nun begriffen die Männer, dass ich stumm blieb. Als Alun Houghton überzeugt war, dass ich kein Wort sagen würde, forderte er mit erhobener Hand Schweigen. Als die Männer verstummten, hob er an: »Josiah Bongt, Diebstahl ist für Knappen ein wunder Punkt. Mühen sie sich doch oft fernab ihrer Behausungen ab und müssen zu Zeiten ihr schwer errungenes Erz unbewacht an einsamen Orten zurücklassen. Deshalb steht in unserem Codex darauf eine so grimmige Strafe, dass selbst gierige Hände zurückschrecken. Deine Hände waren ungewöhnlich gierig. Daher belegt dich dieses Gericht mit diesem uralten Rechtsmittel: Man schaffe ihn von hier zur Grube der Unwins, wo man ihn mit einem Messer durch beide Hände an deren Göpel anpfähle.« Houghtons Blick wanderte zu seinen eigenen großen behaarten Händen hinunter, die auf dem Tisch lagen. Er hob sie, ließ sie wieder fallen, schüttelte seinen massigen Schädel und sagte: »So sei’s denn.« Seine Stimme hatte nichts mehr vom feierlichen Gestus eines Bergmeisters an sich. Es war nur noch die eines alten Mannes.

Im schwindenden Tageslicht schafften sie meinen Vater fort. Später erfuhr ich, dass er beim Anblick des geschwärzten Göpels wimmerte, der sich aus der Schneekruste auf dem Moor erhob. Ich erfuhr, dass er vergebens um Gnade gefleht und wie ein Tier in der Falle aufgeheult hatte, als ihm der Dolch das Fleisch teilte.

Nach alter Tradition lässt man den Verurteilten unbewacht zurück, nachdem die Messer an Ort und Stelle sind. Man geht davon aus, dass binnen kurzem einer aus seiner Verwandtschaft kommt, um ihn zu befreien. Ich glaubte, Aphra würde dies tun. Nie kam mir in den Sinn, sie würde es nicht tun. Denn ich hätte meinen Vater nicht so sterben lassen, egal, was ich für ihn empfand.

In jener Nacht ging der Schnee in Regen über. Gegen Morgen schüttete es mit solcher Macht, dass die Erde von den Hügeln rutschte und sich in die Flüsse ergoss, bis sie als braune Sintflut über die Ufer traten. Den ganzen nächsten Tag prasselte das Wasser wie aus einem immer wieder neu gefüllten Eimer schräg gegen meine Fenster. Sogar die Straße wurde zum Fluss. Das Wasser schwappte gegen die Häuser und lief unter den Türschwellen durch, bis jeder verfügbare Stoff fetzen zu durchweicht war, um es am Eindringen zu hindern. Wer die Türe öffnete, ließ die Sintflut herein. Jeder Schritt ins Freie durchnässte uns bis auf die Haut. Deshalb ging jeder nur im äußersten Notfall irgendwohin.

Wahrscheinlich starb mein Vater, während er auf Aphra wartete und bis zum letzten Augenblick auf sie hoffte. Sonst hätte er es sicher wie ein Wolf gemacht. Hätte sich die eigenen Hände zerfetzt und sich von den Klingen Fleisch und Sehnen durchtrennen lassen, um sich so seine Freiheit zu erkaufen und sein Leben. Vielleicht war er durch das Trinken schon so verwirrt, dass er nicht merkte, wie die Zeit verstrich. Vielleicht fiel er vor Schmerz in Ohnmacht und spürte deshalb nicht, wie sich die klamme Kälte in seinen Körper stahl und seinen Herzschlag bis zum Stillstand verlangsamte. Nie werde ich genau wissen, unter welchen Umständen ihn der Tod ereilt hat. Aber ich stelle mir seinen Körper vor, den der Regen mit Nadeln peitscht, bis das klatschnasse Fleisch pocht. Ich sehe, wie er seinen Mund wie einen Becher öffnet, in den es rinnt und rinnt, bis das Wasser überläuft.

Denn Aphra kam nicht. Sie konnte nicht. Auf einen Schlag waren drei ihrer vier Kinder an jenem Tag an der Pest erkrankt. Die dreijährige Faith war die Einzige, die es nicht traf. Wäre einer der älteren Buben verschont geblieben, hätte sie ihn um Hilfe schicken können. Aber dazu hatte sie keinen. Und so entschied sie, ihre Kinder nicht in der einsamen Hütte zu lassen, während der Regen das Strohdach durchnässte und das Feuer ausging. Sie entschied, sich nicht auf den langen Weg hinauf ins Moor zu dem Mann zu machen, dem sie die Schuld daran gab, dass er sie mit dieser Krankheit angesteckt hatte.

Den ganzen langen Tag und auch am nächsten kam niemand in ihre Nähe. Ich ging nicht, und dafür werde ich mir ewig Vorwürfe machen. Denn aus unserem fahrlässigen Verhalten und ihrer Einsamkeit erwuchs großer Zorn. Großer Zorn, Irrsinn und – ein Übermaß an Leid. Für Aphra. Und für uns alle.

 

Gegen Ende der zweiten Nacht ließ der Regen nach. Am Morgen wehte dafür ein steifer Wind, der das Wasser von den Asten blies und langsam die durchgeweichten Steine unserer Behausungen und die klatschnasse Erde auf unseren Feldern trocknete.

Und so war mein Vater schon drei Tage tot, ehe ich erfuhr, was aus ihm geworden war. Denn an jenem Morgen erschien Aphra vor meiner Türe. Erde klebte an ihren Händen und fiel in feuchten Brocken von ihrem Kittel. Ihre Wangen waren eingefallen, ihre Augen lagen in tiefen dunklen Höhlen. Sie war bis zum Bauch schmutzig und trug ihr kleines Mädchen Faith, das sich an sie klammerte.

»Sag mir, dass er hier ist, Anna«, flüsterte sie. Zuerst hatte ich keine Ahnung, wovon sie sprach. Mein verständnisloser Gesichtsausdruck beantwortete ihre Frage. Wie ein Tier heulte sie laut auf, warf sich zu Boden und trommelte mit den Fäusten gegen den Herd. Ihre Hände waren voller Blasen, die auf dem grauen Stein aufplatzten. Gelbe Flüssigkeit spritzte heraus. »Dann ist er immer noch dort! Hol dich der Teufel, Anna! Du hast ihn dort sterben lassen!« Das verschreckte Kind stimmte in das Geheule ein. Dieser Lärm trieb Mary Hadfield an meine Türe. Mit vereinten Kräften packten wir Aphra und beruhigten sie, so gut es ging. Aber sie wand sich unter unseren Händen wie ein wildes Wiesel und warf sich herum, um uns zu entkommen.

»Lasst mich los! Lasst mich los! Bin doch die Einzige, der er am Herzen liegt!«

Ich war entschlossen, sie in diesem Zustand nicht loszulassen, auch wenn mir angesichts der Tragweite ihrer Worte speiübel geworden war. Im tiefsten Herzen hoffte ich, mein Vater habe sich selbst befreit und sei einfach weggelaufen. Zu so etwas war er durchaus fähig: ein gebrochener Eid – vor Aphra, vor dem ganzen Dorf, ja sogar vor Gott – würde ihm wenig bedeuten.

Es dauerte eine Weile, ehe mir aus ihrem wirren Gejammer klar wurde, dass all ihre Buben tot waren. Sie hatte sie heute Morgen begraben. Sie hatte das Grab so groß gemacht, dass sie sie nebeneinander hineinlegen konnte, Hand in Hand. Die Blasen an ihren Händen kamen nicht nur davon, dass sie ein so großes Loch in die klatschnasse Erde gegraben hatte. Während ich ihr die Dornen aus den Wunden zog, erzählte sie mir, sie habe das Grab mit dreifach geflochtenen Zöpfen aus Brombeerranken bedeckt, damit die Kraft der Heiligen Dreifaltigkeit ihre Söhne vor Hexen und Dämonen schütze. Meinen Gedanken sprach ich nicht aus. Diese Brombeerranken würden sie höchstens davor schützen, von herumwühlenden Schweinen ausgegraben zu werden. Wie viele andere Haustiere, deren tote Besitzer sich nicht mehr um sie kümmern konnten, rannten auch diese inzwischen auf der Suche nach Fressen hungrig durchs Dorf.

Sie zuckte zusammen, als ich ihre offenen Hände mit einer Salbe bestrich und sie mit dem weichsten Stoff verband, den ich finden konnte. Die Sache mit meinem Vater war das Letzte, womit sie sich nach dem Begräbnis ihrer Buben auseinander setzen sollte, dachte ich im Stillen. Sollte er dort oben tatsächlich schon seit drei Tagen tot sein, würde er einen grausigen Anblick bieten. Wenn er aber fortgelaufen war, würde ihr die Erkenntnis, dass er sie im Stich gelassen hatte, noch mehr Kummer bereiten. Ich sagte, ich würde Brand oder einen anderen jungen Mann hinauf zur Unwin-Grube schicken, aber bei diesem Vorschlag fing sie erneut zu jammern an. »Die hassen ihn alle! Die lass ich nicht in seine Nähe! Du hasst ihn auch. Brauchst dich gar nicht zu verstellen. Lass mich einfach los, damit ich ihm die letzte Ehre gebe.« Da ich sie in ihrem gequälten Zustand weder bändigen noch ihr widersprechen konnte, beschloss ich mitzugehen. Allerdings brachte ich sie dazu, das Kind bei Mary Hadfield zu lassen, damit wenigstens der Kleinen dieser Anblick erspart bliebe, egal, was wir vorfänden.

Wie groß dieses Entsetzen sein würde, begriff ich leider nicht, sonst hätte ich es vielleicht auch mir erspart. Gott sei Dank rüttelte ein steifer Wind an den Skeletten der im Winter erfrorenen Adlerfarne und an den nackten Zweigen von totem Heidekraut, sodass der Gestank nach Kot und Verwesung aus den halb zerfleischten Eingeweiden meines Vaters nur in den kurzen Pausen zwischen kräftigen Böen zu uns herüberdrang. Die wilden Tiere hatten reichlich Zeit gehabt, ihr Werk zu vollenden. Was nun noch am Göpel hing hatte mehr Ähnlichkeit mit einem unbeholfen geschlachteten Stück Rindfleisch als mit den sterblichen Überresten eines Menschen.

An diesen zerstörten Körper heranzutreten war einer der schwersten Schritte meines Lebens. Allein der Anblick ließ mich stocken. Schon wollte ich mich wieder umdrehen und jemanden um diese Tat anflehen, der nicht mit uns verwandt war, aber Aphra ging einfach weiter. Ihr Tobsuchtsanfall war inzwischen vorbei. Kalt und ruhig war sie geworden und murmelte nur beständig vor sich hin. Kerzengerade trat sie an den Göpel und zerrte an dem Dolch herum, der die Überreste meines Vaters hielt. Aber er steckte zu fest im Holz und gab unter ihren verbundenen Händen nicht nach. Erst als sie sich gegen den Pfosten stemmte und ihren ganzen Körper als Gegengewicht einsetzte, glitt das Messer endlich heraus. Es schrammte über den Knochen. Einen langen Augenblick betrachtete sie es, dann schnitt sie damit meinem Vater lange Haarlocken ab und stopfte sie in ihre Tasche. Schließlich riss sie meinem Vater ein Stück vom Wams ab, wickelte die Klinge hinein und steckte den Dolch in ihren Gürtel.

Wir hatten weder Hacke noch Schaufel mitgebracht. Da der Boden dort oben selbst nach solchen Regengüssen steinhart ist, wäre es auf alle Fälle töricht gewesen, ein einigermaßen ordentliches Loch graben zu wollen. Trotzdem schreckte mich der Gedanke, diese Leichenreste auch nur einen Schritt weit zu tragen. Ich befürchtete, Aphra würde ihn auf ihrem eigenen Grund und Boden begraben wollen, neben ihren Buben. Aber sie sagte, sie ließe ihn lieber an Ort und Stelle liegen, neben der Grube der Unwins. Dadurch würde Christopher Unwin für alle Zeit daran erinnert, welchen Preis er für seine Gerechtigkeit gezahlt habe. Und so verbrachte ich die nächste Stunde damit, Steine für einen Grabhügel zu sammeln. Wenigstens das war eine einfache Arbeit, denn unter dem tauben Grubengestein lagen viele große Findlinge. Als er hoch genug war, fing Aphra an, nach Ästen zu suchen, die sie mit Fetzen aus dem Saum ihres Unterrocks zusammenband. Ich dachte, sie wolle ein Grabkreuz bauen, aber als sie fertig war, sah ich, dass sie stattdessen eine Figur geformt hatte, die an eine Gliederpuppe erinnerte. Diese legte sie oben auf den Hügel. Ich betete weiter das Vaterunser und dachte, sie würde leise einstimmen. Aber als ich Amen sagte, murmelte sie weiter. Und das Zeichen, das sie zum Schluss machte, hatte keine Ähnlichkeit mit dem Kreuz.