Gift im Blut

 

Der Schnee, den der Wind in jener Nacht hereintrieb, deckte das Dorf zu. Tiefe Stille senkte sich herab. Wie Verbannte gingen die Menschen gebückt und in ihre Tücher gehüllt auf den weißen Straßen ihren Geschäften nach. Schlechte Nachrichten verbreiteten sich im Flüsterton. Das Hexenblut richtete bei Grace Hamilton nichts aus; noch in derselben Woche starb sie an der Pest und hinterließ ihre Kinder, Jude und Faith, auf dem Krankenlager. Der Sturm begrub meine verlorenen Schafe und verringerte meine Herde um ein Drittel. Wegen des Schlags auf dem Kopf verschwamm mir alles vor den Augen. Ich schlief fast einen ganzen Tag und eine Nacht, ehe ich mich wieder sicher genug fühlte, meine Suche nach ihnen fortzusetzen. Als ich die armen Tiere endlich fand – sie drängten sich im Windschatten einer Felsnase aneinander –, hatte sich über ihnen eine hohe weiße Schneewächte aufgetürmt, und sie waren fast erfroren. Im ersten Moment war ich froh, dass nun weniger Leben von meiner Fürsorge abhing. So verwirrt war ich damals. Mister Mompellion zelebrierte den Beerdigungsgottesdienst für Anys so aufwändig wie möglich. Mem Gowdie war nicht dabei, um mit eigenen Augen die Ehre zu erleben, die er damit ihrer Nichte zollte. Der beinahe tödliche Sturz ins Wasser hatte zu einer Lungenentzündung geführt. Nun lag sie bewusstlos im Pfarrhaus. Elinor Mompellion hatte darauf bestanden, dass man sie dorthin brachte. Unsere gemeinsame Pflege bestand schon bald nur noch darin, neben ihrem Bett zu sitzen und ihrem rasselnden Atem zu lauschen. Als sie noch zum Sprechen fähig gewesen war, hatte sie um eine Kampfersalbe für ihr verletztes Gesicht gebeten, die wir mit Hilfe von sauberen Leinenbinden auftrugen. Leider blieb der Verband kaum haften. Auf ihrer Haut, die so brüchig war wie ein trockenes Blatt im Winter, erschienen an den Stellen, wo man sie geschlagen hatte, blaurote und gelbe Flecken. Bei der Geburt meiner beiden Buben hatten Mems erfahrene Hände meine Ängste gelindert und mir die Wehen erleichtert. Jetzt wirkten ihre Finger so zerbrechlich wie die Knöchelchen eines Vogels, und wenn ich sie in meinen Händen hielt, befürchtete ich, sie würden unter dem leisesten Druck zerbrechen.

Ihr letzter Tag war für mich am schwersten. Gegen Ende setzte ihr Atem minutenlang aus, sodass ich schon glaubte, sie hätte endlich ihren Frieden gefunden. Aber dann drang ein nasses Gurgeln aus ihrer Kehle. Mühsam rang sie nach Luft, und mehrmals hob und senkte sich ihre Brust unter einem raschen, flachen Keuchen. Einige Augenblicke später verlangsamte sich auch das und wurde immer weniger, bis sie erneut zu atmen aufhörte. Dies geschah weitaus öfter, als ich je für möglich gehalten hätte. Jedes Mal wurden die Abstände, in denen sie nicht atmete, länger. Das Warten wurde unerträglich. Als das Ende schließlich doch kam, erkannte ich es nicht, sondern saß da und wartete darauf, dass das gierende Rasseln erneut einsetzte. Erst als ich die Pfarrhausuhr eine Viertelstunde schlagen hörte und dann die halbe Stunde, ohne dass inzwischen ein Atemzug zu vernehmen gewesen wäre, rief ich endlich die Mompellions, damit sie Mems Hinscheiden bestätigten. Sie starb nur fünf Tage nach Anys. Mit diesen beiden ging der Großteil an Heilkunde, auf die wir angewiesen waren, verloren.

Die zuständige Gerichtsbarkeit unternahm nichts wegen dieser Morde: Der Friedensrichter aus Blakewell weigerte sich, auch nur in die Nähe unseres Dorfes zu kommen oder irgendwelche unserer Leute als Gefangene zu holen. Er meinte, im ganzen Bezirk würde sich niemand bereit erklären, sie bis zu den nächsten Gerichtstagen zu verwahren. Stattdessen schlichen die wenigen aus der Meute, die die Pest nicht dahingerafft hatte, wie hohlwangige Spukgestalten herum und warteten auf Gottes Richtspruch. Am nächsten Sonntag waren lediglich fünf von dem Dutzend, das in jener Nacht in der Klamm gewesen war, noch so gut bei Kräften, dass sie Büßerhemden anlegen und barfuß zur Kirche gehen konnten, um um Vergebung zu beten.

Als der Sonntagmorgen weiß und windstill heraufdämmerte, stapften wir alle durch den verkrusteten Schnee, der unter unseren Füßen knirschte. John Gordon war einer von denen, die sich in den Büßerwinkel stahlen. Er schaute niemandem in die Augen, beugte sich nur besorgt über Urith, die sich an seinen Arm klammerte. Die weiße Farbe ihres Büßerhemds unterstrich noch die blauroten Flecken rings um ihre geschwollene und gebrochene Nase. Auch Lib Hancock war dort. Ohne mich eines Blickes zu würdigen, ging sie an mir vorbei, während ich in meiner Kirchenbank stand.

Blass und schweigend nahmen wir unsere festgesetzten Plätze ein. Dieses Dorf zählt an die dreihundertsechzig Seelen. Ohne die Kleinkinder, die gebrechlichen Alten, die wenigen, die sogar am Tag des Herrn arbeiten müssen, und jene Hand voll Quäker und Nonkonformisten, die droben in den Berghöfen leben, beträgt die Anzahl der Gottesdienstbesucher, die sich jede Woche in unserer Kirche versammeln, gut zweihundertzwanzig. Da unsere Sitzplätze schon seit alters her festliegen, wirkt jede Abwesenheit wie eine Zahnlücke. An jenem Sonntag sorgte die ständig wachsende Zahl von Toten und Kranken für viele leere Sitzplätze.

Michael Mompellion verwendete seine Kanzel an jenem Sonntag ganz anders, als ich erwartet hatte. Während des Begräbnisses für Anys und später, als er eine ganze Woche lang beinahe stündlich nach Mem sah, hielt er die Lippen zusammengepresst und wirkte angespannt wie eine Bogensehne, als könnte er nur mit äußerster Mühe einen entsetzlichen Zorn im Zaum halten. Den Großteil der Woche hatte er nicht, wie üblich, mit Elinor zu Abend gegessen, sondern stattdessen allein in seiner Bibliothek gearbeitet. Ich dachte, er arbeite an einer Predigt. Als ich mich kurz vor dem Wochenende eines Abends unter einer Ladung Heu für die Schafe abmühte, entdeckte ich ihn, wie er neben einer gebeugten Gestalt durch den Obstgarten spazierte. Es war bitterkalt. Die Schneewolken waren verweht, die Sterne schienen sich im eisigen Glitzern der weiß verkrusteten Felder zu spiegeln. Seltsam, dass der Herr Pfarrer eine solche Nacht für ein Gespräch im Freien auswählte. Aber dann erkannte ich die Gestalt an seiner Seite und begriff, warum er ein solches Treffen geheim halten wollte.

Michael Mompellion beriet sich mit Thomas Stanley, jenem Puritaner, der vor über drei Jahren am Bartholomäustag im Jahre unseres Herrn 1662 unsere Gemeinde verlassen hatte. Damals hatte uns Pastor Stanley erklärt, er könne nicht guten Gewissens der Anweisung folgen, das Buch für das gemeinsame Gebet zu verwenden. Außerdem sei er nur einer von Hunderten Priestern, die an jenem Tag ihr Predigeramt niederlegten. Es hatte uns befremdet, dass unser kleines Dorf urplötzlich zwischen die hochpolitischen Entscheidungen von König und Parlament geriet. Vielleicht erscheint es merkwürdig, dass eine wie ich, die im Schatten großer Ereignisse wie der Hinrichtung eines Königs sowie Exil und Rückkehr eines zweiten aufgewachsen war, dennoch so wenig von ihren eigenen Zeitläufen wusste. Aber unser Dorf lag weitab von jeder wichtigen Straße oder eines bedeutenden Knotenpunktes, und unsere Männer waren für den Abbau von Blei wichtiger als fürs Abfeuern desselben. Daher schwappten all diese großen Ereignisse nur noch sehr abgeschwächt an den Fuß unseres Berges und rissen nie einen von uns in ihren Fluten mit. Bis es darum ging, wie und mit wem wir beteten.

Mister Stanley war ein aufrichtiger Mensch und für einen Puritaner ungewöhnlich sanft. Trotzdem war sein Sonntag ein strenger Sabbat und seine Kirche ein freudloser Ort gewesen, ohne Spitze oder poliertes Messing. Sogar mit der Schönheit der Gebete wurde gegeizt. Nicht lange nach seinem Protest wurde ein Gesetz erlassen, nach dem Geistliche, die sich weigern, die Staatskirche anzuerkennen, mindestens fünf Meilen Abstand zu ihren alten Gemeinden einhalten mussten, damit Meinungsverschiedenheiten gar nicht erst aufkommen konnten. Ein anderes Gesetz setzte für alle Versammlungen von mehr als fünf Personen, die nach einer anderen als im gemeinsamen Gebetbuch festgelegten Gottesdienstordnung abgehalten wurden, schwere Strafen fest. Geldbußen, Gefängnis, ja sogar Deportation. Daher zog Thomas Stanley aus dem Pfarrhaus aus und verließ das Dorf. Bis die Mompellions kamen, hatten wir beinahe zwei Jahre keinen Priester am Ort. Mittlerweile war Thomas Stanleys Frau gestorben, sodass er allein zwischen Fremden zurückblieb. Es widersprach dem Wesen der Mompellions, den alten Vikar von jenem Ort und den Leuten fern zu halten, die ihm am vertrautesten waren. Keine Ahnung, was gesprochen oder vereinbart wurde, aber eines Tages weilte er wieder unter uns. Ohne Aufhebens war er auf ein kleines Pachtgrundstück auf dem Berghof der Billings zurückgekehrt. Als die Pest zu uns kam, war er schon fast ein Jahr wieder hier, ein alter Mann, der ganz zurückgezogen lebte und sich nicht um die Dorfbelange kümmerte. Und wenn sich von Zeit zu Zeit zwei- oder dreimal fünf Leute in der guten Stube der Billings versammelten, hatte keiner von uns das Bedürfnis, nach dem Grund dafür zu fragen.

Aber nun hatte Mister Mompellion offensichtlich bewusst Mister Stanley aufgesucht. Den Grund dafür sollte ich erst am Sonntag herausfinden. Mister Mompellion stieg die Kanzelstufen hinauf, doch statt des Stirnrunzelns, das er die ganze Woche gezeigt hatte, wirkte er an diesem Morgen heiter. Und so hob er mit einer Predigt an, die unser Schicksal besiegelte. Aber erst als die Hälfte schon vorbei war, dämmerte uns allen, worauf er hinauswollte.

»Niemand hat größere Liebe denn die, dass er sein Leben lasset für seine Freunde.« Nach diesen vertrauten Worten senkte er den Kopf und ließ die Textstelle so lange in der Stille hängen, dass ich schon befürchtete, er habe vergessen, was er als Nächstes sagen wollte. Aber als er aufblickte, strahlte er dermaßen übers ganze Gesicht, dass es plötzlich wärmer in der Kirche wurde. Dann strömten seine Worte wie ein Gedicht dahin. Leidenschaftlich sprach er über die Liebe Gottes und das Leid, das Sein Sohn unseretwillen erduldet hatte. Sein Blick hielt jeden Einzelnen von uns fest und ließ uns die Macht dieser Liebe spüren und erinnerte uns daran, wie sie jedem von uns noch heute zuteil geworden ist. Er berauschte uns mit seinen Worten, riss uns in eine nie gekannte Ekstase und führte einen jeden an den Ort, wo wir unsere schönsten Erinnerungen hüteten.

Dann kam er endlich zum Kernpunkt. Wären wir nicht verpflichtet, diese Liebe zu unseren Mitmenschen zu erwidern? Sogar um den Preis des eigenen Lebens, wenn Gott dies von uns forderte? Bis hierher hatte er die Pest mit keinem Wort erwähnt. Erstaunt bemerkte ich, dass ich, die seit vielen Wochen keinen anderen Gedanken gehegt hatte, die ganze halbe Stunde seiner Predigt nicht einmal daran gedacht hatte.

»Liebe Brüder und Schwestern«, sagte er nun. »Wir wissen, dass Gott manchmal mit Schreckensstimme zu Seinem Volk gesprochen und ihm schauerliche Plagen geschickt hat. Und von diesen Plagen ist die Pest, dieses Gift im Blut, eine der schrecklichsten. Wer fürchtet sie nicht? Ihre Beulen, ihre Geschwüre, ihre riesigen Furunkel. Und den grimmigen Tod, den König der Schrecken, der auf ihren Fersen einhergeht.

Und doch hat Gott in Seiner unendlichen und unfassbaren Weisheit uns zu Empfängern dieser Pest auserkoren, uns allein unter all den Dörfern unseres Bezirks. Dies ist für uns eine Prüfung, davon bin ich überzeugt. Wegen Seiner großen Liebe zu uns schenkt Er uns eine Möglichkeit wie nur wenigen auf dieser Erde. Hier können wir, wir arme Seelen dieses Dorfes, es Unserem Herrn und Heiland gleichtun. Wer unter uns möchte eine solche Gelegenheit ausschlagen? Liebe Freunde, dieses Geschenk müssen wir annehmen, daran glaube ich. Es ist eine Schatulle voller Gold! Tauchen wir die Hände bis zum Ellbogen hinein, und tragen wir diesen Schatz fort!«

Daraufhin senkte er die Stimme, als wollte er uns in ein großes Geheimnis einweihen. »Einige möchten sagen, dass Gott uns dies nicht aus Liebe schickt, sondern aus Zorn. Sie werden sagen, die Pest sei hier, weil wir sie mit unseren Sünden verdient hätten. Denn ist nicht die erste Pest in der langen Geschichte der Menschheit jene, die Gott geschickt hat, um die Ägypter zu schlagen? War es nicht Pharao, der Gott den Gehorsam verweigerte, und wurde nicht deshalb sein ganzes mächtiges Königreich zunichte gemacht? Und wenn man uns im Dunkel der Nacht unseren Erstgeborenen entreißt«, hier hielt er inne. Sein Blick wanderte über die vielen Sitzreihen zwischen uns, bis mich seine strahlend-glänzenden Augen direkt anschauten, »in solchen Zeiten fällt es leichter, an Gottes Rache zu glauben als an Seine Gnade.

Und doch glaube ich nicht, dass Gott uns diese Pest im Zorn geschickt hat. Ich glaube nicht, dass Er uns hier in diesem Dorf als Pharao sieht. O ja, sicher haben wir im Laufe unseres Lebens gesündigt, jeder von uns, viele Male. Lockt uns denn nicht Satan mit verführerischem Pomp, um uns von dem Gott unserer Erlösung abzulenken? Freunde, wir alle haben diesen Melodien gelauscht, ein jeder zu seiner Zeit. Hier ist keiner, der ihnen noch nicht gefolgt ist und dabei stürzte. Keiner, dem nicht verwerfliche Trugbilder den Sinn verwirrt haben.

Und doch glaube ich nicht, dass unser Gott diese Pest zur Strafe für unsere Sünden schickt. Nein!« Auf der Suche nach den Bergleuten und ihren Familien wanderten seine Augen über die Gemeinde. »Wie das Erz, das gänzlich eingeschmolzen werden muss, um reines Metall zu finden, so müssen wir dem Feuerofen dieser Seuche übergeben werden. Und wie der Schmied seine Esse nötigenfalls die ganze Nacht lang schürt, um das wertvolle Erz darin auszuschmelzen, so befindet sich Gott hier in unserer Nähe, näher vielleicht, als Er unser aller Leben je gekommen ist oder je kommen wird.« Fünf Reihen vor mir sah ich, wie sich der weiße Kopf von Alun Houghton, Bergmeister unserer Knappen, langsam auf den massigen Schultern aufrichtete, als ihm allmählich die Worte des Herrn Pfarrers aufgingen. Der Pfarrer nahm die günstige Gelegenheit wahr und streckte die Hand in seine Richtung. »Deshalb lasst uns nicht zaudern, lasst uns nicht zagen! Wählen wir nicht den matten Glanz unseres Urzustandes, wenn Gott uns erstrahlen lassen möchte!«

»Amen!«, polterte Houghtons tiefe und raue Stimme. Vereinzelt stimmten andere Bergleute mit einem »Amen!« ein.

Darauf wandte der Herr Pfarrer seine Blicke dorthin, wo die Hancocks, die Merrills, die Highfields und die anderen Bauernfamilien saßen. »Meine Freunde, jener Pflug, der sich heute tief in eure Furchen gräbt, tat dies nicht immer. Ihr wisst, wie viele Rücken gebrochen wurden, um diesen Boden von Wurzeln und hartnäckigen Baumstümpfen zu befreien. Ihr wisst, dass Hände beim Schleppen jener Steine, die inzwischen als wohl geordnete Mauern unser bearbeitetes Land von der Wildnis abgrenzen, geblutet haben. Ohne Mühsal gibt es keine gute Ernte, und auch nicht ohne Kampf und Plage und Verlust. Jeder von euch hat schon geweint, wenn Dürre oder Pestilenz die Feldfrüchte verheerten. Hat unter Tränen getan, was er tun musste, und jede Pflanze untergepflügt, damit sich der Boden in der Hoffnung auf eine künftige bessere Jahreszeit erneuern konnte. Weinet jetzt, meine Freunde, aber hoffet auch! Denn dieser Pestzeit wird ein besseres Jahr folgen, wenn wir nur darauf vertrauen, dass Gott Seine Wunder tut!«

Dann senkte er den Kopf und fuhr sich mit der Hand über die Augenbrauen. In der Kirche war es totenstill. Wir alle blickten wie gebannt auf den großen Mann, der dort mit gebeugtem Kopf auf der Kanzel stand, als sammle er die Kraft zum Weitersprechen.

»Freunde«, sagte er schließlich, »einige von uns haben die Möglichkeit zur Flucht. Andere haben Verwandte in der Nähe, die uns gerne Zuflucht gäben. Wieder andere haben Verbindungen, auf die sie zurückgreifen könnten. Einige wenige von uns haben die Mittel, um sich weit weg von hier zu begeben frei nach unserer Wahl.«

Meine Konzentration wurde unterbrochen, als die Bradfords in der allerersten Reihe unruhig wurden. »Wie aber würden wir die Güte derer erwidern, die uns aufnehmen, wenn wir ihnen die Pestsaat mitbrächten? Welche Last würden wir tragen, wenn wegen uns Hunderte stürben, die vielleicht leben könnten? Nein! Nehmen wir dieses Kreuz auf uns! Ertragen wir es im heiligen Namen Gottes!« Die Stimme des Pfarrers war immer mächtiger geworden, bis sie wie eine Glocke dröhnte. Jetzt aber verfiel er wieder in einen intimen Tonfall, wie ein Liebender, der sich an seine Geliebte wendet. »Liebe Freunde, hier sind wir, und hier müssen wir bleiben. Lasst die Grenzen dieses Dorfes zu unserer ganzen Welt werden. Lasst keinen herein und niemanden hinaus, solange diese Pest wütet.«

Damit kam er zu den Einzelheiten seines Plans für unsere freiwillige Belagerung, über die er offensichtlich bereits intensiv nachgedacht hatte. Er sagte, er habe in einem Brief an den Grafen im wenige Meilen entfernten Chatsworth House seinen Vorschlag erörtert und um Hilfe gebeten. Der Graf habe sich verpflichtet, im Falle einer freiwilligen Klausur uns alle auf seine Kosten mit dem Nötigsten an Nahrung, Brennmaterial und Arznei zu versorgen. Diese Sachen würde man am Grenzstein am südöstlichen Dorfrand hinterlegen, wo sie erst eingesammelt werden dürften, wenn die Fuhrleute, die sie gebracht hatten, außer Reichweite waren. Wer weitere Dinge kaufen wollte, müsse das Geld entweder in einem flachen Brunnen nördlich von Wright’s Wood hinterlassen, wo das fließende Wasser jede Pestsaat fortspülen würde, oder in den Höhlungen des Grenzsteins, die man mit Essig füllen würde, denn der sollte angeblich eine Ansteckung verhindern.

»Liebe Brüder und Schwestern im Herrn, denkt an die Worte des Propheten Jesaja: Wenn ihr umkehret und stille bliebet, so würde euch geholfen; durch Stillesein und Hoffen würdet ihr stark sein.« Er hielt inne und wiederholte den Vers: »Durch Stillesein und Hoffen.« Er ließ die Stimme zu einem Flüstern herabsinken. »Durch Stillesein und Hoffen Ist dies nicht der Zustand, den wir uns alle wünschten?« Aus dem Flüstern wurde Schweigen. Ja, nickten wir, natürlich war es das. Aber dann kehrte seine Stimme zurück und dröhnte in jene Stille, die er selbst geschaffen hatte. »Aber die Israeliten hofften nicht, sie hielten nicht stille. Das erzählt uns Jesaja mit den Worten: Aber ihr wollt nicht, und sprechet: Nein, sondern auf Rossen wollen wir fliehen Und auf Rennern wollen wir reiten Denn euer tausend werden fliehen vor eines einigen Schelten; ja, vor fünfen werdet ihr alle fliehen, bis dass ihr übrig bleibet wie ein Mastbaum oben auf einem Berge und wie ein Panier oben auf einem Hügel. Nun, meine geliebten Brüder und Schwestern im Herrn, ich sage, wir sollen nicht fliehen wie die treulosen Israeliten! Nein, nicht wenn fünf oder zehn oder sogar zwanzig Tode drohen. Denn die Einsamkeit erwartet den, der flieht. Einsamkeit – wie ein Mastbaum oben auf einem Berge. Einsamkeit und Ausgestoßensein. Jenes Ausgestoßensein, das seit jeher das Los des Leprakranken war. Einsamkeit, Ausgestoßensein und Angst. Die Angst wird euer beständiger Begleiter sein, und sie wird mit euch sein, Tag und Nacht.

Geliebte Brüder und Schwestern im Herrn, ich höre euch in euren Herzen sagen, dass wir längst Angst haben. Angst vor dieser Seuche und dem Tod, den sie bringt. Aber ihr werdet diese Angst nicht hinter euch lassen. Sie wird euer Gefährte sein, wohin ihr auch geht. Und unterwegs wird sie sich zu einer ganzen Schar neuer und größerer Ängste zusammenballen. Denn wenn ihr im Hause eines Fremden erkrankt, wird man euch vielleicht die Türe weisen, euch im Stich lassen und euch einsperren, um euch einem einsamen Sterben zu überlassen. Euch wird dürsten, und niemand wird euren Durst stillen. Laut aufschreien werdet ihr, aber eure Schreie werden in der leeren Luft verwehen. Im Hause jenes Fremden erwartet euch nur eines: Vorwürfe. Denn man wird euch gewiss bezichtigen, dass ihr dies über sie gebracht habt. Und zu Recht! Und in der Stunde, in der ihr der Liebe am meisten bedürft, werden sie euch mit Hass überschütten!«

Jetzt klang die Stimme beruhigend aus: »Bleibt hier, an dem euch wohl bekannten Ort, an einem Ort, wo man euch kennt. Bleibt hier, auf diesem Stück Erde, das euch bisher ernährt hat. Bleibt hier, dann werden wir hier füreinander eintreten. Bleibt hier, dann wird die Liebe des Herrn mit uns sein. Bleibt hier, meine besten Freunde. Denn eines verspreche ich euch: Solange ich verschont bleibe, wird keiner in diesem Dorf dem Tod allein ins Antlitz schauen.«

Dann ermahnte er uns zum Nachdenken und zum Gebet und sagte, dass er uns in Kürze um unsere Entscheidung bitten würde. Er stieg von der Kanzel und begab sich mit Elinor an seiner Seite unter uns und unterhielt sich leise mit jedem, der ein Wort mit ihm wechseln wollte. Einige Familien blieben in ihren Bänken, mit gesenkten Häuptern im Gebet versunken. Andere standen auf und gingen rastlos umher, sammelten sich hier und dort in Grüppchen und suchten Rat bei Freunden und Nahestehenden. Erst jetzt bemerkte ich, dass Thomas Stanley die Kirche betreten und einen Platz in der allerersten Reihe eingenommen hatte. Nun trat er nach vorne und sprach leise mit allen, die zur Lehre der Puritaner geneigt hatten oder es insgeheim immer noch taten und vielleicht Mühe hatten, Mister Mompellion zu vertrauen. Auf seine ruhige Art machte der alte Mann klar, dass der Jüngere seine Unterstützung hatte.

Manchmal ließ sich unter dem gedämpften Murmeln eine erregte Stimme vernehmen. Zu meiner Beschämung sah ich, dass mein Vater und Aphra zu einer kleinen Gruppe gehörten, die mit Gesten und Kopfschütteln klarmachten, dass sie nicht mit dem Plan des Herrn Pfarrers einverstanden waren. Auf diese Zauderer trat Mister Mompellion zu, und binnen kurzem stieß auch Mister Stanley zu ihnen. Mein Vater hatte sich mit seiner Frau ein wenig entfernt. Ich versuchte, ihr Gespräch zu belauschen, und ging deshalb etwas näher heran.

»Denk an unser Brot, Mann! Wer wird uns zu essen geben, wenn wir auf die Straße flüchten? Höchstwahrscheinlich werden wir dort verhungern. Hier, sagt er, bekommen wir es sicher.«

»Jaja, sagt er. Nun, ich sage, dass man von sagt er nicht herunterbeißen kann. Schöne Worte geben ein sauschlechtes Essen. O ja, er und seine vornehme Frau werden schon ihr Brot von seinem Freund, dem Grafen, bekommen, da bin ich mir sicher. Aber wann haben sich schon solche wie die auch nur ‘nen Penny um unsereins geschert?«

»Mann, wo bleibt dein Grips? Die werden ihr Wort nicht aus Liebe zu uns halten, sondern aus Angst um ihre eigene feine Haut. Eines steht fest: Der Graf will seinen Besitz pestfrei haben. Und wie ginge das besser, als wenn er uns einen Grund zum Hier bleiben gibt? Täglich ein paar lumpige Laib Brot sind für den ein gutes Geschäft, darauf wette ich.« Sie war eine schlaue Frau, meine Stiefmutter, trotz ihrer Neigung zum Aberglauben.

Dann sah sie mich und wollte mich schon zur Unterstützung ihrer Ansichten herüberwinken, aber ich wandte den Kopf ab. Ich wollte einzig und allein für meine eigene Entscheidung die Verantwortung tragen.

Als die Mompellions dort vorbeikamen, wo ich stand, ergriff Elinor Mompellion mit beiden Händen zärtlich meine, während sich der Herr Pfarrer an mich wandte und sagte: »Und du, Anna?« Sein Blick ging mir so durch und durch, dass ich wegschauen musste. »Sag uns, dass du bei uns bleibst, denn ohne dich war’s um Mistress Mompellion und mich schlecht bestellt.« In mir herrschte keinerlei Verwirrung, da ich meine Entscheidung getroffen hatte. Und doch wollte mir meine Stimme zu einer Antwort nicht gehorchen. Auf mein Nicken hin umarmte mich Elinor Mompellion und drückte mich einen langen Augenblick an sich. Der Herr Pfarrer ging weiter und flüsterte ruhig Mary Hadfield zu, die ganz kläglich weinte und die Hände rang. Als er erneut die Stufen hinaufschritt und uns Auge in Auge gegenüberstand, hatten er und Thomas Stanley jeden Zweifler überzeugen können.

An jenem Tag legten wir alle in dieser Kirche vor Gott einen heiligen Eid ab, dass wir bleiben und nicht fliehen würden, egal, was uns bevorstünde. Wir alle, bis auf die Bradfords. Sie waren unbemerkt zur Kirche hinausgeschlüpft und längst wieder zurück im Herrenhaus, wo sie für ihre Flucht nach Oxfordshire packten.