Ein großer Brand

 

Als ich Elinor zum ersten Mal husten hörte, zwang ich meine Ohren mit Gewalt dazu, es nicht zu glauben. Es war einer jener milden Sommertage, die wie Pusteblumen auf der nach Geißblatt duftenden Brise dahintrieben. Nach Besuchen bei den Gesunden, statt bei den Kranken – wenigstens einmal! –, waren wir im hellen Abendschein auf dem Rückweg zum Pfarrhaus. Elinor hatte unbedingt bei den sechs oder acht alten Leuten vorbeischauen wollen, die die Pest überlebt hatten, obwohl ihre kräftigen Söhne und Töchter ihr zum Opfer gefallen waren. Bei diesen Witwen und Witwern handelte es sich um Menschen, die ihr schon vor der Pest sehr am Herzen gelegen waren. Doch da die Notlage der Sterbenden vorgegangen war, hatte sie die Lebenden sich selbst überlassen müssen, egal, wie bedürftig sie waren.

Bis auf einen hatten wir alle wohlauf angetroffen. James Mallion, eine zahnlose, gebeugte arme Seele, war im Dunkeln gehockt, halb verhungert und sehr bedrückt. Gemeinsam hatten wir ihn hinaus an die warme Luft getragen und ihn gefüttert. Zuvor hatte ich mir die Mühe gemacht, das Essen so fein zu zerstoßen wie für ein kleines Kind. Während ich ihm den weichen Brei einlöffelte und die Tropfen vom Kinn wischte, musste ich ans Füttern meiner eigenen Babys denken. Ungewollt stieg mir eine Träne ins Auge. Daraufhin hatte er mich mit seiner klauenähnlichen Hand am Arm gepackt, mich aus wässrigen Augen gemustert und mit zittriger Stimme gefragt: »Warum wird einer wie ich verschont, der seines Lebens müde und reif für die Ernte ist, während die Jungen im unreifen Zustand gepflückt werden?« Kopfschüttelnd tätschelte ich seine Hand. Für eine Antwort versagte mir die Stimme.

Darüber unterhielten Elinor und ich uns auf dem Rückweg zum Pfarrhaus. Noch immer waren wir dem Rätsel nicht näher gekommen, warum die Pest die einen mitriss, aber nicht die anderen. Jene wenigen, die sich wie Andrew Merrick auf ein Leben in Höhlen oder rohen Hütten fernab von Mitmenschen zurückgezogen hatten, waren der Ansteckung ganz sicher entkommen. So viel wussten wir: Nähe zum Kranken brachte Krankheit mit sich. Aber das hatten wir schon immer gewusst. Dennoch blieb die Frage, warum einige am Leben blieben, die mit allen im Haus lebten und mit den Kranken Essen, Bettzeug, ja sogar dieselbe Atemluft teilten. Ich sagte, wenn Mister Stanley zu denen spreche, die sein Wort hören wollten, vertrete er die Meinung, dass uns diese Auswahl nur deshalb zufällig erscheine, weil sie ganz bei Gott liege.

»Das weiß ich«, erwiderte Elinor. Geistesabwesend zupfte sie im Gehen an den Geißblattranken, die durch die Hecken wuchsen. Ich hatte ihr gezeigt, wie man den Nektar aus den Blüten saugt. Nun nahm sie die Blüten zwischen die Lippen und sog ihre Süße aus wie jedes bescheidene Landmädchen auch. »Mister Stanley hat seit jeher geglaubt, Gott ließe all jenen Leid zuteil werden, denen er nach dem Tode das Fegefeuer ersparen möchte. Anna, diese Ansicht kann ich nicht teilen. Und doch, wie könnten wir das wissen? Mister Mompellion bringt solche Dinge in seinen Predigten nicht mehr zur Sprache. Mittlerweile geht es ihm nur noch darum, unseren Geist zu erbauen und uns in unserer Entschlossenheit zu bestärken.«

Wir verfielen in Schweigen. Ich versuchte, diese schwierigen Gedanken von mir fern zu halten, indem ich mich einzig und allein auf den Augenblick konzentrierte, den Turmfalken bei ihren trägen Runden zuschaute und dem rauen Krächzen der Wachtelkönige lauschte. Als Elinor hustete, redete ich mir ein, ich hätte ein Krächzen gehört. Weder blieb ich stehen, noch drehte ich mich um, um sie anzusehen, sondern ging einfach weiter. Wenige Minuten später hustete sie erneut. Diesmal ließ es sich nicht mehr ignorieren. Von Hustenkrämpfen geschüttelt, blieb sie stehen und presste ein Stück Spitze auf den Mund. Sofort drehte ich mich um und legte ihr zur Stütze einen Arm um die Schultern. Mein Gesicht musste die Tiefe meiner Gefühle widergespiegelt haben, denn sie sah mich an und versuchte, trotz des Hustens zu lächeln. Als der Anfall verebbte, schob sie mich spielerisch mit den Worten von sich: »Jetzt aber, Anna, begrab mich doch nicht gleich beim ersten Husten!«

Aber kein Lachen holte mich aus dem Entsetzen, das mich gepackt hatte. Ich legte ihr die Hand aufs Gesicht. Da der Abend warm war und wir schon ziemlich lange unterwegs waren, konnte ich nicht feststellen, ob ihre erhitzte Stirn ein Anzeichen für Fieber war oder nicht.

»Setzen Sie sich hin«, sagte ich und deutete auf einen großen flachen Stein im Schatten einer Eberesche. »Setzen Sie sich, während ich vorauslaufe und Mister Mompellion hole.«

»Anna!«, sagte sie in einem Ton, der sich jeden Widerspruch verbat. »Hör sofort auf damit! Genau das wirst du nicht tun!« Sie fühlte ihre Stirn und warf den Kopf hoch, als wolle sie die Hitze abschütteln, die sie dort sicher verspürte. »Ich merke lediglich, dass ich vielleicht eine leichte Erkältung bekomme, und ich möchte nicht, dass du so ein Theater machst und mich in Panik versetzt! Ich bitte dich um ein wenig Selbstbeherrschung. Schließlich bist du nach allem, was wir gemeinsam gesehen und getan haben, kein Kind mehr, das beim geringsten Hauch zittert. Sollte ich ernsthaft krank sein, wirst du der erste Mensch sein, dem ich mich anvertraue. Bis dahin wag ja nicht, Mister Mompellion damit zu beunruhigen.«

Forschen Schritts ging sie weiter, und ich hinterdrein. Als ich sie eingeholt hatte, griff ich nach ihrem Arm. Sie ließ es geschehen. Im Gehen versuchte ich, auf jedes Detail zu achten: die Art, wie ihre Finger auf meinem Handgelenk lagen, das sachte Schwanken ihres Körpers, das Maß ihrer Schritte. Für die leuchtenden Butterblumen hatte ich keine Augen mehr, und auch keine Ohren für den Gesang der Vögel. Meine Augen trübten sich, Tränen liefen mir ungehindert übers Gesicht.

Elinor blieb stehen und schaute mich mit einem leisen Lächeln auf den Lippen an. Sie hob die Hand mit dem kleinen Spitzentaschentuch und wollte mir schon die Tränen damit abwischen, da hielt sie mitten in der Bewegung inne, zerknüllte das weiße Quadrat und barg es in der Tiefe ihres Korbs.

Das sagte mir alles. Jetzt weinte ich erst richtig. Mitten auf dem Feld.

 

Was soll ich über die nächsten drei Tage sagen, was noch nicht schon längst gesagt wurde? Elinors Fieber stieg. Sie hustete und nieste, wie andere gehustet und genießt haben. Michael Mompellion und ich versuchten, sie zu trösten, wie wir so viele andere zu trösten versucht hatten.

Ich war so oft an ihrer Seite, wie es Taktgefühl und Pflicht erlaubten. Denn selbstverständlich war es ihr Michael, der in erster Linie Anrecht auf ihre letzten Stunden hatte, während es meine Aufgabe war, ihm möglichst viel von seiner eigenen Arbeit abzunehmen. Aber einige Dinge konnte ich nicht tun. Von Zeit zu Zeit wurde er weggerufen, um seine Pflicht an anderen Sterbebetten zu erfüllen. Und so fand ich mich allein mit Elinor wieder. Ich badete ihr gerötetes Gesicht mit in Minzewasser getauchten Leinentüchern und betrachtete eingehend ihre zarte Haut, immer in Erwartung jenes schrecklichen Augenblicks, wenn unter ihrer allgemeinen Röte die rotschwarzen Blätter der Pestrosen aufblühten. Wie silbrige Spitze klebten ihre feinen Haare auf der feuchten Stirn.

Für mich war sie so vieles geworden, so vieles, worauf ein Dienstbote kein Anrecht hat. Noch darf er sich einbilden, dass der Mensch, dem er dient, dies je sein wird. Ihr verdankte ich es, dass ich die Wärme mütterlicher Fürsorge kennen gelernt hatte, eine Fürsorge, die mir durch den frühen Tod meiner Mutter entgangen war. Ihr verdankte ich es, dass ich eine Lehrerin gehabt hatte und nicht mehr unwissend war, sondern lesen und schreiben konnte. Manchmal hatte ich während unserer gemeinsamen Kräuterarbeit in der Pfarrküche vergessen, dass sie meine Herrin war, ja ihr sogar Anweisungen für diesen oder jenen Handgriff gegeben, den ich besonders gut beherrschte. Nie erinnerte sie mich an meine Stellung. Tief in meinem Herzen konnte ich es flüstern: Sie war meine Freundin, und ich liebte sie. Wenn mir manchmal zu später Nachtzeit Erschöpfung die Sinne vernebelte, machte ich mir Vorwürfe wegen ihres Zustands, den ich als Strafe für meine sündhafte Dreistigkeit und Eifersucht empfand. Bei Tag war ich klarer im Kopf und wusste, dass ihre Krankheit dem Leid jedes anderen Menschen glich, nicht mehr und nicht weniger. Aber in den dunklen Stunden konnte ich mein Herz nicht beherrschen. Jedes Mal, wenn Michael Mompellion kam, um bei ihr zu sitzen, flammte glühende Eifersucht in mir auf. Während ich das Zimmer verließ, schäumte ich innerlich vor Wut, weil er mehr Anrecht auf den Platz an ihrer Seite hatte. Anfänglich zog ich mich nur bis kurz hinter die Türe zurück, wo ich sitzen blieb, um ihr möglichst nahe zu sein. Als mich Mister Mompellion dort entdeckte, half er mir freundlich auf, erklärte mir aber unmissverständlich, dass ich mich hier nicht herumtreiben dürfe. Vielleicht sei es besser, wenn ich mich in meine Kate zurückzöge, bis er mich rufen lasse.

Um mich lange von ihr fern zu halten, hätte es mehr bedurft als nur seiner Worte. Als ich ihr am nächsten Tag die kühlenden Tücher auf die Stirn legte, schien sie meine Gedanken zu lesen.

Seufzend lächelte sie matt und flüsterte: »Das tut so gut.« Schwach flatterte ihre Hand auf meiner. »Ich kann mich als Frau glücklich schätzen, weil ich in meinem Leben so geliebt wurde Weil mir ein Mann wie Michael geschenkt wurde und eine so liebe Freundin wie du, Anna.« Einen Augenblick schloss sie die Augen, dann öffnete sie sie wieder und musterte mich. »Weißt du eigentlich, wie sehr du dich verändert hast? Vielleicht ist das das einzig gute Ergebnis dieses Schreckensjahres. Oh, der Funke war schon damals klar in dir zu erkennen, als du das erste Mal zu mir kamst. Aber du hast dein Licht unter den Scheffel gestellt, als hättest du vor dem Angst, was geschehen würde, wenn es irgendjemand sah. Du glichst einer Flamme im Winde, die fast schon ausgelöscht war. Ich musste dich lediglich mit einem Glassturz bedecken. Und wie du jetzt leuchtest!« Mit einem matten Händedruck schloss sie die Augen.

Nach einiger Zeit verlangsamte sich ihr Atem, sodass ich dachte, sie wäre eingeschlafen. Möglichst leise stand ich auf und schlich zur Tür. Eigentlich wollte ich das Waschbecken und die getragene Kleidung entfernen. Aber sie hob erneut mit geschlossenen Augen an: »Anna, hoffentlich wirst du in deinem Herzen auch Platz finden, um Mister Mompellion eine Freundin zu sein Denn mein Michael wird Freundschaft bitter nötig haben.« Das Schluchzen, das in meiner Kehle aufstieg, ließ mich nicht antworten. Aber anscheinend brauchte sie auch keine Antwort, denn nun legte sie ihr Gesicht ins Kissen und fiel tatsächlich in Schlaf.

Ich konnte kaum mehr als zehn Minuten fort gewesen sein, aber bei meiner Rückkehr erkannte ich sofort, dass sich ihr Zustand verschlechtert hatte. Ihr Gesicht war noch stärker gerötet, so stark, dass sich die feinen Blutgefäße auf ihren Wangen zu einem Spinnengewebe erweitert hatten. Ich legte ihr kühle Tücher auf, aber sie warf sich unter meinen Händen unruhig hin und her. Als sie mit einer seltsam hohen Jungmädchenstimme zu sprechen begann, begriff ich, dass sie im Fieberwahn lag.

»Charles!«, rief sie kichernd. Ein leichtes, beschwingtes Lachen strafte ihren ernsten Zustand Lügen. Sie atmete heftig, als liefe oder ritte sie. Ich stellte sie mir vor: ein junges Mädchen in einem Seidenkleid auf dem Besitz ihres Vaters, in einem großen grünen Park, ganz dem Vergnügen hingegeben. Einige Augenblicke beruhigte sie sich, und ich hoffte, sie würde wieder einschlafen. Aber dann runzelte sie die Stirn und rang die Hände auf der Tagesdecke. »Charles?« Noch immer klang der Ton, mit dem sie diesen Namen rief, hoch und kindlich, diesmal aber bekümmert, aufgeregt, wehklagend.

Ich war froh, dass ich die einzige Augenzeugin war, und nicht der Herr Pfarrer. Inzwischen stöhnte sie. Ich hielt ihre Hand fest und rief ihr zu, aber sie befand sich längst außerhalb meiner Reichweite. Und dann änderte sich plötzlich ihr Gesicht. Ihre Stimme wurde wieder die vertraute Erwachsenenstimme. Was sie dann sagte, geschah in einem derart intimen Flüsterton, dass ich rot wurde. »Michael Michael, wie lange noch? Bitte, mein Liebster? Bitte …«

Er hatte die Tür geöffnet und war ins Zimmer getreten, ohne dass ich ihn gehört hatte. Seine Worte ließen mich aufspringen. »Das genügt, Anna«, sagte er mit einer merkwürdig kalten Stimme. »Wenn sie etwas braucht, werde ich dich rufen.«

»Herr Pfarrer, es geht ihr viel schlechter. Sie liegt im Fieberwahn …«

»Das kann ich selbst sehen«, fuhr er mich an. »Du kannst gehen.«

Zögernd stand ich auf und zog mich in die Küche zurück. Dort saß ich und wartete besorgt. Ich musste eingeschlafen sein, denn als ich erwachte, sangen die Vögel. Sonnenschein strömte durch die hohen Flügelfenster und fiel in breiten Streifen wie gelbe Maibaumbänder über den Küchenboden. Leise schlich ich im buttergelben Sommerlicht nach oben. Vor ihrem Schlafzimmer blieb ich stehen und lauschte auf Geräusche von drinnen.

Alles war still. Sachte schob ich die Türe einen Spalt auf. Elinor lag tief in ihren Kissen, von der intensiven Röte in ihrem Gesicht war nichts mehr zu sehen. Sie war so blass wie die Tagesdecke und reglos wie ein Stein. Michael Mompellion lag am Fußende ihres Bettes und hatte die Hände nach ihr ausgestreckt, als wollte er ihre flüchtige Seele erhaschen.

Drei Tage hatte ich gegen diesen Aufschrei angekämpft. Nun entrang sich mir ein lautes Stöhnen aus Kummer und Einsamkeit. Michael Mompellion regte sich nicht, nur Elinor schlug die Augen auf und lächelte mich an.

»Das Fieber ist gebrochen«, flüsterte sie. »Ich liege hier schon eine ganze Stunde wach und sehne mich nach einer Gewürzmilch. Ich bin ganz ausgetrocknet, konnte aber nicht nach dir rufen, weil ich meinen armen, müden Michael nicht wecken wollte.«

Ich flog die Treppe hinunter, um die Milch zu kochen. Während ich sie erhitzte, hätte ich zum ersten Mal seit fast einem Jahr am liebsten laut gesungen. An jenem Tag stand Elinor kurz aus ihrem Bett auf. Ich setzte sie in einen Sessel am Fenster, das ich weit aufgestoßen hatte. Während sie auf ihren geliebten Garten hinaussah, schaute Mister Mompellion sie so unverwandt an, als sähe er eine Vision. Immer wieder fand ich Ausreden, um erneut ins Zimmer zu kommen: Essen, frische Betttücher, Krüge voll warmem Wasser. Alles, um mich auch ja zu vergewissern, dass ich dies nicht geträumt hatte.

Am nächsten Tag meinte sie, sie fühle sich wohl genug für einen Rundgang durch den Garten. Dabei neckte sie den Herrn Pfarrer und mich. Mich, weil ich mich weigerte, sie ohne Stütze gehen zu lassen, und ihn, weil er ständig um sie herumschwirrte und einmal unnötige Schals anbot und im nächsten Moment wieder auf ebenso überflüssigem Schatten bestand.

An jenem Tag und an den folgenden wirkte Michael Mompellion wie neugeboren. Einer, der wie er überzeugt gewesen war, dass Elinor an die Pest verloren war und sie dann von einem ganz normalen Fieber wieder genesen vorfand Für das Wunder, das er empfand, bedurfte es keiner großen Phantasie, denn ich fühlte genauso. Sein von Sorgen zerfurchtes Gesicht glättete sich, um die Augen tauchten wieder Lachfalten auf. Er hatte den federnden Schritt der Jugend und widmete sich seinen Pflichten mit neuer Energie.

Elinor saß gerade in der frischen Luft auf einer Bank in der Südecke des Gartens – ein wunderschöner Ort der Muße, ganz von ihren Lieblingsrosen umrankt. Ich hatte ihr einen Becher Brühe gebracht, und sie hatte mich zu einer Plauderei bei sich behalten, wie sie es schon seit langem nicht mehr getan hatte. Dabei ging es um Belanglosigkeiten, wie zum Beispiel die Frage, ob man die Irisbüschel wieder einmal teilen sollte.

Mister Mompellion sah uns dort sitzen und kam rasch aus dem Stallhof herüber. Er war gerade vom Hof der Gordons zurückgekehrt, wo er sich um Dinge gekümmert hatte, die seit Urith Gordons Tod ungelöst geblieben waren. Da die Gordons lediglich Pächter gewesen waren und John Gordon in seinem Anfall sämtliche Rinder getötet hatte, gab es bezüglich des Besitzes nur wenig Schwierigkeiten. Trotzdem war den Nachbarn bei all den Kreuzen, die Gordon gebaut hatte, nicht wohl gewesen. Sie hatten nicht gewusst, wie man damit umgehen sollte. Der Herr Pfarrer hatte es für nötig gehalten, sie mit allem Respekt unter Gebeten zu verbrennen, und hatte sich höchstpersönlich darum gekümmert.

An diesem Tag war es sehr warm. Als der Herr Pfarrer neben Elinor auf der Gartenbank Platz nahm, wedelte sie ihm spielerisch mit den Händen vor dem Gesicht herum.

»Mister Mompellion, du riechst höchst intensiv nach Rauch und Pferdeschweiß! Lass dir von Anna ein bisschen Waschwasser aufwärmen!«

»Gut«, sagte er, wobei er wieder lächelnd auf die Beine sprang. Ich entfernte mich, um ihren Wunsch zu erfüllen. Während ich mich ins Pfarrhaus zurückzog, hörte ich, wie er sich angeregt mit Elinor unterhielt. Als ich dann bald darauf eine Waschschüssel mit einigen Lappen hinaustrug, gestikulierte er ausladend.

»Keine Ahnung, warum mir das nicht schon früher eingefallen ist«, sagte er. »Wie ich aber so dastand und ein Gebet über diese Feuerkreuze sprach, erkannte ich es so klar, als hätte mir Gott selbst die Wahrheit ins Herz gesenkt!«

»Beten wir, dass dem so ist«, sagte Elinor aufgeregt.

Dann stand sie auf, und beide spazierten, Seite an Seite, den Gartenpfad entlang und ließen mich dort stehen. Sie vergaßen mich einfach! Nach einem Augenblick stellte ich die Sachen auf die Bank und begab mich nach drinnen zu meiner Arbeit. Egal, was sie so gefesselt hat, dachte ich, während ich einen Putzlumpen in einen Eimer warf, ich würde es erfahren, wann sie es für richtig hielten. Aber noch während ich mit aller Macht den Sandsteinboden schrubbte, hatte ich einen bitteren Geschmack im Mund, als hätte ich auf eine im Kern saure Frucht gebissen.

 

Der nächste Tag war ein Sonntag, und ich erfuhr mit allen anderen im Dorf, was Gott angeblich Michael Mompellion gezeigt hatte.

»Um unser Leben zu retten, meine Freunde, müssen wir, so glaube ich, hier einen großen Brand entzünden. Wir müssen uns von unseren weltlichen Gütern trennen – von allem, was unsere Hände berührt und was wir am Körper getragen haben, von allem, was unser Atem gestreift hat. Lasst uns diese Dinge hierher bringen und anschließend unsere Häuser scheuern, wie es den Hebräern zum Zeichen des Festes ihrer Errettung vor Pharao geboten worden ist. Danach wollen wir uns heute Abend hier versammeln und Gott unsere Güter mit unseren Gebeten zu unserer Errettung opfern.«

Ich sah die fragenden Gesichter ringsum im Steinbruch, sah, wie sie den Kopf schüttelten. Die Menschen hatten bereits so viel verloren, dass ihnen ein weiteres Opfer schal aufstieß. Ich dagegen dachte an den jungen George Viccars und wie er sich auf seinem Totenbett aufgebäumt und gekrächzt hatte: »Verbrennt alles!« Wie viele von uns wären vielleicht verschont geblieben, wenn ich genau das noch am selben Tag getan hätte? Wenn ich seine Nähschatulle und all die halb fertigen Kleidungsstücke aus dem Stoff verbrannt hätte, der aus London hierher gekommen war?

Dieser Gedanke quälte mich so sehr, dass ich meine Gedanken nicht genug beisammen hatte, um mich auf Mister Mompellions Worte zu konzentrieren. Deshalb kann ich mich auch nicht daran erinnern, wie er den Dorfbewohnern ein widerwilliges Einverständnis abrang. Von Urith Gordon sprach er, das weiß ich, und wie die Pest sie niedergestreckt hatte, nachdem sie die liebenswürdigerweise angebotenen Kleider und Gegenstände aus Häusern angenommen hatte, die die Pest heimgesucht hatte. Ich weiß, dass er von der reinigenden Kraft des Feuers sprach und wie sich die Menschen seiner seit Anbeginn der Zeiten als Symbol der Wiedergeburt bedient hatten. Wie immer sprach er beredt und nachdrücklich und benutzte dazu seine schöne Stimme wie ein Instrument, das Gott genau zu solchen Zwecken erschaffen hat. Und doch waren wir der Worte müde, wir alle. Was hatten sie uns schließlich gebracht?

Im Laufe des Nachmittags wuchs der Scheiterhaufen nur langsam. Selbstverständlich gingen der Herr Pfarrer und Elinor mit gutem Beispiel voran und schafften bis auf die Kleider, die sie am Leib trugen, und einige wenige Bettwäsche, die sie mir zum Auskochen gaben, alles hinaus. Als aber die Bibliothek an der Reihe war, zitterte selbst Elinor und erklärte, sie bringe es nicht übers Herz, die Bücher zu verbrennen. »Und wenn sich darin auch Pestsaaten bergen mögen, so steckt in ihnen vielleicht auch das Wissen, uns von der Pest zu befreien. Vielleicht haben wir nur noch nicht genug Verstand, um sie richtig zu deuten.«

Was mich betraf, so gab es ein Ding, von dem ich mich nicht trennen konnte: jenes winzige Wams, das ich für Jamie in seinem ersten Winter gemacht und für Tom aufgehoben hatte, bis er groß genug war, es zu tragen. Dieses versteckte ich und schämte mich dabei meiner Schwäche. Meine restliche geringe Habe sammelte ich, um sie den Flammen zu übergeben. Seltsam, am Tag des Herrn zu schrubben und zu fegen, aber der Herr Pfarrer hatte so überzeugt gesprochen, dass selbst eine Alltagsarbeit wie Hausputz irgendwie ein Teil des Gottesdienstes geworden zu sein schien. Kessel um Kessel kochte ich ab, zuerst im Pfarrhaus, dann in meiner Kate, und überbrühte in diesen Behausungen Tische und Stühle, jedes Brett und jeden Stein.

Als wir uns zur Dämmerung im Steinbruch versammelten, war ich völlig erschöpft. Wie benommen starrte ich das traurige Häuflein Habseligkeiten an – die Summe unseres kärglichen Lebens. Zum ersten Mal seit vielen Monaten dachte ich an die Bradfords und ihre ganze reiche Habe, die in der einsamen Stille von Bradford Hall eingesperrt war. Wahrscheinlich waren die Bradfords in ihrem sicheren Oxforder Hafen die einzige noch intakte Familie dieses Dorfes. Ich malte mir aus, wie sie eines Tages zurückkehrten und an ihrem prächtigen Tisch mit dem ganzen Leinen und Silber saßen. Ich sah, wie der Oberst mit seinen fetten Fingern auf den Tisch trommelte und ungeduldig seine Mahlzeit erwartete, während der Geist von Maggie Cantwell stumm im Schatten vor sich hin schluchzte. Vielleicht wären wir bis dorthin ein ganzes Geisterdorf, und nicht einmal die Bradfords würden sich hierher wagen, trotz ihres großen Hauses und all der feinen Sachen.

Wir waren tatsächlich bis auf die Haut entblößt. Unten am Scheiterhaufen stand die Krippe – mit so viel Liebe und freudiger Erwartung geschnitzt –, in der das Kind der Livesedges gestorben war. Da lagen Hosen herum, in denen einst die muskulösen Waden kräftiger Jungknappen gesteckt hatten. Viel Bettzeug gab es, Strohsäcke, die einmal für süße Ruhe gesorgt hatten. Stumm warteten all diese einfachen Gegenstände auf die Fackel und erzählten mir doch von jenen anderen Verlusten, die man nicht aufhäufen und betrachten konnte: von täglichen Gesten der Zärtlichkeit zwischen Mann und Frau, vom Frieden im Herzen einer Mutter beim Anblick ihres schlafenden Kindes, von den einzigartigen und ganz persönlichen Erinnerungen an all die vielen Toten.

Michael Mompellion stand in der Nähe des Felsüberhangs, der ihm als Kanzel diente. Mit der Rechten hielt er einen flammenden Ast hoch. Vor ihm erhob sich der Berg Habseligkeiten, während wir tiefer standen, wie immer viele Ellen auseinander. »Herr, allmächtiger Gott!«, rief er. Seine Stimme hallte durch den Steinbruch. »So, wie es Dir einst gefiel, von Deinen Kindern Israels Brandopfer anzunehmen, so bitten wir Dich, empfange diese Dinge von uns, Deiner Leidensschar. Nimm dieses Feuer, um unsere Herzen zu reinigen wie unsere Häuser, und erlöse uns endlich vom Zorn jener Krankheit, die uns bestürmt.«

Tief stieß er den brennenden Ast ins Stroh, das aus einer Matratze quoll. Gierig leckten die Flammen hoch. Es war eine klare Nacht, trocken und windstill, eine Nacht, wie sie hier eher im tiefen Winter vorkommt als im Hochsommer. In einer rotgoldenen Säule schraubte sich das Feuer in die Höhe, heiße Funken sprühten wild umher, als wollten sie es dem kaltweißen Gefunkel der Sterne gleichtun. Dann sangen wir gegen das Gebrüll des Feuers an, jenen Psalm, den wir seit Ausbruch der Pest schon unzählige Male gesungen hatten:

 

»Dass du nicht erschrecken müssest vor dem Grauen der Nacht,

vor den Pfeilen, die des Tages fliegen,

vor der Pestilenz, die im Finstern schleicht,

vor der Seuche, die im Mittage verderbet.

Ob tausend fallen zu deiner Seite

und zehntausend zu deiner Rechten,

so wird es doch dich nicht treffen …«

 

Früher einmal hatten wir diese Worte mit so viel Überzeugung gesungen. Ich musste daran denken, wie unser Gesang in der Kirche emporgestiegen war. Jetzt waren wir so viel weniger Stimmen. Müde und gebrochen schleppten sie sich mechanisch durch die Noten. Da wir so weit auseinander standen, konnten nicht alle das vorgegebene Tempo halten. Einige kamen aus der Tonhöhe, sodass unser Hymnus von Vers zu Vers unordentlicher und falscher klang.

Während unseres Gesangs verloren die Gegenstände im Zentrum des Feuers ihre einzelnen Umrisse und gerannen zu dunklen Schatten, zum Hintergrund für das wirbelnde Gleißen. Einen Augenblick fielen die schwarzen Stellen innerhalb der Flammen zu einer Form zusammen, die an die Augenhöhlen eines Totenschädels erinnerten. Ein Bild, das mich erschreckte. Ich blinzelte. Als ich wieder hinsah, war es verschwunden.

Zwischen dem Gesang und dem Knistern des Feuers hörten wir die Schreie der Frau erst, als sie mitten unter uns stand. Hinter mir wurde es unruhig. Als ich mich umdrehte, sah ich, wie der junge Brand und Robert Snee, der nächste Nachbar der Merrills, eine sich heftig wehrende Gestalt zum Feuersrand zerrten. Die Frau war ganz in Schwarz gekleidet und hatte sich einen schwarzen Schleier um den Kopf gebunden, der ihr übers Gesicht fiel. Als die zwei jungen Männer sie mit Gewalt nach vorne beförderten und vor Michael Mompellion zu Boden stießen, brach der Gesang urplötzlich ab. Brand streckte die Hand aus und zog den Schleier zurück. Es war Aphra.

»Was soll das bedeuten?«, wollte der Herr Pfarrer wissen, während sich Elinor bückte, um Aphra hochzuhelfen. Aphra schob den schwarzen Stoff aus ihrem Gesicht und sah sich wild um, als suche sie nach einer Fluchtgasse durch die Menge, aber Brand legte ihr eine Hand hart auf die Schulter.

»Hier ist der Geist, dessen Heimsuchungen uns alle genarrt haben!«, rief Brand. »Ich habe sie in genau diesen schwarzen Trauerkleidern, die ihr seht, in den Wäldern nahe beim Grenzstein erwischt. Dort hat sie sich versteckt und versucht, meine Schwester Charity zu erschrecken, um ihr einen Schilling für ein Amulett abzuschwatzen, damit der kleine Seth nicht die Pest bekommt.« Angeekelt warf er einen Stoff streifen weg, der ganz mit fremden Wörtern bekritzelt war, genau wie jener, den Elinor vom Hals des toten Babys von Margaret Livesedge gewickelt hatte. Einen Augenblick hielt er ihn hoch, damit es alle sehen konnten, dann ließ er ihn erneut fallen und stampfte ihn mit seinem Stiefel in den Dreck.

»Schande!«, schrie gellend eine Frauenstimme aus der Menge. Bei einem Blick in die Runde sah ich, dass es Kate Talbot war, deren Gesicht vor Leid tränenüberströmt war. »Diebin!«, schrie Tom Mowbray. Jetzt explodierte die ganze Gemeinde. Als Speichel und Erdklumpen zu fliegen begannen, fiel Aphra auf die Knie und barg ihr Gesicht in den Händen.

»Taucht sie unter!«, rief einer. »An den Pranger!«, brüllte eine andere Stimme.

Wenn der Herr Pfarrer nicht rasch etwas tut, dachte ich im Stillen, wird diese Menge zum Mob und damit unhaltbar. Mit unseren allzu rohen Wunden und der riesengroßen Angst glichen wir alle verwundeten Tieren, die jeden anspringen würden, besonders eine, die sich so abgrundtief böse verhalten hatte wie Aphra. Abscheu und Zorn stiegen in mir auf. Ich verspürte den Zwang, sie meinerseits wütend anzuspucken. Daraufhin schaute ich mich um. Warum, weiß ich nicht recht. Da sah ich am Rand der Menge die winzige, verheulte Gestalt von Aphras Tochter Faith mit offenem Munde dastehen. Im allgemeinen Getöse konnte niemand ihr klägliches Jammern hören. Jetzt drehte ich den höhnischen Gesichtern und ausgestreckten Fingern den Rücken zu, rannte zu dem Kind und barg es in meinen Armen. Ich wollte keinesfalls, dass dieses kleine Mädchen, das immer noch meine Halbschwester und die einzige noch lebende Blutsverwandte war, den Vorfall im Steinbruch mit eigenen Augen ansehen musste, egal, was noch geschah. Das Kind stand zu sehr unter Schock, um sich zu wehren, als ich es forttrug. Wir hatten den Pfad hügelauf schon halb zurückgelegt, da erhob sich die Stimme des Herrn Pfarrers über die lärmende Menge und klang laut und deutlich durch den schüsselförmigen Steinbruch.

»Ruhe! Entweiht nicht diesen heiligen Platz – diese unsere Kirche – durch derart unheiliges Fluchen!«

Zu meiner Überraschung verstummten alle. Ich wandte mich um, um seine nächsten Worte zu hören.

»Die Anklage gegen diese Frau wiegt in der Tat schwer. Man wird sie anhören, und sie wird sich dafür verantworten müssen. Aber nicht hier, nicht jetzt. Dies ist eine Angelegenheit für morgen. Geht jetzt nach Hause und betet zu Gott, auf dass er das Opfer annimmt, das wir heute Nacht gebracht haben, und unser Flehen um Seine göttliche Gnade erhört.«

Trotz ärgerlichen Gemurmels folgten die Leute seinen Worten. Gehorsam war ihnen in Fleisch und Blut übergegangen. Ich nahm Faith mit in meine Kate, wo sich das Kind die ganze Nacht wimmernd hin und her warf und durch Albtraumlandschaften wanderte, in die ich ihm nicht folgen konnte. Ich hingegen erwischte nur Schlaffetzen und erwachte vom strengen Geruch glimmender Asche.

 

Wer bin ich, um Michael Mompellion die Geschehnisse jener Nacht vorzuwerfen?

Kein Mensch kann stets in allen Belangen ein gerechtes Urteil abgeben, egal, wie weise er ist oder welch gute Absichten er auch hegt. In jener Nacht irrte er, und zwar bitter, und bitter musste er dafür bezahlen. Vermutlich war seine hohe Meinung vom jungen Brand schuld daran. Er wusste nur allzu gut, wie tapfer sich Brand gegenüber Maggie Cantwell in ihrem Unglück verhalten hatte. Außerdem war er auf die Art und Weise stolz gewesen, wie der junge Mann bei Charity und Seth die Bruderrolle und nach Jakob Merrills Tod die Verantwortung für dessen Hof übernommen hatte.

Da Brand und Robert Aphras Untat entlarvt hatten, sollten sie sie im Auftrag des Herrn Pfarrers bis zur Verhandlung am nächsten Tag in Gewahrsam nehmen. Ihnen zu sagen, wie sie sie einsperren sollten, daran dachte er ebenso wenig, wie er sie ermahnte, ihre Bestrafung ja nicht selbst in die Hände zu nehmen. Leider war der Zorn der jungen Männer so heftig, dass ihnen in ihrer Verbitterung die Idee, die Robert einfiel, passend erschien.

Robert Snee hielt auf seinem Hof Schweine. Er war ein guter Bauer und hatte sich viele schlaue Methoden zur Steigerung seines Ertrags ausgedacht. Eine seiner Neuerungen war ein Weg, Schweinemist rasch in nützlichen Dünger umzuwandeln. Er hatte sich angewöhnt, die flüssigen und festen Hinterlassenschaften in den Koben zusammen mit dem verbrauchten Stroh aus dem Stallhof in eine tiefe Kalksteinhöhle auszumisten eine natürliche Zisterne, die bequemerweise am Hügelhang lag. Auf der niedrigen Höhlenseite hatte er eine Rinne eingebaut, über die er den gut verrotteten Dünger zum Ausbringen direkt in seinen Karren leiten konnte.

Genau in diese finstere, stinkende Grube warfen Brand und Robert Aphra. Bei einer späteren Ortsbesichtigung konnte ich mir nicht vorstellen, wie sie die Nacht dort überlebt hatte. Der beißende Gestank verätzte Kehle und Brust. Braunschäumend und sehr lebendig schwappte der Dung bis hoch in den Kalkstein hinauf, vermutlich mindestens so hoch, dass Aphra den Kopf hatte schief legen müssen, damit ihr nicht bei der kleinsten Bewegung die Dreckbrühe in den Mund spritzte. Da aber der Kot, auf dem sie stand, nicht ganz fest war, war Stillstehen unmöglich. Wenn sie nicht immer tiefer versinken wollte, musste sie ständig an der schleimigen Felswand Halt suchen. Während ihre Muskeln vor Anstrengung schmerzten und ihr die stinkende Luft die Brust verbrannte, musste sich Aphra mit allerletzter Willenskraft gezwungen haben, nicht ohnmächtig zu werden. Hätte sie das Bewusstsein verloren, wäre sie erstickt und ertrunken.

Die Frau, die man am nächsten Morgen aus jener Grube zerrte und auf den Dorfanger brachte, war nicht Aphra, sondern ein lallendes, gebrochenes Etwas. Die zwei jungen Männer hatten versucht, sie zu säubern, indem sie eimerweise eiskaltes Brunnenwasser über sie geschüttet hatten. Nun war sie klatschnass und zitterte, stank aber so sehr, dass einem noch auf der anderen Seite des Angers schlecht wurde. Überall, wo die Haut die ganze Nacht mit der Flüssigkeit in Berührung gekommen war, waren Blasen aufgebrochen. Zum Stehen war sie viel zu schwach und erschöpft. Sie lag einfach zusammengekrümmt im Gras und wimmerte wie ein Neugeborenes.

Elinor weinte bei ihrem Anblick. Michael Mompellion ballte die Hand zur Faust und ging auf Brand und Robert los. Ich dachte schon, er wollte sie schlagen. Brand war vor Schuldgefühlen über seine Tat weiß im Gesicht. Sogar Robert Snee, ein wesentlich härterer Mann, schaute schuldbewusst zu Boden.

Schon seit langem hatte ich eine Abneigung gegen die Schauspiele, die auf diesem Anger aufgeführt wurden, wenn man unsere Mitbewohner wegen Fluchen oder Zank oder gottlosem Benehmen in den Pranger gesperrt hatte. Sicher war unser Schandpfahl weitaus weniger Furcht erregend wie der Pranger in Bakewell. Wer in jener Marktgemeinde, wo die Leute ohne tiefe Bindungen aneinander kamen und gingen, am Pranger stand, wurde zur Zielscheibe von verfaultem Obst, Fischköpfen oder sonstigen widerlichen Dingen, die dem Pöbel in die Hände fielen. Eine Frau, die man dort wegen Ehebruchs angekettet hatte, hatte durch ein gefährliches Geschoss ein Auge verloren. In einem kleinen Ort wie unserem konnte man einen Nachbarn nicht so behandeln. Aber allein dass man mit Händen und Füßen in jenem zersplitterten Holz steckte, bei glühender Hitze oder kaltem Nieselregen, und stundenlang missbilligende Blicke und die Pfiffe ungezogener Kinder ertragen musste, allein das war für mich erniedrigender, als es die meisten verdienten. Sogar Reverend Stanley forderte für Sünder nur selten den Pranger, während sich Mister Mompellion sogar heftig dagegen ausgesprochen hatte.

Einige Dutzend waren zusammengelaufen, um Aphras Bestrafung mitanzusehen. Angesichts unseres dezimierten Zustands eine durchaus große Anzahl. David, der Witwer von Margaret Livesedge, war da. Zweifelsohne erinnerte er sich noch allzu gut an die großen Hoffnungen, die seine Frau auf das »Chaldäer-Amulett« gesetzt hatte und wie grausam diese zerstört worden waren, als ihr Kind mit diesem Halsband starb. Auch Kate Talbot war da, deren teurer Abracadabra-Zauberspruch ihr den Ehemann nicht hatte retten können.

Die Merrill-Kinder und die Mowbrays waren da. Einfaches Volk auf der Suche nach einfacher Gerechtigkeit. Ein paar andere ebenfalls. Sollte der so genannte »Geist« auch sie um ihre Kupfermünzen geprellt haben, so waren nicht alle bereit, dies zuzugeben.

Vermutlich hatten sich diese Ankläger in Erwartung einer harten Bestrafung versammelt, aber als Brand und Robert Aphra in ihrem derart erbärmlichen und elenden Zustand anschleppten, schien allen der Appetit darauf vergangen zu sein. Klammheimlich verschwand einer nach dem anderen. Der Herr Pfarrer kauerte sich neben Aphra, beugte den Kopf dicht zu ihr hinunter und redete leise auf sie ein. Er bat sie, das betrügerisch erworbene Geld zurückzugeben, und legte ihr eine Buße auf. Ob sie von seinen Worten irgendetwas verstand, konnte ich nicht sagen. Der Herr Pfarrer bat um einen Karren, um sie nach Hause zu schaffen. Elinor und ich fuhren mit. Wir mussten sie aufrecht halten, so schwach war sie. Da sie nach ihrer Tochter Faith schrie, hielten wir bei meiner Kate an, um sie zu holen. Den Rest des Weges kauerte das Kind mit weit aufgerissenen Augen stumm neben seiner Mutter und klammerte sich an ihr Bein.

Drinnen in Aphras Hütte erhitzten wir Wasser und versuchten, sie zu baden, ihr den Kot unter den Fingernägeln herauszukratzen und ihre suppenden Wunden zu salben. Kurze Zeit ließ sie unsere Pflege über sich ergehen, aber mit der allmählichen Rückkehr ihres Verstandes flammte auch ihr Zorn wieder auf. Sie schleuderte uns wüste Beleidigungen ins Gesicht, befahl uns wegzugehen, und gab uns alle möglichen schlimmen Namen, die ich hier nicht nennen möchte.

In diesem Zustand wollte ich weder sie zurücklassen noch das Mädchen Faith bei ihr. »Stiefmutter«, sagte ich ruhig, »ich bitte dich, lass mich das Kind ein, zwei Tage zu mir nehmen, bis du wieder bei Kräften bist.«

»O nein, du hinterhältige Hure!«, plärrte sie, wobei sie sich wie verrückt an das erschreckte kleine Mädchen klammerte. »Die Pocken über dich und deine listigen Pläne! Du denkst, ich weiß es nicht?« Sie dämpfte ihre Stimme und starrte mich an. »Du denkst, ich kann dich nicht durchschauen? Du bist doch längst nicht mehr meine Stieftochter. O nein! Für eine wie mich bist du dir doch viel zu fein. Ihr Geschöpf bis du«, sagte sie und deutete mit einem zittrigen Finger auf Elinor. »Diese Trockenfotze, diese unfruchtbare Vogelscheuche will mir auch noch mein letztes Kind stehlen, stimmt’s?« Elinor zuckte zusammen. Unter ihrer natürlichen Blässe war sie kalkweiß geworden, und sie umklammerte eine Stuhllehne, als spürte sie eine Ohnmacht nahen.

Wieder wurde Aphras Stimme lauter. Die Worte stolperten so rasch von ihren Lippen, dass ich sie kaum verstehen konnte. »Darauf seid ihr aus, ich weiß das. Ich weiß, wie’s wird. Ich lass mich doch nicht von euch bei meiner eig’nen Tochter anschwärzen. Ich lass nicht zu, dass ihr eure Lügen die Ohren voll stopfen.«

Mir war klar, dass Aphras Erregung Faith nur noch mehr verwirrte. Ich gab Elinor ein Zeichen, und wir gingen fort. Leider war trotz all unserer Bemühungen kein friedlicher Abschied möglich. Die Flüche flogen uns sogar noch hinterher.

Den ganzen Vormittag sorgte ich mich um das Kind. Obwohl Faith schon drei Jahre alt war, hatte ich sie noch kein einziges Wort sprechen gehört. Offensichtlich verstand sie aber, was man zu ihr sagte, sonst hätte ich sie für taub oder einfältig gehalten. Stattdessen war ich allmählich zu der Überzeugung gelangt, dass Angst bei ihr den Willen zum Sprechen hatte schwinden lassen. Angst vor meinem Vater, als er noch lebte, und seitdem Angst vor Aphras merkwürdigem Verhalten. Nachmittags machte ich mich erneut auf den Weg zur Hütte, mit einem großen Essenskorb und mehr Salben für Aphras offene Wunden. Sie weigerte sich, mir die Tür zu öffnen, und beschimpfte mich aufs Übelste, bis ich schließlich das Essen auf der Türschwelle stehen ließ und fortging. Am nächsten Tag lief es wieder so ab, und am übernächsten auch. Jeden Tag stand Faith mit weit aufgerissenen, ernsten Augen stumm am Fenster und betrachtete mich, während ihre Mutter Flüche von sich gab, die nicht für ihre Ohren bestimmt waren. Aber als ich am dritten Tag im Vorgarten stand, sah ich das Kind nicht. Und als ich Aphra fragte, wo Faith sei, war ihre einzige Antwort ein durchdringend hoher Klagegesang in einer mir völlig unbekannten Sprache.

Daraufhin ging ich heim und besuchte meine Nachbarin Mary Hadfield. Ich bat sie inständig, an meiner Stelle zu Aphra zu gehen und zu versuchen, ob jemand mehr ausrichten könnte, der ihr weniger nahe stand.

»Anna, diese Bitte gefällt mir nicht. Ganz und gar nicht. Diese Aphra hat versucht, sich als Kreatur des Teufels auszugeben. Wenn sie schon nicht einmal die Hilfe will, die ihre eigene Stieftochter anbietet, dann soll sie meinetwegen der Teufel holen.«

Ich flehte sie an, doch an das Kind zu denken, das unschuldig in Gefahr war. Bei diesen Worten überlegte sie es sich noch einmal und stimmte meiner Bitte zu. Als sie aber wiederkam, hatte sie nicht mehr Erfolg gehabt als ich. Wieder hatte sich Aphra geweigert, die Tür zu öffnen, und hatte auf die arme Mary eine derart heftige und üble Schimpfkanonade losgelassen, dass diese schwor, nie wieder in die Nähe dieser Hütte zu gehen, Kind hin oder her.

Ich merkte, dass ich meine Sorge um Faith nicht ablegen konnte. Weder am nächsten Tag noch am übernächsten sah ich ein Zeichen von ihr. Deshalb blieb ich am Abend dieses Tages lange auf und machte mich im Dunkeln auf den Weg zur Hütte. Keine Ahnung, was ich zu erreichen hoffte. Vielleicht, dass mir die Überraschung, Aphra unversehens aus dem Schlaf geweckt zu haben, ein paar Momente gäbe, um mir inzwischen ein gewisses Bild von Faith’ Zustand zu machen.

Aber Aphra schlief nicht. Schon von weitem konnte ich sehen, dass ein kräftiges Herdfeuer die Hütte von innen heraus erleuchtete. Angesichts der überaus warmen Nacht war dies allein schon merkwürdig. Beim Näherkommen konnte ich durchs Fenster wilde Schatten herumspringen sehen. Als ich noch näher heranging, dämmerte mir, dass Aphra in wilden Sprüngen vor ihrem Feuer herumtanzte und dabei wie in einem Anfall von Wahnsinn die Arme hochwarf. Eigentlich hatte ich mich weder anschleichen noch sie ausspionieren wollen, aber da das Fenster keinen Vorhang hatte, blieb ich im Schatten eines Lorbeerstrauchs stehen. Vielleicht konnte ich ja mit bloßem Auge feststellen, was dieses merkwürdige Benehmen zu bedeuten hatte. Mit fast bis auf die Kopfhaut geschorenen Haaren stand sie in einem verdreckten Hemd da, unter dem sich ihr ausgemergelter Körper abzeichnete. Sie schoss in die Tiefe und wieder hoch und bellte dabei einen Unsinn, der sich zu einem markdurchdringenden Schrei steigerte: »Arataly, rataly, ataly, taly, aly, y iiiiiiiii!« Dann rannte sie aufs Feuer zu, packte die darin liegenden Kaminböcke an den Griffen und legte sie in Form eines X auf den gestampften Lehmboden. Viermal streckte sie sich in jedem Viertel dieser Figur der Länge nach am Boden aus und hob dann flehentlich die Arme. Anscheinend zog sie von den Deckenbalken etwas zu sich herunter, was, konnte ich anfänglich nicht sagen. Mit beiden Händen hielt sie den dunklen Gegenstand. Leider drehte sie mir den Rücken zu, sodass ich nur erkennen konnte, dass er sich wie lebendig zu bewegen schien.

Ich gestehe, jetzt bekam ich Angst. Ich glaube weder an Hexerei noch an Zaubersprüche, weder an Inkubus noch an Sukkubus oder ähnliche Geistwesen. Aber an eines glaube ich: an böse Gedanken und – an Wahnsinn. Und als die Schlange aus Aphras Händen glitt und sich um ihre Mitte wand, wollte ich im ersten Impuls möglichst schnell davonlaufen.

Und doch lief ich nicht weg, sondern stand wie angewurzelt da. Ich hatte nur einen verzweifelten Wunsch: Faith von jener Wahnsinnigen fortzuschaffen, die ihre Mutter geworden war. Wahrscheinlich war es der letzte Rest jenes Muts der Verzweiflung, den jede Mutter hat, jene Urmacht in einer Frau, die sie um ihres Kindes willen zu Taten treibt, die sie sich in ihren kühnsten Träumen nicht ausmalen kann. Angetrieben von diesem Mut warf ich mich gegen die Tür, bis sie nachgab. Da stand ich nun, vor mir Aphra und ihre Schlange.

Bei meinem Anblick schrie sie gellend auf. Vielleicht hätte auch ich geschrien, hätte mir nicht ein unsäglicher Gestank die Luft geraubt. Ohne einen Blick auf die Leiche wusste ich, dass das Kind schon lange tot war. In einer Ecke hatte Aphra den Körper von Faith wie eine Puppe an Handgelenken und Fesseln mit Schnüren an den Deckenbalken angebunden. Gnädigerweise hing der Kopf des Kindes nach einer Seite, sodass ein Vorhang aus Haaren sein zerstörtes Gesicht verhüllte. Aphra hatte versucht, das tote schwarze Pestfleisch mit einer Art Kalkpaste zu maskieren.

»Hab Erbarmen, Aphra, schneid sie herunter und lass sie in Frieden ruhen!«

»Erbarmen?«, kreischte sie. »Wer hat Erbarmen? Und wo, bitte schön, findet man Frieden?« Dann flog sie mit der Schlange in der Hand zischend auf mich zu. Normalerweise habe ich vor Schlangen keine Angst, aber als sich roter Feuerschein in diesen zwei glitzernden Augen brach und mich die gespaltene Zunge anzischelte, zitterte ich vor Angst. Ich konnte nichts mehr tun, weder für Faith noch für Aphra. Deshalb gab ich meinem feigen Impuls nach und floh von diesem Ort, so schnell mich meine Beine trugen.

Der Herr Pfarrer begab sich noch in jener Nacht zur Hütte, und am nächsten Morgen wieder in Begleitung von Elinor. Aber inzwischen hatte Aphra die Tür verbarrikadiert und das Fenster zugehängt. Sie unterbrach auch nicht mehr ihren rasenden Gesang, um sie zu beschimpfen, sondern tanzte einfach weiter, als wären sie nicht da. Der Herr Pfarrer stand draußen und sprach die üblichen Gebete für Faith’ Seele, während Aphras gespenstische Stimme immer lauter wurde und seine Worte mit einem Singsang in einer unverständlichen Heidensprache übertönte. Im Pfarrhaus wurde darüber diskutiert, ob eine Schar Männer die Tür aufbrechen und die Kindesleiche herausbringen solle, aber der Herr Pfarrer entschied sich dagegen. Angesichts von Aphras Irrsinn und dem bereits in Verwesung übergegangenen Leichnam erschien ihm das Risiko für die Männer zu groß.

»Schließlich könnten wir für das Kind nichts anderes tun, als es zu begraben«, sagte er. »Und dazu ist auch dann noch Zeit, wenn sich Aphras Raserei erschöpft hat.« Noch etwas beunruhigte ihn, ohne dass er darüber sprach. Nur Elinor gestand es mir vertraulich. Michael Mompellion traute den Männern, die er zur Hütte mitnehmen wollte, nicht zu, Aphras Benehmen lediglich als Ausbruch von Wahnsinn zu begreifen. Außerdem wollte er nicht jenen Ängsten und Gerüchten die Zügel schießen lassen, die Begegnungen mit einer Hexe und ihrem züngelnden Haustier an die Oberfläche bringen könnten. Tief im Innersten wusste ich, dass er weise handelte, und doch ging mir das Bild der gequälten Kinderleiche nicht aus dem Sinn. Viele Nächte raubte es mir meinen Schlaf – und tut es noch immer.