12 Chamäleon

 

Nachdem sie wieder zu sich gekommen war und alles mit angehört hatte, was Bink ihr erzählte, holte Fanchon als erstes den magischen Kürbis und wickelte ihn in ein großes Blatt eines Deckenbaums. »Der kann ganz nützlich sein«, meinte sie.

»Jetzt müssen wir uns überlegen, wie wir hier am besten herauskommen«, sagte Trent. »Ich glaube, daß wir uns südlich von der Schlucht befinden, also wird sie uns den Weg abschneiden, wenn wir in Richtung Norden gehen, es sei denn, wir gehen die Küste entlang. Das halte ich aber für unklug.«

Bink erinnerte sich an sein Erlebnis beim Überqueren der Spalte und sagte: »Nein, am Strand dürfen wir nicht bleiben.« Dort hatte damals die Zauberin Iris die Dinge kompliziert gemacht, doch es konnte auch ähnlich bedrohliche Gefahren geben.

»Als Alternative könnten wir ins Binnenland vorstoßen«, sagte Trent. »Ich kenne mich dort zwar nicht aus, aber ich meine, daß Humfrey damals ein Schloß dort in der Nähe bauen wollte.«

»Das hat er auch«, sagte Fanchon.

»Gut«, meinte Bink. »Sie können uns ja in große Vögel verwandeln, vielleicht in Rohks, dann können wir Sie dorthin tragen.«

Trent schüttelte den Kopf. »Das geht nicht.«

»Aber Sie haben uns schon einmal verwandelt, und wir haben Ihnen geholfen. Wir haben doch das Abkommen mit Ihnen gemacht. Wir lassen Sie schon nicht fallen.«

Trent lächelte. »Es ist keine Frage des Vertrauens, Bink. Ich vertraue Ihnen. Ich zweifle nicht an Ihrer Grundehrlichkeit, genausowenig wie an Fanchons. Aber wir sind hier in einer besonderen Lage…«

»Wenn man sich das mal vorstellt, wie der Böse Magier dem Guten Magier einen Besuch abstattet!« sagte Fanchon. »Was für eine Begegnung!«

»Nein, da wären Sie bestimmt enttäuscht«, erwiderte Trent. »Humfrey und ich sind immer gut miteinander ausgekommen. Wir lassen uns gegenseitig in Ruhe, was das Berufliche angeht. Ich würde mich freuen, ihn wiederzusehen. Aber er wäre dazu verpflichtet, meine Rückkehr nach Xanth dem König zu melden, und wenn er erst einmal ungefähr weiß, wo ich bin, kann er mit seiner Magie jederzeit meinen Aufenthaltsort bestimmen.«

»Ja, das leuchtet ein«, meinte sie. »Es hat ja keinen Wert, Ihrem Feind auch noch wichtige Hinweise in die Hände zu spielen. Aber wir könnten auch woanders hinfliegen.«

»Wir können nirgendwohin fliegen«, beharrte Trent. »Ich kann es mir nicht leisten, meine Anwesenheit in Xanth an die große Glocke zu hängen – und Sie übrigens auch nicht.«

»Das stimmt«, sagte Bink. »Wir sind Exilanten. Und die Strafe für einen Verstoß gegen das Verbannungsgesetz…«

»… ist der Tod«, beendete Fanchon seinen Satz. »Ich hätte nie gedacht… wir sitzen alle in der Klemme.«

»Wenn Sie sich vor zwei Tagen auch an solche Einzelheiten erinnert hätten, dann wären wir jetzt nicht hier«, bemerkte Trent trocken.

Fanchon sah sehr ernüchtert aus, als habe diese Feststellung für sie noch irgendeine ganz besondere Bedeutung. Seltsamerweise wirkte sie dadurch etwas weniger häßlich als sonst. Vielleicht gewöhnte er sich ja auch bloß an ihr Aussehen, dachte Bink.

»Was sollen wir also tun?« fragte er. »Der Strudel hat uns unter dem Schild hindurch hereingebracht, und wir waren uns einig, daß man unmöglich auf dem gleichen Weg zurück kann. Hier am Strand können wir nicht bleiben, und wir dürfen die Einwohner von Xanth nicht wissen lassen, daß wir wieder da sind, auch wenn wir nur zufällig hier eingedrungen sind.«

»Wir müssen unsere Identität verbergen«, entschied Fanchon. »Es gibt durchaus Orte in Xanth, wo wir unbekannt wären.«

»Das klingt aber nicht besonders verführerisch«, meinte Bink. »Ständig versteckt leben… und wenn jemand den Magier Humfrey einmal fragen sollte, wo wir sind…«

»Wer sollte das schon tun?« fragte Fanchon. »Einen Jahresdienst dafür bezahlen, um nach einem Exilanten zu fragen?«

»Das ist im Moment unsere einzige Sicherheitsgarantie«, sagte Trent, »daß Humfrey uns nicht suchen würde, ohne etwas dafür zu verlangen. Aber über solche Dinge können wir uns noch den Kopf zerbrechen, wenn wir die Wildnis hinter uns gelassen haben. Vielleicht eröffnen sich dann ja auch neue Wege. Wenn nötig, kann ich Sie in Gestalten verwandeln, die keiner kennt, um mich selbst zu tarnen. Aber das könnte sich auch als rein akademische Frage erweisen.«

Ja, weil sie es vielleicht nicht durch die Wildnis schaffen würden, dachte Bink.

Sie wanderten den Strand entlang, bis sie an einen etwas weniger gefährlich wirkenden dünnen Wald kamen. Beim Gehen hielten sie große Abstände ein, damit sie im Falle einer Gefahr nicht alle auf einmal erwischt wurden, und das erwies sich auch als klug. Zunächst trafen sie nur auf harmlose Magie, ganz so, als sei alle magische Kraft am Strand konzentriert gewesen. Es gab Zauber, die vorbeistreunende Tiere abhalten sollten, und Farbspiele, deren Zweck unklar war. Auf seinem Weg zum Schloß des Guten Magiers hatte Bink Schlimmeres durchmachen müssen. Vielleicht wurde die Wildnis ja auch nur überschätzt.

Fanchon hatte eine Stoffpflanze aufgespürt und mit viel Geschick Togen hergestellt. Die beiden Männer ließen es sich gutgelaunt gefallen, nachdem sie sich einmal an ihre Nacktheit gewöhnt hatten. Wäre Fanchon eine einigermaßen wohlproportionierte Frau gewesen, so hätte es vielleicht doch mehr Anlaß – und weniger Verlangen danach – gegeben, ihre Leiber zu verhüllen. Aber Bink erinnerte sich daran, wie sie in der Grube Schamgefühl vorgegeben hatte, um ihre Ziegel verstecken zu können. Wahrscheinlich hatte sie also auch diesmal gute Gründe für das, was sie tat.

Es gab mehrere Stellen, an denen Kältezauber herrschten, und eine mit einem Hitzezauber. Die Kleidung wäre ein guter Schutz dagegen gewesen, aber man konnte ihnen auch so leicht ausweichen. Die verschiedenen fleischfressenden Bäume waren ebenfalls leicht zu bestimmen, und inzwischen war es für sie zu einer Angewohnheit geworden, die verlockendsten Pfade zu meiden.

Doch ein Gebiet erwies sich als ziemlich schwierig. Es war trocken und sandig, und obwohl der Boden eigentlich sehr unfruchtbar aussah, wuchsen hier üppige, hüfthohe Pflanzen mit breiten Blättern. Alles sah sehr harmlos aus, also schritten sie mitten hindurch. Plötzlich spürten sie alle gleichzeitig ein unwiderstehliches natürliches Bedürfnis und mußten sich schleunigst verteilen, um ihr Geschäft sofort erledigen zu können. Das waren wirklich sehr praktisch eingestellte Pflanzen, dachte Bink. Ihr Zauber zwang vorbeikommende Tiere dazu, ihre Ausscheidungen auf dem Boden abzulagern, wodurch dieser wesentlich fruchtbarer wurde. Fruchtbarkeitszauber!

Etwas weiter begegneten sie einem Tier, das weder vor ihnen floh noch sich feindselig verhielt. Es war ein Vierbeiner, der ihnen bis an die Knie reichte und eine sehr lange Schnauze besaß. Trent zog sein Schwert, als das Tier auf sie zukam, doch Fanchon hielt ihn ab. »Das da kenne ich«, sagte sie, »das ist ein Zauberschnüffler.«

»Der schnüffelt magisch?« fragte Bink.

»Der schnüffelt Magie aus«, sagte sie.

»Wir haben eines dieser Tiere auf dem Hof meiner Eltern dazu benutzt, magische Kräuter und solche Sachen zu erschnüffeln. Je stärker die Magie, um so heftiger reagiert es. Aber er ist harmlos.«

»Wovon ernährt er sich?« fragte Trent, der die Hand immer noch am Schwertgriff hielt.

»Von Zauberbeeren. Andere Magie scheint ihn nicht weiter zu beeinflussen. Er ist einfach nur neugierig. Er unterscheidet nicht nach Art der Zauber, sondern nur nach ihrer Stärke.«

Sie blieben stehen und sahen zu. Fanchon stand vorne, so daß der Schnüffler sie als erstes anging. Er schnaubte und gab ein flötenähnliches Geräusch von sich. »Seht ihr, ich habe etwas Magie. Er mag mich«, sagte sie.

Was für Magie nur? fragte Bink sich. Sie hatte nie magisches Talent gezeigt und ihm auch niemals gesagt, was sie eigentlich konnte. Es gab noch sehr vieles, was er noch nicht über sie wußte.

Als seine Neugier befriedigt war, lief der Schnüffler zu Trent hinüber. Diesmal reagierte er viel heftiger, er tanzte um Trent herum und gab ein ganzes Konzert von Tönen von sich. »Klar«, sagte Trent mit einem (gewiß verständlichen) Anflug von Stolz, »er erkennt einen Magier schon, wenn er einen zu riechen bekommt.«

Dann kam er zu Bink – und tobte fast genauso heftig herum wie bei Trent. »Soweit also zur Zuverlässigkeit seiner Wahrnehmung«, sagte Bink und lachte verlegen.

Doch Trent lachte nicht. »Er glaubt, daß Sie ein fast ebenso starker Magier sind wie ich«, sagte er und befingerte unbewußt sein Schwert. Doch dann nahm er sich zusammen und entspannte sich wieder.

»Ich wünschte, es wäre so«, erwiderte Bink. »Aber ich bin wegen mangelnden magischen Talents verbannt worden.« Und doch hatte der Magier Humfrey ihm gesagt, daß er eine sehr kraftvolle magische Fähigkeit besitze, die nur nicht an die Oberfläche treten könne. Was konnte das nur für ein Talent sein, das sich so hartnäckig versteckte – oder wurde es von einem fremden Zauber verdeckt?

Sie zogen weiter. Unterwegs schnitzten sie sich Gehstöcke, mit denen sie den Boden nach unvermuteten Gruben und Fallen abstocherten, und wenn dies ihr Vorankommen auch bremste, so hatten sie doch auch keine Eile. Sie wollten lediglich versteckt bleiben und überleben.

Nahrungsprobleme hatten sie keine. Sie trauten den verschiedenen Obst- und Bonbonbäumen nicht, denn einige davon konnten magischer Art sein und eher ihren Besitzern dienen als den Essenden, auch wenn sie erntereifen Bäumen glichen. Doch Trent verwandelte einfach einen feindseligen Distelbaum in einen üppigen Vielfruchtbaum, so daß sie sich an Äpfeln, Birnen, Bananen, Brombeeren und Tomaten gütlich tun konnten. Das erinnerte Bink wieder daran, wie mächtig ein wahrer Magier wirklich war, denn Trents Talent schloß die Fähigkeit zum Nahrungszauber als reines Untertalent einfach mit ein. Wenn man sie richtig ausnutzte, dann hatte seine Magie einen enormen Wirkungsbereich.

Doch noch immer schritten sie in die Wildnis hinein und nicht aus ihr heraus. Die Illusionen wurden immer frecher, zählebiger und hindernisreicher. Ab und zu erbebte der Boden, und in nicht allzu großer Ferne hörten sie Geheul. Mit zuckenden Blättern neigten sich Bäume auf sie herab.

»Ich glaube, wir haben uns über die Kraft dieses Waldes falsche Vorstellungen gemacht«, meinte Fanchon. »Er wirkte vielleicht nur deswegen so harmlos, damit wir hineingehen sollten.«

Bink, der sich nervös umblickte, nickte. »Wir haben den anscheinend sichersten Weg gewählt. Wahrscheinlich hätten wir lieber die Strecke nehmen sollen, die von vornherein als am gefährlichsten aussah.«

»Um dann von einem Gewirrbaum aufgefressen zu werden«, sagte Fanchon.

»Versuchen wir doch, umzukehren«, schlug Bink vor. Als er ihre zweifelnden Mienen sah, fügte er hinzu: »Nur als Versuch.«

Sie versuchten es. Fast sofort wurde der Wald dunkler und verdichtete sich. Plötzlich erschienen Bäume und versperrten ihnen den Weg, den sie entlanggekommen waren. Waren das nur Illusionen, oder waren sie vorher unsichtbar gewesen? Bink erinnerte sich an den Einbahnpfad, den er vom Schloß des Guten Magiers entlanggegangen war, doch dieser hier wirkte viel unheilvoller. Es waren keine schönen Bäume, sie waren knorrige Riesen voller Dornen und zuckender Lianen. Noch während sie zusahen, verästelten sich die Zweige immer mehr, und weit entfernt hörten sie ein Donnergrollen.

»Kein Zweifel«, meinte Trent. »Wir haben den Wald vor lauter Bäumen nicht gesehen. Ich könnte zwar die verwandeln, die sich uns in den Weg stellen, aber wenn irgendwelche davon Dornen auf uns schießen würden, dann wären wir trotzdem in der Klemme.«

»Selbst wenn wir in diese Richtung gehen wollten«, sagte Fanchon und blickte gen Westen, »dann würden wir es nicht vor Nachteinbruch schaffen, zurückzukommen.«

Die Nacht – das war die schlimmste Zeit für feindselige Magie. »Aber die einzige Alternative besteht darin, den Weg entlangzugehen, den der Wald uns aufzwingt«, sagte Bink beunruhigt. »Das mag ja jetzt noch ganz unbeschwerlich sein, aber die beste Wahl ist es bestimmt nicht.«

»Vielleicht kennt die Wildnis uns noch nicht gut genug«, meinte Trent mit grimmigem Lächeln. »Solange mir jemand den Rücken deckt und Wache steht, während ich schlafe, fühle ich mich den meisten Herausforderungen dieser Art eigentlich gewachsen.«

»Vielleicht sollten wir uns einfach darauf verlassen, daß wir damit klarkommen«, sagte Bink. »Auf diese Weise erfahren wir wenigstens, worum es geht.« Zum erstenmal war er froh, den Bösen Magier dabeizuhaben.

»Ja, wenigstens das«, kommentierte Fanchon mit säuerlicher Miene.

Nachdem sie ihre Entscheidung gefällt hatten, kamen sie auch leichter voran. Die drohenden Gefahren des Waldes ließen zwar nicht nach, aber nun wirkten sie eher wie Warnungen aus dem Hintergrund. Als es zu dämmern begann, kamen sie an eine Lichtung, auf der eine alte, heruntergekommene Festung aus Stein stand.

»O nein!« rief Fanchon. »Nur kein Spukschloß!«

Hinter ihnen krachte der Donner, und ein eisiger Wind pfiff ihnen durch die Gewänder. Bink zitterte. »Ich nehme an, wir können die Nacht entweder dort drinnen verbringen oder hier draußen im Regen«, sagte er. »Könnten Sie es in eine harmlose Hütte verwandeln?«

»Mein Talent wirkt nur auf Lebewesen«, erwiderte Trent. »Das schließt Gebäude also aus – und Stürme auch.«

Hinter ihnen leuchteten glühende Augen im Wald auf. »Wenn diese Dinger uns angreifen sollten«, sagte Fanchon, »dann könnten Sie nur ein paar von ihnen verwandeln, bevor sie uns erreicht haben, weil Sie ja nicht auf große Entfernungen zaubern können.«

»Und nachts auch nicht«, ergänzte Trent. »Vergessen Sie nicht – ich muß meine Opfer sehen können. Alles in allem würde ich sagen, wir fügen uns wohl besser in die örtlichen Machtverhältnisse und begeben uns in die Burg, und zwar

vorsichtig. Und wenn wir drinnen sind, müssen wir abwechselnd schlafen. Schätze, es wird eine anstrengende Nacht werden.«

Bink erschauerte. Das hier war wirklich der letzte Ort, wo er die Nacht zu verbringen wünschte, aber er erkannte, daß sie nun schon zu weit gegangen waren, um noch einmal ohne Schaden umkehren zu können. Dieses ganze Gebiet steckte voller mächtiger Magie, die sich nicht direkt bekämpfen ließ, jedenfalls nicht im Augenblick.

Also gaben sie nach, vom Sturm angetrieben. Die Mauern waren sehr hoch, zum größten Teil aber mit Moosen und Efeu bedeckt. Die Zugbrücke war heruntergelassen, und ihre einstmals kräftigen Balken faulten vor sich hin. Und doch hatte das Gebäude eine altertümliche, zerzauste Großartigkeit an sich. »Diese Burg hat Stil«, bemerkte Trent.

Sie klopften gegen die Planken und entdeckten eine einigermaßen solide Stelle, an der sie die Brücke überqueren konnten. Der Graben war von Unkraut überwuchert, das Wasser bewegte sich nicht. »Eine Schande, eine gute Burg derart verkommen zu lassen, tut einem in der Seele weh, so etwas mitansehen zu müssen«, sagte Trent. »Sie ist offensichtlich verlassen, und das schon seit Jahrzehnten.«

»Oder Jahrhunderten«, fügte Bink hinzu.

»Warum sollte ein Wald uns in ein verlassenes Gebäude scheuchen?« fragte Fanchon. »Selbst wenn hier irgend etwas Schreckliches lauern sollte, was hätte der Wald von unserem Tod? Wir sind doch nur hindurchgegangen und wären viel schneller vorangekommen, wenn der Wald uns in Ruhe gelassen hätte. Wir wollen ihm doch gar nichts tun.«

»Einen Grund gibt es immer«, erwiderte Trent. »Es gibt keine ungezielte Magie.«

Als sie am vorderen Fallgatter angekommen waren, brach der Sturm vollends los. Das bewegte sie dazu, einzutreten, obwohl im Inneren fast völlige Finsternis herrschte.

»Vielleicht finden wir ja eine Fackel«, meinte Fanchon. »Tasten wir uns die Wand entlang. Meistens gibt es bei Burgen in der Nähe des Eingangs…«

Krach! Das scheinbar eingerostete Fallgitter krachte hinter ihnen nieder. Die Eisenstangen waren viel zu schwer, als daß sie sie wieder hätten emporstemmen können. »Das Maul ist zugeklappt«, bemerkte Trent, wirkte aber nicht sonderlich beunruhigt. Doch er hatte sein Schwert gezogen, wie Bink bemerkte.

Fanchon gab einen halberstickten Schrei von sich und packte Bink am Arm. Er blickte nach vorn und entdeckte ein Gespenst. Es war keine Frage: das Ding bestand aus einem buckeligen weißen Laken mit totenschwarzen Augenlöchern. Es stöhnte laut, ohne einen Mund dafür zu besitzen.

Trents Schwert zischte durch die Luft, als er vortrat. Die Klinge durchschnitt das Laken – ohne jede sichtbare Wirkung. Das Gespenst schwebte durch eine Wand davon.

»Diese Burg wird bespukt, kein Zweifel«, sagte Bink nüchtern.

»Wenn Sie das wirklich glauben würden, dann wären Sie nicht so ruhig«, erwiderte Trent. »Bei Gespenstern darf man nie außer acht lassen, daß sie sich nicht stofflich manifestieren können. Sie können auch nicht wie die Schatten in lebende Wesen eindringen. Folglich können sie gewöhnlichen Leuten auch nichts anhaben. Sie wirken nur durch die Furcht, die sie auslösen, folglich ist es auch lediglich nötig, sich nicht vor ihnen zu fürchten. Außerdem war dieser Geist hier mindestens ebenso erstaunt, uns zu sehen, wie wir es waren. Wahrscheinlich wollte er nur mal nachsehen, weshalb das Fallgitter heruntergedonnert ist. Schaden wollte er uns bestimmt nicht.«

Es war offensichtlich, daß Trent keine Angst hatte. Er hatte sein Schwert nicht aus Furcht benutzt, sondern um nachzuprüfen, ob es sich wirklich um ein echtes Gespenst handelte. Das war eine Art von Mut, wie Bink ihn niemals aufbrachte; er zitterte vor Furcht und Entsetzen.

Fanchon hatte sich besser in der Gewalt, nachdem sie sich erst einmal durch einen Schrei Erleichterung verschafft hatte. »Wenn wir diese Burg hier im Dunkeln erkunden, dann können wir noch in eine Menge richtiger Fallen laufen. Immerhin sind wir hier vor dem Regen sicher. Warum schlafen wir also nicht abwechselnd bis zum Morgen?«

»Sie haben einen bewundernswerten Sinn fürs Praktische, meine Liebe«, erwiderte Trent. »Sollen wir Halme ziehen, wer die erste Wache übernimmt?«

»Das mache ich schon«, sagte Bink. »Ich bin sowieso noch viel zu erschreckt, um jetzt schlafen zu können.«

»Ich auch«, sagte Fanchon, und Bink war von ganzem Herzen dankbar für dieses Geständnis. »Was Gespenster angeht, so finde ich sie leider noch nicht ausreichend langweilig, als daß sie mich innerlich nicht berühren würden.«

»Es ist eben zuwenig Böses in Ihnen«, meinte Trent leise lachend. »Also gut, dann schlafe ich als erster.« Er machte eine Bewegung, und plötzlich fühlte Bink etwas Kaltes, das in seine Hand gedrückt wurde. »Nehmen Sie mein Schwert, Bink, und schlagen Sie damit auf alles ein, was sich zeigen sollte. Wenn es keinen körperlichen Widerstand bietet, dann können Sie beruhigt sein, dann ist es ein echter Geist; und wenn es etwas Stoffliches sein sollte, dann wird Ihr Hieb es schon abwehren. Aber achten Sie darauf« – Bink konnte förmlich hören, wie er lächelte – »daß Sie nicht das falsche Opfer erwischen.«

Bink hielt verblüfft das Schwert fest. »Ich…«

»Machen Sie sich keine Sorgen, weil Sie mit der Waffe vielleicht nicht vertraut sind. Mit einem geraden, kühnen Stoß verschaffen Sie sich trotzdem jederzeit Respekt«, beruhigte ihn Trent. »Wenn Ihre Wache vorbei ist, dann reichen Sie die Klinge an die Dame weiter. Ich werde sie dann ablösen. Bis dahin bin ich wohl ganz gut ausgeruht.«

Bink hörte, wie er sich niederlegte. »Und vergessen Sie nicht«, sagte die Stimme des Magiers von unten, »mein Talent nutzt mir nichts im Dunkeln, weil ich meine Opfer nicht sehen kann. Wecken Sie mich also nicht, wenn es nicht unbedingt nötig sein sollte. Wir hängen von Ihrer Wachsamkeit und von Ihrem Urteilsvermögen ab.« Mehr sagte er nicht.

Fanchon berührte Binks freien Arm. »Ich werde mich hinter dich stellen«, sagte sie. »Ich möchte nicht, daß du mich aus Versehen durchbohrst.«

Bink war froh, sie so nahe bei sich zu haben. Er hielt das Schwert in seiner schwitzenden Hand, hielt mit der anderen seinen Stock fest und blickte im Dunkeln umher. Draußen wurde der Lärm des Regens immer lauter. Schließlich hörte er, wie Trent leise schnarchte.

»Bink?« fragte Fanchon endlich.

»Hm.«

»Was ist das wohl für ein Mann, der seinem Feind sein Schwert

überreicht und sich dann schlafen legt?«

Darüber hatte Bink auch schon nachgedacht. Eine zufriedenstellende Antwort wußte er jedoch nicht darauf. »Ein Mann mit eisernen Nerven«, sagte er nach einer Weile, obwohl ihm klar war, daß dies nur ein Teilaspekt der Sache sein konnte.

»Ein Mann, der so viel Vertrauen entgegenbringt, muß doch damit rechnen, daß man es ihm auch gewähren wird«, sagte sie nachdenklich.

»Na ja, wenn wir vertrauenswürdig sind, und er ist es nicht, dann weiß er eben, daß er uns trauen kann.«

»So funktioniert das nicht, Bink. Nur Leute, die nicht vertrauenswürdig sind, mißtrauen anderen, weil sie sich nämlich an sich selbst messen. Ich verstehe nicht, wie ein notorischer Lügner und Umstürzler wie dieser Böse Magier sich so verhalten kann.«

»Vielleicht ist er gar nicht der historische Trent, sondern jemand anders, ein Hochstapler vielleicht…«

»Ein Hochstapler wäre immerhin noch ein Lügner. Aber wir haben seine Macht miterlebt. Es gibt niemals zweimal dasselbe Talent. Er muß einfach Trent der Verwandler sein.«

»Aber irgend etwas stimmt da nicht.«

»Genau. Irgend etwas ist in Ordnung, und genau das ist es, was nicht in Ordnung ist. Du könntest ihn jetzt durchbohren, wo er am Schlafen ist. Selbst wenn du ihn mit dem ersten Hieb nicht töten solltest, könnte er dich im Dunkeln trotzdem nicht

verwandeln.«

»So etwas würde ich nie tun!« rief Bink entsetzt.

»Eben. Du hast Ehrgefühl. Ich auch. Und es fällt schwer, zu dem Schluß zu kommen, daß er keins haben sollte. Und doch wissen wir, daß er der Böse Magier ist.«

»Er muß vorhin einfach die Wahrheit gesagt haben«, entschied Bink. »Allein schafft er es nicht durch die Wildnis, und da er sich ausrechnet, daß er unserer Hilfe bedarf, und weiß, daß wir auch nicht ohne ihn überleben können, meint er es ernst mit dem Abkommen.«

»Aber was ist, wenn wir hier herausgekommen sind und das Abkommen endet?«

Bink antwortete nicht, und sie verfielen in brütendes Schweigen. Wenn sie diese Nacht in der schrecklichen Burg überlebten, dann würden sie wahrscheinlich auch den nächsten Tag überleben. Trent mochte zu dem Schluß kommen, daß das Abkommen dann abgelaufen sei. Bink und Fanchon könnten den Magier die Nacht über schützen und bewachen, während Trent sie am Morgen beide ermorden könnte, während sie noch schliefen. Wenn Trent die erste Wache übernommen hätte, dann wäre das nicht möglich gewesen, da er sonst die Leute hätte umbringen müssen, die ihn die Nacht über beschützen sollten. Also war es nur zu einleuchtend, daß er die letzte Wache übernahm.

Nein, das konnte er nicht glauben. Bink hatte schließlich selbst die erste Wache gewählt. Er mußte einfach auf das Abkommen vertrauen.

Wenn er sich darin täuschte, dann war er zwar verloren, aber er würde lieber auf diese Weise verlieren, als durch Ehrlosigkeit zu gewinnen. Diese Entscheidung gab ihm seine innere Ruhe wieder.

Bink erblickte keine weiteren Gespenster. Schließlich gab er das Schwert an Fanchon weiter und konnte zu seiner eigenenÜberraschung sogar einschlafen.

Als er aufwachte, dämmerte es gerade. Fanchon schlief an seiner Seite und sah weniger häßlich aus, als er es in Erinnerung gehabt hatte. Eigentlich sah sie überhaupt nicht mehr abstoßend aus. Ja, er gewöhnte sich wohl recht schnell daran. Würde er jemals den Punkt erreichen, an dem Trent ihm als ehrenvoll und Fanchon als schön erscheinen würden?

»Gut«, sagte Trent. Er trug wieder sein Schwert. »Jetzt, da Sie auf sie aufpassen können, sehe ich mich hier einmal ein bißchen um.« Er schritt die matt erleuchtete Halle entlang.

Sie hatten die Nacht also überlebt. Im nachhinein wußte Bink nicht mehr so recht, ob er sich mehr vor dem Gespenst oder vor dem Magier gefürchtet hatte. Noch immer wußte er von beiden nicht genau, was sie eigentlich zu ihrem Tun bewegte.

Und Fanchon – als es heller wurde, war er überzeugt, daß sich ihr Aussehen wesentlich gebessert hatte. Man konnte zwar beim besten Willen nicht behaupten, daß sie wunderschön war, aber auf jeden Fall war sie nicht mehr das häßliche Mädchen, das er vor vier Tagen kennengelernt hatte. Sie erinnerte ihn sogar an irgend jemanden…

»Dee!« rief er.

Sie wachte auf. »Ja?«

Ihre Reaktion erstaunte ihn genausosehr wie die schwache

Ähnlichkeit. Er hatte sie Dee genannt, aber Dee war doch

irgendwo anders in Xanth. Warum hatte sie dann auf diesen Namen reagiert, als sei er ihr eigener? »Ich… ich dachte gerade… daß du…«

Sie setzte sich auf. »Natürlich hast du recht, Bink. Ich wußte, daß ich es nicht viel länger würde verheimlichen können.«

»Du meinst, du bist tatsächlich…«

»Ich bin Chamäleon«, sagte sie.

Jetzt war er vollends verwirrt. »Das war doch nur ein Kennwort, das wir benutzt haben, um uns gegenseitig zu warnen…«

Und ein Omen…

»Ich bin Fanchon, die Häßliche«, sagte sie. »Und Dee, die Durchschnittliche. Und Wynne, die Schöne. Ich verändere mich jeden Tag ein bißchen. Der Zyklus dauert einen Mondmonat lang, genau wie der weibliche.«

Jetzt fiel ihm wieder ein, daß Dee ihn ja auch an jemanden erinnert hatte. »Aber Wynne war dumm! Du…«

»Meine Intelligenz verändert sich im umgekehrten Verhältnis dazu«, erklärte sie. »Das ist ein weiterer Aspekt meines Fluchs. Ich habe ein Spektrum von schöner Idiotie bis zu häßlicher Intelligenz. Ich war auf der Suche nach einem Zauber, der mich normal macht.«

»Ein Chamäleon-Zauber«, sagte er nachdenklich. Was für eine seltsame Verzauberung! Und doch mußte es wahr sein, denn erhatte ja selbst die Ähnlichkeit bei Dee festgestellt, als er ihr, unweit der Stelle, wo er Wynne verloren hatte, begegnet war, und nun hatte er Tag für Tag mit angesehen, wie Fanchon sich verändert hatte. Chamäleon – sie besaß kein magisches Talent, sie war ein magisches Wesen, genau wie die Zentauren oder Drachen. »Aber warum bist du mir ins Exil gefolgt?«

»Außerhalb von Xanth funktioniert die Magie nicht. Humfrey hat mir gesagt, daß ich mich nach und nach auf einen Normalzustand einpendeln würde, wenn ich nach Mundania ginge.

Dort würde ich auf alle Zeiten Dee sein, völlig durchschnittlich also. Das erschien mir als die beste Lösung.«

»Aber du hast doch gesagt, daß du mir gefolgt bist.«

»Das bin ich auch. Du warst freundlich zu Wynne. Mein Verstand mag sich zwar wandeln, aber mein Gedächtnis nicht. Du hast sie unter Lebensgefahr vor dem Spaltendrachen gerettet, und du hast es nicht ausgenutzt, als sie… du weißt schon.« Bink erinnerte sich daran, wie gern sich das schöne Mädchen ausgezogen hätte. Sie war zu dumm gewesen, um sich über die Konsequenzen im klaren zu sein, aber Dee und Fanchon hätten das später sicherlich erfaßt. »Und jetzt weiß ich auch, daß du versucht hast, Dee zu helfen. Sie… ich hätte dich damals nicht abblitzen lassen sollen, aber damals waren wir ja auch nicht so schlau wie jetzt. Und wir kannten dich ja auch noch nicht so gut. Du…« Sie brach ihren Satz ab. »Spielt ja keine Rolle.«

Und ob es eine Rolle spielte! Sie war nicht nur eines, sondern gleich drei der Mädchen, denen er begegnet war, und eines davon war betörend schön gewesen. Allerdings auch dumm. Wie sollte er denn nun darauf reagieren, auf dieses… dieses Chamäleon?

Wieder einmal das Chamäleon, die magische Echse, die ihre Farbe und Gestalt willkürlich veränderte und andere Wesen nachäffte. Wenn er doch nur dieses Omen vergessen könnte! Er war überzeugt davon, daß dieses Chamäleon ihm keinen Schaden zufügen wollte, aber auf der anderen Seite konnte sie genausogut sein Tod sein. Ihre Magie geschah unwillkürlich, aber sie beherrschte ihr Leben. Gewiß, sie hatte ein Problem – aber er hatte nun auch eines.

Sie hatte also erfahren, daß er wegen Mangels an magischem Talent ins Exil geschickt werden sollte, und hatte ihre Entscheidung gefällt. Dee ohne Magie. Bink ohne Magie – zwei gewöhnliche Menschen mit gemeinsamen Erinnerungen an das Land der Magie, die vielleicht das einzige gewesen wären, an das sie sich im gefürchteten Mundania hätten klammern können. Zweifellos hatte sie sich das in ihrer klugen Phase ausgedacht. Was für ein Paar hätten diese beiden entzauberten Seelen abgeben können! Also war sie zur Tat geschritten, hatte aber nichts von dem Hinterhalt des Bösen Magiers wissen können.

Es war eine gute Idee gewesen. Bink mochte Dee. Sie war nicht so häßlich, als daß sie ihn abgestoßen hätte, und nicht so blendend schön, um ihn nach seinen Erfahrungen mit Sabrina und der Magierin Iris mißtrauisch zu machen (was war nur mit schönen Frauen los, daß sie nie beständig sein konnten?), aber auch nicht so dumm, um die ganze Angelegenheit sinnlos werden zu lassen. Es wäre einfach ein vernünftiger Kompromiß gewesen, ein durchschnittliches Mädchen, das er hätte lieben können, besonders in Mundania.

Aber nun waren sie beide wieder in Xanth, und ihr Fluch trat erneut in Kraft. Sie war nicht die schlichte Dee, sondern die komplizierte Chamäleon, die von Extrem zu Extrem pendelte, auch wenn sie sich nur nach Durchschnittlichkeit sehnte.

»Ich bin noch nicht wieder so dumm, um nicht zu merken, was jetzt in deinem Kopf vorgeht«, sagte sie. »In Mundania würde es mir besser gehen.«

Das konnte Bink nicht leugnen. Jetzt wünschte er sich fast, daß es doch so gekommen wäre. Sich mit Dee niederzulassen, eine Familie zu gründen, das hätte doch gut seine eigene Form der Magie werden können.

Plötzlich hörten sie ein Krachen und zuckten zusammen. Es war irgendwo von oben gekommen.

»Trent steckt in Schwierigkeiten!« sagte Bink und packte seinen Stock, um in die Halle hinauszulaufen. Er merkte mit halbem Bewußtsein, daß diese Reaktion ein Zeichen dafür war, daß sich seine Einstellung zu dem Magier verändert hatte. Die vergangene Nacht, das Schwert, der schlafende Mann – wenn man das Böse nur nach seinen Taten beurteilen durfte, dann konnte Trent nicht besonders böse sein. Vertrauen erzwang Gegenvertrauen. Vielleicht hatte der Magier ja auch nur versucht, Binks Einstellung zu verändern. Wie dem auch sein mochte, geändert hatte er sie jedenfalls.

Chamäleon folgte ihm. Es war inzwischen hell geworden, und sie brauchten sich wegen irgendwelcher Falltüren keine Sorgen mehr zu machen, obwohl es natürlich immer noch magische Fallen geben konnte. Am Ende eines palastähnlichen Raumes erblickten sie eine weitgeschwungene große Steintreppe und liefen sie empor.

Plötzlich erschien ein Gespenst vor ihnen. »Uuuuuh!« stöhnte es und starrte sie mit leeren Augensockeln an, die so aussahen wie die Löcher in einem dunklen Sarg.

»Geh mir aus dem Weg!« fauchte Bink und schlug mit seinem Stock auf die Erscheinung ein. Verblüfft verschwand dasGespenst. Bink rannte durch seine hauchdünnen Überreste und spürte einen Augenblick seine eisige Gegenwart. Trent hatte recht: das Nichtstoffliche brauchte man nicht zu fürchten.

Die Stufen waren alle fest und solide. Anscheinend gab es außer harmlosen Spukgeistern keine Illusionen in dieser alten Burg. Das war immerhin etwas.

Doch oben herrschte dumpfes Schweigen. Sie schritten durch erstaunlich luxuriöse, guterhaltene Räume und Kammern und suchten ihren Gefährten. Normalerweise hätte Bink die Ausstattung der Räume und Hallen mit ihren zahlreichen Wandbehängen bewundert und sich über das heile Dach gefreut, das ihnen Schutz vor Wind und Wetter geboten hatte, doch im Augenblick hatte er nur eine Sorge: Was war Trent zugestoßen? Wenn in diesem Schloß ein Ungeheuer lauern und seine Opfer mit magischen Mitteln anlocken sollte…

Da entdeckten sie eine Bibliothek, deren Regale mit dicken alten Büchern und Pergamentrollen gefüllt waren. An einem polierten Holztisch mitten im Raum saß Trent und studierte ein geöffnetes Buch.

»Jetzt hat ihn wieder ein Gucklochzauber erwischt!« rief Bink.

Doch Trent hob den Kopf und sagte: »Nein, nur der Wissensdurst, Bink. Das hier ist faszinierend.«

Sie blieben ein wenig verlegen stehen. »Aber das Krachen…« begann Bink.

Trent lächelte. »Das war meine Schuld. Der alte Stuhl dort ist unter meinem Gewicht zusammengebrochen.« Er zeigte auf einen Haufen Holzstücke. »Viele dieser Möbel sind ziemlich wacklig. Ich war so in diese Bibliothek vertieft, daß ich einfach nicht mehr daran gedacht habe.« Er rieb sich seinen Rücken. »Und bezahlen mußte ich auch dafür.«

»Was ist denn an diesen Büchern so faszinierend?« fragte Chamäleon.

»Dieses hier ist eine Chronik der Burg«, erklärte Trent. »Offenbar ist das hier nicht irgendeine Burg. Es ist Schloß Roogna.«

»Roogna!« rief Bink. »Der Magierkönig der vierten Welle?«

»Ebendieser. Es sieht so aus, als habe er von hier aus regiert. Als er starb und die fünfte Welle Xanth eroberte, das war vor achthundert Jahren, da wurde dieses Schloß verlassen, und man hat es schon bald vergessen. Aber es war ein bemerkenswertes Gebäude. Der König hat seine Umgebung stark geprägt. Das

Schloß besitzt eine völlig eigene Persönlichkeit.«

»Ich erinnere mich«, sagte Bink. »Roognas Talent…«

»… war die Umwandlung magischer Kräfte nach seinem eigenen Willen«, sagte Trent.

»Eine recht subtile, aber wirkungsvolle Fähigkeit. Er war der Bezähmer aller Kräfte in seiner Umgebung. Er hat die magischen Bäume hier draußen gepflanzt, und er hat dieses Schloß erbaut. Während seiner Regentschaft war Xanth in völliger Harmonie mit seinen Bewohnern. Es war eine Art Goldenes Zeitalter.«

»Ja«, meinte Bink. »Ich hätte nie geglaubt, daß ich jemals diesen berühmten historischen Ort erblicken würde.«

»Es könnte gut sein, daß Sie mehr davon zu sehen bekommen, als Sie möchten«, erwiderte Trent. »Erinnern Sie sich daran, wie wir hierhergelockt wurden?«

»Es ist mir, als wäre es erst gestern gewesen«, sagte Bink und verzog dabei das Gesicht zu einer Grimasse.

»Warum sind wir hier hineingetrieben worden?« fragte Chamäleon.

Trent blickte sie lange an. »Ich habe den Eindruck, daß Ihnen dieser Ort ganz gut bekommt, Fanchon.«

»Lassen wir das mal«, antwortete sie. »Ich werde noch viel schöner werden, bevor wir fertig sind. Sei’s drum.«

»Sie ist Chamäleon«, sagte Bink. »Sie verwandelt sich von häßlich zu schön und wieder zurück, und ihre Intelligenz nimmt entsprechend zu und ab. Sie hat Xanth verlassen, um diesem Fluch zu entgehen.«

»Das würde ich nicht unbedingt als Fluch ansehen«, sagte der Magier. »Jedem das seine – zu seiner Zeit.«

»Sie sind ja auch keine Frau«, entgegnete sie bissig. »Ich habe nach dem Schloß gefragt.«

Trent nickte. »Nun gut, dieses Schloß braucht einen neuen Bewohner. Einen Magier. Es ist ziemlich wählerisch. Das ist auch der Grund, weshalb es schon seit so vielen Jahrhunderten brachliegt. Es will die Zeiten seines Ruhms auferstehen lassen. Folglich muß es einen neuen König von Xanth beherbergen.«

»Und Sie sind ein Magier!« rief Bink. »Deshalb hat alles Sie hierhergedrängt.«

»So sieht es aus. Dahinter steckt keine böse Absicht, nur ein unbändiges Bedürfnis. Ein Bedürfnis des Schlosses Roogna und ein Bedürfnis Xanths, nämlich danach, dieses Land wieder zu dem zu machen, was es sein könnte, zu einem wirklich wohlgeordneten und glorreichen Königreich.«

»Nur, daß Sie nicht der König sind«, warf Chamäleon ein.

»Noch nicht.« Er sagte es voller Entschiedenheit und Selbstbewußtsein.

Bink und Chamäleon blickten einander an, als sie begriffen, was geschehen war. Der Böse Magier war also wieder hervorgetreten, sofern er jemals überhaupt verschwunden gewesen sein sollte. Sie hatten über seine menschlichen Eigenschaften nachgedacht, über seinen vermeintlichen Seelenadel, und waren getäuscht worden. Er hatte vorgehabt, Xanth zu erobern, und nun…

»Niemals!« rief sie zornig. »Das Volk würde nie einen Verbrecher wie Sie dulden. Es hat nicht vergessen…«

»Also wissen Sie doch etwas über meinen früheren Ruf«, sagte Trent milde. »Ich meinte, Sie hätten gesagt, daß Sie noch nie von mir gehört hätten.« Er zuckte mit den Schultern. »Auf jeden Fall könnte es gut sein, daß die braven Bürger von Xanth vielleicht gar keine andere Wahl haben werden. Außerdem wäre es wohl nicht das erstemal, daß ein Verbrecher auf einem Thron säße«, fuhr er in ruhigem Ton fort. »Wenn sich die Macht dieses Schlosses, die wirklich erblich ist, mit meiner verbindet, dann werde ich vielleicht gar keine Armee brauchen.«

»Wir werden Sie daran hindern«, sagte Chamäleon grimmig.

Trent blickte sie abschätzend an. »Kündigen Sie hiermit das Abkommen?«

Nun zögerte sie. Das Ende des Abkommens würde sie beide Trents Macht ausliefern, sofern es stimmte, was er über dieses Schloß gesagt hatte. »Nein«, antwortete sie schließlich. »Aber wenn es einmal endet…«

Trent lächelte ohne jede Spur von Bösartigkeit. »Ja, man wird wohl zu einer Einigung kommen müssen. Ich hatte geglaubt, daß Sie mich meinen Weg ziehen lassen würden, wenn ich mit Ihnen das gleiche täte. Aber als ich gesagt habe, daß das Volk vielleicht keine andere Wahl haben würde, da habe ich das anders gemeint, als Sie es wohl verstanden haben. Es ist möglich, daß dieses Schloß uns gar nicht erlaubt, etwas anderes zu tun als das, was es von uns will. Seit Jahrhunderten hat es gegen den unvermeidlichen Verfall

angekämpft und durchgehalten, um auf einen Magier zu warten, der ausreichende Kraft vorzuweisen hat. Vielleicht war der Zauberschnüffler, dem wir im Wald begegnet sind, ja einer seiner Abgesandten. Und nun hat es nicht nur einen, sondern gleich zwei Magier ausfindig gemacht. Die wird es nicht so ohne weiteres davonziehen lassen. Von hier aus stehen uns die Türen zum Ruhm offen – oder zur Vernichtung, je nachdem, wie wir uns entscheiden.«

»Zwei Magier?« fragte sie.

»Vergessen Sie nicht, daß Bink fast genausoviel Magie besitzt wie ich. Das war jedenfalls die Meinung des Schnüfflers, und ich bin mir nicht so sicher, daß er sich geirrt haben soll. Das stuft ihn also bequem in die Magierklasse ein.«

»Aber ich habe doch gar kein Talent!« protestierte Bink.

»Falsch«, sagte Trent. »Ein nicht identifiziertes Talent zu besitzen ist doch wohl kaum dasselbe, wie überhaupt kein Talent zu haben. Doch selbst wenn Sie keinerlei Talent besitzen sollten, auf jeden Fall ist viel Magie an Ihnen. Es könnte sein, daß Sie magisch sind, genau wie Fanchon.«

»Chamäleon«, sagte sie. »Das ist mein richtiger Name. Die anderen sind lediglich Phasen.«

»Verzeihung«, sagte Trent und verneigte sich leicht im Sitzen vor ihr. »Chamäleon.«

»Dann meinen Sie, ich würde mich irgendwie verwandeln?« fragte Bink halb hoffnungsfroh, halb entsetzt.

»Vielleicht, Sie könnten sich vielleicht in eine höhere Form verwandeln, so wie ein Bauer, der zu einer Dame wird.« Er hielt inne. »Entschuldigung, das ist wieder so ein mundanischer Ausdruck. Ich meine nicht, daß man in Xanth das Schachspiel kennt. Ich war eben zu lange im Exil.«

»Na ja, jedenfalls werde ich Ihnen nicht dabei helfen, die Krone an sich zu reißen«, sagte Bink mit Festigkeit in der Stimme.

»Natürlich nicht. Wir verfolgen verschiedene Ziele. Vielleicht sind wir ja sogar Rivalen.«

»Ich versuche nicht, die Macht über Xanth an mich zu reißen!«

»Nicht bewußt. Aber um vielleicht einen Bösen Magier daran zu hindern, würden Sie es sich da nicht doch überlegen…?«

»Das ist ja lächerlich!« sagte Bink verärgert. Die Vorstellung war hanebüchen, aber doch betörend. Wenn der einzige Weg, Trent daran zu hindern – nein!

»Möglicherweise ist es nun wirklich an der Zeit, uns zu trennen«, sagte Trent. »Ich habe Ihre Gesellschaft sehr genossen, aber es sieht so aus, als habe sich die Situation verändert. Vielleicht sollten Sie jetzt einmal versuchen, dieses Schloß zu verlassen. Ich werde Sie nicht daran hindern. Sollte es uns gelingen, uns zu trennen, so können wir das Abkommen ja als beendet ansehen. Ist das ein fairer Vorschlag?«

»Wie nett!« meinte Chamäleon. »Sie dürfen sich über Ihren Büchern ausruhen, während wir vom Dschungel zerfetzt werden.«

»Ich glaube nicht, daß Ihnen hier irgend etwas wirklich etwas tun wird«, sagte Trent. »Das Ziel von Schloß Roogna ist das harmonische Zusammenleben mit dem Menschen.« Wieder lächelte er. »Harmonie, nicht Schaden. Aber ich bezweifle dennoch, daß man Sie wird ziehen lassen.«

Jetzt reichte es Bink. »Ich werd’s riskieren. Gehen wir.«

»Du willst, daß ich mitkomme?« fragte Chamäleon zögernd.

»Wenn du es nicht vorziehst, bei ihm zu bleiben. In ein paar Wochen gibst du bestimmt eine sehr hübsche Königin ab.«

Trent lachte. Chamäleon ging bereitwillig hinter Bink her, und zusammen verließen sie den Magier, der sich wieder über sein Buch gebeugt hatte.

Wieder stellte sich ein Geist in ihren Weg. Dieser wirkte größer und fester als die vorigen.

»Waaarrrnunggg«, stöhnte er.

Bink blieb stehen. »Du kannst sprechen? Wie lautet denn deine Warnung?«

»Uuunglück voorauuus. Bleiiiibennn.«

»Ach so. Na ja, das haben wir uns auch schon gedacht«, sagte

Bink. »Wir wollen das Risiko eingehen, weil wir Xanth treu sind.«

»Xaaanth!« wiederholte der Geist ziemlich gefühlvoll.

»Ja, Xanth. Deshalb müssen wir fort.«

Der Geist schien sprachlos zu sein und verschwand.

»Sieht fast so aus, als wären sie auf unserer Seite«, bemerkte

Chamäleon. »Aber vielleicht versuchen sie ja auch nur, uns dazu zu bewegen, hierzubleiben.«

»Auf Gespenster dürfen wir uns nicht verlassen«, stimmte Bink ihr zu.

Durch das Haupttor konnten sie nicht hinaus, weil das Fallgitter noch immer heruntergelassen war und sie nicht wußten, wie man seinen Mechanismus betätigen mußte. Also schritten sie die Räume im Erdgeschoß ab, um einen anderen Ausgang zu finden.

Bink öffnete eine vielversprechend aussehende Tür – und warf sie sofort wieder zu, als er eine Horde ledriger, geflügelter Wesen mit langen Zähnen erblickte, die sofort auf ihn zuflogen. Sie sahen aus wie Vampirfledermäuse. Die nächste Tür öffnete er sehr vorsichtig – da schlängelte sich ein Tau auf sie zu, das nicht nur oberflächlich dem Fangarm eines Lianenbaumes glich.

»Vielleicht im Keller«, schlug Chamäleon vor und spähte die Treppe hinunter.

Sie versuchten es mit der Treppe, doch als sie unten ankamen, erblickten sie riesige, drohende Ratten, die sich ihnen entgegenstellten, anstatt zu fliehen. Die Biester sahen viel zu hungrig und zuversichtlich aus; sehr wahrscheinlich besaßen sie eine Magie, mit der sie jedes Opfer einzufangen wußten, das sich in ihr Revier wagte.

Bink stocherte versuchsweise mit seinem Stock nach der nächsten Ratte und rief: »Husch!« Doch die sprang auf den Stock und kletterte auf Binks Hand zu. Er schüttelte den Stock, aber das Wesen klammerte sich fest. Er stieß den Stock hart auf dem steinernen Fußboden auf, doch noch immer hielt sich die Ratte fest und kletterte höher. Das war wohl ihr magisches Talent – die Fähigkeit, sich festzukrallen.

»Bink, paß auf! Da oben!« rief Chamäleon.

Über ihnen hörten sie ein hektisches Scharren. Auf dem Deckenbalken drängten sich nun noch mehr Ratten und duckten sich zum Sprung.

Bink warf den Stock fort und lief eilig die Treppe wieder hoch, wobei er sich bei Chamäleon aufstützte, bis er sich umdrehen konnte. Die Ratten folgten ihnen nicht.

»Dieses Schloß ist wirklich gut organisiert«, sagte Bink schließlich, als sie wieder ins Erdgeschoß hinaustraten. »Ich glaube nicht, daß es uns in Frieden wird ziehen lassen. Aber wir müssen es versuchen. Vielleicht durch ein Fenster.«

Doch im Erdgeschoß gab es keine Fenster. Man hatte die Außenmauer so gebaut, daß sie belagerungssicher war. Und von einer Zinne zu springen war zwecklos, dabei würden sie sich mit Sicherheit irgend etwas brechen. Also gingen sie weiter und kamen in den Küchentrakt. Hier gab es einen Hinterausgang, der wohl gewöhnlich von Lieferanten und Dienstboten benutzt worden war.

Sie schlüpften hinaus und standen vor einer kleinen Brücke die über den Graben führte: das war ein geradezu idealer Fluchtweg.

Doch schon unterwegs bewegte sich etwas auf der Brücke. Aus den verfaulten Bohlen krochen Schlangen hervor. Es waren keine gewöhnlichen, gesunden Reptilien, sondern heruntergekommene, blasse Wesen, deren Knochen aus schlierigen Fleischwunden herausragten.

»Das sind ja Zombieschlangen!« rief Chamäleon entsetzt. »Von den Toten auferstanden!«

»Das ergibt Sinn«, sagte Bink grimmig. »Dieses ganze Schloß ist schließlich von den Toten auferstanden. Ratten können überall überleben, aber die anderen Wesen sind mit dem Schloß gestorben. Vielleicht kommen sie ja auch heute noch hierher, um zu sterben. Aber Zombies sind nicht annähernd so stark wie lebende Wesen. Wahrscheinlich können wir sie mit unseren Stöcken abwehren.« Aber er hatte seinen eigenen Stock ja im Keller verloren.

Nun nahm er den Verwesungsgestank wahr, der die Ausdünstungen der Harpyie noch übertrumpfte, und sein Magen drohte, sich umzudrehen. Bisher war er noch nie mit fortgeschrittener Verwesung konfrontiert gewesen: Entweder lebten die Wesen, denen er begegnet war, noch, oder ihre Knochen waren säuberlich abgenagt worden. Die Zwischenstufen, das Verfaulen und das Wühlen der Maden, waren Bestandteile des Kreislaufs von Leben und Tod, mit denen er sich lieber nicht beschäftigt hatte. Bisher.

»Mit dieser Brücke will ich es lieber nicht probieren«, meinte Chamäleon. »Wir würden doch nur durchbrechen. Und im Wasser lauern die Zombiekrokodile.«

Tatsächlich. Dort peitschten große Reptilien mit ledriger Haut über den Knochen die schleimige Oberfläche und starrten sie mit wurmzerfressenen Augen an.

»Vielleicht mit einem Boot«, schlug Bink vor. »Oder einem Floß…«

»Nein, nein! Selbst wenn es nicht morsch und verfault und von Zombiewürmern zerfressen sein sollte – na ja, schau doch mal dort, auf der anderen Seite!«

Am anderen Ufer erblickte er das Allerschlimmste: menschliche Zombies, die mit ruckenden Bewegungen den Graben entlangschritten. Einige von ihnen waren mumifiziert, andere waren kaum mehr als wandelnde Skelette.

Bink starrte diese schaurigen Wesen lange Zeit fasziniert an. Beim Gehen fielen Tuchreste und verfaulte Fleischstücke von ihnen ab, von manchen rieselte auch Graberde. Es war eine Parade der Fäulnis.

Er stellte sich vor, wie er gegen diese bunt zusammengewürfelte Armee ankämpfte, ihr verfaultes, von Maden zersetztes Fleisch an seinen Händen fühlte, mit diesen gruseligen Erscheinungen rang, deren Gestank die ganze Luft verpestete. Was mochten sie wohl für widerwärtige Krankheiten mit sich herumtragen, was für Geschwüre würden sie wohl übertragen, wenn sie ihn umklammerten? Wie konnte man diese verwesenden Toten wohl abwehren?

Die verzauberten Wesen kamen über die verfallene Brücke auf sie zu. Für die Zombies war alles wahrscheinlich noch schlimmer als für sie, denn freiwillig waren sie bestimmt nicht auferstanden. Sie durften sich nicht im angenehmen Schutz des Schlosses zur Ruhe legen. Zu solchem Dienst gepreßt zu sein, anstatt im herrlichen Zustand des Vergessens zu verbleiben…

»Ich… ich glaube, ich bin noch nicht bereit, fortzugehen«, sagte Bink.

»Nein«, stimmte Chamäleon ihm zu. Sie wirkte etwas grünlich im Gesicht. »Jedenfalls nicht hier entlang.«

Da blieben die Zombies stehen und ließen ihnen Zeit, ins Schloß Roogna zurückzukehren.