3 Die Schlucht

 

Bink stand entsetzt an der Kante. Plötzlich hatte ein weiterer Graben den Pfad unterbrochen – nein, kein Graben, sondern ein mächtiger Abgrund, eine Schlucht von einer halben Meile Breite und einer anscheinend bodenlosen Tiefe. Cherie hatte davon wohl nichts gewußt, sonst hätte sie ihn sicherlich gewarnt. Also mußte sie erst vor kurzem entstanden sein – vielleicht sogar erst im letzten Monat.

Nur ein Erdbeben oder Erdbebenmagie konnte eine solche Schlucht so schnell entstehen lassen. Da es seines Wissens keine Erdbeben gegeben hatte, mußte es Magie sein. Und das wiederum setzte einen Magier voraus – einen, der gewaltige Macht hatte.

Wer konnte das sein? In seinen besten Tagen hätte der König eine solche Schlucht schaffen können, indem er einen gelenkten Sturm, einen kanalisierten Hurrikan, beschwor – aber der hatte keinen Grund zu so etwas, und außerdem hatten seine Kräfte schon viel zu sehr nachgelassen. Der Böse Magier Trent war ein Verwandler gewesen, kein Erdbeweger. Die Magie des Guten Magiers Humfrey war in hundert verschiedene Zauber aufgeteilt; einige von diesen mochten es ihm vielleicht ermöglichen, einen solch riesigen Graben zu schaffen, aber es war kaum wahrscheinlich, daß sich Humfrey mit so etwas abgeben würde. Humfrey tat nie etwas, wenn damit nicht eine üppige Belohnung verknüpft war. Gab es in Xanth noch einen großen Magier?

Ach ja, er hatte doch einmal Gerüchte über einen Meister der Illusion gehört. Es war viel leichter, eine scheinbare Schlucht zu erzeugen als eine echte. Das könnte so etwas wie eine verstärkte Form von Zinks Fähigkeit sein, falsche Löcher im Boden zu schaffen. Zink war kein Magier, aber wenn ein echter Magier sein Talent hätte, dann könnte er wohl so etwas wie das hier vollbringen. Wenn Bink vielleicht einfach über die Schlucht hinwegschritt, dann würden seine Beine schon den Pfad finden…

Er blickte hinab. Er sah eine kleine Wolke, die geschmeidig durch die Luft trieb, etwa fünfhundert Meter unter ihm. Ein kühler, feuchter Wind blies empor, um ihn zurückzudrängen. Er erzitterte; das war aber ungewöhnlich echt für eine Illusion!

Er rief: »Hallooo!«

Fünf Sekunden später hörte er das Echo: »Allooo!«

Er hob einen kleinen Stein auf und warf ihn in die scheinbare Schlucht. Der Stein verschwand in der Tiefe, und von einem Aufprall war nichts zu hören.

Schließlich kniete er nieder und stach mit dem Finger in die Luft unterhalb des Felsrands. Er traf auf keinen Widerstand. Er berührte den Rand und spürte, daß er fest war und senkrecht nach unten abfiel.

Ohne es zu wollen, war er nun davon überzeugt: Die Schlucht war echt.

Er konnte nichts tun, als um sie herumzugehen. Das bedeutete, daß er nun nicht nur fünf Meilen von seinem Ziel entfernt war, sondern fünfzig – oder vielleicht sogar hundert, je nachdem, wie groß diese erstaunliche Felsspalte sein mochte.

Sollte er umkehren? Man mußte die Dorfbewohner doch davon benachrichtigen. Andererseits konnte die Schlucht wieder verschwunden sein, sobald er mit jemandem hierher zurückgekehrt war. Dann würde man ihn nicht nur ein zauberloses Wunder nennen, sondern auch noch einen Narren schelten. Was noch schlimmer war: Man würde ihn für einen Feigling halten, der irgendeine Geschichte erfunden hatte, um seine Furcht vor der Reise zu dem Magier zu verbergen – und vor der absoluten Gewißheit, daß er keinerlei Talent besaß. Was magisch geschaffen worden war, das konnte auch wieder magisch beseitigt werden. Also wäre es wohl besser, zu versuchen, um die Schlucht herumzugehen.

Bink blickte etwas entmutigt zum Himmel hoch. Im Westen stand die Sonne schon tief. Es blieb ihm noch etwa eine Stunde matten Tageslichts. Die würde er wohl besser damit verbringen, sich ein Haus zu suchen, in dem er die Nacht verbringen konnte. Draußen zu schlafen war so ziemlich das letzte, wonach ihm der Sinn stand. Dank Cheries Hilfe war seine Reise bisher ohne größere Beschwerlichkeiten verlaufen, aber dieser notwendige Umweg würde sie wesentlich erschweren.

In welche Richtung sollte er gehen – nach Osten oder nach Westen? Die Schlucht schien sich nach beiden Seiten endlos zu erstrecken. Aber im Osten war der Boden etwas weniger steinig und fiel sanft ab. Vielleicht wäre es möglich, dort in die Schlucht hinabzusteigen und sie zu durchqueren. Bauern neigten dazu, ihre Anwesen in Tälern zu errichten, wo sie gute Wasservorräte hatten und vor der feindseligen Magie hoher Orte geschützt waren. Er würde nach Osten gehen.

Aber dieses Gebiet war kaum besiedelt. Er hatte bisher auf seinem Weg noch keinerlei menschliche Siedlungen gesehen. Er schritt immer schneller durch den Wald. Als die Dämmerung einsetzte, sah er, wie sich große schwarze Gestalten aus der Schlucht erhoben: Riesige, ledrige Flügel, grausam gebogene Schnäbel, glitzernde kleine Augen. Wahrscheinlich Raubvögel oder noch Schlimmeres. Er fühlte sich unwohl dabei.

Jetzt war es notwendig, seine Verpflegung aufzubewahren, denn er wußte nicht, wie lange er damit noch auskommen mußte. Er entdeckte einen Brotfruchtbaum und schnitt sich einen Laib ab. Doch das Brot war noch nicht reif. Wenn er es äße, würde er Magenbeschwerden bekommen. Er mußte einen Bauernhof finden.

Die Bäume wurden größer und knorriger. In den Schatten wirkten sie bedrohlich. Ein Wind kam auf und brachte die steifen, verbogenen Äste zum Seufzen. Daran war nichts Ominöses; diese Effekte waren nicht einmal magischer Art. Aber Bink merkte, wie sein Herz schneller klopfte, und er blickte ständig über die Schulter zurück. Er befand sich nicht mehr auf dem vorgegebenen Pfad, deshalb war es auch mit seiner vergleichsweisen Sicherheit vorbei. Er war auf dem Weg ins tiefe Hinterland, wo alles geschehen konnte. Die Nacht war die Zeit dunkler Magie, und davon gab es viele, kraftvolle Spielarten. Der Friedlichkeitszauber der Pinien war nur ein Beispiel dafür; es gab mit Sicherheit auch Angstzauber und noch Schlimmeres. Wenn er nur ein Haus finden könnte!

Er war wirklich ein seltsamer Abenteurer! Sobald er einmal ein bißchen vom Weg abkam, sobald es dunkel wurde, fing er an, auf seine eigene überreiche Einbildungskraft zu reagieren. Tatsache war doch, daß dies hier noch nicht die tiefe Wildnis war, daß es für einen vorsichtigen Mann kaum echte Gefahren hier gab. Die wahre Wildnis fing hinter dem Schloß des Guten Magiers an, auf der anderen Seite der Schlucht.

Er zwang sich dazu, langsamer zu gehen und seinen Blick nach vorne gerichtet zu halten. Einfach nur weitergehen, mit dem Stab alles abtasten, was verdächtig wirkte, keine Dummheiten –

Mit dem Ende des Stabs berührte er einen harmlos wirkenden schwarzen Stein. Der Stein flog mit einem lauten schwirrenden Geräusch nach oben davon. Bink schreckte zurück, fiel auf den Boden und hob schützend die Hände vor das Gesicht.

Der Stein schwang seine Flügel und flatterte davon. »Kuuu!« protestierte er vorwurfsvoll. Es war nur eine Steinschwalbe gewesen, die sich als Tarnung und als Schutz vor der Nacht zu einer Steingestalt zusammengeringelt hatte. Natürlich hatte sie reagiert, als er sie mit dem Stab getroffen hatte, aber sie war völlig harmlos.

Wenn Steinschwalben hier nisteten, dann war dieser Ort auch für ihn sicher. Alles, was er tun mußte, war, sich irgendwo hinzulegen und zu schlafen. Warum tat er das nicht einfach?

Weil er, antwortete er sich selbst, eine geradezu närrische Angst davor hatte, nachts allein zu sein. Wenn er nur irgendwelche magischen Fähigkeiten hätte, dann würde er sich gleich sicherer fühlen. Selbst ein schlichter Sicherheitszauber würde ihm schon helfen.

Er erspähte ein Licht, das vor ihm lag. Die Rettung! Es war ein gelbes Quadrat, ein beinahe sicherer Hinweis auf eine menschliche Behausung. Er war fast zu Tränen gerührt, so sehr freute er sich. Er war kein Kind mehr, doch hier im Wald, abseits der Wegstrecke seiner Karte, fühlte er sich doch wie eines. Er brauchte den Trost menschlicher Gesellschaft. Er eilte auf das Licht zu und hoffte dabei, daß es nicht irgendeine Illusion oder eine Falle war, die ihm ein feindliches Wesen stellte.

Das Licht war echt. Es war ein kleines Gehöft am Rande eines kleinen Dorfes. Jetzt konnte er auch die anderen Lichtvierecke unten im Tal erkennen. Beinahe freudig klopfte er an die Tür.

Die Tür öffnete sich knarrend, und eine hausbackene Frau in einer schmutzigen Schürze erschien. Sie blickte ihn argwöhnisch an. »Ich kenne dich nicht«, grollte sie und wollte die Tür wieder zudrücken.

»Ich bin Bink vom Norddorf«, beeilte er sich zu sagen. »Ich bin den ganzen Tag gereist und bin von der Schlucht aufgehalten worden. Jetzt brauche ich eine Unterkunft für die Nacht. Ich würde gern dafür arbeiten. Ich bin kräftig; ich kann Holz hacken oder Heu stapeln oder Steine schleppen –«

»Für so etwas braucht man keine Magie«, sagte sie.

»Nicht mit Magie! Mit meinen Händen! Ich –«

»Woher weiß ich denn, daß du kein Gespenst bist?« wollte sie wissen.

Bink streckte ihr seine Linke hin. »Zwick mich; ich kann bluten.« Es war die übliche Prüfung, denn die meisten Nachtwesen besaßen kein Blut, wenn sie sich nicht erst vor kurzem von einem lebenden Wesen ernährt hatten. Selbst dann floß es nie.

»Ach, komm schon, Martha!« rief eine rauhe Männerstimme von innen. »Hier sind doch schon zehn Jahre keine Gespenster mehr aufgetaucht, und außerdem richten sie sowieso keinen Schaden mehr an. Laß ihn herein. Wenn er etwas ißt, dann ist er auch ein Mensch.«

»Menschenfresser essen auch«, brummte sie. Aber sie öffnete die Tür weit genug, daß Bink hindurchschlüpfen konnte.

Jetzt erblickte Bink das Wachtier des Gehöfts: ein kleiner Werwolf, wahrscheinlich eines ihrer Kinder. Es gab keine wirklichen Werwölfe oder andere Werwesen, alle waren es Menschen die das Talent entwickelt hatten. Solche Wechselwesen wurden offenbar immer häufiger. Dieser hier besaß einen flachen Kopf und ein breites, plattes Gesicht, wie sie für die Art kennzeichnend waren. Ein echter Werwolf wäre von einem Tier nicht zu unterscheiden gewesen, bevor er sich wieder verwandelt hatte. Dann wäre er ein wölfischer Mensch. Bink streckte die Hand aus, als das Wesen auf ihn zukam, um ihn zu beschnüffeln, dann tätschelte er ihm den Kopf.

Das Wesen verwandelte sich in einen Jungen von etwa acht Jahren. »Hab’ ich dich erschreckt, häh?« fragte er bettelnd.

»Entsetzlich«, meinte Bink gutgelaunt.

Der Junge wandte sich an den Mann. »Er ist sauber, Pa«, erklärte er. »Er riecht nicht nach Magie.«

»Das ist auch das Problem«, murmelte Bink. »Wenn ich magische Fähigkeiten hätte, dann würde ich nicht umherreisen. Aber es stimmt schon, was ich gesagt habe. Ich kann gute körperliche Arbeit leisten.«

»Keine magischen Fähigkeiten?« fragte der Mann, als die Frau Bink einen Teller mit dampfendem Eintopf füllte. Der Bauer war ein Mittdreißiger und sah genauso hausbacken aus wie seine Frau, doch um Mund und Augen hatte er ein paar tiefe Lachfalten. Er war dünn, aber offensichtlich kräftig, ein harter Arbeiter. Während er sprach, wurde er scharlachrot und dann grün; sein ganzer Körper wechselte nahtlos die Farbe. Das war wohl sein Talent. »Wie bist du denn dann vom Norddorf in einem Tag hierhergekommen?«

»Eine Zentaurin hat mich ein Stück getragen.«

»Eine Stute? Das sieht ihr ähnlich! Woran hast du dich denn festgehalten, als sie gesprungen ist?«

Bink lächelte reumütig. »Na ja, sie hat gesagt, wenn ich das noch mal täte, würde sie mich in einen Graben schmeißen.«

»Hahaha!« dröhnte der Mann. Da Bauern vergleichsweise ungebildet waren, neigten sie zu einem sehr derben Sinn für Humor. Bink merkte, daß die Frau nicht lachte und daß der Junge nur verständnislos zuschaute.

Der Bauer kam zur Sache. »Hör mal, ich brauche hier keine Knechte. Aber ich muß zu einer Verhandlung und habe keine Lust dazu. Regt mein Frauchen zu sehr auf, verstehst du?«

Bink nickte, obwohl er nichts verstand. Er sah, wie die Frau grimmig nickte. Worum ging es dabei?

»Wenn du dir deine Unterkunft abarbeiten willst, dann kannst du an meiner Stelle dort auftreten«, fuhr der Bauer fort. »Dauert kaum ’ne Stunde, keine Arbeit damit verbunden, du mußt nur zu allem ja sagen, was der Gerichtsdiener meint. Ist die leichteste Arbeit, die du nur finden kannst, und für dich ist sie auch noch leichter, weil du ein Fremder bist. Gegen ein hübsches junges Ding zu spielen…« Er fing den grimmigen Blick seiner Frau auf und beendete den Satz nicht. »Wie wär’s damit?«

»Ist in Ordnung«, sagte Bink unsicher. Was sollte das heißen, gegen ein hübsches junges Ding zu spielen? Solange die Frau anwesend war, würde er es nie erfahren. Würde Sabrina etwas dagegen haben?

»Schön. Auf dem Dachboden liegt Heu, und es steht auch ein Eimer dort, so daß du nicht nach draußen mußt. Du darfst nur nicht zu laut schnarchen, das mag Frauchen nicht.«

Das Frauchen mochte anscheinend eine ganze Menge Dinge nicht. Wie konnte ein Mann nur eine solche Frau heiraten? Würde Sabrina nach der Heirat auch zu einem Hausdrachen werden? Der Gedanke beunruhigte ihn. »Werde ich nicht«, sagte Bink. Der Eintopf schmeckte zwar nicht besonders gut, aber er war nahrhaft. Eine gute Grundlage für die Reise.

Er schlief bequem im Heu, und der Wolf hatte sich neben ihm zusammengerollt. Er mußte den Eimer tatsächlich benutzen, und es stank die ganze Nacht hindurch, da er keinen Deckel hatte – aber das war immer noch viel besser, als in die magische Nacht hinaus zu müssen.

Zum Frühstück gab es Brei, der ohne Feuer aufgewärmt wurde. Das war das Talent der Frau, etwas sehr Nützliches auf einem Bauernhof. Danach meldete er sich im Nachbarhaus, das eine Meile die Schlucht entlang entfernt war, um an der Verhandlung teilzunehmen.

Der Gerichtsdiener war ein großer, grobschlächtiger Mann, über dessen Kopf sich immer eine Wolke bildete, wenn er sich konzentrierte. »Weißt du etwas darüber?« fragte er Bink, als dieser ihm alles erklärt hatte.

»Nichts«, gestand Bink. »Sie müssen mir alles erklären.«

»Gut! Es ist ein kleines Spielchen, das dazu dient, ein Problem zu lösen, ohne irgend jemandes Ruf zu schaden. Wir nennen es Ersatzmagie. Denk daran, du darfst keinerlei echte Magie anwenden.«

»Das werde ich nicht«, sagte Bink.

»Du stimmst einfach nur allem zu, was ich dich frage. Das ist alles.«

Bink wurde nervös. »Ich denke nicht daran, zu lügen.«

»Junge, das hier ist kein richtiges Lügen. Es dient einer guten Sache. Du wirst schon sehen. Ich bin erstaunt, daß ihr das im Norddorf nicht auch macht.«

Bink schwieg beunruhigt. Er hoffte, daß er sich da nicht auf irgend etwas Häßliches eingelassen hatte.

Die anderen trafen ein: zwei Männer und drei junge Frauen. Die Männer waren gewöhnliche, bärtige Bauern, der eine war jung, der andere in seinen mittleren Jahren; die Mädchen waren unterschiedlich: von nichtssagend bis betörend. Bink zwang sich, die Schönste nicht anzustarren. Sie hatte die üppigste Figur von allen dreien und war die schönste schwarzhaarige Frau, die er je gesehen hatte.

»Jetzt setzt ihr sechs euch mal einander gegenüber an diesen Tisch«, sagte der Beamte. »Ich werde das Reden übernehmen, sobald der Richter kommt. Denkt daran, das hier ist ein Spiel – aber es ist geheim. Wenn ich euch vereidige, dann gilt das auch – daß mir hinterher keiner etwas über die Vorgänge hier ausplappert, verstanden?«

Alle nickten. Binks Verwirrtheit wuchs immer mehr. Er wußte zwar jetzt, was das hieß, gegen ein hübsches junges Ding zu spielen – aber was war das für ein Spiel, bei dem es nur einen Zuschauer gab und über das man später nichts weitersagen durfte? Na ja, so war das eben; wahrscheinlich hatte es doch mit Magie zu tun.

Die drei Männer saßen an einer Seite des Tisches, und die Mädchen saßen auf der anderen. Bink saß dem schönen Mädchen gegenüber, und da der Tisch recht schmal war, berührten ihre Knie die seinen. Sie waren seidig und glatt und jagten ihm einen Schauer die Beine hoch. Denk an Sabrina! erinnerte er sich. Normalerweise ließ er sich von einem hübschen Gesicht nicht so leicht aus der Fassung bringen, aber dieses hier war wirklich

außergewöhnlich. Und daß sie einen engen Pullover trug, erleichterte die Sache auch nicht gerade. Welch eine Figur!

Der Richter trat ein – ein behäbiger Mann mit beeindruckender Wampe und Koteletten. »Alles aufstehen«, sagte der Gerichtsdiener.

Sie standen respektvoll auf.

Der Richter nahm am Kopfende des Tisches Platz, und der Gerichtsdiener ging an die gegenüberliegende Seite. Sie setzten sich wieder.

»Schwören die drei Damen, zu jeder Zeit und an jedem Ort nichts als die Wahrheit zu sagen, wie sie hier bei dieser Verhandlung formuliert wird, und ansonsten die Klappe zu

halten?«

»Wir schwören es«, riefen die Mädchen.

»Und schwört ihr drei Herumlungerer das gleiche?«

»Wir schwören es«, sagte Bink zusammen mit den anderen. Wenn er hier dazu gezwungen sein sollte zu lügen, dann wäre das doch wohl keine richtige Lüge, wenn er sie draußen nicht weitererzählen durfte, nicht wahr? Der Gerichtsdiener wußte, was wahr und was falsch war, folglich…

»Diese Verhandlung beschäftigt sich mit einer angeblichen Vergewaltigung«, erklärte der Gerichtsdiener. Bink, der sehr erschrocken war, versuchte, seine Gefühle zu verbergen. Sollten sie hier etwa eine Vergewaltigung durchführen?

»Unter den Anwesenden«, fuhr der Gerichtsdiener fort, »befindet sich das Mädchen, das vorgibt, vergewaltigt worden zu sein«, fuhr der Gerichtsdiener fort. »Sowie der Mann, dem sie die Vergewaltigung anlasten will. Er sagt, daß es geschehen ist, aber freiwillig. Ist das richtig, Männer?«

Bink nickte eifrig mit den anderen zusammen. Junge, Junge! Er hätte lieber Holz gehackt, um seine Unterbringung abzuarbeiten. Jetzt war er hier und sagte möglicherweise gleich Lügen über eine Vergewaltigung, die er nie getan hatte.

»Diese Verhandlung läuft anonym ab, um den Ruf der Betroffenen zu schützen«, sagte der Büttel. »Um ein Gutachten zuerwirken, ohne die Sache ans Licht der Öffentlichkeit zu bringen.«

Bink begann zu verstehen. Ein Mädchen, das vergewaltigt worden war, konnte ruiniert sein, auch wenn es gar nicht ihre Schuld war; viele Männer würden sich schon aus diesem Grund weigern, sie zu heiraten. So könnte sie zwar vielleicht ihren Prozeß gewinnen, aber dabei ihre Zukunft verspielen. Ein Mann, der der Vergewaltigung für schuldig befunden wurde, konnte ins Exil geschickt werden, und ein Mann, der einer solchen angeklagt wurde, würde überall auf Argwohn stoßen und hätte ebenfalls nur Schwierigkeiten. Es war beinahe, dachte er grimmig, wie keine magischen Kräfte zu besitzen, ein ähnlich schweres Verbrechen. Die Wahrheit herauszufinden könnte eine sehr heikle Angelegenheit werden, nichts, was irgendeine der beiden Parteien gerne in eine öffentliche Verhandlung gebracht hätte. Ob man den Prozeß nun gewann oder nicht – der gute Ruf litt auf jeden Fall darunter. Aber wie konnte es ohne einen Prozeß Gerechtigkeit geben? Deshalb gab es diese private, halbanonyme Anhörung. Würde das genügen?

»Sie sagt, daß sie an dem Spalt entlangging«, sagte der Gerichtsdiener und blickte auf seine Aufzeichnungen. »Er ist von hinten gekommen, hat sie gepackt und sie vergewaltigt. Richtig, Mädchen?«

Die drei Mädchen nickten gemeinsam, und alle sahen sie verletzt und wütend aus. Das Knie des einen Mädchens, das Bink gegenübersaß, bewegte sich dabei und ließ Bink erschauern.

»Er sagt, daß er dort gestanden sei und daß sie auf ihn zugegangen sei und ihm einen Antrag gemacht habe, auf den er eingegangen sei. Richtig, Männer?«

Bink nickte gemeinsam mit den anderen. Er hoffte, daß seine Seite gewinnen würde; die Sache machte ihn nervös.

Nun ergriff der Richter das Wort. »War das in der Nähe eines Hauses?«

»Ungefähr hundert Fuß entfernt«, sagte der Gerichtsbüttel.

»Warum hat sie dann nicht geschrien?«

»Er sagte, daß er sie sonst in die Schlucht stürzen würde«, erwiderte der Gerichtsdiener. »Sie war starr vor Angst. Stimmt’s, Mädchen?«

Sie nickten – und sahen alle einen Augenblick verängstigt aus. Bink fragte sich, welche von den dreien wohl wirklich vergewaltigt worden sein mochte. Dann berichtigte er seinen Gedanken hastig. Welche hatte die Anklage vorgebracht? Er hoffte nicht, daß es das Mädchen ihm gegenüber war.

»Kannten die beiden sich schon von früher?«

»Jawohl, Euer Ehren.«

»Dann gehe ich davon aus, daß sie wohl von vornherein geflohen wäre, wenn sie ihn nicht gemocht hätte – und daß er sie nicht gezwungen haben kann, wenn sie ihm vertraute. In einer kleinen Gemeinschaft wie dieser hier lernen die Leute einander gutgenug kennen, so daß es kaum wirkliche Überraschungen gibt. Das ist zwar kein Beweis, aber es legt die Vermutung sehr nahe, daß sie gegen den Kontakt mit ihm nichts einzuwenden gehabt hat und daß sie ihn mit einem Antrag in Versuchung geführt haben kann, den sie später bereut hat. Wegen begründeter Zweifel würde ich den Mann in einem formellen Prozeß vermutlich freisprechen.«

Die drei Männer entspannten sich. Bink merkte, wie ihm eine Schweißperle über die Stirn lief, während er der möglichen Entscheidung des Richters lauschte.

»Also gut, jetzt habt ihr das Gutachten des Richters«, sagte der Büttel. »Wollt ihr Mädchen jetzt immer noch einen öffentlichen Prozeß?«

Mit grimmigen Gesichtern und einem Ausdruck, der zeigen sollte, daß sie sich verraten fühlten, schüttelten die Mädchen den Kopf. Bink empfand Mitleid für seine Gegenspielerin. Wie sollte sie es denn vermeiden, verführerisch zu wirken? Sie schien nur für eins wirklich geschaffen zu sein: für Vergew… für die Liebe.

»Dann zieht Leine«, sagte der Gerichtsdiener. »Und denkt daran: Draußen wird nichts erzählt, sonst bekommen wir einen echten Prozeß, wegen Mißachtung des Gerichts.« Die Warnung schien überflüssig zu sein; die Mädchen würden wohl kaum etwas sagen. Der schuldige – äh, unschuldige Mann würde auch den Mund halten, und Bink selbst wollte das Dorf möglichst bald wieder verlassen. Da blieb also nur noch ein Mann übrig, der etwas verraten konnte – aber wenn er das täte, dann würden die anderen alle wissen, wer es gewesen war.

Also war alles vorbei. Bink stand auf und ging zusammen mit den anderen hinaus. Das Ganze hatte weniger lang gedauert als die versprochene Stunde, also hatte er es ganz gut: Er hatte über Nacht eine Unterkunft gehabt und war ausgeruht. Alles, was er nun brauchte, das war, den Weg zu finden, der zum Schloß des Guten Magiers führte.

Der Gerichtsdiener trat aus dem Gebäude, und Bink schritt auf ihn zu. »Können Sie mir sagen, wie ich von hier nach Süden komme?«

»Junge, die Schlucht darfst du nicht überqueren«, sagte der Büttel, und über seinem Kopf bildete sich eine kleine Wolke. »Außer, du kannst fliegen.«

»Ich bin zu Fuß.«

»Es gibt da einen Weg, aber der Spaltendrache… Du bist ein netter Junge, bist jung und siehst gut aus. Du hast dich bei der Anhörung gut verhalten. Riskier es nicht!«

Jeder hielt ihn für so verdammt jung! In den Augen der Bewohner von Xanth würde ihm nur ein guter, starker, persönlicher Zauber Männlichkeit verleihen. »Ich muß es einfach riskieren.«

Der Büttel seufzte. »Na gut, Junge, dann kann ich es dir wohl kaum verbieten. Ich bin nicht dein Vater.« Er zog seinen Bauch ein, der mindestens ebenso beeindruckend war wie der des Richters, und blickte mißmutig auf die Wolke über seinem Kopf. Die Wolke schien ein oder zwei Tränen zu verlieren. Bink zuckte wieder innerlich zusammen. Jetzt wurde er nicht nur bemuttert, sondern auch noch bevatert. »Aber das ist kompliziert. Es ist besser, wenn Wynne dir den Weg zeigt.«

»Wynne?«

»Dein Gegenüber. Die du fast vergewaltigt hast.« Der Gerichtsvollzieher lächelte, machte eine Handbewegung, und die

Wolke löste sich auf. »Nicht, daß ich das nicht verstehen könnte.«

Das Mädchen reagierte offenbar auf das Signal und kam heran.

»Wynne, Süße, bring diesen Mann doch bitte zum Südhang der

Spalte. Und paß auf, daß ihr dem Drachen aus dem Weg geht.«

»Klar«, sagte sie lächelnd.

Bink hatte gemischte Gefühle dabei. Angenommen, daß sie ihn

nach dieser Anhörung beschuldigte, sie…?

Der Gerichtsdiener blickte ihn verständnisvoll an. »Keine Sorge, mein Sohn. Wynne lügt nie, und sie überlegt es sich auch nie anders. Benimm dich, so schwer das auch sein mag, dann bekommst du keinen Ärger.«

Verlegen nahm Bink das Angebot an. Wenn sie ihm einen schnellen, sicheren Pfad um den Abgrund zeigen könnte, dann würde ihn das sehr viel weiterbringen.

Sie schritten nach Osten, und die Sonne schien ihnen ins Gesicht. »Ist es weit?« fragte Bink und war aus verschiedenen Gründen immer noch verlegen.

»Nicht sehr weit«, antwortete sie. Ihre Stimme klang sanft und jagte ihm immer noch unwillkürlich Schauer über den Rücken. Vielleicht war das Magie; er hoffte es, denn der Gedanke, so leicht von reiner Schönheit abgelenkt zu werden, behagte ihm gar nicht. Er kannte dieses Mädchen schließlich überhaupt nicht!

Schweigend gingen sie eine Weile weiter. Dann versuchte Bink es noch einmal: »Was hast du denn für ein Talent?«

Sie blickte ihn verständnislos an.

Na ja, nach dieser Anhörung konnte man es ihr nicht verübeln, wenn sie das nicht gerade für die allerpassendste Frage hielt. »Dein magisches Talent«, erklärte er. »Was kannst du? Zaubern, oder…?«

Sie zuckte nur mit den Schultern.

Was war mit diesem Mädchen los? Sie war schön, aber sie wirkte

gleichzeitig ein bißchen leer.

»Gefällt es dir hier?« fragte er.

Wieder zuckte sie mit den Schultern.

Jetzt war er sich fast sicher. Wynne war sehr schön, aber dumm. Wirklich schade; sie wäre wirklich ein nettes Aushängeschild für einen Bauern gewesen. Kein Wunder, daß sich der Gerichtsdiener ihretwegen keine Sorgen gemacht hatte; sie war nicht zu viel zu gebrauchen.

Schweigend gingen sie weiter. Als sie um eine Biegung kamen, stolperten sie beinahe über einen Hasen, der auf dem Pfad an einem Pilz mummelte. Erschreckt sprang das Tier in die Luft und blieb dort schweben. Seine Nase schnupperte eifrig.

Bink lachte. »Wir tun dir schon nichts, Zauberhäschen«, sagte er. Und Wynne lächelte.

Sie schritten unter dem Hasen hindurch. Doch im nachhinein machte sich Bink wegen dieses Erlebnisses, so läppisch es auch sein mochte, Sorgen. Warum sollte ein einfacher Feld-, Wald- und Wiesenhase die magische Fähigkeit des Schwebens besitzen, während Bink selbst nichts dergleichen konnte? Das war einfach ungerecht.

Nun hörte er die Klänge einer wunderschönen Melodie, die seine Gedanken ablenkte. Er blickte sich um und sah einen Leiervogel, der auf seinen Saiten spielte. Die Musik erfüllte den Wald und verbreitete ein falsches Entzücken. Ha!

Er mußte etwas sagen, deshalb fing er wieder an. »Als ich ein Kind war, da haben sie mich immer aufgezogen, weil ich keine magischen Kräfte hatte«, sagte er, und es war ihm gleich, ob sie ihn verstand oder nicht. »Ich habe Wettrennen gegen Jungen verloren, die fliegen konnten oder mir Wände in den Weg stellten oder einfach an einem anderen Ort plötzlich auftauchen konnten.«

Das hatte er Cherie, der Zentaurin, auch schon alles erzählt, und es tat ihm leid, daß er immer dasselbe sagte, aber irgendwo schien ein unvernünftiger Teil seines Bewußtseins zu glauben, daß er durch die Wiederholung des Ganzen besser damit klarkommen würde. »Oder dafür sorgten, daß plötzlich alles bergab lief, während ich über das flache Land laufen mußte.« Die Erinnerung an all diese Demütigungen ließ ihn stocken.

»Kann ich mit dir gehen?« fragte Wynne unverhofft.

Oh! Vielleicht dachte sie, daß er sie unendlich lange mit Geschichten unterhalten könnte. Die Beschwerlichkeiten der Reise schienen ihr überhaupt nicht in den Sinn zu kommen. Nach ein paar Meilen würde ihr hübscher Körper, der nicht so aussah, als sei er harte Arbeit gewöhnt, ermüden, und dann müßte er sie tragen. »Wynne, ich reise weit, zum Magier Humfrey. Da willst du doch nicht mitkommen!«

»Nein?« Ihr wunderschönes Gesicht verdunkelte sich.

Da er sich immer noch gut an die Anhörung erinnerte und mögliche Mißverständnisse vermeiden wollte, wählte er seine Worte sehr sorgfältig. Sie stiegen nun einen anstrengenden, gewundenen Pfad in die Schlucht hinab, der sich um die Klapperkraut- und Krallwurzelbäumchen schlängelte. Er ging an der Spitze und stützte sich fest auf seinen Stab, um sie aufzufangen, falls sie stürzen sollte. Als er zu ihr hochblickte, sah er ihre wundervollen Waden. Kein Teil ihres Körpers schien nicht perfekt zu sein, nur das Gehirn war vergessen worden. »Es ist gefährlich. Viel böse Magie. Ich gehe allein.«

»Allein?« Sie war immer noch verwirrt, obwohl sie sich beim Gehen ganz gut hielt. Bink war richtig erstaunt, daß man mit diesen Beinen tatsächlich auch klettern und wandern konnte. »Ich brauche Hilfe. Magie.«

»Der Magier verlangt einen Jahresdienst. Das – das willst du doch wohl nicht bezahlen!« Der Gute Magier war ein Mann, und Wynne besaß ganz offensichtlich nur eine einzige Münze… Niemand würde sich für ihren Verstand interessieren.

Sie sah ihn verwirrt an. Dann erhellte sich ihr Gesicht wieder. »Du willst Bezahlung?« Sie legte eine Hand an das Vorderteil ihres Kleides.

»Nein!« schrie Bink und stürzte beinahe den Abhang hinunter. Er konnte sich bereits vorstellen, wie es zu einer neuen Anhörung kam, und zwar zu einer mit einem anderen Urteil. Wer würde ihm schon glauben, daß er diese hübsche Idiotin nicht ausgenutzt hatte? Wenn sie ihm noch mehr von ihrem Körper zeigen sollte – »Nein!« wiederholte er, mehr zu sich selbst als an sie gerichtet.

»Aber…« sagte sie, und ihr Gesicht verfinsterte sich wieder.

Eine neue Ablenkung rettete ihn. Sie waren nun schon fast am Boden der Schlucht angekommen, und Bink konnte drüben schon die sanftere Steigung des Südhangs sehen. Das war kein Problem mehr. Er wollte Wynne gerade nach Hause schicken, als er ein unangenehmes Geräusch vernahm, eine Art von Rutsch-Aufprall. Es wurde wiederholt – sehr laut und schaurig, ohne sich genauer definieren zu lassen.

»Was ist das?« fragte er nervös.

Wynne legte die Hand hinters Ohr, um zu lauschen, obwohl das Geräusch gut zu hören war. Da sie dabei ihr Gleichgewicht verlagerte, verloren ihre Füße etwas von ihrem Halt, und sie begann hinabzurutschen. Er sprang hoch, um sie aufzufangen, und hob sie sanft auf den Boden der Schlucht. Da hatte er vielleicht etwas im Arm, alles weich und nachgiebig und schlank, in Proportionen, die schon an ein Wunder grenzten!

Sie drehte ihm ihr Gesicht zu und strich sich ihr Haar aus dem Gesicht. »Der Spaltendrache«, sagte sie.

»Ist er gefährlich?«

»Ja.«

Sie war zu dumm gewesen, um es ihm zu sagen, bevor er fragte, und er hatte nicht daran gedacht, sie danach zu fragen, bevor er das Geräusch gehört hatte. Wenn er sie vielleicht nicht dauernd angesehen hätte – aber was hätte ein Mann denn sonst ansehen sollen?

Er sah schon, wie sich das Ungeheuer aus dem Westen näherte – ein rauchender Reptilienkopf, dicht am Boden, aber groß. Sehr groß! »Lauf!« brüllte Bink.

Sie fing an zu laufen – genau nach vorn, in die Schlucht hinein.

»Nein!« schrie er und schubste sie zum Nordhang, da dies der nächste Fluchtweg war.

»Du willst Bezahlung?« fragte sie.

Junge, Junge! »Lauf da hoch!« rief er und hoffte, daß der Drache kein guter Kletterer war. Sie gehorchte und war bald über ihm.

Doch die funkelnden Augen des Spaltendrachen folgten ihrer Bewegung. Das Tier schlug einen Haken, um sie abzufangen. Bink sah, daß sie den Pfad nicht mehr rechtzeitig erreichen konnte. Das Ungeheuer stampfte mit der Schnelligkeit eines Zentauren heran.

Bink lief in kurzen schnellen Sprüngen hinter ihr her, packte sie und schleuderte sie fast in Richtung Süden. Selbst in dieser verzweifelten Lage wurde er immer noch von ihrem weichen, geschmeidigen Körper abgelenkt. »Dort entlang!« rief er. »Er kommt!« Er benahm sich so närrisch wie sie, weil er mitten in der Gefahr seine Meinung änderte.

Er mußte das Ungeheuer irgendwie ablenken. »He, Dampfschnauze!« brüllte er und wedelte wild mit den Armen.

»Schau mich an!«

Der Drache sah ihn an. Wynne auch.

»Du nicht!« schrie Bink. »Lauf rüber! Hau aus der Spalte ab.«

Sie rannte wieder los. Niemand konnte so dumm sein, um nicht

zu merken, wie groß die Gefahr hier war.

Jetzt hatte der Drache seine Aufmerksamkeit auf Bink gerichtet. Er wandte sich erneut um und kam auf ihn zu. Er hatte einen langen, sehnigen Körper und drei plumpe Beinpaare. Die Beine hoben den Oberkörper hoch und stießen ihn nach vorn, so daß er mehrere Fuß weit rutschte. Das Ganze wirkte sehr plump, doch das Ding bewegte sich mit beunruhigender Schnelligkeit voran.

Es war Zeit, davonzulaufen! Bink rannte die Schlucht nach Osten hinunter. Der Drache hatte ihm den Nordhang bereits abgeschnitten, und er wollte ihn nicht in Wynnes Richtung locken. Er konnte wesentlich schneller rennen als Bink, trotz seiner holprigen Fortbewegungsmethode; zweifellos half er etwas mit Magie nach. Schließlich war es ein magisches Wesen.

Aber was war denn dann mit seiner Theorie, daß kein Wesen Magie und Intelligenz besitzen konnte, wenn es selbst magischer Art war? Wenn das stimmte, dann war dieses Ungeheuer nicht besonders klug. Bink hoffte, daß das der Fall wäre, denn er würde lieber einen dummen als einen schlauen Drachen zu überlisten versuchen. Besonders dann, wenn sein Leben davon abhing.

Also rannte er los – doch er wußte bereits, daß das hoffnungslos war. Dies hier war das Jagdrevier des Drachen, weshalb niemand die Schlucht zu Fuß durchqueren mochte. Er hätte wissen müssen, daß eine Schlucht, die mit magischen Mitteln erzeugt worden war, nicht unbewacht sein würde. Irgend jemand oder irgend etwas wollte nicht, daß man sich vom nördlichen ins südliche Xanth frei bewegen konnte, besonders nicht magieunfähige Menschen wie Bink.

Bink keuchte jetzt bereits und bekam langsam Seitenstiche. Er hatte die Schnelligkeit des Drachen unterschätzt. Er war nicht nur ein wenig schneller als er, sondern wesentlich schneller! Der riesige Kopf schnappte vor, und Dampf umhüllte ihn.

Bink atmete das Zeug ein.

Es war nicht so heiß, wie er befürchtet hatte, und es roch schwach nach brennendem Holz. Aber unangenehm war es doch. Er keuchte, rang nach Luft – stolperte über einen Stein und stürzte flach zu Boden. Sein Stab wurde ihm aus der Hand gerissen. Dieser tödliche Augenblick des Abgelenktseins!

Der Drache, der seine Geschwindigkeit nicht so schnell verlangsamen konnte, stampfte über ihn hinweg. Er war so lang, daß er nicht stürzen konnte, dafür war er auch viel zu dicht am Boden. Der metallische Körper schoß vorbei, und sofort war der gewaltige Kopf außer Reichweite. Wenn das Ding mit Magie seine Schnelligkeit vergrößerte, dann konnte es sie jedenfalls nicht mit magischen Mitteln bremsen, was immer das auch wert sein mochte.

Bink blieb einen Augenblick lang von seinem Sturz die Puste weg. Er konnte sich nur darauf konzentrieren, wieder Luft zu bekommen, an Flucht war gar nicht zu denken. Das mittlere Beinpaar stampfte auf ihn herab und drohte, ihn zu zermalmen – da landete der massige rechte Fuß mit seinen Krallen auf dem Felsen, über den Bink gestolpert war. Es war ein Felsen, der viel größer war, als er aussah, und Bink war neben seine niedrigere Kante gefallen, wo er nun in einem vom Wasser ausgespülten Graben lag, so daß ihn die drei vom Felsen auseinandergespreizten Krallen verfehlten. Welch ein Glück!

Jetzt hatte er seine Puste wiedererlangt, und der Fuß hob sich bereits zum nächsten Aufstampfen. Wäre Bink dazu in der Lage gewesen, sich beiseite zu rollen, dann hätte ihn bestimmt eine der Krallen erwischt.

Aber einmal Glück gehabt zu haben war noch lange keine Garantie für das nächste Mal. Der Drache kringelte sich bereits herum, um ihn anzugreifen, und schnaubte seinen Dampf an seinem eigenen Körper entlang nach hinten. Er war außerordentlich geschmeidig und konnte eine vollkommene Drehung vollführen. Aus sicherer Entfernung hätte Bink diese Biegung vielleicht sogar bewundern können. Wenn es wollte, konnte sich das Ungeheuer wie eine Schlange zu Knoten verknäueln und ihn erreichen, wo immer er sich auch verstecken

mochte. Es war kein Wunder, daß es stampfte, denn es besaß kein festes Rückgrat.

Bink wußte, daß es zwecklos war, dachte aber dennoch über Fluchtmöglichkeiten nach. Er huschte unter den baumstammdicken Schwanz des Drachen. Der Kopf folgte ihm, und die Nüstern witterten ihn genauso zuverlässig, wie die Augen seine Bewegungen aufmerksam verfolgten.

Bink sprang über den Schwanz und griff mit beiden Händen nach den Schuppen, um sich festzuhalten. Er hatte Glück: manche Drachen besaßen Schuppen mit scharfen Kanten, die einem ins Fleisch schnitten, doch diese hier waren gerundet und harmlos. Das war vielleicht eine Frage des Überlebens in dieser Schlucht, doch Bink war sich dessen nicht so sicher. Neigten scharfkantige Schuppen dazu, sich zu verfangen und damit die Schnelligkeit des Wesens zu beeinträchtigen?

Er kletterte über den Schwanz, und der Kopf des Drachen folgte ihm geschmeidig. Diesmal gab er keinen Dampf von sich, vielleicht wollte er nicht sein eigenes Fleisch verbrühen. Das Ungeheuer genoß offensichtlich ohnehin schon dieses Katz-undMaus-Spiel und freute sich auf seinen Sieg und das anschließende Fressen. Allerdings hatte Bink noch nie eine Werkatze gesehen, die das getan hätte; wahrscheinlich handelten richtige Katzen so, aber von denen gab es aus irgendeinem Grund nicht mehr viele – genau wie Mäuse.

Aber er schweifte wieder ab, und das konnte er sich im Augenblick wirklich nicht leisten. Konnte er den Kopf des Drachen so lange um seinen eigenen Körper herumlocken, bis er sich wirklich verknotete? Er bezweifelte es, aber er konnte es immerhin versuchen. Es war besser, als einfach nur verschlungen zu werden.

Er war wieder an dem Felsen, über den er gestolpert war. Dieser hatte seine Lage durch das Aufstampfen des Drachen verändert, er war gelockert worden. Dort, wo er ursprünglich gelegen hatte, befand sich ein Spalt im Boden, ein tiefes, dunkles Loch.

Bink mochte keine Erdlöcher, man wußte ja nie, was darin lauern mochte: Nickelfüßler, Stechläuse, Brüllwürmer, Lepraschlamm – igittigitt! Aber er hatte keine große Wahl. Er sprang mit den Füßen zuerst in das Loch.

Die Erde begann unter seinem Gewicht zu bröckeln, doch nicht völlig. Er versank bis zur Hälfte und steckte dann fest.

Der Drache, der seine drohende Flucht bemerkt hatte, gab erneut eine Dampfschwade von sich. Aber es war wieder warmer Dampf, kein brennend heißer, es war kaum mehr als kondensierter Atem. Offensichtlich war er doch kein echter Feuerdrache, sondern ein Pseudofeuerdrache. Die wenigsten Leute dürften ihm nahe genug kommen, um den Unterschied zu bemerken. Der Nebel umhüllte Bink, tränkte seine Kleidung und verwandelte die Erde um ihn herum in Schlamm. Das schmierte etwas, und er bewegte sich wieder – nach unten.

Der Drache schnappte nach ihm, aber Bink sackte mit einem saugenden Geräusch durch das Hindernis von der Stelle fort, an der die Zähne des Drachen nutzlos zusammenknirschten. Er fiel etwa zwei Fuß tief, bis er auf festen Felsboden stieß. Seine Füße schmerzten, besonders sein verstauchter Knöchel, aber er blieb unverletzt. Er duckte seinen Kopf und tastete in der Dunkelheit um sich. Er befand sich in einer Höhle.

Was für ein Glück! Aber er war noch immer nicht in Sicherheit. Der Drache hieb mit seinen Pranken auf den Boden und riß große Stücke aus der Erde und dem Fels, wobei er den Rest durch seinen Dampf in flüssigen Schlamm verwandelte. Klebrige Stückchen spritzten auf den Höhlenboden. Die Öffnung wurde größer und ließ mehr Licht ein. Schon bald würde sie groß genug sein, daß der Kopf des Drachen hindurchpaßte. Binks Verhängnis war lediglich verschoben worden.

Dies war nicht die richtige Gelegenheit, um übervorsichtig zu sein. Bink ging weiter und legte dabei die Arme in einem schützenden Kreis vor seinen Körper, so daß sich die Hände berührten. Wenn er gegen eine Wand stoßen sollte, dann würde er sich lediglich die Arme zerkratzen, aber das war immer noch besser, als von den Zähnen des Drachen zermalmt zu werden.

Er stieß gegen keine Wand. Statt dessen rutschte er plötzlich in einer Schlammpfütze aus und fiel auf den Bauch. Es gab Wasser hier, richtiges Wasser, kein Drachenatem, ein kleiner Bach, der nach unten floß.

Nach unten? Wohin nach unten? Bestimmt in einen unterirdischen Fluß! Das würde auch das plötzliche Entstehen der Schlucht erklären. Möglicherweise hatte der Fluß den Fels jahrhundertelang unterhöhlt, und plötzlich war die Erdschicht zusammengesackt, und die Schlucht war entstanden. Ein riesiges Sackloch! Nun floß der Fluß wieder, und wenn er in ihn hineinstürzen sollte, dann würde er gewiß ertrinken, denn es gab keinerlei Garantie dafür, daß seine Strömung schwach war oder daß es im Flußkanal Luft zum Atmen gab. Selbst wenn er gut schwamm, dann konnte er immer noch von den Flußungeheuern vertilgt werden, von denen sich in kalten, dunklen Wassern meistens die besonders bösartigen Arten aufhielten.

Bink kletterte den Abhang wieder hoch. Er entdeckte eine Abzweigung, die nach oben führte, und er ging den Gang so schnell wie möglich entlang. Bald sah er einen Lichtstreifen, der von oben einfiel. Er war in Sicherheit!

In Sicherheit? Nicht, solange der Drache ihm noch auflauerte! Bink wagte es nicht, seinen Weg ins Freie zu graben, bevor das Tier verschwunden war. Er mußte abwarten und konnte nur hoffen, daß das Ungeheuer sich nicht so weit vorgraben würde. Er kauerte sich zusammen und versuchte zu vermeiden, daß er sich noch mehr mit Schlamm bespritzte.

Das Geräusch des grabenden Drachen wurde leiser und war schließlich überhaupt nicht mehr zu hören. Nun herrschte Schweigen, doch Bink ließ sich nicht narren. Drachen, die auf dem Land lebten, hatten meistens die Taktik, sich zu verbergen, um dann plötzlich zuzuschlagen. Sie konnten sich sehr schnell bewegen, aber sie besaßen dabei keine allzugroße Ausdauer.

Beispielsweise konnte ein Drache niemals ein Reh bis zur Erschöpfung hetzen, selbst wenn das Reh über keine Fluchtmagie verfügte. Aber sie konnten sehr geduldig warten. Bink mußte hier unten bleiben, bis er genau hörte, wie sich der Drache entfernte.

Der kalte Schlamm machte das lange Warten nicht eben angenehmer, zumal er von dem Dampf des Drachen völlig durchnäßt war. Außerdem war er sich nicht völlig sicher, daß der Drache wirklich noch da war. Es könnte sein, daß dies alles vergebens war und daß der Drache beim leisen Rückzug dampfend vor sich hin kicherte – Drachen konnten sich sehr leise bewegen, wenn sie nur wollten – und woanders auf die Jagd ging.

Aber nein! Genau das war es ja, was ihn das Ungeheuer glauben machen wollte. Er wagte es nicht, hinauszuklettern oder sich auch nur zu bewegen, für den Fall, daß das Ding ihn hören könnte. Deshalb war es ja jetzt auch so still: Es lauschte. Drachen hatten sehr empfindliche Sinnesorgane; möglicherweise waren sie deswegen in den wilden Gebieten so häufig und auch so gefürchtet. Sie wußten, wie sie überleben konnten. Offenbar hatte Binks Geruch den ganzen Ort durchtränkt, so daß er jetzt nicht mehr genau zu orten war. Der Drache würde seine Kräfte nicht dabei vergeuden, das gesamte Höhlensystem aufzugraben, aber mit Hilfe seines Gehörs oder seiner Augen würde er sein Opfer schon aufspüren.

Jetzt, da es völlig still war, begann er zu frieren. Es herrschte gerade Sommer in Xanth, und auch im Winter wurde es eigentlich nie sehr kalt, denn viele Pflanzen besaßen Hitzemagie, regelten das örtliche Wetter oder machten es sich auf andere Weise bequem und angenehm. Aber die Schlucht war nur spröde bewachsen und vom Sonnenlicht weitgehend abgeschnitten, so daß die kühle Luft darin gefangenblieb. Es hatte eine Weile gedauert, bis sich die Hitze seiner Anstrengungen verbraucht hatte, doch nun zitterte er. Er durfte aber nicht zu stark zittern! Seine Beine und Füße taten weh und verkrampften sich. Um das Maß voll zu machen, spürte er plötzlich auch noch ein Kratzen im Hals. Er war dabei, eine Erkältung zu entwickeln. Seine gegenwärtige, nicht eben gemütliche Lage würde das wohl kaum verhindern, und er konnte nicht zum Dorfarzt gehen, um sich einen Heilzauber geben zu lassen.

Er versuchte sich abzulenken, indem er an andere Dinge dachte, doch er verspürte keinerlei Lust, sich wieder die Demütigungen seiner Kindheit vor Augen zu führen oder seine Frustration darüber, daß er ein so hübsches Mädchen wie Sabrina nicht ohne Magie halten konnte. Das erinnerte ihn an Wynne; er wäre einfach kein Mann gewesen, wenn er nicht auf ihr phantastisches Gesicht und auf ihren ebensolchen Körper reagiert hätte! Aber sie war so abgrundtief dumm, und außerdem war er sowieso schon verlobt, so daß es ihm nicht anstand, über sie nachzudenken. Sein Versuch der Selbstablenkung scheiterte; es war wohl besser, wenn er in geistigem Schweigen litt.

Dann bemerkte er etwas Unbestimmtes. Es war schon eine ganze Weile anwesend gewesen, aber wegen seiner Sorgen hatte er es nicht bewußt wahrgenommen.

Es war etwas Peripheres, beinahe Geistiges. Eine Art Flackern, das sofort verschwand, sobald er es direkt ansah, aus den Augenwinkeln heraus aber genau zu sehen war. Was war das? Etwas Natürliches – oder etwas Magisches? War es harmlos oder bedrohlich?

Da erkannte er es. Es war ein Schatten! Ein halbwirklicher Geist oder ein Gespenst oder irgendein unruhiger Toter, der dazu verdammt war, in nächtlichen Schatten herumzuirren, bis seine bösen Taten gesühnt waren oder bis er selbst geläutert war. Normalerweise stellten die Schatten keine allzugroße Gefahr für die Menschen dar, weil sie bei Tag nicht hinauskommen konnten und das Licht und dichtbevölkerte Orte meiden mußten. Die meisten waren an den Ort ihres Todes gefesselt. Wie Roland Bink schon vor langer Zeit geraten hatte: »Wenn ein Schatten dich belästigen sollte, dann geh einfach von ihm fort.« Es war leicht, ihnen zu entkommen, das nannte man ›dem Schatten mitspielen‹.

Nur wenn jemand unvorsichtig oder dumm genug war, neben der Behausung eines Schattens einzuschlafen, dann konnte erÄrger bekommen. Ein Schatten brauchte ungefähr eine Stunde, um einen lebenden Körper zu durchdringen, und man konnte vorher einfach fortgehen und war frei. Als Roland einmal außergewöhnlich wütend gewesen war, da hatte er einem aufdringlichen Störenfried angedroht, ihn einzufrieren und am nächsten Schattengrab abzulegen. Der Mann hatte sich daraufhin sofort aus dem Staub gemacht.

Nun war Bink weder gefroren noch schlief er, aber wenn er sich bewegte, dann würde der Drache zupacken. Wenn er sich nicht bewegte, dann würde der Schatten in seinen Körper eindringen. Das wäre wirklich noch schlimmer als der Tod!

Und alles nur, weil er versucht hatte, ein schönes, dummes Mädchen vor einem Drachen zu retten. In den Legenden erhielt ein solcher Held immer die verlockendsten Belohnungen. In Wirklichkeit war es sehr wahrscheinlich, daß der Held damit endete, selbst in Not zu geraten, und gerettet werden mußte. Na ja, so war es eben um die Gerechtigkeit des wirklichen Lebens in Xanth bestellt…

Der Schatten wurde frecher, da er wohl der Meinung war, daß er entweder hilflos war oder ihn nicht beachtet hatte. Er leuchtete nicht mehr, sondern war lediglich etwas weniger dunkel als die übrige Höhle. Bink konnte ihn nun ganz gut erkennen, wenn er ihn nicht ansah: Es war eine verschwommene, menschenähnliche Gestalt, die sehr traurig wirkte.

Bink wollte davonspringen, doch die feuchte Wand befand sich dicht hinter ihm, und außerdem konnte er es sich nicht erlauben, einen einzigen Schritt zu machen. Er mochte dabei noch so leise vorgehen, der Drache würde ihn bestimmt hören. Er konnte nach vorn fliehen, indem er einfach durch den Schatten hindurchschritt; alles, was er dabei spüren würde, wäre ein leiser Kälteschauer, wie bei einem Grab. Es war ihm schon früher ab und zu passiert; es

war unangenehm, aber nicht weiter gefährlich. Doch diesmal wartete der Drache auf ihn.

Vielleicht konnte er loslaufen, jetzt, da er sich etwas entspannt hatte, und dadurch einen Vorsprung erlangen, so daß der Drache vielleicht erst zu spät aufwachte. Der Drache war bestimmt am Schlafen und ruhte sich aus, während seine empfindlichen Ohren auf seine Beute gerichtet blieben.

Der Schatten berührte ihn, und Bink riß seinen Arm zur Seite – da rührte sich der Drache über ihm. Er war also wirklich noch da! Bink rührte sich nicht mehr, und der Drache verlor die Orientierung. Das leichte Zucken hatte offenbar nicht genügt, um ihn zu orten.

Der Drache kreiste um die Höhle und versuchte, Bink zu erschnüffeln. Seine gewaltige Nase erschien über dem oberen Spalt, und Dampf zischte hinunter. Der Schatten zog sich erschreckt zurück. Dann ließ der Drache sich nieder und gab die Jagd vorläufig auf. Er wußte, daß sich sein Opfer früher oder später selbst verraten würde. Wenn es ums Warten ging, war ein Drache wesentlich besser gerüstet als ein Mensch.

Das Reptil machte einen Schlenker, und sein Schwanzende fiel durch den Spalt und hing fast bis zum Höhlenboden herunter. Wenn Bink noch entkommen wollte, dann mußte er daran vorbei. Was für eine Chance hatte er jetzt noch?

Plötzlich hatte er eine Idee. Der Drache war ein Lebewesen, ein Tier, wenn auch ein magisches. Warum sollte der Schatten nicht ›seinen‹ Körper übernehmen? Ein von einem Schatten beherrschter Drache würde vermutlich andere Dinge im Kopf haben, als einen versteckten Menschen aufzufressen. Wenn er sich nur so weit bewegen konnte, daß der herabhängende Schwanz zwischen ihm und dem Schatten lag…

Er versuchte es und verlagerte mit nervtötender Langsamkeit sein Gleichgewicht. Doch als er leise versuchte, seinen Fuß zu heben, um ihn vorzusetzen, stach ihn der Schmerz im Knöchel so, daß er zusammenzuckte. Der Schwanz des Drachen zuckte

ebenfalls, und Bink blieb stocksteif stehen. Das war ziemlich unangenehm, da sein Gleichgewicht in dieser halb kauernden Stellung alles andere als bequem war. Und außerdem fühlten sich nun beide Füße und Fußknöchel so an, als würden sie brennen.

Der Schatten näherte sich wieder.

Bink versuchte, seinen Fuß vorwärts zu schieben, um wenigstens ein bequemeres Gleichgewicht zu erlangen, ohne vornüber zu stürzen. Fort von dem Schatten! Wieder durchzuckte ihn der Schmerz, wieder bewegte sich der Schwanz, und wieder wagte er es nicht, sich zu bewegen. Und doch kam der Schatten näher. So ging es nicht weiter.

Der Schatten berührte seine Schulter. Diesmal bemühte Bink sich, nicht zusammenzuzucken, denn dann hätte er mit Sicherheit seine Balance und mit ihr sein Leben verloren. Die Berührung war scheußlich kühl, nicht kalt, sie ließ seine Haut erschauern. Was sollte er nur tun?

Er beherrschte sich angestrengt. Es würde etwa eine Stunde dauern, bis der Schatten seinen Körper übernommen hätte; bevor dieser Vorgang beendet war, konnte er den Zauber jederzeit brechen. Der Drache würde ihn in Sekundenschnelle verschlingen. So schrecklich der Gedanke auch war, aber im Augenblick schien der Schatten die bessere Alternative zu sein; wenigstens brauchte er länger. Vielleicht war der Drache in einer halben Stunde ja wieder verschwunden…

Vielleicht würde der Mond ja auch vom Himmel fallen und den Drachen mit seinem grünen Käse erschlagen! Warum wünschte er sich das Unmögliche? Wenn der Drache nicht verschwand, was dann? Bink wußte es einfach nicht. Aber im Augenblick hatte er keine große Wahl.

Der Schatten kam unaufhaltsam näher und drang in ihn ein. Er durchkühlte seine Schulter bis zum Brustkasten und Rücken. Bink spürte das Eindringen mit kaum unterdrücktem Ekel. Wie konnte man sich nur mit dieser Eroberung durch einen Toten abfinden?

Und doch mußte er es tun, wenigstens eine Weile lang, damit der Drache ihn nicht augenblicklich selbst in einen Schatten verwandelte. Oder wäre das vielleicht angenehmer? Wenigstens würde er als Mensch sterben.

Langsam schlich sich die gespenstische kühle Essenz in seinen Kopf hoch. Jetzt war Bink entsetzt und doch wie steif gefroren. Er spürte, wie sich das Entsetzen durch seinen Körper schlich, wie er sank, losließ, sich aufsaugen ließ, von etwas… und dann war er plötzlich auf unheimliche Weise ruhig.

Friede, sagte der Schatten in seinem Bewußtsein.

Der Friede des Pinienwaldes, in dem die Schläfer niemals wieder aufwachten, vielleicht? Bink konnte nicht laut protestieren, da ihn der Drache sonst gehört hätte. Aber, er sammelte seine Kraft, um mit einer letzten verzweifelten Anstrengung dieser Besessenheit zu entgehen. Er würde an dem Schwanz des Drachen vorbeistürmen, bevor das Ungeheuer reagieren könnte, und sein Glück mit dem unterirdischen Fluß versuchen.

Nein! Freund, ich kann dir doch helfen! rief der Schatten lauter, aber immer noch still.

Irgendwie fing Bink an, ihm zu glauben. Der Geist schien es wirklich ernst zu meinen. Vielleicht lag das aber auch nur an den Alternativen: vom Drachen aufgefressen zu werden oder im Fluß zu ertrinken.

Ein gerechter Tausch, beharrte der Schatten. Du läßt mich für eine Stunde herein. Ich werde dein Leben retten und verschwinden, sobald ich meiner Verpflichtung nachgekommen bin.

Es klang überzeugend. Bink stand sowieso vor dem Sterben; wenn der Schatten ihn irgendwie retten sollte, dann wäre das gewiß eine Stunde des Besessenseins wert. Es stimmte, daß Schatten verschwanden, sich auflösten, sobald sie ihrer Verpflichtung nachgekommen waren.

Aber nicht alle Schatten meinten es ehrlich. Die Verbrecher wurden manchmal rückfällig und zogen es vor, nicht für ihre Sünden auf Erden zu büßen oder sie wiedergutzumachen. Statt dessen fügten sie ihnen unter dem Schutz einer anderen Identität nach dem Tod noch weitere hinzu und ruinierten dabei noch den Ruf der unglücklichen Menschen, die sie kontrollierten. Ein Schatten hatte schließlich kaum noch etwas zu verlieren, er war ja schon tot. Die Absolution würde ihn lediglich der Vergessenheit anheimfallen lassen oder ihn in die Hölle schicken, je nach seinem Glauben. Es war kaum zu verwundern, daß manche es vorzogen, nie völlig zu sterben.

Meine Frau, mein Kind! jammerte der Schatten. Sie hungern, und sie leiden, sie wissen nicht, wie es um mich steht. Ich muß ihnen mitteilen, wo der Silberbaum wächst. Ich bin auf der Suche nach ihm gestorben.

Der Silberbaum! Bink hatte schon einmal davon gehört. Ein Baum, dessen Blätter aus reinem Silber bestanden, von unschätzbarem Wert – denn Silber war ein magisches Metall. Es konnte böse Magie abwehren, und wenn man eine Rüstung daraus machte, dann konnte man sich damit vor magischen Waffen schützen. Und natürlich konnte man es auch als Zahlungsmittel verwenden.

Nein, er ist für meine Familie! rief der Schatten. Damit sie nie wieder Not leiden muß. Nimm es nicht für dich selbst!

Das überzeugte Bink. Ein unehrlicher Schatten hätte ihm alles versprochen; dieser hier versprach ihm das Leben, keine Reichtümer. Einverstanden, dachte Bink und hoffte, daß er damit nicht einen Riesenfehler beging.

Warte, bis wir völlig miteinander verschmolzen sind, sagte der Schatten dankbar. Ich kann dir erst dann helfen, wenn ich völlig du geworden bin.

Bink hoffte, daß das keine List war. Aber was hatte er auch schon zu verlieren? Und was hatte der Schatten für einen Vorteil, wenn er log? Wenn er Bink nicht rettete, dann würde er das Erlebnis, von dem Drachen aufgefressen zu werden, mit ihm nur teilen. Danach würde es dann zwei Schatten geben – und Bink wäre gewiß ein wütender Schatten. Er fragte sich, was ein Schatten einem anderen wohl antun konnte. Er wartete ab.

Endlich war es vorüber. Er war Donald, der Prospektor, ein Mann, dessen Talent darin bestand, fliegen zu können.

»Ab geht’s!« rief Donald freudig durch Binks Lippen. Er hob die Arme, als wollte er tauchen, und stieß mit einer solchen Gewalt durch die Spalte in der Decke, daß die Stein- und Erdränder davon fortgerissen wurden.

Als sie ins Freie gelangten, waren sie vom grellen Tageslicht erst einmal geblendet. Der Spaltendrache brauchte einen Augenblick, bis er sich auf dieses seltsame Geschehen eingestellt hatte, dann stieß er vor. Doch Donald machte einen gewaltigen Satz, und die Fänge des Drachen schnappten ins Leere. Er trat dem Ungeheuer mit voller Wucht auf die Schnauze. »Ha, Spaltzahn!« schrie er. »Wohl bekomm’s!« Und er trampelte noch einige Male auf dem empfindlichen Teil der Nase des Drachen herum.

Das Maul des Tiers öffnete sich, und eine dicke Dampfwolke schoß empor, doch da war Donald bereits außer Reichweite, und der Drache hatte keine Gelegenheit mehr, ihn zu erwischen.

Sie flogen höher und höher, aus der Schlucht heraus und über die Wipfel der Bäume. Es bedurfte lediglich einer geistigen Anstrengung dazu, denn dies war Magie. Schließlich bewegten sie sich in Richtung Norden.

Bink merkte erst spät, daß er nun magisches Talent besaß. Zwar nur geliehenes, aber zum erstenmal in seinem Leben konnte er fühlen, was jeder andere Einwohner von Xanth empfinden mußte. Er fühlte sich wunderbar.

Die Mittagssonne brannte nun fast senkrecht auf sie herab. Sie waren hoch oben in den Wolken, und Bink spürte einen Druck auf den Ohren, doch sein anderes Selbst reagierte sofort, indem es sie knacken ließ, bevor der Schmerz schlimmer wurde. Er wußte nicht, warum ihm das Fliegen Ohrenschmerzen verursachen sollte; vielleicht deswegen, weil es hier oben nicht viel zu hören gab.

Zum erstenmal sah er auch die Wolken von oben. Von unten wirkten sie immer flach, doch wenn man über ihnen schwebte, dann sah man, daß sie sehr anmutig, wenn auch etwas willkürlich geformt waren. Was sich von unten wie winzige Flauschbälle angesehen hatte, erwies sich nun als dichte Nebelmassen. Donald flog wie selbstverständlich durch sie hindurch, aber Bink kam mit dem Verlust seines Sehvermögens nicht so gut zurecht. Er hatte Angst, auf irgend etwas aufzuprallen.

»Warum so hoch?« fragte er. »Ich kann ja kaum noch den Boden erkennen.« Das war übertrieben, denn er meinte eigentlich, daß er nicht mehr die Einzelheiten ausmachen konnte, an die er gewohnt war. Außerdem wäre es schön gewesen, wenn ihn manche Leute beim Fliegen hätten sehen können. Er könnte um das Norddorf herumschwirren, die Lästerer erstaunen, sich um die Bürgerrechte bemühen… nein, das wäre unehrlich. Es war doch zu schade, daß die verlockendsten Dinge immer unrecht waren!

»Ich will es nicht an die große Glocke hängen«, sagte Donald. »Wenn die Leute dächten, daß ich wieder lebendig bin, dann könnte es Komplikationen geben.«

Oh. Na ja, das stimmte wahrscheinlich. Es könnte zu erneuten Erwartungen führen, vielleicht mußten auch Rechnungen beglichen werden, die sich nicht mit Silber bezahlen ließen.

»Siehst du das Glitzern dort?« sagte Donald und zeigte zwischen zwei Wolken nach unten. »Das ist die Silbereiche. Sie ist so gut versteckt, daß man sie nur von oben erkennen kann. Aber ich kann meinem Jungen genau erklären, wo er sie findet. Dann kann ich ruhen.«

»Ich wünschte, du könntest mir sagen, wo man magisches Talent findet«, meinte Bink deprimiert.

»Hast du denn keins? Jeder Bürger von Xanth besitzt doch magische Kräfte.«

»Deshalb bin ich ja auch keiner«, erwiderte Bink mißmutig. Sie sprachen beide mit demselben Mund. »Ich will zum Guten Magier. Wenn er mir nicht helfen kann, dann werde ich ins Exil geschickt.«

»Das Gefühl kenne ich. Ich war zwei Jahre im Exil – in dieser Höhle.«

»Wie ist das passiert?«

»Ich bin nach Hause geflogen, nachdem ich den Silberbaum entdeckt hatte. Ich war von dem Gedanken an diesen Reichtum so überwältigt, daß ich es nicht erwarten konnte. Ich habe es riskiert, im hohen Wind zu fliegen – und bin in die Schlucht geweht worden. Der Sturz war so heftig, daß ich in der Höhle gelandet bin, aber da war ich bereits tot.«

»Ich habe gar keine Knochen herumliegen sehen.«

»Du hast ja auch kein Loch im Boden gesehen. Das Erdreich hat mich bedeckt, und dann ist mein Körper von dem Fluß fortgespült

worden.«

»Aber…«

»Weißt du denn überhaupt nichts? Ein Schatten ist an den Ort

seines Todes gefesselt, nicht an seine Leiche.«

»Oh. Entschuldigung.«

»Ich bin dort geblieben, obwohl ich wußte, daß es hoffnungslos war.« Donald machte eine Pause. »Hör mal, du hast mir einen solch großen Dienst erwiesen, ich will das Silber mit dir teilen. An diesem Baum hängt genug für meine Familie und für dich. Du mußt mir nur versprechen, daß du niemandem verrätst, wo sich der Baum befindet.«

Einen Augenblick lang war Bink versucht, das Angebot anzunehmen, doch dann überlegte er es sich anders. »Ich brauche Magie, kein Silber. Ohne Magie werde ich aus Xanth verjagt und kann das Silber mit niemandem teilen. Mit Magie sind mir Reichtümer unwichtig. Wenn du es also mit jemandem teilen willst, dann teil es doch mit dem Baum. Nimm ihm nicht alle Blätter, sondern immer nur wenige auf einmal, und ein paar von den silbernen Eicheln, die herabfallen. Dann kann der Baum gesund bleiben und sich vielleicht regenerieren. Auf lange Sicht ist das sowieso einträglicher.«

»Das war ein Glückstag für mich, als du in meine Höhle gestürzt bist.« sagte Donald. Er flog eine Kurve und ging tiefer.

Als sie an Höhe verloren, knackten Binks Ohren erneut. Sie senkten sich in eine Waldlichtung, landeten und schritten eine halbe Meile weit auf ein alleinstehendes, heruntergekommenes Gehöft zu. Bink brauchte diese Bewegung auch; um die Krämpfe aus seinen Beinen endgültig zu vertreiben. »Ist es nicht schön?« fragte Donald.

Bink blickte auf den morschen Holzzaun und auf das eingesackte Dach. Ein paar Hühner scharrten im Unkraut. Doch für einen Menschen, dessen Liebe lange genug an diesem Ort hing, um ihn zwei Jahre nach seinem Tod noch durchhalten zu lassen, für den mußte es das schönste aller Gehöfte sein. »Hm«, machte er.

»Ich weiß, daß es nicht nach viel aussieht, aber nach dieser Höhle ist es der reinste Himmel«, fuhr Donald fort. »Meine Frau und mein Junge besitzen natürlich ebenfalls magische Kräfte, aber es genügt nicht. Sie kuriert Hühner, denen die Federn ausfallen, und er macht kleine Windhosen. Sie verdient gerade genug, daß sie nicht verhungern müssen. Aber sie ist eine gute Frau und über alle Maßen schön.«

Nun traten sie in den Hof. Ein siebenjähriger Junge blickte von dem Bild hoch, das er in den Staub gezeichnet hatte. Er erinnerte Bink an den Werwolfjungen, den er vor kurzem verlassen hatte – war das wirklich erst sechs Stunden her? Aber dieser Eindruck verflüchtigte sich, als der Junge den Mund öffnete. »Hau ab!« brüllte er.

»Ist wohl besser, wenn ich es ihm nicht sage«, meinte Donald ein wenig enttäuscht. »Zwei Jahre – das ist eine lange Zeit in diesem Alter. Er erkennt diesen Körper nicht. Aber sieh mal, wie groß er geworden ist!«

Sie klopften an die Tür. Eine Frau machte auf: Sie trug ein einfaches, abgetragenes Kleid, das Haar hatte sie unter einem schmutzigen Tuch zurückgebunden. Selbst in ihren besten Zeiten

hatte sie wohl allenfalls durchschnittlich gut ausgesehen, aber nun war sie von der harten Arbeit frühzeitig gealtert.

Sie hat sich kein bißchen verändert, dachte Donald bewundernd. Dann sagte er laut: »Sally!«

Die Frau starrte ihn mit verständnisloser Feindseligkeit an.

»Sally – erkennst du mich denn nicht? Ich bin von den Toten zurückgekehrt, um meine Angelegenheiten zu erledigen.«

»Don!« rief sie, und ihre Augen begannen zu leuchten.

Dann legte sich Binks Arm um sie, und seine Lippen küßten die ihren. Er sah sie mit Donalds überwältigenden Gefühlen, und da wirkte sie gut und schön – über alle Maßen.

Donald löste sich wieder von ihr und blickte die Schönheit ihrer Liebe an, als er sprach. »Merk dir das, Liebling: Dreizehn Meilen nordöstlich von dem kleinen Mühlteich befindet sich neben einer scharfen Klippe, die von Osten nach Westen führt, ein Silberbaum. Geh hin und ernte ihn – immer nur ein paar Blätter auf einmal, damit er keinen Schaden erleidet. Verkauf das Metall so weit von hier, wie du kannst, oder laß das von einem Freund erledigen. Erzähle niemandem, woher dein Reichtum stammt. Heirate wieder – es wird eine gute Mitgift abgeben, und ich will, daß du glücklich bist und daß der Junge einen Vater bekommt.«

»Don«, sagte sie, und in ihren Augen standen Tränen des Schmerzes und der Freude. »Jetzt, da du wieder hier bist, ist mir jedes Silber egal.«

»Ich bin nicht wieder hier! Ich bin tot und komme nur als Schatten zurück, um dir von dem Baum zu erzählen. Nimm es an, verwende es, oder mein Kampf war vergebens. Versprich mir das!«

»Aber…« fing sie an, dann sah sie seinen Gesichtsausdruck. »Also gut, Don, ich verspreche es. Aber ich werde niemals einen anderen Mann lieben!«

»Meine Aufgabe ist erfüllt, meine Last abgelegt«, sagte Donald. »Noch einmal, Liebste.« Er beugte sich vor, um sie noch einmal zu

küssen – und löste sich auf. Bink merkte, wie er die Frau eines anderen küßte.

Sie merkte es ebenfalls und riß ihr Gesicht fort. »Äh, Entschuldigung«, sagte Bink entsetzt. »Ich muß jetzt gehen.«

Sie starrte ihn plötzlich mit hartem Blick an. Alles, was ihr noch an Freude geblieben war, war nun durch das kurze Erscheinen ihres Mannes aufgezehrt worden. »Was schulden wir Ihnen, Fremder?«

»Nichts, Donald hat mir das Leben gerettet, indem wir aus der Spalte geflogen sind, wo der Drache hinter uns her war. Das Silber gehört Ihnen. Ich werde Sie niemals wiedersehen.«

Sie entspannte sich, sobald sie merkte, daß er ihr das Silber nicht wegnehmen würde. »Danke, Fremder.« Dann, plötzlich: »Sie könnten einen Teil des Silbers haben, wenn Sie wollen. Er hat mir gesagt, daß ich wieder heiraten soll…«

Sie heiraten? »Ich besitze keine magischen Kräfte«, sagte Bink. »Ich werde ins Exil gehen müssen.« Es war die schonendste Art, nein zu sagen. Nicht alles Silber in Xanth würde ihm diese Situation hier schmackhaft machen können, auf keine Weise.

»Bleiben Sie zum Essen?«

Er war hungrig, aber so hungrig auch wieder nicht. »Ich muß weiter. Erzählen Sie Ihrem Sohn nichts von Donald; er war der Meinung, daß es dem Jungen nur weh tun könnte. Leben Sie wohl.«

»Leben Sie wohl«, sagte sie. Einen kurzen Moment sah er die Schönheit, die Donald in ihr erblickt hatte, dann war auch das verloren.

Bink drehte sich um und ging. Draußen kam eine wirbelnde Windhose auf ihn zu, ein Produkt der Magie des Jungen, gegen unliebsame Fremde gerichtet. Bink wich ihr aus und eilte davon. Er war froh, daß er dem Prospektor diesen Gefallen hatte tun können, aber er war auch erleichtert, daß es vorüber war. Es war ihm vorher noch nie so richtig klargeworden, was Armut und Tod für eine Familie bedeuten konnten.