1 Xanth

 

Eine kleine Eidechse, die auf einem braunen Stein hockte. Als Menschen den Pfad entlangkamen, bekam sie Angst und verwandelte sich nacheinander in einen Stechkäfer, einen Stinkpuster und schließlich in einen feurigen Salamander.

Bink lächelte. Diese Verwandlungen waren nicht wirklich. Sie hatte wohl die Gestalt von widerlichen kleinen Ungeheuern angenommen, nicht jedoch ihr Wesen. Sie konnte weder stechen noch stinken, noch brennen. Es war ein Chamäleon, das seine Magie dazu benutzte, wirklich bedrohliche Wesen nachzuahmen.

Und doch ließ Binks Belustigung nach, als sie sich in einen Basilisken verwandelte und ihn finster anstarrte. Wenn ihre Boshaftigkeit ihn treffen könnte, dann würde er eines schlimmen Todes sterben.

Da stürzte plötzlich ein schweigender Mottenfalke aus dem Himmel herab und packte das Chamäleon mit seinem Schnabel. Mit einem dünnen Schmerzensschrei krümmte sich die Echse zusammen, dann blieb sie schlaff im Schnabel des Falken hängen, der wieder emporstieg. Trotz all seiner Masken war das Chamäleon nun tot. Selbst beim Versuch, Bink zu bedrohen, war es von anderer Seite vernichtet worden.

Diese Erkenntnis sickerte durch Binks Gefühlswelt. Das Chamäleon war harmlos – doch der größte Teil des ungezähmten Xanth war es nicht. War dies irgendein verzerrtes Omen, ein kleiner Hinweis auf das Schicksal, das ihn erwartete? Omen waren eine ernste Angelegenheit, sie bewahrheiteten sich immer, wurden jedoch meistens erst zu spät richtig gedeutet. War Bink dazu verdammt, auf brutale Weise ums Leben zu kommen – oder galt das für einen seiner Feinde?

Soweit er wußte, hatte er gar keine Feinde.

Die goldene Sonne von Xanth schimmerte durch den magischen Schild und ließ die Bäume wie Funken glitzern. Alle Pflanzen hatten ihren Zauber, doch kein Zauberspruch konnte das Bedürfnis nach Licht, Wasser und gesundem Boden abschaffen. Statt dessen wurde die Magie dazu verwandt, diese Notwendigkeiten des Pflanzenreiches besser zugänglich zu machen oder um die Pflanzen vor der Vernichtung zu schützen, bis sie schließlich von einer stärkeren Magie überwältigt wurden oder – wie das Chamäleon – einfach vom Pech.

Während sie durch einen schrägen Sonnenstrahl schritt, blickte Bink das Mädchen an seiner Seite an. Er war keine Pflanze, aber auch er hatte seine Bedürfnisse, und selbst der beiläufigste Blick auf sie erinnerte ihn daran. Sabrina war von vollkommener Schönheit – und diese Schönheit war völlig natürlicher Art. Andere Mädchen schafften es, ihre Schönheit mit Hilfe von Kosmetik oder Spezialzaubern zu erhöhen, doch neben Sabrina wirkten alle anderen Frauen ein wenig künstlich. Sie war kein Feind!

Sie kamen zum Ausblicksfelsen. Das war kein besonders steiles Vorgebirge, aber durch seine Situationsmagie wirkte es viel höher, als es in Wirklichkeit war, so daß sie auf ein Viertel der Fläche von Xanth hinabblicken konnten. Es war ein Land von buntem Bewuchs, kleinen, hübschen Teichen und trügerisch stillen Feldern von Blumen, Farnen und Nutzpflanzen. Sogar beim Zuschauen weitete sich einer der Teiche ein wenig und wurde scheinbar kühler und tiefer, ein noch schönerer Ort zum Schwimmen.

Bink dachte kurz darüber nach, wie schon so oft. Er besaß einen unruhigen Geist, der ihn andauernd mit Fragen belästigte, auf die es keine Antwort gab. Als Kind hatte er Eltern und Freunde beinahe zur Weißglut gebracht mit seinem ›Warum ist die Sonne gelb‹, ›Warum nagen Menschenfresser Knochen‹, ›Warum können Seeungeheuer nicht zaubern‹ und ähnlich kindischem Geplapper. Kein Wunder, daß man ihn schon bald auf die Zentaurenschule abgeschoben hatte. Nun hatte er gelernt, seinen Mund zu halten, doch nicht sein Gehirn, und so ließ er es schweigend weiterlaufen.

Belebte Zauber konnte er verstehen, wie etwa den des unglückseligen Chamäleons; sie erleichterten das Leben, das Überleben oder auch den Selbstausdruck belebter Wesen. Aber warum sollten unbelebte Dinge Magie haben? Machte ein Teich sich etwas daraus, wer in ihm schwamm? Na ja, vielleicht; ein Teich war eine ökologische Einheit, und die Gemeinschaft der Wesen in ihm mochte ein Interesse daran haben, das zu fördern. Vielleicht war auch ein Süßwasserdrache dafür verantwortlich, der damit Beute anlockte. Drachen waren die vielfältigste und gefährlichste Lebensform in Xanth; sie bewohnten Luft, Erde und Wasser, und einige von ihnen spien Feuer. Eines hatten sie alle gemeinsam: einen gesegneten Appetit. Der Zufall allein bescherte vielleicht nicht genügend Frischfleisch, also mußten sie wohl nachhelfen.

Aber was war mit dem Ausblicksfelsen? Er war kahl, war noch nicht einmal mit Flechten bewachsen und nicht besonders schön. Warum sollte er sich Gesellschaft wünschen? Und wenn das der Fall sein sollte, warum machte er sich nicht einfach hübscher, anstatt grau und kahl zu bleiben? Die Leute kamen nicht hierher, um den Felsen zu bewundern, sondern um den Rest von Xanth zu bestaunen. Ein solcher Zauber führte sich doch selbst ad absurdum!

Da stieß sich Bink seinen Zeh an einem scharfen Stück Stein. Er stand gerade auf einer Terrasse aus Splittergestein, die sich vor Generationen durch das Auseinanderbrechen eines schön gefärbten Felsens gebildet hatte, und…

Das war es! Dieser andere Felsen, der sich in der Nähe des Ausblicksfelsens befunden hatte und von gleicher Größe gewesen sein mußte, war zertrümmert worden, um daraus diesen Pfad und die Terrasse zu schaffen. Der Ausblicksfelsen hatte überlebt. Niemand würde ihn nun zertrümmern, denn er würde einen häßlichen Pfad abgeben, und seine selbstlose Magie machte ihn eben an der Stelle nützlich, an der er stand. Ein kleines Geheimnis war enthüllt.

Trotzdem gab es da noch philosophische Fragen, beharrte sein unersättlicher Verstand. Wie konnten unbelebte Dinge denkenoder Gefühle haben? Was galt einem Fels das Überleben? EinFelsen war doch nur der Überrest einer früheren Steinschicht; warum sollte er also eine eigene Persönlichkeit haben und die Steinschicht nicht? Aber diese Frage konnte man auch über den Menschen stellen: Er war aus dem Gewebe von Pflanzen und Tieren gemacht, die er verzehrte, und doch besaß er ein eigenes –

»Worüber wolltest du mit mir reden, Bink?« fragte Sabrina geziert.

Als wenn sie das nicht wußte! Doch während sein Gehirn die richtigen Worte bildete, weigerte sich sein Mund, sie auch auszusprechen. Er wußte schon, was sie darauf antworten mußte.

Niemand konnte über seinen fünfundzwanzigsten Geburtstag hinaus in Xanth bleiben, wenn er vorher nicht irgendeine magische Fähigkeit unter Beweis gestellt hatte. Binks eigener entscheidender Geburtstag lag kaum noch einen Monat entfernt. Er war nun kein Kind mehr. Wie sollte sie einen Mann heiraten, der schon so bald ins Exil gehen mußte?

Warum hatte er nicht daran gedacht, bevor er sie hierhergebracht hatte? Er konnte sich doch nur blamieren! Nun mußte er ihr irgend etwas sagen oder sich noch mehr blamieren

und es dadurch auch für sie noch peinlicher machen. »Ich wollte nur etwas sehen, dein… dein…«

»Mein was sehen?« fragte sie mit einer hochgezogenen Augenbraue.

Er spürte, wie ihm die Hitze den Hals hochstieg. »Deine Holographie«, platzte er heraus. Er wollte noch vieles mehr von ihr sehen und berühren, aber das konnte erst nach der Heirat kommen. Sie war solch ein Mädchen, und das war ein Teil ihres Charmes. Die Mädchen, die so etwas an sich hatten, brauchten sich nicht anders zu geben.

Na ja, ganz stimmte das doch nicht. Er dachte an Aurora, die eigentlich genauso war und die doch…

»Bink, es gibt einen Weg«, sagte Sabrina.

Er blickte sie von der Seite an, dann sah er hastig und verwirrt fort. Sie konnte doch wohl nicht vorschlagen…

»Der Gute Magier Humfrey«, fuhr sie fort.

»Was?« Er hatte gerade an etwas anderes gedacht, was nicht eben für sein Wunschdenken sprach.

»Humfrey kennt hundert Zauber. Vielleicht kann einer von ihnen… Ich bin sicher, daß er herausbekommen kann, worin dein Talent besteht. Dann wäre doch alles in Ordnung.«

Oh. »Aber er verlangt doch einen Jahresdienst für einen einzigen Zauber«, protestierte Bink. »Ich habe nur noch einen Monat.« Aber das war nicht ganz richtig. Wenn der Magier an Bink ein magisches Talent entdecken sollte, dann würde er nicht exiliert werden und ein Jahr zur Verfügung haben. Er war tief gerührt von Sabrinas Glauben an ihn. Sie sagte nicht das, was die anderen sagten: daß er kein Talent zur Magie habe. Sie machte ihm das große Kompliment, daran zu glauben, daß seine magischen Fähigkeiten nur noch nicht entdeckt worden waren.

Vielleicht war es dieser Glaube, der ihn zuerst zu ihr hingezogen hatte. Gewiß, sie war schön und klug und talentiert, in jeder Hinsicht großartig. Doch sie hätte auch viel weniger von all dem haben können, und doch wäre sie seine…

»Ein Jahr ist nicht sehr lang«, murmelte Sabrina. »Ich würde warten.«

Bink starrte auf seine Hände hinab und dachte nach. Seine rechte Hand war normal und unversehrt, aber er hatte den Mittelfinger seiner linken bei einem Unfall in der Kindheit verloren. Es war nicht einmal das Ergebnis feindlicher Magie gewesen: Er hatte mit einem Beil gespielt, einen Halm Rollgras festgehalten und so getan, als sei es der Schwanz eines Drachen. Schließlich konnte ein Junge gar nicht früh genug damit anfangen, sich auf die ernsteren Seiten des Lebens vorzubereiten. Das Gras war seinem Griff entglitten, und er hatte genau in dem Augenblick danach gegriffen, als das Beil heruntergesaust war.

Es hatte weh getan, aber das schlimmste daran war gewesen, daß er mit dem Beil nicht hatte spielen dürfen, deshalb hatte er weder geschrien noch von seiner Verletzung zu erzählen gewagt. Er hatte sich mit gewaltiger Anstrengung beherrscht und schweigend gelitten. Er hatte den Finger vergraben und seine verletzte Hand tagelang dadurch versteckt gehalten, daß er sie geschlossen hielt. Als die Wahrheit schließlich entdeckt wurde, war es zu spät für einen Heilzauber gewesen. Der Finger war verfault und konnte nicht wieder angefügt werden. Ein wirklich kräftiger Zauber hätte ihn vielleicht wieder befestigen können, aber es wäre immer noch ein Zombiefinger geblieben.

Man hatte ihn nicht bestraft. Seine Mutter Bianca war der Meinung, daß er seine Lektion gelernt habe – und das hatte er, das hatte er! Wenn er noch einmal heimlich mit einem Beil spielen sollte, dann würde er schon aufpassen, wo seine Finger blieben. Sein Vater schien insgeheim zufrieden gewesen zu sein, daß Bink sich so tapfer und zäh gehalten hatte, selbst als er etwas ausgefressen hatte. »Der Junge hat Nerven«, hatte Roland gesagt. »Wenn er nun nur noch magisches Talent hätte…«

Bink riß seinen Blick von der Hand fort. Das war vor fünfzehn Jahren gewesen. Plötzlich schien ein Jahr wirklich sehr kurz zu sein. Ein Jahr Dienst – im Austausch für ein Leben mit Sabrina. Das war schon ein Geschäft!

Aber – angenommen, er besaß kein magisches Talent? Sollte er ein Jahr dafür opfern, um hinterher in die graue, fade Welt der Magieunbegabten hinausgestoßen zu werden? Oder wäre es vielleicht besser, das Exil auf sich zu nehmen und sich der fruchtlosen Hoffnung hinzugeben, daß er doch ein schlummerndes Talent haben könnte?

Sabrina, die seine Gedankenverwirrung respektierte, begann mit ihrer Holographie. Ein blauer Schleier erschien vor ihr und ruhte auf der Steigung. Er dehnte sich aus, wurde an den Rändern dünner und in der Mitte dichter, bis er zwei Fuß Durchmesser hatte. Er sah aus wie dichter Rauch, aber er verteilte sich nicht und schwebte auch nicht davon.

Nun begann sie zu summen. Sie hatte eine schöne Stimme – keine großartige Stimme, aber eine, die für ihre Art von Magie gerade richtig war. Die blaue Wolke fing an zu zittern und verfestigte sich, bis sie zu einer groben Kugel geworden war. Dann änderte Sabrina ihre Stimmlage, und der äußere Rand wurde gelb. Sie öffnete den Mund, sang das Wort »Mädchen«, und die Farben nahmen die Gestalt eines jungen Mädchens in einem blauen Kleid mit gelben Borten an. Die Gestalt war dreidimensional und konnte von allen Seiten aus einer anderen Perspektive gesehen werden.

Es war eine schöne Fähigkeit. Sabrina konnte alles formen – aber die Bilder verschwanden, sobald ihre Konzentration nachließ, und sie hatten niemals irgendwelche Stofflichkeit. Genaugenommen war dies also eigentlich nutzlose Magie. Sie verbesserte ihr Leben in materieller Hinsicht in keiner Form.

Doch wie viele Talente halfen ihren Besitzern schon wirklich? Der eine konnte dafür sorgen, daß ein Baumblatt unter seinem Blick verschrumpelte und verwelkte. Ein anderer konnte den Geruch von saurer Milch fabrizieren. Wieder ein anderer konnte irrsinniges Gelächter aus dem Boden hervorsteigen lassen. Das war alles Magie, aber was nutzte sie? Warum sollten sich solche Leute als Bürger von Xanth qualifizieren können, während Bink, der klug, stark und hübsch anzusehen war, disqualifiziert war? Und doch war dies die unumstößliche Regel: kein nichtmagischer Mensch durfte länger als fünfundzwanzig Jahre bleiben.

Sabrina hatte recht: Er mußte sein Talent feststellen. Er hatte es nie allein feststellen können, also mußte er den Preis des Guten Magiers zahlen. Das würde ihm nicht nur das Exil ersparen – das in Wirklichkeit schlimmer als der Tod war, denn was für einen Sinn hatte ein Leben ohne Magie? –, sondern ihm auch Sabrina bescheren, was erheblich besser war als der Tod. Außerdem würde es seine gebrochene Selbstachtung wiederherstellen. Er hatte keine Wahl.

»Oh!« rief Sabrina und schlug sich mit den Handflächen auf ihr straffes Hinterteil. Die Holographie löste sich auf; das Mädchen in dem blauen Kleid zuckte grotesk, bevor es verschwand. »Ich brenne!«

Bink trat beunruhigt näher. Doch sofort erscholl lautes Gelächter. »Numbo, hör auf damit!« rief Sabrina und wirbelte wütend herum. »Das ist überhaupt nicht witzig!«

Es war natürlich Numbo, der ihr einen magischen Heißsitz verpaßt hatte, einen feurigen Schmerz im Hinterteil. Nutzlose Talente! Mit zusammengeballten Fäusten ging Bink auf den grinsenden Jungen zu, der hinter dem Ausblicksfelsen stand. Numbo war fünfzehn, frech und eine Plage; er verdiente eine Lektion.

Aber Binks Fuß rutschte auf einem losen Stein aus. Es tat zwar nicht weh, bremste aber sein Tempo. Seine Hand schwang vor – und seine Finger berührten eine unsichtbare Wand.

Wieder erscholl Gelächter. Bink war dank des Steins nicht voll gegen die Wand geprallt, aber offensichtlich dachte irgend jemand, daß er das getan hätte.

»Du auch, Chilk!« sagte Sabrina. Das war Chilks Talent: die Wand. Es war eine Art von Ergänzung zu Sabrinas Talent: Anstatt sichtbar zu sein, ohne Substanz zu haben, hatte es Substanz, ohne sichtbar zu sein. Es war nur sechs Fuß im Quadrat groß und war, wie so viele Talente, nur von vorübergehender Art – aber im ersten Augenblick war die Wand so hart wie Stahl.

Bink hätte drumherum laufen und das Kind erwischen können, aber er wäre mit Sicherheit noch mehrmals gegen diese Wand gelaufen und hätte schließlich mehr Schaden davongetragen als das Kind, wenn er es erwischt hätte. Das war die Sache nicht wert. Wenn er nur ein eigenes Talent gehabt hätte, dann hätte er es dem Witzbold schon heimzahlen können, aber das war nicht der Fall, und das wußte Chilk auch. Jeder wußte es. Das war ja auch Binks Problem: Alle Scherzbolde betrachteten ihn als ideales Opfer ihrer Streiche, weil er sich nicht wehren konnte – jedenfalls nicht auf magische Weise, und es galt als unfein, anders zu reagieren. Aber im Augenblick war er durchaus dazu bereit, unfein zu sein.

»Gehen wir, Bink«, sagte Sabrina. In ihrer Stimme klang Ekel mit, der sich offiziell zwar gegen die Eindringlinge richtete, der sich aber, wie Bink vermutete, zum Teil auch auf ihn bezog. Eine machtlose Wut fing an, in ihm emporzusteigen – eine, die er schon viele Male zuvor empfunden hatte, an die er sich jedoch nie hatte gewöhnen können. Er war daran gehindert worden, ihr einen Antrag zu machen, weil er kein Talent besaß, und aus demselben Grund durfte er nicht hierbleiben. Weder hier am Ausblicksfelsen noch in Xanth. Weil er einfach nicht ins Schema paßte.

Sie schritten den Pfad zurück. Die Witzbolde, die sich an ihren Opfern nicht weiter ergötzen konnten, gingen fort, um andere Streiche auszuhecken. Die Landschaft wirkte mit einemmal gar nicht mehr so hübsch. Vielleicht wäre es besser, wenn er nicht länger hierbliebe. Vielleicht sollte er schon jetzt gehen und nicht darauf warten, offiziell ins Exil geschickt zu werden. Wenn Sabrina ihn wirklich liebte, dann könnte sie ja mitkommen – selbst nach draußen, nach Mundania.

Nein, so naiv war er nicht. Sabrina liebte ihn – aber Xanth liebte sie auch. Sie sah so süß aus, hatte solch küssenswerte Lippen, daß sie leichter einen anderen geeigneten Mann finden konnte, als sich an das harte Leben unter den Nichtmagischen anzupassen. Davon abgesehen, konnte er selbst auch leichter ein anderes Mädchen finden als… das, was ihm bevorstand. Objektiv gesehen, wäre es wahrscheinlich besser für ihn, allein fortzugehen.

Warum stimmte sein Herz dem also nicht zu?

Sie kamen an dem braunen Stein vorbei, auf dem das Chamäleon gehockt hatte, und er erschauerte.

»Warum fragst du denn nicht Justin?« schlug Sabrina vor, als sie sich dem Dorf näherten. Es war dämmrig und wurde hier unten schneller dunkel als oben auf dem Ausblicksfelsen. Die Lampen im Dorf gingen an.

Bink blickte zu dem einmaligen Baum hinüber, auf den sie gewiesen hatte. Es gab vielerlei Bäume in Xanth, und einige von ihnen waren sehr wichtig für die Wirtschaft. Man zapfte Bierfaßbäume an, um Getränke daraus zu gewinnen, undÖlfaßbäume wegen des Brennstoffs, und Binks eigene Schuhe stammten von einem reifen Schuhbaum östlich vom Dorf. Aber Justin Baum war etwas Besonderes, eine Art, die nie aus einem Samen hervorgegangen war. Seine Blätter hatten die Form von flachen Händen, und sein Stamm besaß die Form von gebräuntem menschlichen Fleisch. Das war auch kaum verwunderlich, denn schließlich war er ja auch einmal menschlich gewesen.

In einem einzigen Augenblick blitzte diese Geschichte an Binks innerem Auge vorbei. Es war ein Teil der bunten Überlieferungen von Xanth. Vor zwanzig Jahren hatte es einmal einen der größten Bösen Magier Xanths gegeben, einen jungen Mann namens Trent. Er hatte die Fähigkeit der Transformation besessen – die Macht, jedes Lebewesen in jedes beliebige andere Lebewesen zu verwandeln. Da er sich mit seiner Stellung als Magier, die ihm in Würdigung seiner beachtlichen Macht verliehen worden war, nicht zufriedengeben mochte, hatte Trent seine Macht dazu zu gebrauchen versucht, den Thron von Xanth an sich zu reißen.

Er war sehr schlicht und direkt dabei vorgegangen: Er verwandelte alles, was sich gegen ihn stellte, in etwas, was sich nicht mehr gegen ihn stellen konnte. Die gefährlichsten Gegner verwandelte er in Fische – und zwar auf dem trockenen Land, die er so lange herumzappeln ließ, bis sie tot waren. Diejenigen, die ihm lediglich lästig waren, wurden in andere Tiere oder Pflanzen verwandelt. So verdankten ihm zahlreiche intelligente Tiere ihre Existenz; wenn sie auch Drachen, zweiköpfige Wölfe und Landoktopi waren, behielten sie doch die Intelligenz von Menschen und auch ihre Ansichten.

Trent war nun fort, aber sein Werk blieb bestehen, denn es gab keinen anderen Transformator, der sie hätte zurückverwandeln können. Heißsitze, Holographien und unsichtbare Wände waren zwar Qualifikationsmerkmale, doch Transformationen hatten ein anderes Format. Eine solche Macht trat nur einmal in jeder Generation auf und selten zweimal auf die gleiche Weise. Justin hatte zu denen gehört, die Trent als Belästigungen empfunden hatte – niemand erinnerte sich mehr, was er eigentlich getan hatte –, also war Justin zu einem Baum geworden. Niemand konnte ihn in einen Menschen zurückverwandeln.

Justins eigenes Talent war die Stimmenprojektion gewesen, nicht Bauchreden oder triviales Beschwören irrsinnigen Gelächters, sondern echtes, verständliches Reden auf große Entfernungen ohne den Gebrauch von Stimmbändern. Er hatte dieses Talent als Baum beibehalten, und da er sehr viel Zeit zum Nachdenken hatte, kamen die Dorfbewohner häufig zu diesem Baum, um sich Rat einzuholen. Der Rat war oft sehr gut. Justin war kein Genie, aber der Baum besaß eine größere Objektivität, wenn es um menschliche Probleme ging.

Bink fiel ein, daß Justin als Baum vielleicht besser dran war als ein Mensch. Er mochte die Leute, aber es hieß, daß er in seiner menschlichen Gestalt nicht besonders gut ausgesehen hatte. Als Baum war er recht ansehnlich und stellte für niemanden eine Gefahr dar.

Sie schritten auf Justin zu. Plötzlich sagte eine Stimme unmittelbar vor ihnen: »Freunde, kommt nicht näher. Hier lauern Grobiane.«

Bink und Sabrina blieben stehen. »Bist du es, Justin?« fragte sie. »Wer lauert da?«

Doch der Baum konnte nicht genausogut hören wie reden und gab keine Antwort. Holz schien nicht gerade die besten Ohren zu haben.

Wütend machte Bink einen Schritt auf Justin zu. »Justin gehört zur Gemeinde«, murmelte er. »Niemand hat ein Recht…«

»Bitte, Bink!« flehte Sabrina und zog an seinem Arm. »Wir wollen keine Schwierigkeiten bekommen.«

Nein, sie wollte nie Schwierigkeiten bekommen. Er wollte zwar nicht so weit gehen, darin einen Fehler zu sehen, aber manchmalwar es wirklich lästig. Bink ließ sich nie durch Ärger oder Schwierigkeiten von irgend etwas abhalten, wenn es um Prinzipien ging. Aber Sabrina war schön, und er hatte ihr heute abend schongenug Ärger gemacht. Er drehte sich um, um mit ihr zusammen von dem Baum fortzugehen.

»He, das ist unfair!« rief eine Stimme. »Sie gehen weg.«

»Justin muß gepetzt haben«, rief eine andere Stimme.

»Dann laßt uns Justin umhauen.«

Bink blieb wieder stehen. »Das tun sie nie!« sagte er.

»Natürlich nicht«, stimmte Sabrina ihm zu. »Justin ist ein Dorfdenkmal. Beachte sie einfach nicht weiter.«

Doch die Stimme des Baumes erklang wieder, ein wenig falsch plaziert für Bink und Sabrina – ein Zeichen für mangelhafte Konzentration. »Freunde, bitte holt schnell den König. Diese Grobiane haben eine Axt oder so etwas, und außerdem haben sie Locobeeren gegessen.«

»Eine Axt!« rief Sabrina entsetzt.

»Der König ist nicht da«, brummte Bink. »Außerdem ist er sowieso senil.«

»Und er hat seit Jahren allenfalls noch einen Sommerschauer herbeigezaubert«, stimmte Sabrina ihm zu. »Als er noch seine vollen magischen Kräfte hatte, haben es die Kinder nicht gewagt, so viel Unfug anzustellen.«

»Wir jedenfalls nicht«, antwortete Bink. »Erinnerst du dich noch an den Hurrikan mit den sechs Tornados am Rand, den er beschworen hat, um den letzten Zappler am Laichen zu hindern? Damals war er noch ein richtiger Sturmkönig. Er…«

Da hörten sie, wie Metall in Holz hineinbiß. In der Luft erscholl

ein Schmerzensschrei. Bink und Sabrina zuckten zusammen.

»Das ist Justin!« sagte sie. »Sie tun es doch!«

»Ist sowieso zu spät, um den König zu holen«, sagte Bink. Er rannte auf den Baum zu.

»Bink, nicht!« rief Sabrina hinter ihm her. »Du hast keine magischen Fähigkeiten!«

In diesem Augenblick der Krise kam also endlich die Wahrheit ans Tageslicht. Sie glaubte gar nicht wirklich, daß er Talent besäße. »Ich habe aber Muskeln!« brüllte er zurück. »Geh du Hilfe holen.«

Justin schrie wieder auf, als sich die Klinge ein zweites Mal in sein Holz senkte. Es war ein gespenstisches, hölzernes Geräusch. Dann war Gelächter zu hören – das fröhliche Lachen von Kindern, die einen Streich spielen, ohne sich über die Folgen Gedanken zu machen. Loco? Von wegen! Das hier war einfach nur Gefühllosigkeit.

Dann kam Bink an. Und – war allein. Gerade, als er in Stimmung gekommen war und sich auf eine ordentliche Prügelei eingestellt hatte. Die boshaften Kinder waren fort.

Er hätte erraten können, wer es gewesen war, aber das brauchte er nicht. »Jama, Zink und Potipher«, sagte Justin Baum. »Auuuu, mein Fuß!«

Bink kauerte sich nieder, um den Einschnitt zu untersuchen. Das Holz war frisch angeschlagen, und rotes Harz begann herauszutropfen – ganz wie Blut. Keine allzu ernste Verletzung für einen Baum von dieser Größe, aber bestimmt außerordentlich schmerzhaft.

»Ich hole ein paar Kompressen dafür«, sagte Bink. »Im Wald gibt es ganz in der Nähe ein paar Korallenschwämme. Wenn dich jemand belästigen sollte, während ich fort bin, dann schrei laut.«

»Das werde ich«, sagte Justin. »Beeil dich.« Dann fügte er hinzu: »Du bist ein großartiger Bursche, Bink. Viel besser als einige, die… äh…«

»Die magische Fähigkeiten besitzen«, beendete Bink den Satz. »Danke, daß du meine Gefühle schonen willst.« Justin meinte es gut, aber manchmal redete er, ohne vorher nachzudenken. Das lag daran, daß er ein hölzernes Gehirn besaß.

»Es ist einfach nicht gerecht, daß solche Herumtreiber wie Jama sich Bürger nennen dürfen, während du…«

»Danke«, sagte Bink grollend und ging fort. Er war völlig Justins Meinung, aber was nutzte es, darüber zu reden? Er überzeugte sichim Gebüsch davon, daß die Übeltäter verschwunden waren.

Jama, Zink und Potipher, dachte er verärgert – die Dorfmissetäter. Jamas magische Fähigkeit bestand darin, ein Schwert manifestieren zu lassen, und damit hatte er auch auf Justins Stamm eingeschlagen. Jeder, der solchen Vandalismus für lustig hielt –

Bink erinnerte sich an seine eigenen üblen Erfahrungen mit diesem Haufen, es lag nur drei Jahre zurück. Berauscht von Locobeeren, hatten die drei an einem Pfad nahe beim Dorf im Hinterhalt gelauert, nur um irgend etwas anstellen zu können. Bink war mit einem Freund zusammen in diese Falle geraten, und sie waren von der Wolke Giftgas, die Potiphers Talent ausmachte, zurückgedrängt worden, während Zink dicht vor ihren Füßen Scheinlöcher produzierte und Jama fliegende Schwerter materialisierte, vor denen sie sich ducken mußten. Welch ein Schabernack!

Binks Freund hatte seine Magie dazu verwandt, zu entfliehen, indem er aus einem Stock einen Golem machte, der seine Stelle einnahm. Der Golem hatte ihm so sehr geglichen, daß er die drei hinters Licht geführt hatte. Bink hatte den Unterschied natürlich bemerkt, aber er hatte seinen Freund nicht verraten. Aber wenn der Golem auch immun gegen Giftgas gewesen war, so war Bink es leider nicht. Er hatte etwas davon eingeatmet und das Bewußtsein verloren, noch während sein Freund mit Binks Vater und Mutter angekommen war.

Bink hatte plötzlich gemerkt, wie er in der Wolke den Atem anhielt. Er sah, wie seine Mutter seinen Vater am Arm zog und auf Bink zeigte. Bianca besaß die Fähigkeit der Wiederholung: Sie konnte innerhalb eines kleinen Gebiets fünf Sekunden zurückspringen. Das war eine sehr begrenzte, aber äußerst wirkungsvolle Form der Magie, denn es ermöglichte ihr, einen gerade begangenen Fehler nachträglich zu berichtigen, wie etwa Binks Einatmen des Giftgases.

Dann hatte er wieder ausgeatmet und Biancas Magie nutzlos gemacht. Sie konnte die Szene beliebig oft wiederholen, aber es wurde eben alles wiederholt, auch sein Atmen. Doch Roland hatte ihn durchdringend angeblickt – da war Bink plötzlich steif gefroren.

Rolands Talent bestand im Betäubungsblick: Ein besonderer Blick, und alles, was er ansah, war auf der Stelle festgefroren und bewegungslos, bis es wieder freigegeben wurde. Auf diese Weise hatte man Bink daran gehindert, das Gas ein zweites Mal einzuatmen, bis man seinen steifen Körper fortgeschafft hatte.

Als die Betäubung nachgelassen hatte, hatte er sich in den Armen seiner Mutter wiedergefunden. »O mein Baby!« hatte sie gerufen und seinen Kopf an ihre Brust gedrückt. »Haben sie dir weh getan?«

Bink blieb abrupt neben dem Schwammbett stehen. Schon die Erinnerung daran ließ ihn immer noch schamrot werden. Hatte sie das wirklich unbedingt tun müssen? Ja, sie hatte ihn vor einem frühen Tod gerettet – aber er war unendlich lange danach das Gespött des ganzen Dorfes gewesen. Wohin er auch kam, überall riefen die Kinder »Mein Baby!« in einem hohen Falsett und kicherten. Er hatte sein Leben wieder – um den Preis seines Stolzes. Und doch wußte er, daß er seinen Eltern dafür nicht die Schuld geben konnte.

Er hatte Jama, Zink und Potipher die Schuld zugeschoben. Bink besaß keine magischen Fähigkeiten, aber er war, vielleicht ja auch aus diesem Grund, der kräftigste Junge im Dorf. Er hatte immer kämpfen müssen, soweit er zurückdenken konnte. Seine Bewegungen waren nicht besonders elegant, aber er besaß viel rohe Kraft. Er war Jama insgeheim eines Tages nachgestiegen und hatte überzeugend bewiesen, daß die Faust schneller war als das magische Schwert. Dann Zink und schließlich Potipher. Bink hatte ihn in seine eigene Gaswolke gestoßen und ihn dazu gezwungen, sie sehr plötzlich verschwinden zu lassen. Danach hatten diese drei Bink nicht mehr ausgelacht. Sie neigten nun vielmehr dazu, ihm aus dem Weg zu gehen – weshalb sie auch gerade davongelaufen waren. Zusammen hätten sie ihm vielleicht etwas anhaben können, aber diese Einzelbegegnungen hatten sie doch sehr beeindruckt.

Bink lächelte, und seine Scham wich einer grimmigen Freude. Vielleicht hatte er auf unreife Weise auf die Situation reagiert, aber es hatte ihn zutiefst befriedigt. Tief in seinem Inneren wußte er, daß es seine Wut auf seine Mutter gewesen war, die ihn dazu angetrieben hatte, aber er bedauerte es nicht. Schließlich liebte er seine Mutter ja doch.

Doch schließlich bestand seine einzige Möglichkeit, dieses Problem zu lösen, darin, sein eigenes Talent zu entdecken, ein gutes, starkes Talent wie das von Roland, seinem Vater. So daß ihn niemand mehr zu necken wagte und er nicht aus Xanth vertrieben wurde. Und das war nie geschehen. Man nannte ihn verächtlich das ›Zauberlose Wunder‹.

Er beugte sich vor, um einige gute, starke Schwämme aufzusammeln. Sie würden Justin Baums Schmerz lindern, denn das war ihre Magie: Sie saugten Schmerz auf und gaben heilende Linderung. Eine Reihe von Pflanzen und Tieren – er war sich nicht ganz sicher, wozu die Schwämme zählten – besaß ähnliche Fähigkeiten. Der Vorteil der Schwämme war, daß sie beweglich waren. Wenn man sie pflückte, dann starben sie nicht. Sie waren zäh. Sie waren aus dem Wasser gekommen, als die Korallen das gleiche getan hatten, und lebten nun auf dem Land. Ihre magischen Fähigkeiten waren wahrscheinlich entstanden, damit sie sich in ihrer neuen Umgebung besser anpassen konnten.

Talente hatten die Eigenschaft, in größeren Familien aufzutreten. So gab es im Pflanzen- und Tierreich viele verschiedene Abarten der gleichen Magie. Doch unter den Menschen gab es sehr verschiedene Formen. Es schien, als habe die individuelle Persönlichkeit mehr damit zu tun als die Vererbung, obwohl sich die stärkste Magie in der Regel in einzelnen Familien fortpflanzte. So, als sei die Stärke der Magie erblich und die Form umweltabhängig. Und doch gab es da auch andere Faktoren…

Bink konnte in einem einzigen Augenblick viele Dinge überdenken. Wenn Reflektion Magie gewesen wäre, dann wäre er ein Magier. Aber im Augenblick war es besser, wenn er sich auf das konzentrierte, was er vorhatte, sonst würde es Ärger geben.

Die Dämmerung wurde immer stärker, und die Nacht mit ihren vielen fremden, noch kaum erforschten Zaubern begann, Xanth zu verändern. Schatten und Gespenster traten hervor und suchten nach ihrer garstigen Befriedigung; und ab und zu riß sich ein Zombie aus dem Grab und stolperte unbeholfen umher. Kein vernünftiger Mensch wagte es, im Freien zu schlafen, und jedes Haus im Dorf besaß eigene Abwehrzauber gegen das Übernatürliche. Bink wagte es nicht, die Abkürzung zu Justin Baum zu nehmen. Er mußte den längeren Weg gehen und den verschlungenen, aber magisch geschützten Pfaden folgen. Das hatte nichts mit Furchtsamkeit zu tun, sondern war eine Frage der Notwendigkeit.

Er rannte los – nicht aus Angst, denn auf diesem verzauberten Weg gab es keine wirklichen Gefahren, und er kannte die Pfade zu genau, um sich zu verirren, sondern um schneller bei Justin zu sein. Justins Fleisch bestand aus Holz, aber es tat genauso weh wie richtiges Fleisch. Wie jemand nur so herzlos sein konnte, auf Justin Baum einzuschlagen…

Bink kam an einem Feld von Seehafer vorbei und hörte das angenehme Rauschen und Gurgeln seiner Meeresfluten. Wenn man ihn geerntet hatte, dann konnte man daraus eine ausgezeichnete schaumige Brühe kochen, die nur eine Spur zu salzig war. Man konnte die Schüsseln immer nur zur Hälfte füllen, sonst schwappten die Meereswellen der Brühe über den Tellerrand.

Er erinnerte sich an den wilden Hafer, den er als Jugendlicher gepflanzt hatte. Seehafer war schon rastlos, aber sein Verwandter, der Wildhafer, war geradezu überaktiv. Er hatte sich wütend gegen ihn gewehrt und mit seinen Halmen gegen seine Handgelenkegepeitscht, als er eine reife Ähre hatte ernten wollen. Er hatte sie bekommen, aber bis er das Feld verlassen konnte, war er schon ziemlich zerkratzt worden.

Er hatte diese wenigen wilden Samen an einem geheimen Ort hinter seinem Haus gepflanzt und sie jeden Tag gewässert, wie es der Natur entsprach. Er hatte die schlechtgelaunten Sprößlinge vor jeder Unbill bewahrt, während seine Beunruhigung jedoch wuchs. Was für ein Abenteuer für einen männlichen Heranwachsenden! Bis seine Mutter das Beet entdeckt hatte. Sie hatte die Getreideart augenblicklich erkannt.

Es hatte sofort Familienärger gegeben. »Wie konntest du nur?« hatte Bianca mit flammendem Blick gefragt. Aber Roland hatte mühsam sein bewunderndes Lächeln unterdrückt. »Wildhafer zu säen!« hatte er gebrummt. »Der Junge wird erwachsen.«

»Also Roland, du weißt doch wirklich gut genug, daß…«

»Meine Liebe! Als wenn etwas Schlimmes dabei wäre!« »Nichts Schlimmes!« hatte sie wütend gerufen. »Es ist für einen jungen Mann völlig natürlich…« Aber ihr zorniger Ausdruck hatte Binks Vater zum Schweigen

gebracht. Roland fürchtete nichts in Xanth, aber er war auch ein friedliebender Mensch. Roland seufzte und wandte sich zu Bink. »Ich nehme doch an, daß du gewußt hast, was du tust, mein Sohn?«

Bink sah sich auf beschämende Weise in die Defensive gedrängt. »Na ja… Ja. Die Nymphe des Hafers…«

»Bink!« hatte Bianca geschnappt. Er hatte sie noch nie zuvor so wütend erlebt.

Roland hielt beruhigend die Hand hoch. »Meine Liebe – warum läßt du uns das nicht von Mann zu Mann klären, hm? Der Junge hat ein Recht darauf.«

Und so hatte Roland seine eigene Voreingenommenheit verraten; wenn er mit Bink von Mann zu Mann redete, dann redete er in Wirklichkeit mit einem Jungen.

Wortlos war Bianca aus dem Haus gestapft.

Roland hatte sich Bink zugewandt und seinen Kopf geschüttelt. Aber es war nur eine halbherzige Verneinung. Roland war ein kräftiger, gutaussehender Mann und besaß einen großen Schatz an Gesten. »Echter Wildhafer, vom Halm gemäht, bei Vollmond gesät und mit deinem eigenen Urin gewässert?« fragte er offenherzig, und Bink nickte mit rot angelaufenem Gesicht. »So daß, wenn die Pflanze reif wird und die Hafernymphe sich manifestiert, sie an dich gebunden sein wird, an die Befruchtergestalt?«

Bink nickte grimmig.

»Mein Sohn, glaub mir, ich verstehe deine Fasziniertheit. Ich habe selbst Wildhafer gesät, als ich in deinem Alter war. Habe mir auch eine Nymphe beschafft, mit fließendem grünen Haar und einer Figur wie die großen Freiluft – aber ich hatte die

Spezialbewässerung vergessen, da ist sie mir entkommen. Ich habe nie im Leben ein so schönes Wesen gesehen – außer deiner Mutter natürlich.«

Roland hatte wilden Hafer gesät? Bink hatte sich so etwas noch nie vorgestellt. Er schwieg aus Furcht vor dem, was noch kommen mochte.

»Ich habe den Fehler begangen, Bianca davon zu erzählen«, fuhr Roland fort. »Ich fürchte, das ist eine Art Reizthema für sie geworden, und jetzt mußt du es ausbaden. So etwas kommt vor.«

Also war seine Mutter eifersüchtig auf etwas im Leben seines Vaters gewesen, das geschehen war, bevor sie geheiratet hatte. Wo Bink da nur unwillentlich hineingestolpert war!

Roland blickte ihn ernst an. »Für einen jungen, unerfahrenen Mann mag die Vorstellung von einer lieblichen, nackten, gefangenen Nymphe äußerst reizvoll sein«, fuhr er fort. »Alle körperlichen Eigenschaften einer wirklichen Frau und keine ihrer geistigen. Aber, mein Sohn, das ist ein Kindertraum, wie der Bonbonbaum. Die Wirklichkeit wäre überhaupt nicht so, wie du sie dir vorgestellt hast. Man wird eben schon bald überfüttert. Man kann nicht endlos Bonbons essen – und so ist es auch mit einem geistlosen weiblichen Körper. Ein Mann kann keine Nymphe lieben. Sie könnte genausogut aus Luft bestehen. Seine Begeisterung wird bald zur Langeweile und schließlich zum Ekel.«

Bink hatte es immer noch nicht gewagt, etwas zu sagen. Er war sich sicher: Ihm wäre es niemals langweilig geworden.

Roland verstand ihn nur zu gut. »Mein Sohn, was du wirklich brauchst, ist ein richtiges, lebendes Mädchen«, schloß er. »Eine Figur mit einer Persönlichkeit, die mit dir reden kann. Es ist eine viel größere Herausforderung, eine Beziehung zu einer vollständigen Frau herzustellen, und oft ist es entsetzlich enttäuschend.« Er blickte bedeutungsvoll auf die Tür, durch die Bianca gegangen war. »Aber auf lange Sicht ist es auch viel lohnender. Was du bei dem Wildhafer gesucht hast, das war eine Abkürzung – aber im Leben gibt es keine Abkürzungen.« Er lächelte. »Obwohl, wenn es nach mir gegangen wäre, ich hätte dich die Abkürzung versuchen lassen. Ist nichts Schlimmes dabei, überhaupt nichts Schlimmes. Aber deine Mutter – na ja, wir sind hier sehr konservativ, und die Damen haben den Hang, besonders konservativ zu sein, besonders die schönen Damen. Es ist ein kleines Dorf, kleiner als früher, da weiß jeder alles vom anderen. Wir sind also in unserem Tun eingeengt. Verstehst du, was ich meine?«

Bink nickte unsicher. Wenn sein Vater das Gesetz festlegte, dann war das, so umständlich es auch sein mochte, endgültig. »Kein Wildhafer mehr.«

»Deine Mutter – na ja, dein Erwachsenwerden hat sie überrascht. Der Wildhafer ist vorbei – wahrscheinlich jätet sie ihn gerade –, aber du hast noch viele Erfahrungen vor dir. Bianca mag dich zwar am liebsten immer für einen kleinen Jungen halten, aber sie wird der Natur ins Auge blicken müssen. Sie kann ihr nicht entgehen – nicht länger als fünf Sekunden! Also wird sie einfach damit klarkommen müssen.«

Roland machte eine Pause, aber Bink war sich immer noch unsicher, worauf sein Vater eigentlich hinauswollte.

»Demnächst kommt ein Mädchen aus einem der kleineren Dörfer hierher«, fuhr Roland fort. »Offiziell wegen der Schule, denn wir haben ja hier den besten Zentaurenlehrer in ganz Xanth. Aber ich vermute, daß es in Wirklichkeit daran liegt, daß es in ihrem Dorf einfach nicht genügend Jungen gibt, die für sie in Frage kommen. Ich habe gehört, daß sie ihr magisches Talent noch nicht hat entdecken können, und sie ist ungefähr in deinem Alter…« Er brach ab, um Bink bedeutungsschwer anzublicken. »Ich glaube, daß sie einen gutaussehenden, gesunden jungen Mann gebrauchen könnte, der sie herumführt und sie vor den örtlichen Gefahren warnt. Sie soll außerordentlich klug und schön sein und eine sanfte Art des Sprechens haben – das ist eine seltene Kombination.«

Da hatte Bink zu verstehen begonnen. Ein Mädchen – ein richtiges Mädchen –, das er kennenlernen würde. Eins, das keine Vorurteile wegen seiner mangelnden magischen Fähigkeiten haben würde. Und Bianca würde nichts dagegen haben können, auch wenn sie Binks neu erwachte Männlichkeit vielleicht nicht billigen mochte. Sein Vater hatte ihm eine echte Alternative angeboten. Mit einemmal wurde ihm bewußt, daß er nun auch ohne wilden Hafer auskommen könnte.

»Sie heißt Sabrina«, hatte Roland gesagt.

Als Bink vor sich ein Licht erblickte, riß ihn das in die Gegenwart zurück. Irgend jemand stand neben Justin Baum und hielt eine magische Lampe hoch. »Ist schon in Ordnung, Bink«, sagte Justins Stimme neben Bink in der Luft. »Sabrina hat Hilfe herbeigeschafft, aber die wurde nicht gebraucht. Hast du den

Schwamm?«

»Ja«, sagte Bink.

Also war sein kleines Abenteuer eigentlich gar keins gewesen. Genau wie sein Leben. Während Sabrina ihm dabei behilflich war, den Schwamm auf Justins Wunde zu befestigen, merkte Bink, daß er sich entschieden hatte. So konnte er nicht weitermachen, als ein Niemand. Er würde den Guten Magier Humfrey aufsuchen und feststellen lassen, worin sein magisches Talent bestehen mochte.

Er blickte hoch. Seine Augen trafen sich mit Sabrinas, die im Licht der Lampe schimmerten. Sie lächelte. Sie war noch schöner als damals, als er sie zum erstenmal getroffen hatte, vor so vielen Jahren, als sie beide noch Heranwachsende gewesen waren, und sie war ihm immer treu gewesen. Es war keine Frage: Binks Vater hatte recht gehabt, was die Vorteile – und die Enttäuschungen – anging, die ein echtes, lebendiges Mädchen mit sich brachte. Nun lag es an Bink, zu tun, was er tun mußte – ein echter, lebendiger Mann zu werden.