2 Zentauren

 

Bink ging, einen gefüllten Rucksack auf dem Rücken, zu Fuß los. Er hatte ein gutes Jagdmesser und einen selbstgeschnitzten Stab dabei. Seine Mutter hatte ihn gedrängt, sich einen Führer mieten zu lassen, aber Bink hatte das ablehnen müssen. Der ›Führer‹ wäre in Wirklichkeit doch nur ein Wächter gewesen, der auf ihn hätte aufpassen sollen. Wie hätte er jemals damit leben können? Und doch barg die Wildnis hinter dem Dorf für den unkundigen Reisenden eine Reihe von Gefahren. Nur wenige Leute pflegten ohne Begleitung dort hindurchzugehen. Ein Führer wäre wirklich besser gewesen.

Er hätte auch ein Flügelroß nehmen können, aber das wäre sehr teuer gewesen und auch nicht ohne Gefahr. Greife waren bisweilen außerordentlich mißmutige Geschöpfe. Er zog es vor, sich auf dem festen Boden zu bewegen, und wenn es nur deshalb sein sollte, um zu beweisen, daß er es konnte, trotz des Kicherns und Höhnens der Dorfjugend. Jama höhnte augenblicklich nicht sonderlich viel – er litt noch unter dem Demütigungszauber, dendie Ältesten wegen seines Angriffs auf Justin Baum über ihn verhängt hatten –, aber dafür gab es andere.

Schließlich hatte Roland begriffen. »Eines Tages wirst du begreifen, daß die Meinungen wertloser Leute ebenfalls wertlos sind«, hatte er Bink zugemurmelt. »Du mußt es auf deine Weise schaffen. Das verstehe ich. Und ich wünsche dir alles Gute – allein.«

Bink besaß eine Karte, und er wußte, welcher Pfad zu dem Guten Magier Humfrey führte. Genauer, welcher Pfad einmal zu ihm geführt hatte, denn in Wirklichkeit war Humfrey ein mürrischer alter Mann, der es vorzog, in der Wildnis isoliert zu leben. Ab und zu verlegte er sein Schloß oder veränderte die Zugangswege mit magischen Mitteln, so daß man nie sicher sein konnte, ihn auch tatsächlich zu finden. Trotzdem wollte Bink den Magier auf jeden Fall aufstöbern.

Der erste Teil seiner Reise führte durch ihm bekanntes Gebiet. Er hatte sein ganzes Leben im Norddorf verbracht und hatte die umgebenden Wege und Nebenpfade erforscht. In unmittelbarer Nähe des Dorfs gab es kaum nennenswerte Flora oder Fauna, und das, was es an Gefahren gab, war wohlbekannt.

Neben einem riesigen Nadelkaktus blieb er stehen, um aus einem Wasserloch zu trinken. Als er näher kam, begann die Pflanze zu beben und schickte sich an, auf ihn loszufeuern. »Sachte, Freund!« sagte Bink in befehlerischem Tonfall. »Ich gehöre zum Norddorf.« Der Kaktus, der von der Beruhigungsformel gebannt wurde, hielt seine tödliche Salve zurück. Das Schlüsselwort war ›Freund‹. Das Ding war ganz bestimmt kein Freund, aber es mußte dem Zauber gehorchen, der darauf lag. Kein echter Fremder konnte das wissen, so daß der Kaktus ein wirkungsvoller Schutz gegen Eindringlinge war. Tiere unter einer bestimmten Größe wurden nicht weiter beachtet. Da die meisten Wesen früher oder später Wasser brauchten, war das ein nützlicher Kompromiß. Einige Gebiete waren gelegentlich von wilden Greifen und anderen Raubtieren heimgesucht worden, aber das Norddorf nicht. Eine Begegnung mit einem zornigen Nadler genügte jedem Tier als Lektion, sofern es sie überhaupt überlebte.

Nachdem er eine Stunde schnell vorangeschritten war, kam er in weniger bekanntes und deshalb gefährlicheres Gebiet. Was benutzten die Leute dieser Gegend, um ihre Wasserlöcher zu schützen? Einhörner, die darauf abgerichtet waren, Fremde aufzuspießen? Na ja, das würde er schon früh genug feststellen.

Die gewellten Hügel und kleinen Teiche wichen rauherem Gebiet, und fremdartige Pflanzen tauchten auf. Einige von ihnen hatten hohe Antennen, die sich herumdrehten, um ihn auf Entfernung zu orten, andere gaben sanfte, anziehende Geräusche von sich, besaßen jedoch Äste mit kräftigen Scheren. Bink schritt in sicherer Entfernung an ihnen vorbei. Er wollte kein unnötiges Risiko eingehen. Einmal meinte er, ein Tier erspäht zu haben, das so groß war wie ein Mensch und acht spinnenähnliche Beine hatte. Er schritt schnell voran.

Er nahm auch eine Anzahl Vögel wahr, doch die waren unwichtig. Da sie fliegen konnten, brauchten sie sich vor dem Menschen nicht mit magischen Mitteln zu schützen, und so hatte er auch keinen Grund, sich vor ihnen zu fürchten, mit Ausnahme von großen Vögeln, die ihn für ein Beutetier halten könnten. Einmal erspähte er in der Ferne die monströse Gestalt eines Rokh und duckte sich nieder, so daß er über ihn hinwegflog, ohne ihn zu sehen. Solange die Vögel klein waren, zog er ihre Gesellschaft sogar vor, denn die Insekten und Käfer waren manchmal ziemlich aggressiv.

Tatsächlich bildete sich bald eine Wolke von Stechmücken um seinen Kopf und verhängte einen kollektiven Schweißzauber über ihn, der ihm alles noch unangenehmer machte. Insekten hatten einen untrügerischen Instinkt für Menschen, die sich nicht durch Magie schützen konnten. Bink blickte um sich, fand aber keine insektenabstoßenden Gewächse. Kräuter waren nie da, wenn man sie mal brauchte. Während ihm der Schweiß die Nase hinunter und in Augen und Mund strömte, verschlechterte sich seine Laune merklich. Da flatterten plötzlich zwei kleine Saugschnepfen herbei und saugten die Mücken auf. Ja, er mochte kleine Vögel!

In drei Stunden war er etwa zehn Meilen gegangen und wurde nun langsam müde. An sich war er ganz gut in Kondition, aber er war es nicht gewohnt, mit schwerem Marschgepäck zu wandern. Ab und zu schmerzte ihn sein Knöchel, den er sich am Ausblicksfelsen verstaucht hatte. Es war keine schlimme Verstauchung, aber sie genügte, um ihn vorsichtig zu machen. Er setzte sich auf eine Hügelspitze, nachdem er sich davon überzeugt hatte, daß sich dort keine Juckameisen befanden, obwohl es hier doch einen Nadelkaktus gab. Er ging sehr vorsichtig auf ihn zu, da er nicht wußte, ob er von einem Zauber gezähmt worden war. »Freund«, sagte er, und um sicherzugehen, träufelte er ein paar Tropfen Wasser auf den Boden, damit seine Wurzeln es kosten konnten. Offenbar war alles in Ordnung, denn der Kaktus schleuderte seine Nadeln nicht auf ihn ab. Selbst wilde Dinge reagierten häufig auf ganz gewöhnliche Höflichkeit und auf Respekt, den man ihnen entgegenbrachte.

Er holte das Mittagessen hervor, das seine Mutter ihm liebevoll eingepackt hatte. Er hatte Verpflegung für zwei Tage, genug, um ihn unter gewöhnlichen Umständen bis zum Schloß des Magiers zu bringen. Nicht, daß die Dinge in Xanth jemals gewöhnlich wären! Er hoffte darauf, es dadurch zu strecken, daß er über Nacht bei irgendeinem freundlichen Bauern blieb. Schließlich brauchte er auch Nahrung für die Rückreise, und der Gedanke, die Nacht im Freien zu verbringen, behagte ihm ohnehin nicht. In der Nacht gab es besondere Magie, und die konnte äußerst häßlich sein. Er wollte nicht plötzlich mit einem Ghoul oder einem menschenfressenden Ungeheuer streiten müssen, da dieser Streit höchstwahrscheinlich darum gehen würde, wie mit seinen menschlichen Knochen zu verfahren sei: ob man sie lebend verspeisen solle, während das Mark noch frisch und lieblich war, oder ob man sie nach dem Tod erst eine Woche lang altern lassen solle. Andere Raubtiere – andere Geschmäcker.

Er biß in das Kressmatosandwich. Er hörte ein Knacken und erschrak, doch es war nur ein Gewürzstengel. Bianca wußte wirklich, wie man belegte Brote machte.

Ein Krümel fiel herab – und verschwand. Bink blickte um sich und sah eine Backenmaus, die eifrig kaute. Sie hatte den Krümel zehn Fuß weit fortgezaubert, um nicht zertreten zu werden. Bink lächelte: »Ich tu dir schon nichts, Bäckchen.«

Dann hörte er Hufgeklapper. Entweder kam ein großes Tier heran oder ein berittener Mensch. Beides konnte Ärger bedeuten. Bink stopfte sich ein Stück Flügelkuhkäse in den Mund und sah vor seinem geistigen Auge, wie die Kuh hochflog, um in den Baumwipfeln zu äsen, nachdem man sie gemolken hatte. Er verschloß seinen Rucksack und hängte ihn wieder ein. Er nahm seinen langen Stab in beide Hände. Vielleicht mußte er kämpfen. Oder fortlaufen.

Das Wesen, das nun bald ins Sichtfeld kam, war ein Zentaur, der Körper eines Pferds mit dem oberen Torso eines Mannes. Er war nackt, wie alle seiner Art, hatte muskulöse Flanken, breite Schultern und einen widerspenstigen Gesichtsausdruck.

Bink hielt den Stab vor seinen Körper, um sich zu schützen, aber es war keine Angriffsgeste. Er hatte wenig Vertrauen in seine Fähigkeit, es mit diesem Wesen aufzunehmen, und fortlaufen war so gut wie sinnlos. Aber vielleicht war das Wesen ja trotz seines Aussehens gar nicht unfreundlich – oder es wußte nicht, daß Bink keine magischen Fähigkeiten besaß.

Der Zentaur kam näher. Er hielt seinen Bogen mit eingelegtem Pfeil schußbereit. Er sah wirklich gewaltig aus. Bink hatte auf der Schule einen Heidenrespekt gegenüber Zentauren entwickelt. Doch dieser hier war offenbar kein älterer Gelehrter, sondern ein junger Krieger. »Du bist ein Eindringling«, sagte der Zentaur. »Mach, daß du hier wegkommst!«

»Einen Moment mal«, sagte Bink. »Ich bin ein Reisender, der den öffentlichen Weg entlanggeht, darauf hat jeder ein Recht.«

»Verschwinde«, wiederholte der Zentaur drohend und fuchtelte mit seinem Bogen.

Bink war normalerweise ein gutmütiger Bursche, aber manchmal hatte er ein störrisches Wesen, das in Zeiten der Belastung zum Vorschein kam. Diese Reise war lebenswichtig für ihn. Dies war ein öffentlicher Pfad, und er war es langsam leid, sich magischen Bedrohungen beugen zu müssen. Der Zentaur war ein magisches Wesen, das es, nach allem, was man so hörte, in der Mundanen Welt außerhalb von Xanth nicht gab. Deshalb wurde Binks Wut gegen magische Fähigkeiten noch stärker angestachelt, und so tat er etwas Dummes.

»Kau doch deinen Schweif durch!« schnappte er.

Der Zentaur zuckte zusammen. Jetzt sah er noch stämmiger aus, waren seine Schultern noch breiter, sein Brustkorb noch gewölbter und sein Pferdekörper noch angespannter als zuvor. Offensichtlich war er es nicht gewohnt, daß man so mit ihm redete, und diese Erfahrung verblüffte ihn. Doch kurz darauf hatte er sich auch schon auf die Situation geistig und gefühlsmäßig eingestellt, was am ehrfurchtgebietenden Anspannen seiner Muskeln zu erkennen war. Eine Welle der Wut ergriff ihn und ließ seine Ohren rot leuchten. Als sie sein Gehirn erreichte, reagierte er.

Sein Bogen schwang herum, und der eingelegte Pfeil zielte auf Bink. Dann ließ er ihn losschwirren.

Bink war natürlich nicht mehr da. Er hatte genug Zeit gehabt, um die Sturmwarnung zu verstehen. Als der Bogen sich bewegte, duckte er sich schon. Dann kam er plötzlich genau unter der Nase des Zentauren hoch und verpaßte ihm mit seinem Stab einen Hieb auf die Schulter. Der Schlag richtete keinen wirklichen Schaden an, mußte aber sehr weh tun.

Der Zentaur stieß einen Wutschrei aus und wirbelte mit dem Bogen in der Linken herum, während er mit der rechten Hand nach einem neuen Pfeil griff. Doch jetzt hatte sich Binks Stab schon in seinen Bogen verhakt.

Der Zentaur warf den Bogen fort. Dadurch wurde Bink der Stab aus der Hand gerissen. Sein Gegner ballte eine riesige Faust und Bink huschte schnell hinter den Zentauren, als dieser mit der Faust auf ihn einschlagen wollte. Doch das Hinterteil des Wesens war genauso gefährlich wie die Vorderseite. Es stieß mit einem Bein nach hinten aus. Wie ein Wunder verfehlte der Tritt Bink und traf dafür den Nadelkaktus.

Der Kaktus erwiderte den Tritt mit einer Salve fliegender Nadeln. Noch während der Huf aufschlug, hatte Bink sich auf den Boden geworfen. Die Nadeln schossen über ihn hinweg und rammten sich in das gewaltige Hinterteil des Wesens. Wieder einmal hatte Bink Glück gehabt: Weder Huf noch Nadeln hatten ihm etwas angetan, es war wie ein Wunder.

Der Zentaur wieherte mit imposanter Lautstärke. Diese Nadeln taten weh, sie waren alle etwa zwei Zoll lang und spitz, und einhundert von ihnen schmückten nun die glänzende Hautoberfläche. Wenn das Wesen mit dem Gesicht zum Kaktus gestanden hätte, dann wäre es von den Nadeln wohl blind geworden oder sogar an ihnen gestorben; es hatte also Glück gehabt, schien sein Glück im Augenblick allerdings nicht sonderlich zu würdigen zu wissen.

Jetzt kannte die Wut des Zentauren keine Grenzen mehr. Er bäumte sich auf und stieß mit beiden Hinterhufen nach Bink. Zwei gewaltige Arme schossen vor, und Binks vergleichsweise armseliger Hals wurde von zwei hornigen Händen gepackt, die sich immer fester um ihn schlangen und zudrückten. Bink hing mit baumelnden Beinen in der Luft und war hilflos. Er wußte, daß er nun erwürgt werden würde; er konnte nicht einmal um Gnade bitten, denn seine Atemluft und sein Blut waren beide abgeschnürt.

»Chester!« rief eine weibliche Stimme.

Der Zentaur versteifte seine Muskeln, was Bink nicht eben guttat.

»Chester, laß diesen Mann sofort los!« sagte die Stimme in befehlerischem Ton. »Willst du einen Artenzwischenfall provozieren?«

»Aber Cherie«, protestierte Chester, während seine Farben um einiges blasser wurden, »er ist ein Eindringling und ist selbst daran schuld!«

»Er befindet sich auf dem Pfad des Königs«, sagte Cherie. »Reisende dürfen nicht belästigt werden, das weißt du auch. Und jetzt laß ihn los!«

Die Zentaurin schien kaum dazu in der Lage zu sein, ihren Befehl durchzusetzen, aber Chester beugte sich langsam ihrer Autorität. »Darf ich nicht wenigstens ein bißchen drücken?« bettelte er und drückte ein bißchen stärker zu. Bink fielen fast die Augen aus dem Kopf.

»Wenn du das tust, dann werde ich nie wieder mit dir laufen. Runter mit ihm!«

»Oooooch…« Zögernd ließ Chester ihn los. Bink rutschte auf den Boden. Was war er nur für ein Narr gewesen, sich mit diesem Kraftbolzen anzulegen!

Die Zentaurin fing ihn auf, als er zu taumeln begann. »Armes Ding!« rief sie und drückte seinen Kopf gegen ein Plüschkissen. »Bist du in Ordnung?«

Bink öffnete den Mund, um zu reden, röchelte und versuchte es noch einmal. Er hatte den Eindruck, daß sich sein zerquetschter Hals nie wieder einrenken würde. »Ja«, krächzte er.

»Wer bist du? Was ist mit deiner Hand los? Hat Chester…«

»Nein«, sagte Bink hastig. »Er hat mir nicht den Finger abgebissen. Das ist eine Kindheitsverletzung. Siehst du, sie ist schon lange verheilt.«

Sie musterte die Hand sorgfältig und fuhr mit ihren erstaunlich sanften Fingern darüber. »Ja, das sehe ich. Aber…«

»Ich… ich bin Bink vom Norddorf«, sagte er. Er drehte den Kopf, um ihr ins Gesicht zu blicken, und sah, was das für ein

Kissen war, auf dem er ruhte. O nein, nicht schon wieder! dachte er. Werde ich eigentlich immer von Frauen wie ein Säugling behandelt werden?

Weibliche Zentauren waren kleiner als männliche, aber immer noch größer als Menschen. Ihre humanoiden Teile waren etwas stärker entwickelt. Er riß seinen Kopf von ihrem nackten Vorderteil. Es war schon schlimm genug, von seiner Mutter wie ein Baby behandelt zu werden, ganz zu schweigen von einer Zentaurendame. »Ich reise nach Süden, um den Magier Humfrey aufzusuchen.«

Cherie nickte. Sie war ein schönes Geschöpf, sowohl als Mensch wie als Pferd, mit glänzenden Flanken und einem beachtlichen menschlichen Vorderkörper. Ihr Gesicht war sehr anziehend, nur die Nase war auf pferdische Weise ein wenig lang. Ihr braunes Menschenhaar ergoß sich bis in die Sattelgegend, und auch ihr Schweif war sehr lang. »Und dieser Esel hier hat dir aufgelauert?«

»Na ja…« Bink sah Chester an und bemerkte, wie sich dessen Muskeln wieder spannten und er finster dreinblickte. Was würde wohl geschehen, wenn die Stute fortging? »Es war… ein Mißverständnis.«

»Darauf möchte ich wetten!« meinte Cherie. Aber Chesters Muskeln lockerten sich ein wenig. Offensichtlich wollte er sich nicht mit seiner Freundin anlegen. Bink konnte verstehen, wieso. Wenn Cherie nicht die schönste und lebhafteste Zentaurin der Herde sein sollte, dann fehlte jedenfalls nicht viel daran.

»Dann mach ich mich wohl mal wieder auf den Weg«, sagte Bink. Er hätte das schon gleich tun können, indem er sich von Chester nach Süden hätte fortjagen lassen. Er war für den Zwischenfall genauso verantwortlich wie der Zentaur. »Tut mir leid.« Er streckte Chester die Hand entgegen.

Chester bleckte die Zähne, die mehr denen eines Pferdes als denen eines Menschen glichen. Er ballte eine riesige Faust.

»Chester!« schnappte Cherie. Dann, als der Zentaur schuldbewußt die Faust wieder lockerte: »Was ist mit deiner Flanke?«

Der Zentaur verfärbte sich wieder, aber diesmal war es wohl kaum aus Wut. Er trottete herum, um seiner Freundin sein beschädigtes Hinterteil zu zeigen. Bink hatte die Nadeln beinahe vergessen. Sie mußten immer noch weh tun – und es würde noch mehr weh tun, sie alle herauszuziehen. Was für ein Schmerz am Schweif! Eine äußerst peinliche Stelle, um darüber mit anderen zu reden. Er empfand beinahe Mitleid mit dem mürrischen Geschöpf.

Chester unterdrückte seine gemischten Gefühle und nahm wohldiszipliniert Binks Hand. »Ich hoffe, daß alles gut wird«, sagte Bink mit einem Lächeln, das ein wenig breiter wurde, als er vorgehabt hatte. Er fürchtete, daß es sogar wie ein hämisches Grinsen wirken könnte. Und plötzlich wußte er, daß er weder diese Worte noch diesen Gesichtsausdruck hätte wählen sollen.

Die Augen des Zentauren röteten sich mörderisch. »Schon in Ordnung«, preßte er zwischen knirschenden Zähnen heraus. Seine Hand drückte zu – aber seine Augen waren nicht blutunterlaufen genug, um den Blick seiner Freundin zu übersehen. Unwillig lockerten sich seine Finger wieder. Wieder Glück gehabt! Binks Finger hätten in diesem Griff zu Brei gequetscht werden können.

»Ich werde dich ein Stück weiterbringen«, entschied Cherie. »Chester, setz ihn auf meinen Rücken.«

Chester legte seine Hände unter Binks Ellenbogen und hob ihn hoch wie eine Feder. Einen Augenblick befürchtete Bink, daß er fünfzig Fuß weit geschleudert werden könnte… doch Cheries Blick ruhte immer noch auf ihnen, und so wurde er sanft aufgesetzt.

»Ist das sein Stock?« fragte sie und blickte auf das Gewirr aus Stab und Bogen, das auf dem Boden lag. Und Chester hob, ohne dazu aufgefordert zu werden, den Stab hoch und reichte ihn Bink, der ihn schräg zwischen seinen Rücken und den Rucksack klemmte.

»Leg deine Arme um meine Hüfte, damit du nicht herunterfällst, wenn ich mich bewege«, sagte Cherie.

Ein guter Ratschlag! Bink war das Reiten nicht gewöhnt, und es gab keinen Sattel. Nur wenige echte Pferde blieben in Xanth. Einhörner liebten es ganz und gar nicht, geritten zu werden, und die Flügelpferde waren so gut wie unbezähmbar. Als Bink noch klein war, hatte ein Flügelpferd in einem Kampf mit einem Drachen seine Flugfedern verloren und hatte sich so weit herablassen müssen, die Dorfbewohner kurze Strecken zu transportieren, im Austausch für Nahrung und Schutz. Doch sofort nachdem es wieder genesen war, war es wieder fortgeflogen. Das war Binks einzige Erfahrung mit dem Reiten gewesen.

Er beugte sich vor. Der Stab machte es ihm unmöglich, seinen Rücken genügend zu beugen. Er griff nach hinten, um ihn herauszuziehen – und er fiel ihm prompt auf den Boden. Chester gab ein Schnauben von sich, das verdächtig nach Gelächter klang. Aber der Zentaur hob ihn auf und reichte ihn Bink wieder. Diesmal klemmte Bink ihn unter seinen rechten Arm, beugte sich wieder vor und umarmte Cheries schlanke Hüfte, ohne auf Chesters wütenden Blick zu achten. Es gab Dinge, die waren schon ein Risiko wert – zum Beispiel, schnell hier wegzukommen.

»Du gehst zum Tierarzt und läßt dir die Nadeln aus deinem…« fing Cherie an und sprach dabei über ihre Schulter hinweg.

»Sofort!« unterbrach Chester sie. Er wartete, bis sie sich in Bewegung setzte, dann trottete er ein wenig linkisch in die Richtung zurück, aus der er gekommen war. Wahrscheinlich ließ jede Bewegung sein Hinterteil noch mehr brennen.

Cherie trottete den Pfad entlang. »Chester ist im Grunde ein gutes Geschöpf«, sagte sie. »Aber er hat doch die Neigung, ein bißchen arrogant zu sein, und wenn man ihm widerspricht, dann fällt er leicht aus der Rolle. Wir haben in letzter Zeit Probleme mit Verbrechern und…«

»Menschlichen Verbrechern?« fragte Bink.

»Ja. Kinder aus dem Norden, die üble Zauberei betreiben. Sie vergasen unser Vieh, schießen Schwerter in Bäume, lassen gefährliche Gruben scheinbar vor unseren Füßen aufbrechen und so weiter. Deshalb hat Chester natürlich gedacht…«

»Ich kenne diese Blagen«, sagte Bink. »Ich habe mich auch schon mit ihnen gekeilt. Jetzt sitzen sie erst einmal fest. Wenn ich gewußt hätte, daß sie hier unten hinkommen, dann…«

»In diesem Gebiet scheint es heutzutage einfach keine Disziplin mehr zu geben«, sagte sie. »Nach dem Vertrag ist euer König dazu verpflichtet, die Ordnung zu gewährleisten. Aber in letzter Zeit…«

»Unser König wird alt«, erklärte Bink. »Er verliert seine Kraft,und es gibt eine Menge Ärger. Er war ein großer Magier, ein Sturmzauberer.«

»Das wissen wir«, sagte sie zustimmend. »Als die Feuerfliegen unsere Haferfelder überfielen, da hat er einen Regensturm von fünf Tagen Dauer beschworen, in dem sie alle ertrunken sind. Natürlich hat das auch unsere Ernte zerstört, aber das haben die Feuerfliegen auch getan. Wenigstens konnten wir danach ohne Belästigungen neu säen. Wir vergessen diese Hilfe nicht. Deswegen wollen wir auch nicht stur sein. Aber ich weiß nicht, wie lange Hengste wie Chester diesen Ärger noch dulden werden. Deshalb wollte ich auch mit dir reden – wenn du nach Hause zurückkehrst, dann könntest du den König vielleicht doch darauf aufmerksam machen, daß…«

»Ich glaube nicht, daß das etwas bewirken würde. Ich bin sicher, daß der König die öffentliche Ordnung aufrechterhalten will, aber er hat einfach nicht mehr die Macht dazu.«

»Dann ist es vielleicht Zeit, einen neuen König zu wählen.«

»Er wird senil. Das bedeutet, daß er nicht vernünftig genug ist, um abzudanken, und nicht zugeben mag, daß es überhaupt irgendwelche Probleme gibt.«

»Ja, aber dadurch lassen sich Probleme nun einmal nicht lösen!« Sie gab ein sanftes, weibliches Schnauben von sich. »Irgend etwas muß doch geschehen.«

»Vielleicht kann ich mir beim Magier Humfrey einen Rat geben lassen«, meinte Bink. »Das ist eine ernste Sache, einen Königabzusetzen. Ich glaube nicht, daß die Ältesten damit einverstanden wären. Als er auf seinem Höhepunkt war, da hat er gute Arbeit geleistet. Und es gibt eigentlich niemanden, der ihn ersetzen könnte. Du weißt doch, daß nur ein großer Magier König werden kann.«

»Ja, natürlich. Wir Zentauren sind alle Gelehrte, weißt du.«

»Entschuldigung, daran habe ich gar nicht mehr gedacht. Unsere Dorfschule wird auch von einem Zentauren geleitet. In dieser Wildnis habe ich einfach nicht mehr daran gedacht.«

»Verständlich – obwohl ich dieses Gebiet hier noch nicht Wildnis nennen würde. Ich habe mich auf humanoide Geschichte spezialisiert, und Chester studiert die Anwendung von Pferdekräften. Andere sind Juristen, Naturwissenschaftler, Philosophen…« Sie unterbrach sich. »Jetzt halt dich fest. Da vorne kommt ein Graben, da werde ich springen müssen.«

Bink hatte sich mittlerweile entspannt, doch nun lehnte er sich wieder vor und legte die Arme fest um ihre Hüfte. Sie hatte einen glatten, bequemen Rücken, aber von dem konnte man auch viel zu leicht herunterrutschen. Aber wenn sie keine Zentaurin gewesen wäre, hätte er es niemals gewagt, eine solche Haltung einzunehmen.

Cherie galoppierte den Hügel hinab und wurde immer schneller. Beunruhigt blickte er unter ihrem Arm hindurch nach vorne und sah den Graben. Graben? Es war eine Schlucht, zehn Fuß breit, die auf sie zukam. Jetzt war er mehr als beunruhigt, er war verängstigt. Seine Hände begannen zu schwitzen, und er rutschte zur Seite herab. Dann sprang sie mit einem einzigen mächtigen Anspannen ihrer Sprungmuskeln, erhob sich und jagte über die Spalte hinweg.

Bink rutschte weiter herab. Er sah kurz auf den steinigen Boden des Grabens, dann kamen sie auf der anderen Seite auf. Der Aufprall ließ ihn noch weiter herunterrutschen. Seine Hände

suchten verzweifelt nach Halt – und kamen an eine ziemlich peinliche Stelle. Aber wenn er losließ…

Cherie ergriff ihn an der Hüfte und stellte ihn auf den Boden. »Immer mit der Ruhe«, sagte sie. »Wir haben es geschafft.«

Bink errötete. »Es… es tut mir leid. Ich fing an zu fallen und habe einfach zugepackt…«

»Ich weiß. Ich habe gemerkt, wie sich dein Gewicht verlagert hat, als wir gesprungen sind. Wenn du es absichtlich getan hättest, dann hätte ich dich in den Graben geworfen.« In diesem Augenblick sah sie Chester beunruhigend ähnlich. Er glaubte ihr. Wenn sie einen Grund dafür sah, dann konnte sie einen Mann auch in einen Graben werfen. Zentauren waren rauhe Geschöpfe!

»Vielleicht sollte ich jetzt besser zu Fuß gehen.«

»Nein, es kommt noch ein Graben. In letzter Zeit entstehen sie hier einfach.«

»Na ja, ich könnte ja an der einen Seite hinunterklettern und auf der anderen wieder hochsteigen. Das würde zwar länger dauern, aber…«

»Nein, am Boden sind Nickelfüßler.«

Bink zuckte zusammen. Nickelfüßler waren wie Tausendfüßler, aber ungefähr fünfmal so groß und wesentlich tödlicher. Mit ihren zahllosen Beinen konnten sie sich auch an steilen Felswänden festhalten, und ihre Scheren konnten einzollgroße Stücke aus dem Fleisch reißen. Sie bewohnten schattige Spalten und liebten kein Sonnenlicht. Selbst Drachen bewegten sich nur ungern durch Gräben, von denen bekannt war, daß dort Nickelfüßler hausten, und das aus gutem Grund.

»Die Spalten sind erst in letzter Zeit entstanden«, fuhr Cherie fort, während sie sich hinkniete, um Bink wieder aufsteigen zu lassen. Er nahm seinen Stab wieder auf und benutzte ihn beim Hochklettern. »Ich fürchte, daß sich irgendwo eine mächtige Magie zusammenbraut, die sich durch Xanth verbreitet und Tiere,

Pflanzen und Gestein durcheinanderbringt. Ich bringe dich über den nächsten Graben. Dann hört das Zentaurengebiet auf.«

Ihm war noch gar nicht der Gedanke gekommen, daß es solche Grenzen geben könnte. Auf seiner Karte waren sie nicht eingezeichnet. Der Pfad galt als einigermaßen sicher. Doch die Karte war vor Jahren angefertigt worden, und diese Erdspalten waren, wie Cherie gesagt hatte, neu. Nichts in Xanth war von Bestand, und das Reisen war immer etwas riskant. Er hatte Glück, daß ihm diese Zentaurin behilflich war.

Die Landschaft hatte sich verändert, so als ob die Erdspalte einen Landschaftstyp vom anderen abtrennte. Vorher hatte es wellige Hügel und Felder gegeben; nun war da Wald. Der Pfad war schmaler geworden, von gewaltigen Falschpinien überragt, und der Waldboden war mit einem rotbraunen Teppich aus Falschnadeln bedeckt. Da und dort gab es Flecken mit hellgrünen Farnen, die dort zu gedeihen schienen, wo das Unkraut es nicht konnte, sowie Stellen mit dunkelgrünem Moos. Ein kalter Wind pfiff durch den Wald und fuhr durch Cheries Haar und Mähne, so daß die Strähnen Bink ins Gesicht schlugen. Es war still hier und roch angenehm nach Pinien. Er hätte sich gern hingelegt, auf ein weiches Moosbett, nur um diesen friedlichen Ort zu genießen.

»Tu es nicht!« warnte Cherie ihn.

Bink zuckte zusammen. »Ich wußte gar nicht, daß Zentauren Magie praktizieren.«

»Magie?« fragte sie, und er wußte, daß sie die Stirn gerunzelt hatte.

»Du hast meine Gedanken gelesen.«

Sie lachte. »Kaum. Wir machen keine Magie. Aber wir wissen, wie dieser Wald auf Menschen wirkt. Es ist ein Friedlichkeitszauber, den die Bäume machen, um nicht umgehauen zu werden.«

»Das ist nicht verkehrt«, sagte Bink. »Aber ich wollte sie sowieso nicht fällen.«

»Sie trauen deinen guten Absichten nicht. Ich werd’s dir zeigen.« Vorsichtig schritt sie von dem ausgetretenen Pfad herunter; ihre Hufe versanken in dem weichen Piniennadelboden. Sie wand sich zwischen zahlreichen dolchdornigen Hirschkeimbäumen hindurch, kam an einer Schlangenpalme vorbei, die sich nicht einmal die Mühe machte, sie anzuzischen, und blieb vor einer Gewirrweide stehen. Nicht zu nahe – das hätte niemand gewagt. »Da«, murmelte sie.

Bink blickte zu der Stelle, auf die sie zeigte. Auf dem Boden lag ein menschliches Skelett. »Mord?« fragte er zitternd.

»Nein, einfach nur Schlaf. Er ist hergekommen, um sich auszuruhen, so wie du das eben wolltest, und er hat sich nie mehr dazu aufraffen können, wieder fortzugehen. Völliger Friede ist eine trügerische Sache.«

»Ja…« hauchte er. Keine Gewalt, kein Leiden – einfach der Verlust der Willenskraft. Warum sollte man sich die Mühe machen, zu arbeiten und zu essen, wenn es soviel leichter war, sich einfach zu entspannen? Wenn jemand Selbstmord begehen wollte, dann war das hier die beste Methode. Aber bisher hatte er noch Grund zum Leben.

»Das ist auch ein Grund, weshalb ich Chester mag«, sagte Cherie. »Er würde solch einem Zauber nie unterliegen.«

Das war gewiß. Es war kein Frieden in Chester. Cherie selbst würde auch nicht unterliegen, dachte Bink, obwohl sie wesentlich sanfter war. Bink spürte die Schlaffheit dieser Atmosphäre, trotz des Skeletts, aber sie widerstand dem Zauber. Vielleicht war die Biologie der Zentauren eine andere – oder vielleicht hatte sie in ihrer Seele eine Wildheit, die ihre engelhafte Gestalt und ihre freundlichen Worte verbargen. Wahrscheinlich war da von beidem etwas. »Verschwinden wir von hier.«

Sie lachte. »Keine Angst, ich bringe dich schon sicher hindurch. Aber komm nicht allein auf diesem Weg zurück. Wenn du einen

finden kannst, dann reise zusammen mit einem Feind, das ist das beste.«

»Besser als ein Freund?«

»Freunde sind friedlich«, erklärte sie.

Oh. Ja, das leuchtete ein. Mit jemandem wie Jama würde er sich niemals unter einem Pinienbaum ausruhen, da hätte er viel zuviel Angst davor, ein Schwert in die Eingeweide gerammt zu bekommen. Aber was für eine ironische Notwendigkeit das doch war: einen Feind aufzutreiben, damit er einen durch einen friedlichen Wald begleitete! »Die Magie schmiedet seltsame Verbindungen«, murmelte er.

Dieser Friedenszauber erklärte auch, warum es hier so wenig andere Magie gab. Die Pflanzen brauchten keine individuellen Schutzzauber, denn niemand würde sie angreifen. Selbst der Gewirrbaum wirkte friedfertig, obwohl er bestimmt zupacken würde, wenn er die Gelegenheit dazu bekam, denn schließlich ernährte er sich auf diese Weise. Es war interessant, wie die Magie verblaßte, wenn das Muß der Selbsterhaltung verschwand. Aber nein – es gab ja Magie hier, mächtige Magie. Es war der gemeinsame Zauber des ganzen Waldes, zu dem jede Pflanze ihren Teil beisteuerte. Wenn man herausbekommen könnte, wie man die Wirkung dieses Zaubers bei sich selbst ausschalten konnte, vielleicht durch einen Gegenzauber, dann durfte man sich hier in völliger Sicherheit hinlegen. Das war es wert, erinnert zu werden.

Sie wanden sich langsam auf den Pfad zurück und setzten ihre Reise fort. Bink schlief zweimal ein und rutschte fast herunter, wobei er jedesmal mit einem Schrecken wieder aufwachte. Er wäre niemals allein durch diesen Wald gekommen. Er war froh, als er sah, wie der Pinienwald sich ausdünnte und statt dessen Hartholzbäume auftraten. Er fühlte sich wacher, gewalttätiger, und das war auch gut so. Härteres Holz, härtere Gefühle.

»Ich frag’ mich, wer das dort hinten gewesen ist«, meinte Bink.

»Oh, ich weiß es«, antwortete Cherie. »Er gehörte zur letzten Welle, hat sich verirrt, ist hierhergekommen und wollte sich ausruhen. Für immer.«

»Aber die Letztweller waren Wilde!« sagte Bink. »Sie haben einfach alles abgeschlachtet.«

»Alle Wellen waren Wilde, als sie hier ankamen, mit einer Ausnahme«, erwiderte sie. »Wir Zentauren wissen das. Wir waren schon vor der ersten Welle hier. Wir mußten euch alle bekämpfen, bis der Bund geschlossen wurde. Ihr hattet keine Magie, aber ihr hattet Waffen, ihr wart zahlreich und gerissen. Viele von uns sind gefallen.«

»Meine Vorfahren gehörten zur ersten Welle«, sagte Bink nicht ohne Stolz. »Wir haben immer Magie gehabt, und wir haben nie mit den Zentauren gekämpft.«

»Mensch, jetzt werd nur nicht angriffslustig, nur weil ich dich aus dem Friedenspinienwald gebracht habe«, warnte sie ihn. »Du besitzt nicht unsere Geschichtskenntnisse.«

Bink merkte, daß er seinen Ton wohl mäßigen mußte, wenn er Wert darauf legte, weiterreiten zu dürfen. Und das wollte er durchaus. Cherie war eine angenehme Gefährtin und kannte offenbar alle örtlichen Zauber, so daß sie alle Gefahren vermeiden konnte. Und nicht zuletzt gab sie ihm auch Gelegenheit, seine müden Beine auszuruhen, während sie ihn schnell weiterbeförderte. Sie hatte ihn schon jetzt gute zehn Meilen weit gebracht. »Entschuldigung. Es war eine Frage von Familienstolz.«

»Na ja, das ist ja eigentlich auch nichts Schlechtes«, sagte sie beschwichtigt. Vorsichtig stapfte sie über einen hölzernen Steg, der über einen gurgelnden Bach führte.

Plötzlich war Bink durstig. »Können wir mal eben etwas trinken?« fragte er.

Sie schnaubte wieder, ganz wie ein Pferd. »Nicht hier! Jeder, der von diesem Wasser trinkt, wird in einen Fisch verwandelt.«

»In einen Fisch?« Plötzlich war Bink doppelt froh, sie als Führerin zu haben. Sonst hätte er bestimmt getrunken. Wenn sie ihm das nicht bloß sagte, um ihn an der Nase herumzuführen oder ihm Angst einzujagen.

»Warum denn?«

»Der Fluß versucht, seinen Bestand wieder aufzustocken. Der Böse Magier Trent hat ihn vor einundzwanzig Jahren einmal ausgeräumt.«

Bink war immer noch etwas skeptisch, was die Magie unbelebter Dinge anging, besonders wenn sie so mächtig sein sollte. Wie konnte ein Fluß irgend etwas wollen? Aber er erinnerte sich auch daran, wie sich der Ausblicksfelsen davor geschützt hatte, zertrümmert zu werden. Es war besser, auf Nummer Sicher zu gehen und zu glauben, daß manche Bestandteile der Landschaft zaubern konnten.

Der Hinweis auf Trent lenkte seine Aufmerksamkeit ab. »Der Böse Magier war hier? Ich dachte, daß er nur eine Erscheinung unseres Dorfes gewesen wäre.«

»Trent war überall«, gab sie zur Antwort. »Er wollte, daß wir Zentauren ihn unterstützen, und als wir uns weigerten – wegen des Bundes, weißt du, der uns verpflichtet, uns nicht in menschliche Angelegenheiten einzumischen –, da hat er uns seine Macht gezeigt, indem er jeden Fisch in diesem Fluß in einen Blitzkäfer verwandelte. Dann ist er fortgegangen. Ich nehme an, daß er glaubte, daß uns diese Käfer dazu zwingen würden, unsere Meinung zu ändern.«

»Warum hat er die Fische denn nicht in eine menschliche Armee verwandelt und versucht, euch damit zu bezwingen?«

»Das hätte nichts getaugt, Bink. Sie hätten vielleicht menschliche Körper gehabt, aber nur Fischverstand. Es wären Wischi-Waschi-Soldaten geworden, und selbst wenn es gute Soldaten geworden wären, dann hätten sie wohl kaum dem Mann gedient, der sie verzaubert hätte. Sie hätten Trent angegriffen.«

»Hm, ha. Ich habe nicht richtig darüber nachgedacht. Also er hat sie in Blitzkäfer verwandelt und ist fortgegangen, damit sie ihm keinen Schlag verpassen. Da haben sie sich wohl auf die nächstgrößeren Wesen gestürzt.«

»Ja. Das waren schlimme Zeiten für uns. Oh, diese Käfer waren vielleicht eine Plage! Sie haben uns in ganzen Wolken heimgesucht und uns mit ihren winzigen Blitzen versengt. Ich habe immer noch Narben auf meinem…« Sie brach ab und zog eine Grimasse. »An meinem Schweif.« Das war offensichtlich ein Euphemismus.

»Was habt ihr dann getan?« fragte Bink und blickte fasziniert nach hinten, um zu sehen, ob er die Narben nicht erkennen konnte. Was er sah, wirkte jedoch makellos.

»Trent ist kurz darauf ins Exil geschickt worden, und wir haben uns von Humfrey den Zauber beseitigen lassen.«

»Aber der Gute Magier ist doch gar kein Verwandler!«

»Nein, aber er hat uns gesagt, wo wir einen Abwehrzauber finden könnten, der die Käfer abhielt. Als sie unser elektrogegartes Fleisch nicht mehr bekamen, sind sie schnell ausgestorben. Gute Information ist genausogut wie gutes Handeln, und der Gute Magier besaß jedenfalls die richtige Information.«

»Deswegen will ich auch zu ihm«, stimmte Bink zu. »Aber er verlangt einen Jahresdienst für einen Zauber.«

»Wem sagst du das? Dreihundert Zentauren – jeder ein Jahr. Das war vielleicht eine Arbeit!«

»Ihr mußtet alle bezahlen? Was habt ihr denn tun müssen?«

»Das dürfen wir nicht sagen«, erwiderte sie ausweichend.

Jetzt war Binks Neugier erst richtig geweckt, aber er war zu klug, um nachzuhaken. Wenn ein Zentaur sein Wort gab, dann hielt er es auch – felsenfest. Aber was hatte Humfrey wohl gebraucht, das er nicht mit einem seiner hundert Zauber hätte erledigen können? Oder wenigstens mit Hilfe seines Wissens? Humfrey war im Grunde ein Hellseher; alles, was er nicht wußte, konnte er irgendwie herausbekommen, und das verlieh ihm gewaltige Kräfte

und Macht. Wahrscheinlich hatten die Ältesten Humfrey deswegen nicht um Rat gebeten, weil sie wußten, was er zu ihrem senilen König zu sagen hatte: Schafft den alten König ab und setzt einen neuen frischen Magier an seine Stelle. Das wollten sie nicht tun. Selbst wenn sie einen solchen jungen Magier zur Verfügung gehabt hätten.

Nun ja, in Xanth gab es viele Geheimnisse und viele Probleme, und es war gewiß nicht Binks Sache, sie alle zu kennen oder gar zu lösen. Er hatte schon lange gelernt, sich, wie beschämend dies auch immer sein mochte, in das Unvermeidliche zu fügen.

Sie hatten den Fluß nun hinter sich gelegt und kletterten höher. Die Bäume um sie herum wurden immer dichter, und ihre großen runden Wurzeln erstreckten sich über den Pfad. Hier machten keine feindlichen Zauber das Gehen unsicher; entweder hatten die Zentauren die Gegend hier gesäubert, oder Cherie kannte diesen Pfad so gut, daß sie den Zaubern instinktiv aus dem Weg ging, ohne daß man es merkte. Wahrscheinlich beides.

Das Leben, dachte er, bot viele verschiedene Erklärungen für verwirrende Fragen und bestand in der Regel immer aus ›etwas von beidem‹. In Xanth waren nur wenige Dinge eindeutig festgelegt.

»Was ist das für ein Geschichtswissen, das du mir voraus hast?« fragte Bink, den die Reise zu langweilen begann.

»Über die Wellen und die menschliche Kolonisierung? Wir haben über alles Aufzeichnungen. Seit dem Schild und dem Bund haben sich die Dinge beruhigt; die Wellen waren der reinste Terror.«

»Aber nicht die Erstweller!« sagte Bink voller Loyalität. »Wir waren friedlich.«

»Das meine ich ja. Jetzt seid ihr friedlich, bis auf ein paar von euren jungen Halbstarken, und deswegen meint ihr, daß eure Vorfahren auch friedlich gewesen wären. Aber meine Vorfahren haben das anders erlebt. Sie wären glücklicher gewesen, wenn kein Mensch jemals Xanth entdeckt hätte.«

»Mein Lehrer war ein Zentaur«, sagte Bink. »Er hat nie etwas davon gesagt, daß…«

»Man hätte ihn gefeuert, wenn er euch die Wahrheit erzählt hätte.«

Bink war beunruhigt. »Du machst doch keine Scherze mit mir, oder? Ich bin nicht auf der Suche nach Ärger. Ich bin zwar recht neugierig, aber Ärger habe ich schon mehr als genug.«

Sie drehte ihren Kopf zu ihm herum und blickte ihn sanft an.

»Dein Lehrer hat dich nicht belogen, das tun Zentauren nie. Er hat seine Informationen lediglich gut ausgesucht, auf Anweisung vom König, damit die leicht zu beeindruckenden Kinder nicht etwas zu hören bekommen sollten, was ihre Eltern nicht für richtig hielten. So war das schon immer mit der Schulausbildung.«

»Oh, ich wollte damit nicht seine Ehrlichkeit in Zweifel ziehen«, beeilte Bink sich zu sagen. »Ich mochte ihn sogar; er war der einzige, der meine dauernde Fragerei nie leid bekam. Ich habe viel von ihm gelernt. Aber ich schätze, daß ich in Geschichte nie sehr viele Fragen gestellt habe. Ich war mit etwas anderem beschäftigt, was er mir nicht erklären konnte – aber er hat mir wenigstens vom Magier Humfrey erzählt.«

»Was willst du Humfrey denn fragen, wenn ich das erfahren darf?«

Was machte es schon für einen Unterschied, wenn er es ihr sagte? »Ich besitze keine magischen Fähigkeiten«, gestand er. »Jedenfalls sieht es so aus. Während meiner ganzen Kindheit war ich deswegen im Nachteil, weil ich mich nie mit magischen Mitteln wehren konnte. Ich konnte schneller laufen als jeder andere, aber der Junge, der durch die Luft schweben konnte, gewann trotzdem das Rennen. Solche Sachen.«

»Zentauren kommen ausgezeichnet ohne Magie aus«, meinte sie. »Wir würden Magie nicht einmal annehmen, wenn man sie uns kostenlos geben wollte.«

Bink glaubte ihr nicht, aber er ließ es lieber dabei bewenden. »Ich schätze, daß Menschen eine andere Einstellung dazu haben. Als ich älter wurde, ist es noch schlimmer geworden. Jetzt werde ich ins Exil geschickt, wenn ich nicht irgendein magisches Talent nachweisen kann. Ich hoffe, daß der Magier Humfrey… na ja, wenn ich doch magische Fähigkeiten haben sollte, dann bedeutet das, daß ich hierbleiben kann, mein Mädchen heiraten und meinen Stolz wiedererlangen kann.«

Cherie nickte. »So etwas hatte ich schon vermutet. Ich glaube, wenn ich in deiner Lage wäre, dann könnte ich die Notwendigkeit, ein magisches Talent zu haben, einsehen, obwohl ich trotzdem meine, daß eure Kultur ziemlich verbogene Werte hat. Man sollte doch euer Bürgertum von überragenden Persönlichkeitseigenschaften abhängig machen und nicht von…«

»Ganz genau!« stimmte Bink ihr eifrig zu.

Sie lächelte. »Du hättest wirklich ein Zentaur werden sollen.« Sie schüttelte den Kopf, und ihr Haar wirbelte hübsch herum. »Du hast dir eine gefährliche Reise vorgenommen.«

»Nicht gefährlicher als die Reise in die mundane Welt, die man mir sonst aufzwingen würde.«

Sie nickte erneut. »Also gut. Du hast meine Neugier befriedigt, jetzt will ich deine befriedigen. Ich werde dir die ganze Wahrheit über das Eindringen der Menschen nach Xanth erzählen. Aber ich erwarte nicht, daß sie dir besonders gut gefällt.«

»Ich erwarte nicht einmal, daß mir die Wahrheit über mich selbst besonders gut gefällt«, sagte Bink bedrückt. »Da kann ich genauso gut alles erfahren, was es zu wissen gibt.«

»Xanth war Tausende von Jahren ein vergleichsweise friedliches Land«, sagte sie und sprach dabei in dem etwas pedantischen Tonfall, den er von seiner Schulzeit her noch kannte. Wahrscheinlich war jeder Zentaur im Grunde seines Herzens ein Schulmeister. »Es gab Magie, sehr mächtige Magie – aber keinerlei unnötige Bösartigkeit. Wir Zentauren waren die vorherrschende Art, aber wie du weißt, besitzen wir keinerlei magische Fähigkeiten.

Wir sind die Magie. Ich vermute, daß wir ursprünglich einmal von Mundania hierhergekommen sind, aber das liegt schon so lange zurück, daß wir darüber nicht einmal mehr Aufzeichnungen besitzen.«

Binks Verstand hakte sich an einer Frage fest. »Ich frage mich, ob das wirklich stimmt, daß magische Wesen nicht zaubern können. Ich habe eine Backenmaus gesehen, die eine Brotkrume verzaubert hat…«

»Ach ja? Bist du sicher, daß es kein Backenhörnchen war? Das ist nämlich ein natürliches Wesen, nach unserer Klassifikationslehre jedenfalls, deshalb kann es auch Magie betreiben.«

»Ihr klassifiziert Tiere?« fragte Bink erstaunt.

»Das ist eine unserer Zentaurenspezialitäten«, sagte sie.

Oh. Bink dachte darüber nach. »Ich dachte, daß es eine Backenmaus wäre, aber jetzt bin ich mir da nicht mehr so sicher.«

»Wir sind uns eigentlich auch nicht so sicher«, gab sie zu. »Es ist möglich, daß einige magische Wesen doch zaubern können. Aber in der Regel betreibt ein Wesen entweder Magie, oder es ist Magie, ist magisch, nicht beides. Was auch ganz gut so ist. Stell dir nur mal vor, was ein Drache für einen Magier abgäbe!«

Bink dachte nach. Er erschauerte. »Kommen wir zum Geschichtsunterricht zurück«, schlug er schließlich vor.

»Vor ungefähr tausend Jahren entdeckte der erste menschliche Stamm Xanth. Man hielt es für eine gewöhnliche Halbinsel. Sie kamen hier herein und fällten die Bäume und töteten die Tiere. Es gab mehr als genug Magie hier, um sie abzuwehren, aber Xanth hatte noch nie mit einem solchen gnadenlosen, systematischenÜberfall zu tun gehabt, und wir glaubten es einfach nicht. Wir dachten, daß die Menschen bald wieder gehen würden.

Doch dann merkten sie, daß Xanth ein magisches Land ist. Sie sahen, wie Tiere in die Luft schwebten und wie Bäume ihre Äste versetzten. Sie jagten Einhörner und Greife. Wenn du dich wunderst, warum diese großen Tiere die Menschen hassen, dann

kann ich dir versichern, daß sie allen Grund dazu haben: Ihre Vorfahren hätten nicht lange überlebt, wenn sie allzu freundlich gewesen wären. Die Erstweller waren unmagische Geschöpfe in einem Land der Zauber, und nachdem sie den ersten Schock überwunden hatten, fingen sie an, sich hier wohl zu fühlen.«

»Das stimmt ja nun nicht!« rief Bink. »Die Menschen besitzen die stärkste Magie. Schau dir doch nur all die großen Magier an! Du hast mir doch selbst erzählt, wie der Böse Magier Trent die ganzen Fische verwandelt hat…«

»Beruhige dich, bevor ich dich noch abwerfe!« schnappte Cherie. Ihr Schweif wedelte Bink bedrohlich um die Ohren. »Du kennst nicht einmal ein Viertel der Geschichte. Natürlich besitzen die Menschen inzwischen magische Fähigkeiten. Das ist ja auch ein Teil ihres Problems. Aber das war nicht von Anfang an so.«

Bink gab wieder nach; das wurde immer leichter, denn er mochte diese Zentaurendame sehr. Sie beantwortete ihm Fragen, an die er noch nicht einmal gedacht hatte. »Tut mir leid. Das ist mir neu.«

»Du erinnerst mich an Chester. Ich wette, daß du auch fürchterlich stur bist.«

»Ja«, sagte Bink reumütig.

Sie lachte, und es klang ein bißchen wie Wiehern. »Ich mag dich, Mensch. Ich hoffe, du findest deine« – sie machte eine angewiderte Schnute – »Magie.« Dann lächelte sie breit und wurde sofort wieder ernst. »Die Erstweller besaßen keine Magie, und als sie herausfanden, was Magie leisten kann, da waren sie fasziniert davon, hatten aber auch etwas Angst. Einige von ihnen ertranken in einem See, der einen Ertrinkenszauber besaß, andere wurden zu Opfern von Drachen, und als sie zum erstenmal einem Basilisken begegneten…«

»Gibt es immer noch Basilisken?« fragte Bink besorgt. Abrupt erinnerte er sich an das Chamäleon. Es hatte ihn kurz vor seiner Vernichtung in der Verkleidung eines Basilisken angestarrt, und sein Zauber war zum Bumerang geworden. Er mußte immer noch herausfinden, was diese Reihenfolge bedeutet hatte.

»Ja, aber nicht mehr viele«, antwortete sie. »Die Menschen und die Zentauren haben sich Mühe gegeben, sie auszurotten. Ihr Blick ist auch für uns tödlich, mußt du wissen. Jetzt verstecken sie sich, weil sie wissen, daß, sobald sie ein intelligentes Wesen töten, eine Armee von Kriegern mit Spiegelmasken ausgeschickt wird, um sie zu vernichten. Ein Basilisk ist kein Gegner für einen Menschen oder einen Zentauren, der vorgewarnt ist; er ist schließlich nur eine kleine, geflügelte Echse, die den Kopf und die Krallen eines Huhns hat. Nicht besonders intelligent. Nicht, daß er das häufig zu sein brauchte.«

»He!« rief Bink. »Vielleicht ist das der fehlende Faktor – die Intelligenz. Ein Wesen kann Magie betreiben oder magisch sein oder Intelligenz besitzen – oder zwei von den dreien, aber niemals alle drei. Deshalb könnte eine Backenmaus vielleicht zaubern, aber nicht ein schlauer Drache.«

Sie drehte sich um, um ihn anzublicken. »Das ist ein neuer Gedanke. Du bist ziemlich klug. Ich werde darüber nachdenken. Aber bis wir uns dessen vergewissert haben, werden wir trotzdem nicht ungeschützt in die mittlere Wildnis gehen; es könnte ja doch sein, daß es dort ein kluges, zauberndes Ungeheuer gibt.«

»Ich werde schon nicht in die Wildnis gehen«, versprach Bink. »Jedenfalls werde ich nicht den gerodeten Pfad verlassen, bis ich zum Schloß des Magiers komme. Ich möchte nicht, daß mich irgendwelche Echsen zu Tode anstarren.«

»Deine Vorfahren waren aggressiver«, meinte Cherie. »Deswegen sind auch so viele von ihnen gestorben. Aber sie haben Xanth erobert und eine Enklave gebildet, in der jede Magie verboten war. Sie mochten das Land und auch den Gebrauch der Magie, verstehst du, aber sie wollten sie auch nicht allzu nahe an ihrem Zuhause haben. Also haben sie den Wald dort abgebrannt, alle magischen Tiere und Pflanzen vernichtet und eine große Steinmauer errichtet.«

»Die Ruinen!« rief Bink. »Ich dachte, diese alten Steine hätten einmal zu einem feindlichen Lager gehört.«

»Sie stammen von der ersten Welle«, beharrte sie. »Aber ich stamme doch von der ersten…« »Ich habe dir ja gesagt, daß dir das nicht gefallen würde.« »Das tut es auch nicht«, stimmte er ihr zu. »Aber ich will es trotzdem hören. Wie können meine Vorfahren denn…«

»Sie haben sich in ihrem ummauerten Dorf niedergelassen und mundanische Feldfrüchte angebaut und mundanisches Vieh gezüchtet. Sie heirateten die Frauen, die sie mitgebracht hatten oder die sie aus den nahegelegensten mundanischen Siedlungen rauben konnten, und bekamen Kinder. Xanth war ein gutes Land, selbst in dem Gebiet, wo die Magie verboten war. Aber dann geschah etwas Erstaunliches.«

Cherie blickte ihn mit einem Ausdruck an, der auch bei einem Menschenmädchen als attraktiv gegolten hätte, wenn er mit den Augen blinzelte, so daß er nur ihren menschlichen Teil sah, dann wirkte sie noch bezaubernder, obwohl er wußte, daß Zentauren länger lebten als Menschen, so daß sie wahrscheinlich fünfzig war. Doch sie sah aus wie zwanzig – so wie nie ein Mensch aussehen konnte. Diese Stute war nicht zu bändigen!

»Was ist denn geschehen?« fragte er, da sie offensichtlich auf eine Erwiderung wartete. Zentauren waren gute Geschichtenerzähler und liebten aufmerksames Publikum.

»Ihre Kinder besaßen magische Fähigkeiten«, sagte sie.

Aha. »Also besaßen die Erstweller doch Magie!«

»Nein, das taten sie nicht. Das Land Xanth ist magisch. Es ist ein Umwelteinfluß. Aber es funktioniert wesentlich besser bei Kindern, die leichter zu beeinflussen sind, und am besten geht es bei Babys, die hier gezeugt und geboren wurden. Selbst Erwachsene, die schon lange hier leben, neigen dazu, ihre Fähigkeiten zu unterdrücken, weil sie es angeblich besser wissen. Aber Kinder nehmen das an, was sie vorfinden. Sie besitzen also nicht nur das natürliche Talent, sie setzen es auch viel enthusiastischer ein.«

»Das wußte ich gar nicht«, sagte er. »Meine Eltern besitzen mehr magische Kräfte als ich. Einige meiner Vorfahren waren Magier. Aber ich…« Er wurde ernst. »Ich fürchte, ich muß eine schreckliche Enttäuschung für meine Eltern gewesen sein. Ich hätte von Rechts wegen eigentlich sehr starke Fähigkeiten haben müssen, hätte sogar möglicherweise ein Magier sein müssen. Statt dessen…«

Cherie war so feinfühlig, nichts dazu zu bemerken. »Zuerst waren die Menschen schockiert. Doch dann fanden sie sich damit ab und ermutigten sogar die Entwicklung besonderer Talente. Einer der Jugendlichen besaß die Fähigkeit, Blei in Gold zu verwandeln. Man suchte die Hügel ab, suchte nach Blei und schickte schließlich sogar eine Expedition nach Mundania, um Blei zu beschaffen. Es war beinahe so, als wäre Blei plötzlich wertvoller geworden als Gold.«

»Aber Xanth hat doch gar nichts mit der mundanischen Welt zu tun!«

»Du vergißt, daß wir es hier mit alter Geschichte zu tun haben.«

»Tut mir leid. Ich würde nicht so oft unterbrechen, wenn es mich nicht so interessieren würde.«

»Du bist ein ausgezeichneter Zuhörer«, sagte sie, und er war sehr zufrieden mit sich. »Die meisten Menschen würden sich weigern, überhaupt zuzuhören, denn es ist keine schmeichelhafte Geschichte. Jedenfalls nicht für euch Menschen.«

»Wahrscheinlich wäre ich weniger offen dafür, wenn ich nicht selbst kurz vor der Exilierung stünde«, gestand er. »Ich habe ja nichts als meinen Körper und meinen Verstand, also mache ich mir besser nichts vor.«

»Eine sehr empfehlenswerte Einstellung. Du bekommst übrigens einen längeren Ritt als geplant, weil du solch ein guter Zuhörer bist, der auch antwortet und reagiert. Jedenfalls haben sie das Blei hinausgeschafft – aber einen schrecklichen Preis dafür bezahlt. Denn die Mundanen von Mundania erfuhren dadurch von der Magie. Sie waren alle raffgierig und räuberisch. Die Vorstellung, an

billiges Gold kommen zu können, versetzte sie in einen Taumel. Sie machten eine Invasion, stürmten die Mauern und töteten alle Männer und Kinder der Erstweller.«

»Aber…« protestierte Bink entsetzt.

»Das waren die Zweitweller«, sagte Cherie sanft. »Sie haben die Frauen der Erstweller geschont, verstehst du? Weil die zweite Welle aus einer reinen Männerarmee bestand. Sie dachten, daß es eine Maschine gäbe, die Blei in Gold verwandeln könnte, oder daß es einen alchemistischen Vorgang gäbe, der auf einer geheimen Formel beruhte. Sie glaubten nicht wirklich an Magie, das war für sie nur ein nützlicher Begriff, um das Unbekannte zu beschreiben. Also erkannten sie nicht, daß das Blei mit Hilfe eines Kindes und seiner magischen Fähigkeiten in Gold verwandelt wurde – bis es zu spät war. Sie hatten das zerstört, weswegen sie gekommen waren.«

»Das ist ja entsetzlich!« sagte Bink. »Du meinst, daß ich meine Abstammung…«

»Von der Vergewaltigung einer Erstweilermutter, ja. Anders kannst du deine Abstammung nicht erklären. Wir Zentauren mochten die Erstweller nie, aber da hatten wir Mitleid mit ihnen. Die Zweitweller waren noch schlimmer. Sie waren richtige Piraten, raffgierig. Wenn wir das geahnt hätten, dann wären wir den Erstwellern zu Hilfe geeilt. Unsere Bogenschützen hätten sie in einen Hinterhalt locken können…« Sie zuckte mit den Schultern. Das Bogenschießen der Zentauren war schon legendär, deshalb brauchte sie es nicht weiter zu erklären.

»Dann ließen die Eindringlinge sich nieder«, fuhr sie nach einer Pause fort. »Sie schickten ihre eigenen Bogenschützen durch ganz Xanth und töteten…« Sie brach ab, und Bink spürte, wie sehr sie die Ironie empfand, die darin lag, daß ihre Art das Opfer der wesentlich schlechteren Bogenschießkunst der Menschen geworden war. Sie erschauerte ein wenig, so daß er fast von ihrem Rücken stürzte, und zwang sich schließlich selbst, fortzufahren. »Töteten Zentauren um ihres Fleisches willen. Erst als wir uns organisiert und ihr Lager überfallen hatten, wobei wir die Hälfte von ihnen mit Pfeilen durchbohrten, waren sie damit einverstanden, uns in Frieden zu lassen. Selbst danach hielten sie sich nicht immer an die Abmachung, denn Ehrgefühl ging ihnen völlig ab.«

»Und ihre Kinder bekamen magische Fähigkeiten«, fuhr Bink fort. »Und deshalb sind die Drittweller eingefallen und haben die Zweitweiler umgebracht…«

»Ja, das geschah einige Generationen später, und es war ganz genauso schlimm. Die Zweitweller waren mittlerweile ganz erträgliche Nachbarn geworden, so alles in allem. Wieder wurden nur die Frauen verschont – und auch nicht besonders viele. Weil sie ihr ganzes Leben in Xanth verbracht hatten, besaßen sie magisches Talent. Sie benutzten es, um ihre Vergewaltiger nach und nach umzubringen, und zwar auf solche Weise, daß man es ihnen nie richtig nachweisen konnte. Doch das war ein Pyrrhus-Sieg, denn nun hatten sie überhaupt keine Familien mehr. Also mußten sie wieder neue Mundanier einlassen…«

»Das ist ja furchtbar!« sagte Bink. »Dann stamme ich ja von Jahrtausenden der Schande ab!«

»Nicht ganz. Die Geschichte der Menschheit in Xanth ist brutal, hat aber auch positive, ja sogar großartige Seiten. Die Zweitweilerfrauen organisierten sich und ließen nur die besten Männer ein, die sie entdecken konnten. Starke, gerechte, freundliche, intelligente Männer, die den Hintergrund des Ganzen verstanden, aber eher aus Prinzip als aus Gier kamen. Sie schworen, das Geheimnis zu wahren und die Werte von Xanth zu respektieren. Es waren Mundanier, aber sie waren edel.«

»Die Viertweller!« rief Bink. »Die Besten von allen.«

»Ja. Die Frauen von Xanth waren Witwen, Opfer von Vergewaltigungen und schließlich sogar Mörderinnen. Einige von ihnen waren alt oder waren von den Kämpfen verschreckt. Aber alle hatten sie starke Magie und einen eisernen Willen; sie waren die Überlebenden des grausamen Aufstands, dem alle anderen

Menschen in Xanth zum Opfer gefallen waren. Diese Eigenschaften waren klar zu erkennen. Als die neuen Männer die Wahrheit erfuhren, wandten sich einige von ihnen um und kehrten nach Mundania zurück. Doch andere mochten den Gedanken, eine Hexe zu heiraten. Sie wollten Kinder mit magischen Kräften, und sie dachten, daß diese vielleicht erblich sein könnten, deshalb waren ihnen Jugendlichkeit und Schönheit nicht so wichtig. Es waren ausgezeichnete Ehemänner. Andere wollten die Möglichkeiten des einmaligen Landes Xanth ausbauen und schützen, das waren Umweltschützer, und die Magie war einer der kostbarsten Umweltfaktoren. Und außerdem waren nicht alle Viertweller männlichen Geschlechts; es gab auch sorgfältig ausgesuchte junge Frauen, die die Kinder heiraten sollten, um allzuviel Inzucht zu vermeiden. Es war also eine Besiedlung und keine Eroberung, und sie hatte nicht den Mord zur Grundlage, sondern wohlüberlegte wirtschaftliche und biologische Prinzipien.«

»Ich weiß«, sagte Bink. »Das war die Welle der ersten großen Magier.«

»Genauso war es. Es gab natürlich noch andere Wellen, aber keine von ihnen hatte solch ein Gewicht wie diese. Der vorherrschende Charakter der Menschen in Xanth führt auf diese vierte Welle zurück. Andere Invasionen ließen viele sterben und vertrieben manche ins Hinterland, doch die Kontinuität wurde nie durchbrochen. Fast jeder wirklich intelligente und magische Mensch kann seine Abstammung auf die vierte Welle zurückführen. Ich bin sicher, daß das bei dir auch der Fall sein muß.«

»Ja«, stimmte Bink ihr zu. »Ich habe Vorfahren unter allen sechs ersten Wellen, aber ich dachte immer, daß die erste Welle die wichtigste gewesen sei.«

»Der Aufbau des Magischen Schilds setzte den Wellen schließlich ein Ende. Er hielt alle mundanischen Geschöpfe draußen und alles, was in Xanth lebte, drinnen. Er wurde als Rettungsinstrument von Xanth gefeiert, als Garant für die

Existenz von Utopia. Aber irgendwie verbesserten sich die Dinge nicht sonderlich. Es war, als hätten die Leute ihre Probleme einfach nur ausgetauscht. Im letzten Jahrhundert hat es in Xanth keine Invasionen mehr gegeben – aber dafür sind andere Bedrohungen entstanden.«

»Wie die Feuerfliegen und die Zappler und der Böse Magier Trent«, sagte Bink nickend. »Magische Gefahren.«

»Trent war wirklich ein Böser Magier.«

»Hm, ja. Ein Glück, daß man ihn besiegt hat, bevor er in Xanth die Gewalt an sich reißen konnte.«

»Ganz bestimmt. Aber was, wenn ein neuer Böser Magier auftreten sollte? Oder wenn sich die Zappler wieder zeigen? Wer wird Xanth dann noch einmal retten?«

»Das weiß ich nicht«, gab Bink zu.

»Manchmal frage ich mich, ob der Schild wirklich eine solch gute Idee gewesen ist. Er bewirkt letztlich, daß sich die Magie in Xanth bis zum Explosionspunkt aufstaut. Und doch möchte ich ganz bestimmt nicht wieder in der Zeit der Wellen leben!«

So hatte Bink die Sache noch nie betrachtet. »Irgendwie habe ich Schwierigkeiten, die Probleme der Verdichtung der Magie in Xanth richtig zu verstehen«, sagte er. »Ich wünsche mir immer, daß es doch ein bißchen mehr davon geben möge. Genug für mich, für mein Talent.«

»Vielleicht hast du es besser, wenn du keine magischen Fähigkeiten hast«, meinte sie. »Wenn du dir vom König einen Dispens geben lassen könntest…«

»Ha!« machte Bink. »Da wäre ich als Einsiedler in der Wildnis

noch besser dran. Mein Dorf läßt keinen ohne Magie zu.«

»Merkwürdige Umkehrung«, murmelte sie.

»Was?«

»Ach, nichts weiter. Ich dachte nur gerade an Herman den Einsiedler. Er wurde vor ein paar Jahren aus unserer Herde wegen Obszönität ausgeschlossen.«

Bink lachte. »Was kann denn für Zentauren obszön sein? Was hat er denn getan?«

Cherie blieb abrupt neben einem Feld voller hübscher Blumen stehen. »So, weiter gehe ich nicht«, sagte sie mit angespannter Stimme.

Bink merkte, daß er etwas Falsches gesagt hatte. »Ich wollte dich nicht verletzen… ich bitte um Verzeihung, falls ich irgend etwas…«

Cherie entspannte sich wieder. »Das konntest du nicht wissen. Der Duft dieser Blumen bringt Zentauren dazu, die unmöglichsten Sachen zu machen. Ich muß klar bleiben, außer in echten Notfällen. Ich glaube, Magier Humfreys Schloß ist fünf Meilen weiter südlich. Paß auf feindselige Magie auf. Ich hoffe, du findest dein Talent.«

»Danke«, sagte Bink froh. Er rutschte von ihrem Rücken. Seine Beine waren ein wenig steif von dem langen Ritt, aber er wußte, daß sie ihm einen ganzen Reisetag erspart hatte. Er schritt um sie herum und reichte ihr die Hand.

Cherie nahm sie, dann lehnte sie sich vor und gab ihm einen mütterlichen Kuß auf die Stirn. Bink wünschte sich, daß sie das nicht getan hätte, aber er lächelte mechanisch und ging los. Er hörte, wie ihre Hufe durch den Wald klapperten und fühlte sich plötzlich sehr allein. Zum Glück war seine Reise fast vorüber.

Aber er fragte sich immer noch, was Herman der Einsiedler wohl getan haben mochte, das bei den Zentauren als obszön galt.