7 Im Exil

 

Der Pfad war breit und frei von hindernden Zaubern. Nur ein Gebiet jagte Bink einen Schrecken ein. Dort gab es kleine, wurmähnliche Löcher in den Stämmen der Bäume und in den sie umgebenden Felsen. Löcher, die sich von einer Seite zur anderen in einem Stück durchzogen. Die Zappler waren hiergewesen!

Doch er beruhigte sich wieder. Natürlich waren die Zappler nicht vor kurzem vorbeigekommen, denn man hatte diese Plage ausgerottet. Doch dort, wo sie eingefallen waren, da war es furchtbar gewesen, denn die kleinen Flugwürmer hatten sich magisch durch alles hindurchgebohrt, was ihnen im Weg war, ob es nun tote Dinge waren oder Tiere und Menschen. Ein Baum konnte ein paar der säuberlichen Löcher schon überleben, aber ein Mensch konnte daran verbluten, sofern er nicht an der Verletzung irgendeines lebenswichtigen Organs zugrunde ging. Schon der bloße Gedanke daran ließ Bink erschauern. Er hoffte, daß sich die Zappler nie wieder in Xanth ausbreiten würden, aber das war keineswegs sicher. Wenn es um Magie ging, war nichts wirklich sicher.

Nervös schritt er in beschleunigtem Tempo weiter. Eine halbe Stunde später erreichte er die Spalte – und tatsächlich, da war auch die unmögliche Brücke, von der der Gute Magier ihm erzählt hatte. Er überzeugte sich von ihrer Existenz, indem er eine Handvoll Erde nahm und beobachtete, wie sie in die Tiefe fiel. An einer Seite wurde sie abgelenkt. Wenn er das auf dem Hinweg gewußt hätte… Aber das war es ja schließlich, was es mit dem Informiertsein auf sich hatte; ohne Wissen konnte man enorme Schwierigkeiten bekommen. Wer hätte denn gedacht, daß es hier eine unsichtbare Brücke gab?

Und doch war sein langer Umweg kein reiner Zeitverlust gewesen. Er hatte an dem Vergewaltigungsprozeß teilgenommen, dem Schatten geholfen, einige phantastische Illusionen erlebt, Crombie, den Soldaten, gerettet und auch so recht viel über Xanth erfahren. Er wollte es zwar nicht alles noch einmal erleben müssen, aber durch die Erfahrung war er doch reifer geworden. Er trat auf die Brücke. Der Magier hatte ihn gewarnt: Sie hatte einen Haken. Wenn er sich einmal auf den Weg zur anderen Seite gemacht hatte, durfte er sich nicht mehr umdrehen, sonst würde sich die Brücke auflösen, und er fiele in den Abgrund hinunter. Es war eine Einbahnstraße, die nur nach vorne führte. Also schritt er kühn über den Abgrund hinaus, der unter ihm gähnte, und ergriff ein unsichtbares Geländer.

Er wagte es allerdings, einmal hinabzublicken. Der Boden des Abgrunds hier war sehr schmal, eher eine Ritze als ein Tal. Hier konnte der Spaltendrache nicht herumlaufen. Aber es schien keinerlei Möglichkeit zu geben, den steilen Abhang zu erklimmen. Wenn man von dem Sturz nicht getötet wurde, dann würde man verhungern. Es sei denn, man schaffte es, in Richtung Osten oder Westen zu klettern – wo einen dann der Spaltendrache erwartete.

Bink schaffte es zur anderen Seite.

Alles, was man dazu brauchte, waren Wissen und Selbstvertrauen. Als er wieder sicheren Boden unter den Füßen hatte, blickte er sich um. Von der Brücke war nichts zu sehen, und nichts wies darauf hin, wie man sie betreten konnte. Aber er wollte

nicht noch einmal eine Überquerung riskieren. Die Angespanntheit hatte ihn durstig gemacht. Er entdeckte eine Quelle neben dem Pfad. Neben dem Pfad? Gerade hatte es doch noch keinen Pfad hier gegeben! Er blickte zur Spalte zurück. Dort war kein Pfad. Oh! Er führte also nur von der Brücke fort, nicht auf sie zu! Die übliche Einbahnmagie. Er ging auf die Quelle zu. Er hatte zwar Wasser in seiner Feldflasche, aber das stammte vom Quell des Lebens. Das wollte er sich für einen etwaigen späteren Notfall aufheben.

Von der Quelle floß ein kleines Rinnsal in einem gewundenen Kanal in den Abgrund hinunter. Der Kanal war dicht mit seltsamen Pflanzen überwuchert, die Bink noch nie gesehen hatte: ein Erdbeerausläufer mit Bucheckern und Farne mit Laubblättern. Sie waren zwar merkwürdig, stellten jedoch keine Bedrohung dar. Bink blickte sich sorgfältig um, um etwaige Raubtiere ausfindig zu machen, die vielleicht neben einem Wasserloch lauern mochten, dann legte er sich auf den Boden, um zu trinken.

Als er den Kopf senkte, hörte er ein Flöten über sich. »Das wird dir leiiiiiiid tun!« schien es zu sagen.

Er blickte zu den Bäumen hoch. Dort hockte ein vogelähnliches Wesen, wahrscheinlich eine Harpyienart. Es hatte üppige Frauenbrüste und einen aufgerollten Schlangenschwanz. Nichts, was ihm Sorgen machen mußte, solange sie sich fernhielt.

Er neigte erneut den Kopf, da hörte er ein viel zu nahes Rascheln. Er sprang auf und zückte sein Messer, lief einige Schritte zur Seite und entdeckte etwas Unglaubliches, als er durch das Geäst der Bäume spähte. Zwei Wesen kämpften da miteinander: ein Greif und ein Einhorn. Das eine war männlich, das andere weiblich, und sie… sie kämpften ja gar nicht, sie…

Bink zog sich peinlich berührt zurück. Es waren doch zwei voneinander völlig verschiedene Arten! Wie konnten sie nur!

Angewidert kehrte er zu der Quelle zurück. Jetzt entdeckte er auch die frischen Spuren der beiden Wesen. Sowohl das Einhorn als auch der Greif waren vor kaum einer Stunde

hierhergekommen, um zu trinken. Vielleicht hatten sie wie er die unsichtbare Brücke überquert und die Quelle erblickt, die so günstig und einladend hier floß. Also konnte das Wasser kaum vergiftet sein…

Plötzlich mußte er lachen. Das war ja eine Liebesquelle!

Jeder, der von dem Wasser trank, verliebte sich Hals über Kopf in das erste Wesen, das ihm danach begegnete, und dann…

Er blickte zu dem Einhorn und dem Greif hinüber. Sie waren immer noch unersättlich bei der Sache.

Er trat zurück. Wenn er davon getrunken hätte…

Er erschauerte. Jetzt war er nicht mehr im geringsten durstig.

»Och, trink doch ein Schlückchen!« flötete die Harpyie.

Bink hob einen Stein auf und schleuderte ihn nach ihr. Sie krächzte laut, flatterte empor und lachte derb. Sie ließ etwas fallen und verfehlte ihn nur knapp. Es gab nichts Widerlicheres als eine Harpyie.

Na ja, der Gute Magier hatte ihm ja gesagt, daß der Heimweg nicht völlig frei von Problemen war. Diese Quelle mußte zu den Einzelheiten gehören, die Humfrey für unwichtig gehalten hatte. Wenn Bink erst einmal auf seinem alten Pfad war, dann hatte er es nur mit Gefahren zu tun, die er schon kannte, wie etwa die Friedenspinien…

Wie würde er die nur überleben? Er mußte mit einem Feind zusammen reisen, aber er hatte doch gar keinen!

Dann kam ihm ein großartiger Einfall. »He du – du Vogelhirn!« rief er zu der Baumkrone hoch. »Laß mich in Frieden, oder ich stopf dir deinen Schwanz in dein dreckiges Maul!«

Die Harpyie antwortete mit einem vernichtenden Schwall von Schimpfworten. Was sie doch für einen Wortschatz hatte! Bink warf noch einen Stein nach ihr. »Ich warne dich im Guten – flieg mir bloß nicht nach!« rief er.

»Bis an den Rand des Schilds werde ich dich verfolgen!« schrillte sie. »Mich wirst du nie los!«

Bink lächelte in sich hinein. Jetzt hatte er eine geeignete Begleiterin.

Er schritt weiter, und ab und zu mußte er den Kotspritzern ausweichen, mit denen sie ihn zu bombardieren versuchte. Er hoffte, daß ihre Wut so lange vorhielt, bis sie den Pinienwald durchquert hatten. Danach… na ja, alles schön der Reihe nach!

Bald kam er auf den Weg, den er bei seiner Hinreise entlanggeschritten war, und neugierig stellte er fest, daß der in beiden Richtungen, nach Norden und nach Süden, sichtbar war. Er blickte den Pfad zurück, den er gekommen war, doch er sah nur dichten Wald. Er machte einen Schritt zurück – und stand bis an die Knie in Glühwurzeln. Das Unkraut sprühte Funken, als es seine Beine umschlang, und es gelang ihm nur mit äußerster Mühe, sich unverletzt wieder davon freizumachen. Die Harpyie lachte so heftig, daß sie dabei fast von dem Ast gefallen wäre, auf dem sie hockte.

In dieser Richtung gab es einfach keinen Weg. Doch sobald er sich umdrehte, sah er, wie er durch die Wurzeln auf den Hauptpfad zuführte. Ach, warum wollte er diese Dinge eigentlich immer hinterfragen? Magie war eben Magie, sie unterlag nur ihren eigenen Gesetzen. Jeder wußte das. Jeder, nur er nicht immer.

Er ging den ganzen Tag weiter und kam an dem Bach vorbei, der jeden Trinkenden in einen Fisch verwandelte. »Trink doch ein Schlückchen, Harpyie!« rief er, doch sie kannte den Zauber schon und beschimpfte ihn noch heftiger. Die Friedenspinien – »Mach doch mal ein Nickerchen, Harpyie!« – und der Graben mit den Nickelfüßlern – »Ich hol’ dir einen Happen zu essen, Harpyie!« – doch in Wirklichkeit benutzte er das Gegenmittel, das ihm der Gute Magier gegeben hatte und erblickte keinen einzigen Nickelfüßler.

Schließlich hielt er an einem Gehöft im Zentaurengebiet an, um über Nacht zu bleiben. Die Harpyie gab ihre Verfolgungsjagd schließlich auf, weil sie nicht in Reichweite eines Zentaurenbogens zu geraten wagte. Es waren ältere Zentauren, die nicht aggressiv

waren und sich für jede Neuigkeit interessierten. Sie lauschten eifrig seinem Bericht über das, was ihm jenseits der Spalte widerfahren war, und schienen sich damit zufriedenzugeben, denn sie gewährten ihm im Gegenzug Kost und Logis. Ihr Enkelfohlen war auch dabei, ein aufgekratztes kleines Wesen von kaum fünfundzwanzig Jahren. Es war so alt wie Bink, aber auf menschliches Alter umgerechnet entsprach das allenfalls einem Viertel davon. Bink spielte mit ihm und machte einen Handstand für ihn. Das war etwas, was kein Zentaur konnte, und das Fohlen war auch entsprechend beeindruckt.

Am nächsten Tag schritt er weiter nach Norden. Von der Harpyie war nichts zu sehen. Welch eine Erleichterung! Um ein Haar wäre er lieber allein durch den Pinienwald gegangen. Nach einem Tag in ihrer Begleitung fühlten sich sogar seine Ohren verschmutzt an. Er durchquerte den Rest des Zentaurengebiets, ohne jemandem zu begegnen, und kam gegen Abend im Norddorf an.

»He, das Zauberlose Wunder ist wieder da!« schrie Zink. Vor Binks Füßen erschien ein Loch, so daß er unwillkürlich stolperte. Zink wäre ein wunderbarer Begleiter im Pinienwald gewesen. Bink beachtete die anderen Löcher nicht weiter und ging nach Hause. Er war wieder da. Warum hatte er sich damit nur so beeilt?

Am nächsten Tag fand die Untersuchung im Amphitheater statt. Die königlichen Palmen bildeten Kolonnaden, die die Bühne abgrenzten. Die Bänke bestanden aus den vorspringenden Knien einer riesigen Trockenzypresse. Vier gewaltige Honigahornbäume bildeten die Außenwand. Bink hatte diese Formation stets gemocht, doch heute flößte sie ihm Unbehagen ein. Es war schließlich der Ort seiner Verhandlung.

Der alte König führte den Vorsitz, denn das gehörte zu seinen königlichen Pflichten. Er trug seine juwelenbesetzte Robe und seine hübsche Goldkrone sowie das reichverzierte Zepter, die Symbole seiner Macht. Alle Bürger vereinigten sich, als die Fanfaren ertönten. Als die herrscherlichen Banner entrollt wurden, bekam Bink eine Gänsehaut.

Der König hatte eine eindrucksvolle weiße Mähne und einen langen Bart, doch sein Blick huschte ununterbrochen hin und her. Ab und zu verpaßte ihm einer seiner Diener einen Rippenstoß, damit er wach blieb und sich auf das Ritual besann.

Zu Beginn führte der König seine magische Zeremonie durch, indem er einen Sturm heraufbeschwor. Er hielt seine gichtigen Hände hoch und murmelte seine Beschwörungsformel. Zuerst herrschte Schweigen. Dann, als es schon fast so aussah, als sei der Zauber gescheitert, wisperte ein leichter Windhauch über die Lichtung und wirbelte eine Handvoll Blätter auf.

Niemand sagte ein Wort, obwohl es eindeutig war, daß es genausogut ein Zufall hätte sein können. Es war alles andere als ein Sturm. Doch einige der Damen spannten pflichtbewußt ihre Regenschirme auf, und der Zeremonienmeister fuhr hastig fort.

Binks Eltern, Roland und Bianca, saßen in der vordersten Reihe. Auch Sabrina, die schöner anzusehen war denn je, saß dort. Roland fing Binks Blick auf und nickte ihm ermutigend zu, und Biancas Augen waren feucht, doch Sabrina hatte den Kopf gesenkt. Sie alle fürchteten um ihn. Mit gutem Grund, wie Bink fand.

»Welches Talent kannst du anbieten, um deinen Bürgerstatus zu rechtfertigen?« fragte der Zeremonienmeister Bink. Es war Munly, ein Freund von Roland. Bink wußte, daß der Mann alles tun würde, um ihm zu helfen, aber er mußte sich von Amts wegen an die Regeln halten.

Jetzt war es soweit. »Ich… ich kann es nicht vorführen«, erwiderte Bink. »Aber ich habe ein Zertifikat des Guten Magiers Humfrey, das mir bescheinigt, daß ich magisches Talent habe.« Mit bebender Hand reichte er dem Zeremonienmeister den Brief.

Der nahm ihn entgegen, blickte darauf und reichte ihn an den König weiter. Der König blinzelte, aber seine Augen waren so schwach, daß er ihn ganz offensichtlich nicht lesen konnte.

»Wie Euer Majestät sehen können«, murmelte Munly taktvoll, »ist es eine Nachricht des Magiers Humfrey mit seinem magischen Siegel.« Das Siegel bestand aus dem Bild eines Flossenwesens, das einen Ball auf seiner Nase balancierte. »Sie besagt, daß diese Person ein nichtdefiniertes magisches Talent besitzt.«

Einen Augenblick zuckte es wie Feuer in den aschfahlen Augen des Königs. »Das ist nichts wert!« murmelte er. »Humfrey ist nicht der König. Der König bin ich!« Er ließ das Papier zu Boden flattern.

»Aber…« protestierte Bink.

Der Zeremonienmeister blickte ihn warnend an, und Bink erkannte, daß es hoffnungslos war. Der König war auf geradezu närrische Weise eifersüchtig auf Humfrey, dessen Kraft noch immer ungebrochen war, und er wollte seine Nachricht nicht gelten lassen. Aber egal weshalb, der König hatte gesprochen. Zu diskutieren, würde die Dinge nur verschlimmern.

Da hatte er eine Idee. »Ich habe dem König ein Geschenk mitgebracht«, sagte Bink. »Wasser von einem heilenden Quell.«

Munlys Augen weiteten sich hoffnungsvoll. »Du hast magisches Wasser?« Ihm war sofort klar, welche Möglichkeiten ein voll funktionsfähiger König bot.

»In meiner Feldflasche«, sagte Bink. »Ich habe es aufbewahrt. Sehen Sie, es hat meinen verlorenen Finger nachwachsen lassen.« Er reckte die linke Hand empor. »Es hat auch meine Erkältung kuriert, und ich habe gesehen, wie es andere geheilt hat. Es heilt alles, auf der Stelle.«

Er entschloß sich, nichts von der damit zusammenhängenden Verpflichtung zu sagen.

Munlys Talent bestand darin, kleinere Gegenstände herbeizuzaubern.

»Mit deiner Erlaubnis…«

»Es ist gestattet«, sagte Bink sofort.

Die Feldflasche materialisierte in der Hand des Mannes. »Ist sie das?«

»Ja.« Zum erstenmal empfand Bink echte Hoffnung.

Munly wandte sich wieder an den König. »Bink hat Euer Majestät ein Geschenk mitgebracht«, meldete er ihm. »Magisches Wasser.«

»Magisches Wasser?« wiederholte der König und nahm die Feldflasche entgegen. Er schien nicht zu begreifen, worum es ging.

Der König blickte die Flasche an. Ein Schluck, und er wäre dazu in der Lage, die Nachricht des Magiers zu lesen, wieder richtige Stürme zu beschwören – und vernünftige Urteile zu fällen. Das könnte der ganzen Verhandlung einen anderen Lauf geben.

»Wollt Ihr damit andeuten, daß ich krank bin?« fragte der König fordernd. »Ich benötige keine Heilung! Ich fühle mich so gesund wie eh und je.« Und er drehte die Feldflasche um, so daß das kostbare Naß auf den Boden tropfte.

Bink hatte das Gefühl, als ob auch sein Lebensblut da vergossen würde, nicht nur das Wasser. Er sah, wie seine letzte Chance zunichte gemacht wurde, und zwar durch eben die Senilität, die er zu kurieren gehofft hatte. Und jetzt hatte er nicht einmal mehr heilendes Wasser für sich selbst. Er konnte sich nie wieder kurieren.

War das die Rache des Quells des Lebens dafür, daß er ihm getrotzt hatte? Ihn mit dem sicheren Sieg zu versuchen, um ihn im letzten Augenblick im Stich zu lassen? Egal, auf jeden Fall war er nun verloren.

Auch Munly wußte das. Er beugte sich vor, um die Feldflasche aufzuheben, und sie verschwand wieder in Binks Heim. »Tut mir leid«, murmelte er leise. Dann, laut: »Führe dein Talent vor!«

Bink versuchte es. Er konzentrierte sich und befahl seiner Magie, wie immer sie aussehen mochte, den Bann zu brechen und sich zu zeigen. Irgendwie. Doch nichts geschah.

Er hörte ein Schluchzen. War das Sabrina? Nein, es war Bianca, seine Mutter. Roland saß mit steinernem Gesicht da. Sein Ehrenkodex verbot es ihm, sich persönliche Betroffenheit anmerken zu lassen. Sabrina blickte ihn immer noch nicht an. Aber es waren andere da, die es taten: Zink, Jama und Potipher feixten. Jetzt hatten sie einen Grund, sich überlegen zu fühlen. Von ihnen war keiner ein zauberloses Wunder.

»Ich kann nicht«, flüsterte Bink. Alles war vorbei.

Wieder war er auf Wanderschaft. Diesmal ging es nach Westen, auf den Isthmus zu. Er trug einen neuen Stock mit sich, ein Beil und sein Messer. Seine Feldflasche hatte er mit frischem, normalem Wasser wieder aufgefüllt. Bianca hatte ihm wieder wunderbare Brote gemacht, die sie mit ihren Tränen gewürzt hatte. Von Sabrina hatte er nichts mitbekommen. Seit dem Urteil hatte er sie nicht wiedergesehen. Das Gesetz von Xanth erlaubte einem Exilanten nur, das mitzunehmen, was er bequem tragen konnte. Wertsachen waren untersagt, aus Furcht, die Mundanier könnten auf den Reisenden auf unliebsame Weise aufmerksam werden. Auch wenn der Schild Xanth schützte, konnte man doch nicht vorsichtig genug sein.

Im Grunde war Binks Leben nun vorbei, denn man hatte ihn von allem verstoßen, was er je gekannt hatte. Nun war er eine Waise. Nie wieder würde er die Mutter der Magie miterleben. Nun würde er bald auf immer an den Boden gefesselt sein, um es bildlich auszudrücken, an die farblose Gesellschaft von Mundania.

Hätte er auf das Angebot der Magierin Iris eingehen sollen? Dann hätte er wenigstens in Xanth bleiben können. Wenn er nur vorher gewußt hätte, daß… Aber das hätte nichts geändert. Was Recht war, mußte auch Recht bleiben.

Seltsamerweise war er gar nicht sonderlich verzweifelt. Er hatte seinen Bürgerstatus verloren, seine Familie und seine Verlobte, und er stand im Begriff, mit dem großen, unbekannten Draußen konfrontiert zu werden; und doch hatte er beim Gehen ein geradezu schelmisches Wippen an sich. War das vielleicht nur eine Gegenreaktion, die verhindern sollte, daß er in Trübsinn verfiel und eventuell sogar Selbstmord beging? Unter dem magischen Volk war er eine Mißgeburt gewesen; jetzt würde er sich unter seinesgleichen aufhalten.

Nein, das war es nicht. Er besaß Magie. Er war keine Mißgeburt. Starke Magie, vom Kaliber eines echten Magiers. Humfrey hatte es ihm gesagt, und er glaubte es. Er war nur nicht dazu in der Lage, sie einzusetzen. Wie ein Mensch, der auf einer Wand farbige Flecken erscheinen lassen, aber es nicht vorführen konnte, wenn keine Wand in der Nähe war. Warum er, magisch gesehen, stumm sein mußte, wußte er nicht, aber es bedeutete, daß er im Recht war und daß die Entscheidung des Königs falsch war. Wer nicht für ihn war, dem war nur anzuraten, sich von ihm fernzuhalten.

Nein, auch das nicht. Seine Eltern hatten sich nicht gegen das Gesetz von Xanth stellen wollen. Es waren gute, ehrliche Leute, und Bink teilte ihre Werte. Er hatte selbst einen ähnlichen Kompromiß abgelehnt, als die Magierin Iris ihn versucht hatte. Roland und Bianca würden ihm nicht dadurch helfen, daß sie ihm in ein Exil folgten, das er überhaupt nicht verdiente, und sie konnten ihm auch nicht dabei helfen, hierzubleiben, indem er das System betrog. Sie hatten getan, was ihrem Empfinden nach richtig gewesen war, unter großen persönlichen Opfern, und er war stolz auf sie. Er wußte, daß sie ihn liebten, aber ihn hatten fortgehen lassen, ohne sich einzumischen. Das machte einen Teil seiner versteckten Freude aus.

Und was war mit Sabrina? Auch sie hatte sich geweigert, zu betrügen. Und doch hatte er das Gefühl, daß sie dabei nicht ganz so prinzipientreu gewesen war wie seine Eltern. Wenn sie einen ausreichenden Grund gehabt hätte, dann hätte sie auch geschummelt. Sie hatte sich oberflächlich so integer gegeben, weil Binks Mißgeschick sie nicht allzu stark berührt hatte. Dazu ging ihre Liebe nicht tief genug. Sie hatte ihn um des magischen Talents willen geliebt, von dem sie glaubte, daß er es besaß, weil er der Sohn von Eltern mit starker Magie war. Der Verlust dieses potentiellen Talents hatte auch ihre Liebe untergraben. Sie hatte ihn gar nicht wirklich als Mensch gewollt.

Und seine Liebe zu ihr erwies sich nun als ebenso oberflächlich. Sicher, sie war schön, aber sie hatte weniger echte Persönlichkeit als etwa das Mädchen Dee. Dee war fortgegangen, weil man sie beleidigt hatte, und sie war bei dieser Entscheidung geblieben. Sabrina würde das gleiche tun, aber aus anderen Gründen. Dee hatte nicht gespielt, sie war wirklich wütend gewesen. Bei Sabrina wäre alles stärker durchkalkuliert gewesen, angestrengter und freier von Gefühlen – weil sie weniger Gefühle besaß. Ihr war der Schein wichtiger als die Wirklichkeit.

Was Bink wieder an die Magierin Iris erinnerte – das Schein-Wesen schlechthin. Was die doch für ein Temperament gehabt hatte! Bink respektierte Temperament, es war ein Fenster zur Wahrheit in Zeiten, in denen wenig anderes übrigblieb. Aber Iris war zu heftig. Diese Szene mit der Vernichtung des Palastes, komplett mit Sturm und Drachen…

Selbst diese dumme… wie hieß sie noch… das schöne Mädchen beim Vergewaltigungsprozeß… Wynne, ach ja, das war ihr Name, selbst die hatte Gefühl gehabt. Er hoffte, daß er es ihr ermöglicht hatte, dem Spaltendrachen zu entkommen. Sie war nicht besonders raffiniert gewesen. Aber Sabrina war die perfekte Schauspielerin, deshalb war er sich ihrer Liebe auch nie wirklich sicher gewesen. Sie war ein Bild in seinem Kopf gewesen, das herbeibeschworen werden konnte, wenn man es brauchte, nur zum Betrachten. Er hatte sie gar nicht wirklich heiraten wollen.

Er hatte der Exilierung bedurft, um sich über seine eigenen Motive Klarheit zu verschaffen. Was immer er bei einem Mädchen erwarten mochte, Sabrina besaß es jedenfalls nicht. Sie war schön, was ihm gefiel, und sie war eine Persönlichkeit – was nicht dasselbe war wie ein Charakter – und besaß eine anziehende Magie. Alle diese Dinge waren gut, sehr gut, und er hatte geglaubt, sie zu lieben. Doch als ihre Krise gekommen war, da hatte Sabrina die Augen abgewandt. Das sagte doch alles. Crombie, der Soldat, hatte wirklich die Wahrheit gesagt: Bink wäre ein Narr gewesen, Sabrina zu heiraten.

Bink lächelte. Wie wären Crombie und Sabrina wohl miteinander ausgekommen? Der unendlich fordernde und mißtrauische Mann und die unendlich raffinierte und wankelmütige Frau. Würde die Wildheit des Soldaten einen Ausgleich zu der Anpassungsfähigkeit des Mädchens bilden? Würde es auf diese Weise doch zu einer dauerhaften Beziehung kommen? Es sah fast danach aus. Entweder würden sie sich fast sofort in die Wolle bekommen und sich trennen oder ebenso spektakulär zueinander finden. Zu schade, daß sie sich niemals begegnen würden und er dabeisein könnte, um zuzusehen.

Jetzt, da alles hinter ihm lag, erinnerte er sich an alles, was er in Xanth erlebt hatte. Zum erstenmal in seinem Leben war Bink frei. Er benötigte keine Magie mehr. Er brauchte keine Romanze mehr. Er brauchte Xanth nicht mehr.

Sein rastloser Blick heftete sich plötzlich auf einen winzigen dunklen Fleck an einem Baum. Er zuckte zusammen. War das etwa ein Zapplerloch? Nein, nur eine Verfärbung. Er fühlte sich sofort erleichtert – und merkte, daß er sich ganz schön was vorgemacht hatte. Wenn er Xanth wirklich nicht mehr brauchte, dann wären ihm Zappler gleichgültig. Er brauchte Xanth eben doch. Es stellte seine Jugend dar. Aber… er durfte es nicht behalten.

Dann kam er zu der Station des Schildwächters, und seine Unsicherheit verstärkte sich. Wenn er erst einmal durch den Schild getreten war, dann würden Xanth und alles, was dazugehörte, endgültig hinter ihm liegen.

»Was hast du vor?« fragte der Schildwächter. Es war ein großer, dicker Jüngling mit blassem Gesicht. Doch er gehörte zu dem lebenswichtigen magischen Netz, das einen Schutz gegen Eindringlinge bot. Kein Lebewesen konnte durch den Schild treten, in beiden Richtungen nicht. Doch da niemand Xanth verlassen wollte, diente der Schild als Schutz gegen mundanische Invasionen. Den Schild zu berühren hieß, sofort zu sterben – sofort, schmerzlos, endgültig. Bink wußte nicht, wie das funktionierte, aber das wußte er ja eigentlich von keiner Magie. Es funktionierte eben.

»Ich bin ins Exil geschickt worden«, sagte Bink. »Du mußt mich durchlassen.«

Natürlich würde er nicht versuchen, zu schwindeln, er würde gehen, wie es ihm befohlen worden war. Hätte er versucht, das Exil zu vermeiden, so wäre ihm das nicht gelungen. Das Talent eines der Dörfler bestand darin, ausfindig zu machen, wo sich bestimmte Personen gerade aufhielten, und der hatte seine Aufmerksamkeit nun auf ihn gerichtet. Er würde schon feststellen, ob Bink heute durch den Schild schritt oder nicht.

Der Jüngling seufzte. »Warum müssen alle Komplikationen ausgerechnet in meiner Schicht auftreten? Weißt du eigentlich, wie schwierig es ist, einen mannsgroßen Durchlaß im Schild zu schaffen, ohne das ganze verdammte Ding außer Betrieb zu setzen?«

»Ich weiß gar nichts über den Schild«, gab Bink zu. »Aber der König hat mich ins Exil geschickt, also…«

»Na gut, na gut. Also, paß mal auf! Ich kann dich nicht bis zum Schild begleiten, denn ich muß hierbleiben. Aber ich kann einen Öffnungszauber verhängen, der einen Teil des Schilds für fünf Sekunden öffnet. Sieh zu, daß du dann dort bist und pünktlich hindurchschreitest, denn wenn du es nicht rechtzeitig schaffst, bist du ein toter Mann.«

Bink schluckte schwer. Auch wenn er das Exil früher immer mit dem Tod gleichgesetzt hatte: Jetzt, wo es darauf ankam, wollte er doch ganz gerne weiterleben. »Ich weiß.«

»Schön. Dem magischen Stein ist es egal, wer stirbt.« Bedeutungsvoll klopfte der Jüngling auf den Felsen, gegen den er gelehnt hatte.

»Willst du damit sagen, daß dieser schäbige alte Fels…«

»Der Schildstein. Klar doch. Der Magier Ebnez hat ihn vor einem Jahrhundert entdeckt und so hingestellt, daß er den Schild abstrahlt. Ohne ihn würden die Mundanier hier einfallen können.«

Bink hatte von dem Magier Ebnez gehört. Er war eine der großen historischen Persönlichkeiten. Ebnez war sogar einer von Binks Vorfahren. Er war fähig, Dinge magisch anzupassen. Ein Hammer wurde in seinen Händen zu einem Vorschlaghammer, aus einem Stück Holz machte er ein Teil zu einem Fensterrahmen. Was auch existierte, es wurde innerhalb gewisser Grenzen zu etwas anderem, Gewünschtem. So konnte er beispielsweise Luft nicht in Nahrung verwandeln oder aus Wasser einen Anzug machen. Jedenfalls hatte er einen mächtigen Todesstein in einen Schildstein verwandelt, der jetzt nur noch auf eine bestimmte Entfernung tötete, anstatt in seiner unmittelbaren Nähe. Auf diese Weise hatte er Xanth gerettet. Eine stolze Leistung!

»Also gut, jetzt«, sagte der Jüngling. »Das hier ist ein Zeitstein.« Er klopfte damit gegen den großen Felsen, und das kleine Stück sprang entzwei. Beide Teile wechselten die Farbe von Rot in Weiß. Er reichte eines davon Bink. »Wenn der hier rot wird, dann gehst du durch die Lücke. Sie sind aufeinander abgestimmt. Die Öffnung wird sich direkt vor der großen Buche auftun, und zwar nur fünf Sekunden lang. Also halte dich bereit und lauf los – bei

Rot!«

»Bei Rot loslaufen«, wiederholte Bink.

»Genau. Und jetzt geh schon! Manchmal heilen diese Zeitsteine ziemlich schnell. Ich beobachte meinen, um den Zauber rechtzeitig durchzuführen. Paß du auf deinen auf.«

Bink lief in Richtung Westen, den Pfad entlang. Meistens brauchte ein zerborstener Zeitstein etwa eine halbe Stunde, um zu heilen, doch das hing ganz von dem jeweiligen Stein, von der Außentemperatur und von zahlreichen anderen unbekannten Faktoren ab. Vielleicht lag das am ursprünglichen Stück, denn die beiden Teile wechselten stets gemeinsam ihre Farbe, selbst wenn eins davon in der Sonne lag und das andere sich in einem tiefen Brunnen befand. Aber was sollte es schon nutzen, eine Begründung für Magie zu suchen? Das, was war, war eben.

Und würde nun nicht mehr sein – für ihn. All das hatte in Mundania keinerlei Bedeutung mehr.

Er seufzte, als er den Schild beziehungsweise, seine Auswirkungen sah. Der Schild selbst war unsichtbar, doch dort, wo er den Boden berührte, war alles tot: ein ganzer Bewuchsstreifen und viele Tiere, die so dumm gewesen waren, die Grenze überschreiten zu wollen. Manchmal waren Sprungrehe so verwirrt, auf die andere Seite in Sicherheit springen zu wollen, doch da waren sie auch schon tot. Der Schild war nur hauchdünn, aber absolut wirksam.

Manchmal stolperten auch Wesen aus Mundania hinein. Jeden Tag schritt eine Truppe auf der xanthischen Seite die Grenze ab, suchte nach Kadavern und warf sie auf die andere Seite, wenn sie zum Teil herübergelangt waren. Es war durchaus möglich, etwas, das auf der anderen Seite des Schilds lag, zu bewegen, solange kein Lebender es selbst berührte. Aber es war dennoch eine schaurige Aufgabe, die manchmal auch als Strafe verhängt wurde. Es fanden sich dort niemals die Leichen von menschlichen Mundaniern, aber man lebte in der ständigen Furcht, daß dies einmal der Fall sein könnte, vor allem, wenn man an all die Komplikationen dachte, die damit zusammenhingen.

Vor ihm befand sich die große Buche. Ein Ast reckte sich zu dem Schild hinüber, und seine Spitzen waren tot. Der Wind mußte ihn dagegengedrückt haben. Immerhin wußte Bink dadurch genauer, wo der Schild anfing.

Es roch auch sehr eigenartig an dieser Todeslinie. Wahrscheinlich lag das an der Verwesung der vielen Kleintiere: Würmer in der Erde, Insekten, die versucht hatten, den Schild zu durchfliegen, und nun verfaulten, wo sie herabgestürzt waren – es war eine Zone des Todes.

Bink blickte auf seinen Stein und hielt vor Schreck den Atem an:

Er war rot geworden!

Hatte er sich eben erst verfärbt oder war es schon zu spät? Von der Antwort auf diese Frage hing sein Leben ab.

Er stürzte auf den Schild zu. Er wußte zwar, daß es am vernünftigsten gewesen wäre, wenn er zu dem Schildwächter zurückgekehrt wäre, um ihm zu erklären, weshalb sich seinÜbergang verzögert hatte, aber er wollte es endlich hinter sich bringen. Vielleicht hatte ja schon die Verfärbung des Steins seine Aufmerksamkeit auf ihn gelenkt, als sie noch im Gange war. In dem Fall hatte er noch ausreichend Zeit. Also entschied er sich für das gewagtere Vorgehen und stürzte sich auf die Grenze zu.

Eine Sekunde. Zwei. Drei. Es wäre schon besser, wenn er alle fünf Sekunden zur Verfügung hätte, denn er war noch nicht da. Der Schild schien zwar nicht mehr weit entfernt zu sein, aber er hatte ja auch Zeit dafür verbraucht, eine Entscheidung zu fällen, seine Trägheit zu überwinden und loszulaufen. Wie wild jagte er an der Buche vorbei. Jetzt war er schon zu schnell, um noch zu bremsen. Vier Sekunden – er überschritt die Todesgrenze. Wenn sie sich jetzt schloß und sein Sprungbein erwischte, würde er dann sterben müssen, oder wäre dann nur das Bein tot? Fünf – er spürte ein Kitzeln. Sechs – nein, die Zeit war abgelaufen, hör auf zu zählen, fang an zu keuchen. Er war hindurchgelangt. Lebte er noch?

Er wälzte sich auf der Erde und wirbelte trockene Blätter und kleine Knochen empor. Natürlich lebte er noch! Wie könnte er sich sonst noch Sorgen darüber machen? Das war wie bei der Manticora, die sich um ihre Seele sorgte: Wenn er keine hätte, dann würde er auch nicht…

Bink setzte sich auf und schüttelte etwas aus seinem Haar. Er hatte es also geschafft. Das Kitzeln mußte eine Wirkung des abgeschalteten Schilds gewesen sein, denn es hatte ihm ja nichts angehabt.

Jetzt war alles vorbei. Er war für immer von Xanth befreit. Frei, sein eigenes Leben zu leben, ohne gehänselt oder belästigt oder in Versuchung geführt zu werden. Frei, er selbst zu sein.

Bink legte das Gesicht in die Hände und weinte.