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Die Verlobten

So musste ich an meinem Geburtstag hektisch eine Konferenz nach der anderen einberufen, da ich Loki Asyl gewährt hatte. Die meisten Berater hielten mich für verrückt und Loki wurde zum Verhör geladen.

In einer langen Sitzung befragte Thomas ihn nach allen Regeln der Kunst, und Loki gab ihm dieselben Antworten, die er auch mir gegeben hatte.

Aber ehrlich gesagt musste er nicht mehr viel erklären, nachdem er sein Hemd gehoben und seine Narben präsentiert hatte. Danach wurde er ins Bett geschickt.

Wenigstens verbrachte ich noch ein schönes, ruhiges Abendessen mit Willa und Matt. Meine Tante Maggie rief an und ich unterhielt mich eine Zeit lang mit ihr. Sie wollte mich seit Wochen unbedingt besuchen, aber ich hielt sie hin, so gut ich konnte. Ich hatte ihr noch nicht erklärt, wer genau ich war, aber wenigstens wusste sie, dass ich bei Matt und in Sicherheit war.

Eigentlich hatte ich sie über Weihnachten einladen und ihr alles erklären wollen. Aber dann fingen die Vittra an, unsere Changelings zu jagen, und weil ich Angst hatte, Maggie könnte als Geisel genommen werden, verschob ich unser Treffen wieder einmal.

Sie reiste durch die Weltgeschichte und es ging ihr gut, aber sie machte sich natürlich trotzdem Sorgen um mich. Wenn sich die Lage wieder beruhigt hatte, konnte sie endlich wieder an meinem Leben teilhaben, und ich freute mich sehr darauf. Ich vermisste sie schrecklich.

Nach dem Abendessen ging ich zurück in mein Zimmer und schaute mit Duncan schlechte Filme aus den Achtzigern. Er musste täglich sechzehn Stunden auf mich aufpassen, dann übernahm die Nachtwache. Ich hatte eigentlich vorgehabt, zu lernen, weil Tove mir gerade Tryllisch beibrachte, aber das ließ Duncan nicht zu. Er bestand darauf, dass ich abschaltete und mich entspannte.

Er schlief in meinem Zimmer ein, was schon häufiger passiert war. Da er mein Leibwächter war, fand niemand etwas dabei, und mir war es lieber, wenn ich ihn in meiner Nähe hatte. Ich lag in meinem Bett und Duncan hatte sich in eine Decke gewickelt und auf der Couch zusammengerollt. Ab Samstag würde er wahrscheinlich nicht mehr in meinem Zimmer schlafen dürfen, und das machte mich ein bisschen traurig.

»Heute ist Donnerstag«, sagte ich beim Aufwachen. Ich blieb im Bett liegen und starrte an die Decke.

»Stimmt genau.« Duncan gähnte und streckte sich.

»Ich heirate in zwei Tagen.«

»Ich weiß.« Er stand auf und öffnete die Vorhänge. Gleißendes Morgenlicht flutete in mein Zimmer. »Was hast du heute vor?«

»Ich muss in Bewegung bleiben«, sagte ich mit zusammengekniffenen Augen. »Und es ist mir egal, dass alle behaupten, ich müsse mich entspannen und mir freinehmen. Ich muss etwas tun. Ich könnte mit Tove trainieren.«

»Immerhin verbringst du so etwas Zeit mit deinem Verlobten«, sagte Duncan achselzuckend.

Immer wenn ich an die Hochzeit dachte, wurde mir schlecht. Manchmal so, dass ich mich übergeben musste. Ich glaube, ich hatte noch nie in meinem Leben solche Angst vor etwas gehabt.

Ich duschte, frühstückte schnell und ging dann zu Toves Zimmer, um ihn zu fragen, ob er Lust auf Training hatte. Inzwischen hatte ich meine Fähigkeiten relativ gut unter Kontrolle, und da ich das auf keinen Fall verlieren wollte, übte ich so oft wie möglich, um sie zu stärken.

Tove war nach meiner Entführung durch die Vittra in den Palast gezogen, um meine Sicherheit zu gewährleisten. Er war viel stärker als alle Palastwachen und womöglich sogar stärker als ich. Sein Zimmer lag auf demselben Flur wie meines und die Tür stand offen.

Ein paar Umzugskartons standen kreuz und quer im Raum. Die meisten waren leer, einer mit Büchern vollgestopft. Ein weiterer Karton befand sich auf dem Bett und Tove legte gerade ein paar Jeans hinein.

»Willst du verreisen?«, fragte ich und lehnte mich an den Türrahmen.

»Nein, ich bereite nur alles für den Umzug vor.« Er deutete vage in Richtung des Südflügels, wo sich Eloras Gemächer – unsere neuen Gemächer – befanden. »Für Samstag.«

»Oh«, sagte ich. »Alles klar.«

»Brauchst du Hilfe?«, fragte Duncan. Er war mir zu Toves Zimmer gefolgt, denn er folgte mir überall hin.

»Klar, vielen Dank«, sagte Tove achselzuckend.

Duncan ging ins Zimmer und holte einen Stapel Hemden aus Toves Kommode. Ich blieb an der Tür stehen und ärgerte mich darüber, wie verkrampft die Atmosphäre zwischen Tove und mir war. Wenn wir trainierten oder über Politik sprachen, war alles in Ordnung bei uns. Wir waren beinahe immer derselben Ansicht und sprachen völlig offen über alles, was mit dem Palast oder unserer Arbeit zu tun hatte.

Aber sobald es um die Hochzeit und unsere Beziehung ging, fanden wir nie die richtigen Worte.

Vielleicht hatte das etwas damit zu tun, dass Finn mir vor einigen Monaten erzählt hatte, Tove sei schwul. Ich hatte dieses Thema noch nicht mit meinem Verlobten besprochen, also wusste ich nicht genau, ob es wirklich stimmte. Aber ich vermutete, dass Finn die Wahrheit gesagt hatte.

»Willst du heute trainieren?«, fragte ich Tove.

»Ja, das wäre klasse.« Tove klang erleichtert. Das Training brachte auch ihm viel. Im Palast lebten so viele Leute, deren Gedanken und Gefühle Tove spürte, dass in seinem Kopf ständig ein Rauschen herrschte. Wenn er trainierte, verebbte das Rauschen, und er konnte sich besser konzentrieren und normal verhalten.

»Draußen?«, schlug ich vor.

»Ja.« Er nickte mir zu.

»Aber es ist so kalt«, jammerte Duncan.

»Dann bleib doch hier«, sagte ich. »Du kannst Toves Sachen zusammenpacken.« Duncan wirkte unsicher, also fuhr ich fort. »Ich bin bei Tove. Wir können ganz gut auf uns aufpassen.«

»Okay«, gab Duncan widerwillig nach. »Aber hol mich sofort, wenn du mich brauchst.«

Tove und ich gingen zu dem geheimen Garten hinter dem Palast. Er war nicht wirklich geheim, aber mir kam er so vor, weil er hinter Bäumen und einer Mauer verborgen lag. Obwohl schon seit Tagen ein kalter Januarsturm herrschte, war es hier friedlich und windstill.

Der Garten war magisch. Trotz des Schnees blühten alle Blumen und glitzerten unter ihrer Frostschicht wie Diamanten. Der kleine Wasserfall hätte eigentlich zugefroren sein müssen, plätscherte aber munter weiter.

Der Pfad war schneebedeckt. Tove streckte die Hand aus und der Schnee teilte sich wie das Rote Meer. Im Obstgarten blieb er unter einem Baum stehen, zwischen dessen gefrorenen Blättern blaue Blüten leuchteten.

»Was sollen wir heute machen?«, fragte Tove.

»Keine Ahnung«, sagte ich. »Worauf hast du Lust?«

»Auf eine Schneeballschlacht«, sagte er mit schelmischem Grinsen.

Mit Gedankenkraft schoss er vier Schneebälle auf mich ab, und ich hob die Hände und schickte sie mit meinen eigenen telekinetischen Kräften zurück. Sie zerplatzten in der Luft und Schnee rieselte auf mich herunter. Dann schoss ich ein paar Schneebälle auf Tove ab, aber er hielt sie genauso mühelos auf wie ich.

Er griff mich mit noch mehr Schneebällen an. Die meisten konnte ich aufhalten, aber einer entwischte mir und traf mich voll ans Bein. Ich rannte hinter einen Baum und bereitete meinen Gegenangriff vor.

Tove und ich bewarfen uns immer weiter mit Schneebällen und allmählich wurde es anstrengend. Das Ganze war zwar ein Spiel und machte Spaß, aber schließlich trainierten wir ja auch. Dadurch, dass ich mehrere Schneebälle auf einmal aufhalten musste, lernte ich, auf Angriffe zu reagieren, die simultan aus verschiedenen Richtungen kamen. Ich versuchte, das Feuer schon zu erwidern, bevor ich Toves Schneebälle aufgehalten hatte, und lernte so, mich gleichzeitig zu wehren und zu verteidigen.

Dies waren zwei völlig unterschiedliche Aufgaben, und es war schwierig, schnell zwischen ihnen umzuschalten. Ich arbeitete schon eine Zeitlang an diesem Problem, aber ich war noch nicht sehr gut darin. Zu meiner Verteidigung muss ich anführen, dass auch Tove es nicht konnte, aber er hielt es auch nicht für möglich. Mein Verstand musste es schaffen, gleichzeitig etwas aufzuhalten und von mir wegzuschleudern. Mit Verzögerung klappte das zwar, aber simultan war es unmöglich.

Als wir beide halb erfroren und total erschöpft waren, ließ ich mich in den Schnee fallen. Für das Training hatte ich mir eine Hose und einen Pulli angezogen, und weil ich fürchterlich schwitzte, fühlte sich der Schnee sehr angenehm an.

»Unentschieden?«, fragte Tove keuchend und ließ sich neben mir zu Boden fallen.

»Unentschieden«, sagte ich lachend.

Wir breiteten die Arme aus, als hätten wir vor, Schneeengel zu machen, taten es aber nicht. Wir betrachteten die Wolken über uns und versuchten, wieder zu Atem zu kommen.

»Wenn wir das auch noch machen, wenn wir verheiratet sind, wird es nicht so schlimm werden, oder?«, fragte Tove. Es war keine rhetorische Frage.

Ich nickte. »Mit Schneeballschlachten komme ich gut zurecht«, sagte ich.

»Hast du Angst?«, fragte er.

»Ein bisschen.« Ich drehte den Kopf in seine Richtung und drückte meine Wange in den Schnee. »Und du?«

»Ja.« Er runzelte die Stirn und starrte nachdenklich in den Himmel. »Ich habe am meisten Angst vor dem Kuss. Unser erster Kuss wird vor unzähligen Hochzeitsgästen stattfinden.«

»Ja«, sagte ich, und bei dem Gedanken drehte sich mir der Magen um. »Aber bei einem Kuss kann man ja nicht viel falsch machen.«

»Sollen wir?«, fragte Tove und schaute mich an.

»Uns küssen?«, fragte ich. »Wenn wir verheiratet sind, müssen wir das wohl.«

»Nein, ich meinte jetzt.« Tove setzte sich auf und stützte sich mit den Armen ab. »Dann wird es am Samstag vielleicht leichter.«

»Meinst du?«, fragte ich und setzte mich ebenfalls auf. »Willst du denn?«

»Ich komme mir vor wie in der dritten Klasse.« Seufzend wischte er sich den Schnee von der Hose. »Aber wir werden heiraten, also müssen wir uns küssen.«

»Ja.«

»Okay. Dann los.« Er lächelte mich verkrampft an. »Küssen wir uns.«

»Okay.«

Ich schluckte mühsam und beugte mich vor. Dann schloss ich die Augen, weil es mich nur noch verlegener gemacht hätte, ihn dabei anzusehen. Seine Lippen waren kalt und der Kuss war keusch. Er dauerte nur einen Augenblick. Mir wurde flau, aber nicht aus angenehmen Gründen.

»Und?«, fragte Tove und richtete sich wieder auf.

»Das war in Ordnung«, versicherte ich. Ich wusste nicht, wen ich überzeugen wollte.

»Ja, das war okay.« Er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und wich meinem Blick aus. »Wir schaffen das. Stimmt’s?«

»Ja«, sagte ich fest. »Natürlich schaffen wir das. Wenn es jemand schafft, dann wir. Wir sind die mächtigsten Tryll, die es je gab. Und wir sind beide nett. Wir werden es schon hinkriegen, den Rest unseres Lebens gemeinsam zu verbringen.«

»Ja.« Tove klang zuversichtlicher. »Und ich freue mich auch darauf. Ich mag dich. Du magst mich. Wir haben Spaß miteinander und sind beinahe immer derselben Ansicht. Wir werden eine großartige Ehe führen.«

»Auf jeden Fall«, bekräftigte ich. »Die Basis einer guten Ehe ist eine gute Freundschaft.«

»Und Tryll in unserer Stellung dürfen sich ihre Partner sowieso nicht aussuchen«, fügte Tove mit einer Spur Trauer in der Stimme hinzu. »Aber wenigstens mögen wir uns.«

Gedankenverloren starrten wir beide in den Schnee hinaus. Ich war mir nicht sicher, was Tove dachte. Vielleicht dachte er gar nichts. Ich wusste nicht einmal, was ich selbst dachte.

Eigentlich war es egal, ob Tove schwul war oder nicht. Auch wenn er es nicht gewesen wäre, hätte das an meinen Gefühlen für ihn nichts geändert. Aber das würde uns nicht davon abhalten, ein gutes Team zu werden und eine würdige Ehe zu führen. Auf unsere Art. Wenigstens das verdiente er, und ich würde alles dafür tun, es ihm zu geben.

»Sollen wir reingehen?«, fragte Tove plötzlich. »Es ist ziemlich kalt.«

»Ja, ich friere auch.«

Er stand auf, reichte mir dann die Hand und zog mich hoch. Das wäre zwar nicht nötig gewesen, war aber eine nette Geste. Schweigend gingen wir zum Palast zurück und ich drehte den Verlobungsring an meinem Finger. Das Metall war eiskalt und der Ring fühlte sich auf einmal viel zu groß und zu schwer an. Ich hätte ihn am liebsten abgenommen und zurückgegeben, aber das konnte ich nicht.