15

Hocking_Ornament.tif

Oslinna

Der Ort sah aus, als habe im Zentrum eine Bombe eingeschlagen. Oslinna war eine kleine Stadt, sogar noch kleiner als Förening. Sie lag in einem Tal am Fuße flacher Berge. Ich hatte die Stadt vor dem Angriff nicht gesehen, aber den wenigen unversehrt gebliebenen Gebäuden nach zu urteilen, war sie sehr schön gewesen.

Die Behausungen der Tracker waren vollkommen zerstört. Tracker lebten in kleinen Häuschen, die zwischen Bäumen versteckt lagen oder sich an die Flanke von Bergen schmiegten. Sie waren sehr leicht zu zerstören. Aber auch die großen Häuser der Markis und Marksinna waren stark beschädigt, die Dächer zum Teil abgedeckt und die Stützmauern eingerissen.

Im Stadtzentrum stand nur noch der Palast. Er wirkte wie eine kleinere Ausgabe meines Palastes mit weniger Fenstern. Die Rückseite des Palastes in Förening ragte über den Fluss hinaus, und dieser hier war in den Berg hineingebaut. Die Hälfte des Gebäudes war eingestürzt und geschwärzt, als habe dort ein Feuer gewütet. Die andere Hälfte wirkte zumindest von außen relativ unbeschädigt. Einige Fenster waren zerborsten und der Brunnen in der Einfahrt zerstört, aber verglichen mit dem Rest der Stadt wirkte der Palast relativ unversehrt.

Wir waren langsam durch die Stadt gefahren und hatten fassungslos die Verwüstung betrachtet. Tove musste ein paarmal großen Schuttbrocken ausweichen, die mitten auf der Straße lagen. Er parkte vor dem Palast neben einer entwurzelten Eiche.

»Das schaffen wir allein niemals«, sagte Aurora, die auf dem Rücksitz saß. Sie beschwerte sich seit unserer Abfahrt darüber, dass wir sie zum Helfen verpflichtet hatten, aber wir ignorierten ihre Klagen. Sie war unsere stärkste Heilerin und in Oslinna gab es viele Verletzte.

»Wir werden unser Möglichstes tun«, sagte ich. »Das muss fürs Erste reichen.«

Ich stieg aus, bevor ihr darauf eine Antwort einfiel, und im selben Augenblick bog Duncan am Steuer eines zweiten Cadillacs hinter uns in die Einfahrt ein.

Willa, Matt und Loki waren bei ihm. Finn wollte zwar ebenfalls mit uns kommen, aber er war noch nicht wieder ganz auf dem Damm, und Thomas benötigte seine Hilfe beim Training der Tracker. Matt hatte darauf bestanden, uns zu begleiten. Zuerst war ich dagegen gewesen, aber wir konnten wirklich jede helfende Hand gebrauchen.

»Es ist noch schlimmer, als ich befürchtet habe«, sagte Willa. Sie schlang die Arme um sich und schüttelte den Kopf.

»Das sind eure Feinde?«, fragte Matt und sah sich um. »Die Leute, die das hier angerichtet haben?«

»Im Moment kämpfen wir gar nicht«, sagte ich, um ihn zu beruhigen. »Wir räumen hier auf, helfen den Überlebenden und nehmen die Flüchtlinge mit. Um alles andere kümmern wir uns später.«

Loki hob einen mächtigen Ast hoch, der den Weg zum Palast versperrte. Der Weg war ursprünglich gepflastert gewesen, aber viele Pflastersteine waren herausgerissen worden und lagen ringsherum verstreut auf dem Rasen.

Tove und ich näherten uns dem Palast und versuchten, gleichzeitig würdevoll und mitfühlend auszusehen. Das Mitgefühl fiel uns nicht schwer. Die Verwüstung war wirklich grauenerregend.

Als wir fast an der Tür angekommen waren, wurde sie aufgerissen und ein Mädchen kam heraus, das nicht viel älter sein konnte als ich. Ihr dunkles Haar war zerzaust und nachlässig hochgesteckt und ihr Gesicht und ihre Kleidung mit Ruß und Asche beschmiert. Sie war sogar noch kleiner als ich und sah aus, als würde sie gleich in Tränen ausbrechen.

»Seid Ihr die Prinzessin?«, fragte sie.

»Ja, ich bin Wendy, die Prinzessin aus Förening«, sagte ich und deutete auf Tove. »Das ist Prinz Tove. Wir sind hier, um euch zu helfen.«

»Oh, Gott sei Dank.« Sie brach in Tränen aus, rannte auf mich zu und umarmte mich. »Ich dachte schon, es kommt niemand.«

»Jetzt sind wir ja hier.« Ich tätschelte ihr hilflos den Kopf und warf Tove einen Blick zu. »Wir werden euch helfen, so gut wir können.«

»Entschuldigung.« Sie löste sich von mir und wischte sich die Augen trocken. »Das war unhöflich von mir. Ich … Es gibt viel zu tun.« Sie schüttelte den Kopf. »Mein Vater wäre wütend, wenn er mich so sehen würde. Es tut mir leid.«

»Bitte entschuldige dich nicht«, sagte ich. »Du hast so viel durchgemacht.«

»Nein. Ich bin jetzt für die Stadt verantwortlich«, sagte sie. »Ich sollte mich auch so verhalten.«

»Kenna Thomas?«, fragte ich. Hoffentlich erinnerte ich mich richtig. Ihr Name hatte auf der Liste meiner potenziellen Brautjungfern gestanden und Willa hatte mir ein paar Dinge über sie erzählt. Kenna war nur deshalb nicht unter meinen Brautjungfern gewesen, weil Aurora sie zu mögen schien. Sonst hatte ich nichts an ihr auszusetzen gehabt.

Sie lächelte. »Ja, ich bin Kenna, und da meine Eltern tot sind, bin ich jetzt Marksinna von Oslinna.«

»Sind die Überlebenden hier?«, fragte ich mit Blick auf den Palast. »Braucht jemand medizinische Hilfe? Wir haben eine Heilerin mitgebracht.«

»Oh ja!« Kenna nickte. »Folgt mir.«

Wir folgten ihr in das Gebäude, und Kenna erklärte uns, was passiert war. Während die Einwohner schliefen, waren die Kobolde in die Stadt eingedrungen und hatten die Häuser zerstört. Kennas Meinung nach waren sie hauptsächlich darauf aus gewesen, materiellen Schaden anzurichten. Die meisten Todesopfer hatten sich zufällig in den einstürzenden Häusern befunden oder waren von ausgerissenen Bäumen erschlagen worden. Es war, als habe ein Tornado die Stadt ohne jede Vorwarnung heimgesucht.

Als der Überfall begann, waren nur sehr wenige Tracker in der Stadt, und sie konnten gegen die Kobolde nichts ausrichten. Kenna hatte gesehen, wie ein Kobold einen angreifenden Tracker mühelos in zwei Hälften gerissen hatte.

Als die Markis und Marksinna endlich begannen, sich mit ihren Fähigkeiten zu verteidigen, zogen sich die Kobolde recht schnell zurück.

Der kleine Ballsaal des Palastes war in ein provisorisches Lazarett verwandelt worden. Einige schwer verletzte Tryll waren in benachbarte Krankenhäuser gebracht worden, aber die meisten wären lieber gestorben, als sich von menschlichen Ärzten behandeln zu lassen.

Es war ein schrecklicher Anblick. Überall standen Feldbetten, in denen blutüberströmte Verwundete lagen. Mänsklig-Kinder mit gebrochenen Gliedmaßen und schmutzigen Gesichtern lagen weinend in den Armen ihrer Wirtseltern.

Aurora machte sich ohne jede Aufforderung von mir sofort an die Arbeit, was bemerkenswert nett war. Willa und ich redeten mit den Verwundeten, brachten ihnen Wasser und holten ihnen, was sie brauchten. Kenna nahm Tove, Duncan, Loki und Matt mit nach draußen und zeigte ihnen, was dort zu tun war. Ich wäre gerne mit ihnen gegangen, da ich schwere Gegenstände viel besser bewegen konnte als Matt und Duncan, denn ich konnte meine Gedankenkraft nutzen.

Aber ich spürte, dass ich zumindest eine Zeitlang hier bei diesen Leuten bleiben musste. Den meisten konnte ich nur Wasserflaschen bringen, aber ich glaube, es tat ihnen gut, dass jemand sich um sie kümmerte.

Ihre Geschichten brachen mir das Herz. Frauen hatten ihre Männer und Kinder ihre Eltern verloren. Den meisten Trackern war nichts geblieben. Ich hätte am liebsten geweint, aber das durfte ich nicht. Ich wäre mir selbstsüchtig vorgekommen. Ich musste ruhig bleiben und den Überlebenden versichern, dass wir ihnen helfen würden. Dass ich alles wieder in Ordnung bringen konnte.

Ich blieb bei einer jungen Frau stehen, die auf einem Feldbett saß. Sie war sicher nur ein oder zwei Jahre älter als ich, und sogar schmutzig und verletzt war sie unglaublich schön. Ihr langes braunes Haar schimmerte im Licht umbrafarben.

Aber es waren ihre Augen, die mich dazu gebracht hatten, stehen zu bleiben. Sie waren von einem tiefen Braun und starrten leblos ins Nichts. Tränen rannen lautlos über ihre Wangen.

In den Armen hielt sie ein kleines Mädchen, das sicher noch kein Jahr alt war. Die Kleine klammerte sich mit ihren runden Ärmchen wie ein hilfloses Äffchen an ihre Mutter. Dem Aussehen der Kleinen nach zu urteilen – ihre Haut war gebräunt und sie hatte dunkle Locken –, war sie wahrscheinlich eine Tryll. Sie war ein Tracker-Baby.

»Wie geht es dir?«, fragte ich die junge Frau. Als sie nicht reagierte, kniete ich mich vor sie. »Bist du verletzt?«

»Es geht mir gut«, sagte sie tonlos, starrte aber immer noch ins Leere.

»Und das Baby?« Ich berührte das Kind vorsichtig. Ich hatte noch nie viel mit Babys zu tun gehabt, aber ich hatte das Gefühl, als müsse ich den Kontakt herstellen.

»Das Baby?« Sie wirkte kurz verwirrt, dann schaute sie das kleine Mädchen in ihren Armen an. »Oh. Hanna geht es gut. Sie ist müde, aber sie versteht nicht, was hier passiert ist.«

»Das ist wahrscheinlich gut so«, sagte ich.

Hanna starrte mich mit ihren riesigen Augen an, die fast zu groß für ihr winziges Gesicht schienen. Dann griff sie nach meinem Finger und lächelte mich müde an.

»Sie ist so ein schönes kleines Mädchen«, sagte ich. »Ist sie deine Tochter.«

»Ja.« Die Frau nickte. »Danke.« Sie schluckte mühsam und versuchte, mich anzulächeln. »Mein Name ist Mia.«

»Wo ist Hannas Vater?«, fragte ich und hoffte, er sei nicht in der Stadt gewesen, als der Überfall stattfand.

»Er …« Mia schüttelte den Kopf und ihre stummen Tränen sagten mir alles. »Er hat versucht, uns zu beschützen, und …«

»Ich hätte nicht fragen sollen.« Ich legte Mia hilflos die Hand auf den Arm.

»Ich weiß einfach nicht, wie wir ohne ihn weiterleben sollen.« Mia begann zu schluchzen.

Ich setzte mich neben sie auf das Feldbett und nahm sie in den Arm. Sie weckte meinen Beschützerinstinkt, und ich hätte am liebsten all ihre Probleme gelöst und ihren Schmerz gelindert. Aber das stand nicht in meiner Macht. Sie wirkte viel zu jung, um Ehefrau und Mutter und sogar bereits Witwe zu sein. Ich konnte mir nicht vorstellen, was sie gerade durchmachte, aber ich würde alles tun, um ihr zu helfen.

»Es wird alles gut«, sagte ich tröstend, während Mia an meiner Schulter weinte. Auch Hanna begann zu heulen, als sie ihre Mutter weinen sah. »Es wird eine Weile dauern, aber du und Hanna, ihr werdet es schaffen.«

Mia kämpfte ihre Tränen nieder und wiegte ihr Baby. Hanna hörte ebenfalls sofort auf zu weinen. Mia atmete tief durch.

»Tut mir leid, dass ich so unbeherrscht war, Prinzessin«, sagte Mia und schaute mich an. »Ich hätte Euch nicht damit belasten dürfen.«

»Nicht doch«, winkte ich ab. »Aber hör zu, Mia. Wenn wir Förening verlassen, möchte ich, dass ihr mit uns kommt. Ihr könnt erst mal im Palast wohnen, und dann sehen wir weiter. Okay? Ihr dürft so lange dort bleiben, wie ihr wollt.«

»Danke.« Ihre Augen standen wieder voller Tränen, und weil ich sie nicht noch einmal zum Weinen bringen wollte, ließ ich sie mit ihrer müden Tochter allein.

Irgendetwas an Mia ließ mich nicht mehr los. Ich konnte ihr unglückliches Gesicht einfach nicht vergessen. Unter ihrer Verzweiflung spürte ich Wärme und Güte, und ich hoffte, dass sie eines Tages wieder glücklich sein würde.

Ich blieb so lange, bis ich mit allen Verletzten geredet hatte, aber dann musste ich den Palast verlassen. Draußen würde ich mehr ausrichten können als hier. Willa begleitete mich aus demselben Grund, und wir überließen es Aurora, die Verletzten so gut wie möglich zu heilen.

Als wir das Lazarett verlassen hatten, brach Willa in Tränen aus. Sie hielt einen kleinen, schmutzigen Teddybär in der Hand und wischte sich mit der anderen über die Augen.

»War ziemlich schlimm da drin«, sagte ich und unterdrückte meine eigenen Tränen.

»Den hier hat mir ein kleiner Tracker-Junge gegeben.« Willa hielt mir den Bären hin. »Er hat seine gesamte Familie verloren. Seine Eltern, seine Schwester, sogar seinen Hund. Er hat mir den Bär geschenkt, weil ich ihm ein Lied vorgesungen habe.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich wollte ihn zuerst nicht annehmen. Aber er sagte, der Bär habe seiner Schwester gehört und sie wolle sicher, dass ihn ein nettes Mädchen bei sich aufnehme.«

Ich legte ihr den Arm um die Schultern und drückte sie an mich, während wir den Flur entlang in Richtung Palasteingang gingen.

»Wir müssen viel mehr für diese Leute tun«, sagte Willa. »Dieser kleine Junge ist nicht verletzt, aber wenn er es wäre, würde Aurora ihn nicht heilen. Sie will ihre Energie nicht an einen Tracker verschwenden.«

»Ich weiß«, seufzte ich. »Das ist verrückt.«

»Das muss sich ändern.« Willa blieb stehen und deutete zurück zum Ballsaal. »All diese Leute sind durch die Hölle gegangen und sie verdienen alle dieselbe Hilfe.«

»Ich weiß. Ich versuche ja, ihre Situation zu verbessern«, sagte ich. »Deshalb gehe ich zu all diesen Sitzungen, und deshalb will ich, dass du auch dort bist. Ich werde etwas ändern und unsere Gesellschaft besser machen. Aber dazu brauche ich Hilfe.«

»Okay.« Sie schniefte und spielte mit dem Teddy. »Ab jetzt nehme ich an den Sitzungen teil. Ich will dir bei deiner Arbeit helfen.«

»Danke«, sagte ich aufrichtig erleichtert. »Aber jetzt helfen wir diesen Leuten am besten dadurch, dass wir hier aufräumen und ihnen die Möglichkeit geben, ihre Häuser wieder aufzubauen.«

Willa nickte und wir gingen weiter. Draußen hatte sich bereits einiges getan. Die Dachziegel lagen nicht mehr länger auf dem Rasen und auch die umgestürzte Eiche bei den Autos war verschwunden. Ich hörte, wie sich die Männer ein paar Häuser weiter darüber stritten, was sie mit dem Schutt anfangen sollten.

Matt schlug vor, alles an der Straße aufzuhäufen und den Abtransport später zu organisieren. Loki war dagegen, aber Tove sagte ihm, er solle nachgeben. Wir hatten keine Zeit, uns herumzustreiten.

Willa und ich gingen zu ihnen und wir machten uns an die Arbeit. Loki, Tove und ich räumten den Schutt weg, während Matt, Duncan und Willa versuchten, Gegenstände zu retten und die verbliebenen Häuser aufzuräumen. Den Müll aus dem Weg zu räumen, würde die Probleme der Stadtbewohner zwar nicht lösen, aber es war eine gute Vorbereitung für den Wiederaufbau.

Am Nachmittag war ich völlig erschöpft, zwang mich aber, weiterzumachen. Loki musste allen Schutt mit Körperkraft beseitigen und schwitzte bald trotz der Kälte. Er zog sein Hemd aus, und der Anblick seines wunderschönen, aber so entstellten Körpers ließ mir die Tränen in die Augen steigen. Die Narben auf seinem Rücken waren schon recht gut verheilt, aber sie würden niemals ganz verschwinden, sondern auf ewig daran erinnern, was er für mich durchgemacht hatte.

»Was ist ihm passiert?«, fragte Willa, als wir ein Haus aufräumten, in dessen Fenster ein Baum gestürzt war. Ich räumte den Baum weg und sie entfernte das Glas und die Zweige.

»Wie bitte?«, fragte ich, aber ich sah, dass sie durchs Fenster auf Loki starrte, der gerade eine zerstörte Couch auf den Müllhaufen warf.

»Lokis Rücken«, sagte Willa. »Hat ihm der König das angetan? Hast du ihm deshalb Asyl gewährt.«

»Ja.«

Im Zimmer kam Wind auf und blies mir das Haar in die Augen. Willa hatte mitten im Wohnzimmer eine kleine Windhose erschaffen, die herumwirbelte und dabei die Scherben und Zweige aufsaugte. Danach schickte Willa die Windhose zum Müllhaufen.

»Und was genau läuft zwischen euch?«, fragte Willa.

»Wovon redest du?«, fragte ich und versuchte, eins der Sofas aufzurichten, das umgekippt war. Willa half mir dabei.

»Ich rede von dir und Loki.« Gemeinsam stellten wir die Couch wieder auf die Füße. »Spiel nicht die Ahnungslose. Da geht ganz eindeutig was.«

Ich schüttelte den Kopf. »Zwischen uns läuft ganz und gar nichts.«

»Wie du meinst.« Sie verdrehte die Augen. »Was ich dich fragen wollte: Wie läuft denn das Eheleben so?«

»Oh, die letzten drei Tage waren traumhaft«, sagte ich trocken.

»Und wie war die Hochzeitsnacht?«, fragte Willa lächelnd.

»Willa! Das ist nun wirklich nicht der passende Zeitpunkt, um über so etwas zu reden.«

»Doch! Wir müssen bei Laune bleiben«, beharrte sie. »Und ich hatte bisher noch gar nicht die Gelegenheit, mit dir darüber zu sprechen. Dein Leben ist seit der Hochzeit enorm dramatisch geworden.«

»Wem sagst du das«, murmelte ich.

»Machen wir fünf Minuten Pause.« Willa setzte sich auf die Couch und klopfte auf das Polster neben sich. »Du bist total fertig, das sehe ich. Du brauchst eine Pause. Also rede mit mir.«

»Von mir aus«, sagte ich, weil mir vor lauter Anstrengung inzwischen wirklich der Kopf schmerzte. Den letzten Baum hatte ich nur mit Mühe bewegen können. Ich setzte mich neben sie und aus den Polstern stieg eine kleine Staubwolke auf. »Wir kriegen das hier nie sauber.«

»Mach dir darum keine Sorgen«, sagte Willa. »Wir schaffen hier erst mal Ordnung und schicken dann alle Putzfrauen aus Förening hierher, um den Häusern den letzten Schliff zu verleihen. Wir leisten zwar nur die Vorarbeit, aber das ist auch schon etwas. Wir werden heute zwar nicht alles schaffen, aber irgendwann ist hier wieder alles in Ordnung.«

»Das hoffe ich.«

»Also, Wendy. Wie war deine Hochzeitsnacht?«, fragte Willa.

»Willst du wirklich darüber reden?«, stöhnte ich und lehnte den Kopf an die Rückenlehne des Sofas.

»Gerade will ich über nichts anderes reden.«

»Tja, dann wirst du gleich ziemlich enttäuscht sein«, sagte ich. »Es gibt nämlich nichts zu erzählen.«

»War es so langweilig?«, fragte sie.

»Nein, es war gar nichts«, sagte ich. »Es ist nichts passiert.«

»Moment mal.« Sie lehnte sich zurück und schaute mich forschend an. »Willst du damit sagen, dass du zwar verheiratet, aber immer noch Jungfrau bist?«

»Genau das will ich damit sagen.«

»Aber Wendy!«, japste Willa.

»Na und? Unsere Ehe ist seltsam. Wirklich seltsam. Das weißt du doch.«

»Schon.« Sie wirkte enttäuscht. »Ich hätte dir eben ein ›und sie lebten glücklich bis an ihr Lebensende‹ gewünscht.«

»Naja, noch ist es ja nicht so weit«, erinnerte ich sie.

»Wendy!«, rief Matt draußen. »Kannst du mir mal helfen?«

»Die Pflicht ruft.« Ich stand auf.

»Das war keine Minute, Wendy«, tadelte Willa. »Du musst wirklich mal eine Pause machen. Du laugst dich ja völlig aus.«

»Mir geht’s gut«, sagte ich auf dem Weg zur Tür. »Schlafen kann ich, wenn ich tot bin.«

Wir arbeiteten bis tief in die Nacht und schafften es, den meisten groben Schutt auf den Haufen zu räumen. Ich hätte am liebsten weitergearbeitet, aber ich sah, dass die anderen nicht mehr konnten.

»Wir müssen für heute Feierabend machen, Wendy«, sagte Loki. Er stützte sich auf einen umgestürzten Kühlschrank. Matt und Willa saßen auf einem Holzbalken neben dem Müllhaufen und Tove stand hinter ihnen und trank aus einer Wasserflasche. Nur Duncan half mir noch dabei, eine zerfetzte Matratze aus dem Haus eines Trackers zu schleppen. Ich konnte meine Kräfte nicht mehr einsetzen, da ich inzwischen sofort unerträgliche Kopfschmerzen bekam, wenn ich es versuchte.

In der gesamten Stadt funktionierten nur noch drei Straßenlaternen, und Matt, Willa, Tove und Loki ruhten sich unter einer davon aus. Sie hatten vor rund einer Viertelstunde aufgehört, zu arbeiten, aber ich bestand darauf, weiterzumachen.

»Er hat recht, Wendy«, sagte Matt. »Für heute hast du genug getan.«

»Hier liegt immer noch Müll herum, also stimmt das nicht«, sagte ich.

»Duncan braucht eine Pause«, sagte Willa. »Lass uns für heute aufhören. Wir machen morgen weiter.«

»Mir geht’s gut«, keuchte Duncan. Aber ich hörte auf, an der Matratze zu zerren, und schaute zu ihm auf. Er war total verdreckt, sein Haar war wirr und sein Gesicht rot und verschwitzt. Er sah wirklich schrecklich aus.

»Okay, machen wir Schluss für heute«, gab ich nach.

Wir gingen zu Willa und Matt und setzten uns neben sie auf den Balken. Willa holte zwei Flaschen Wasser aus der kleinen Kühlbox neben sich und gab sie uns. Ich setzte die Flasche an und trank gierig. Tove ging vor uns auf und ab und spielte mit dem Deckel seiner Flasche. Ich wusste nicht, woher er die Energie hatte, sich noch so viel zu bewegen.

»Es ist gut, dass wir hier aufräumen«, sagte Matt. »Aber der Wiederaufbau wird lange dauern. Und dafür sind wir nicht qualifiziert.«

»Ich weiß.« Ich nickte. »Wir brauchen ein Spezialteam aus Bauarbeitern und Reinigungskräften. Wenn wir wieder in Förening sind, müssen wir eine Menge Leute herschicken.«

»Ich könnte ein paar Baupläne zeichnen, wenn du willst«, bot Matt mir an. »Ich kann Häuser entwerfen, die schnell und einfach hochgezogen werden können, aber trotzdem nicht billig aussehen.«

»Das wäre fantastisch und ein guter nächster Schritt«, sagte ich.

Matt war Architekt oder wäre es zumindest gewesen, wenn ich ihn nicht nach Förening mitgeschleppt hätte. Ich wusste nicht genau, wie er seine Tage im Palast verbrachte, aber es würde ihm gut tun, wieder zu arbeiten. Den Bewohnern von Oslinna würden seine Entwürfe eine große Hilfe sein.

»Die gute Nachricht ist, dass die Verwüstung Kennas Theorie bestätigt«, sagte Loki. Er kam zu uns und setzte sich neben mich.

»Wie meinst du das?«, fragte ich.

»Die Kobolde sind nicht wirklich böse und grausam«, sagte Loki. »Natürlich sind sie destruktiv und nervtötend, aber meines Wissens nach sind sie eigentlich keine Mörder.«

»Offenbar hast du dich in ihnen getäuscht«, sagte Willa und deutete auf die verwüstete Stadt.

»Ich glaube nicht, dass es ihr Ziel war, die Einwohner zu töten«, sagte Loki. »Sie haben versucht, die Stadt zu zerstören. Und als sie vor ein paar Tagen gegen unser Team gekämpft haben, waren sie nicht wirklich auf ein Blutbad aus.«

»Und wie soll uns das nützen?«, fragte ich.

»Das weiß ich noch nicht«, sagte Loki achselzuckend. »Aber ich glaube, so unbesiegbar wie wir dachten, sind sie gar nicht. Sie sind keine Kämpfer.«

»Ein schöner Trost für all die Leute, die sie hier umgebracht haben«, sagte Tove.

»Okay.« Willa stand auf. »Genug für heute. Ich will reingehen, mich waschen und dann schlafen. Was ist mit euch?«

»Wo sollen wir denn schlafen?«, fragte Duncan.

»Kenna hat mir gesagt, dass die meisten Schlafzimmer im Palast kaum zerstört sind und es dort auch fließendes Wasser gibt.«

»Das klingt sehr gut.« Loki stand auf.

Wir gingen zum Palast, aber Tove blieb zurück. Ich verlangsamte meine Schritte, bis er mich eingeholt hatte und bemerkte, dass er sehr unruhig war. Er fuhr sich immer wieder mit der Hand übers Ohr, als wolle er ein Insekt vertreiben, aber ich konnte keines sehen. Als ich ihn fragte, ob alles okay sei, schüttelte er nur stumm den Kopf.

Kenna zeigte uns die leeren Zimmer im Palast, und ich bekam ein schlechtes Gewissen, weil wir ein Dach über dem Kopf hatten und so viele Bewohner von Oslinna obdachlos geworden waren. Kenna erklärte mir, es gebe nicht genügend Zimmer für alle Überlebenden. Sie hatte beschlossen, die Zimmer nicht zu verteilen, da sie in dieser schwierigen Situation nicht noch Streit und Missstimmung heraufbeschwören wollte.

Außerdem waren die Zimmer, die sie uns zeigte, nicht sehr gut in Schuss. Sie waren zwar nicht beschädigt, aber es herrschte ein heilloses Durcheinander darin. Unser Zimmer kam mir schief vor, und die Bücher und Möbel lagen wild verstreut im Raum.

Ich machte ein bisschen Ordnung und ließ Tove als Ersten duschen. Er wirkte mitgenommen, und ich hielt es für besser, dass er sich entspannte, statt noch weiter aufzuräumen.

»Was machst du denn da?«, fragte er, als er nach dem Duschen zurück ins Zimmer kam. Sein Haar war nass und wirr.

»Ich mache das Bett.« Ich schaute zu ihm hoch, während ich die Decke glatt strich. »Wie war die Dusche?«

»Warum machst du das Bett?«, fuhr er mich an und rannte auf mich zu. Ich wich zur Seite und er zog die Decke wieder zurück.

»Sorry«, sagte ich. »Mir war nicht klar, dass dich das stören würde. Ich fand es nur …«

»Warum?« Tove wirbelte herum und sah mich mit flammendem Blick an. »Warum tust du so etwas?«

»Ich habe nur das Bett gemacht, Tove«, sagte ich vorsichtig. »Du kannst es gerne wieder durcheinanderbringen. Geh doch ins Bett, okay? Du bist total erschöpft. Schlaf ruhig schon, ich gehe nur noch kurz duschen.«

»Von mir aus! Mach doch, was du willst!«

Er riss das Bettzeug herunter und murmelte vor sich hin. Tove hatte seine Fähigkeiten heute zu häufig eingesetzt und sein Gehirn überstrapaziert. Auch mir brummte immer noch der Kopf, und dabei war ich stärker als er. Er musste sich schrecklich fühlen.

Ich griff mir die Reisetasche, die ich aus Förening mitgebracht hatte, und ging duschen. Ich hielt es für das Beste, ihn allein zu lassen, damit er sich ausruhen konnte. Ich hätte unglaublich gerne lange heiß geduscht, aber aus der Leitung kam nur kaltes Wasser, also beeilte ich mich.

Ich hörte Tove schon von Weitem. Sein Murmeln war lauter geworden.

»Tove?«, sagte ich leise und schob die Zimmertür auf.

»Wo warst du?«, schrie Tove mit panisch aufgerissenen Augen. Alles was ich vorher aufgeräumt hatte, lag wieder im Zimmer verstreut. Tove tigerte unruhig durch den Raum.

»Ich war duschen«, sagte ich. »Das weißt du doch.«

»Hast du das gehört?« Er erstarrte und schaute sich hektisch um.

»Was denn?«, fragte ich.

»Du hörst nicht zu!«, schrie Tove.

»Tove, du bist müde.« Ich ging ins Zimmer. »Du musst schlafen.«

»Nein, ich kann nicht schlafen.« Er schüttelte den Kopf und wich meinem Blick aus. »Nein, Wendy.« Er fuhr sich durch die Haare. »Du verstehst das nicht.«

»Was verstehe ich nicht?«, fragte ich.

»Ich kann alles hören.« Er legte sich beide Hände auf die Ohren. »Ich kann alles hören!«, wiederholte er wieder und wieder und presste die Hände gegen seinen Kopf. Seine Nase begann zu bluten und er stöhnte auf.

»Tove!« Ich eilte zu ihm und legte ihm die Hand auf den Arm, um ihn zu beruhigen, aber als ich ihn berührte, schlug er mir heftig ins Gesicht.

»Wage es nicht!« Tove drehte mich um und schubste mich aufs Bett. Ich war viel zu überrascht, um zu reagieren. »Ich kann dir nicht trauen! Ich kann keinem trauen!«

»Tove, bitte beruhige dich«, flehte ich. »Das bist nicht du. Du bist nur übermüdet.«

»Sag mir nicht, wer ich bin! Du hast keine Ahnung, wer ich bin!«

»Tove.« Ich rutschte zum Bettrand und setzte mich auf. Er stand vor mir und starrte mich voller Wut an. »Tove, bitte hör mir zu.«

»Ich kann nicht.« Er biss sich auf die Lippe. »Dich kann ich nicht hören!«

»Du kannst mich hören«, sagte ich. »Ich bin hier.«

»Du lügst!« Tove packte mich an den Schultern und schüttelte mich heftig.

»He!«, schrie Loki und stürzte ins Zimmer. Tove ließ mich los.

Ich hatte die Zimmertür offen gelassen und Loki war gerade auf dem Rückweg aus der Dusche gewesen. Er trug immer noch kein Hemd und aus seinem hellen Haar tropfte Wasser auf seine Schultern.

»Hau ab!«, brüllte Tove ihn an. »Du darfst nicht hier sein!«

»Was zum Teufel machst du da?«, fragte Loki.

»Loki, er ist nicht er selbst«, sagte ich. »Er hat seine Fähigkeiten zu oft eingesetzt und das hat ihn aus dem Ruder geworfen. Er muss schlafen.«

»Sag mir nicht, was ich zu tun habe!«, knurrte Tove. Er hob die Hand, als wolle er mich noch einmal schlagen, und ich zuckte zurück.

»Tove«, brüllte Loki und rannte zu ihm.

»Loki!«, schrie ich, weil ich Angst hatte, er wolle ihn schlagen. Aber das hatte er nicht vor.

Loki packte Tove an den Schultern und zwang ihn, ihm in die Augen zu sehen. Tove versuchte, sich aus seinem Griff zu winden, aber nach ein paar Sekunden verlor er das Bewusstsein. Sein Körper wurde schlaff und sackte zusammen. Loki fing ihn auf. Ich wich zur Seite und Loki legte Tove aufs Bett.

»Entschuldige«, sagte ich hilflos.

»Du brauchst dich nicht zu entschuldigen. Er wollte dich gerade schlagen.«

»Nein, das wollte er nicht.« Ich schüttelte den Kopf. »Naja, doch. Aber das war nicht Tove. Er war gerade nicht er selbst. Tove kann keiner Fliege etwas zuleide tun. Er ist nur …«

Ich verstummte. Meine Wange brannte von Toves Ohrfeige und ich hätte am liebsten geweint. Aber nicht wegen des Schlages. Tove war krank und er würde immer kränker werden. Morgen früh würde es ihm besser gehen, aber irgendwann würden seine Kräfte seinen Verstand zerstören. Und schließlich würde es den Tove, den ich kannte, nicht mehr geben.

Loki beugte sich vor und starrte besorgt auf meine Wange. Ich hatte Schmerzen und realisierte, dass ich wahrscheinlich einen roten Handabdruck im Gesicht hatte. Verlegen drehte ich den Kopf weg.

»Danke«, sagte ich. »Aber es geht mir gut.«

»Das ist nicht wahr«, sagte Loki. »Es ist mir egal, ob er dein Ehemann ist, und es ist mir auch egal, ob er den Verstand verloren hat. Er hat dich geschlagen und dafür gibt es keine Entschuldigung. Und wenn er es noch mal tut …« Ein Muskel an seinem Kiefer zuckte und seine Augen brannten. Lokis Beschützerinstinkt war sehr stark ausgeprägt.

»Er wird es nicht wieder tun«, versicherte ich ihm, obwohl ich nicht wusste, ob das wirklich stimmte.

»Wenn ihm sein Leben lieb ist …«, sagte Loki. Aber seine Wut schien schon fast wieder verraucht zu sein. Er berührte sanft meinen Arm. »Komm mit, Wendy. Du kannst heute Nacht nicht bei ihm bleiben.«