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Zeit
Auf der langen Fahrt nach Ondarike schwiegen wir die meiste Zeit. Ich saß mit Tove, Loki, Duncan und Willa im Auto und wir alle hatten Angst. Taten wir wirklich das Richtige? Ich hatte so überzeugt geklungen, als ich mit ihnen geredet hatte, aber das lag nur daran, dass dies der einzige Plan war, der mir überhaupt möglich schien.
Vor unserem Aufbruch war ich mit den Teamführern noch einmal den Angriffsplan durchgegangen. Loki hielt es für das Beste, unsere Armee in mehrere kleine Trupps aufzuteilen, die sich über unterschiedliche Wege in den Vittra-Palast schleichen sollten.
Unsere Armee bestand aus rund zweihundert Trackern und den meisten Tryll aus Oslinna. Mia wollte anfangs ebenfalls mitkommen, aber Finn hatte sie davon überzeugt, dass sie lieber in Förening bleiben und sich um ihr Baby kümmern sollte. Dafür war ich ihm dankbar. Ich wollte nicht, dass Hanna als Waise endete.
Ein paar Dutzend Markis und Marksinna hatten sich uns ebenfalls angeschlossen, darunter auch Marksinna Laris. Ich nahm mir vor, von nun an sehr nett zu ihr zu sein. Falls wir nach Förening zurückkehren sollten.
Sogar ein paar Mänks kämpften an unserer Seite. Ich hatte Rhys und Rhiannon heute Morgen weggeschickt und versucht, auch Matt zum Gehen zu bewegen, aber er hatte sich geweigert. Wenigstens konnte ich ihn davon abbringen, mit uns in den Kampf zu ziehen. Ich hatte argumentiert, dass er Willa und mich nur ablenken würde, und schließlich hatte er eingewilligt, zurückzubleiben.
Willa würde ein Team von zwanzig Trackern und zwei Markis anführen. Sie würden über einen Seiteneingang in die Küche schleichen, wo sich Lokis Meinung nach ein paar Kobolde einen Mitternachtssnack genehmigen würden. Willa konnte die Töpfe und Pfannen durch die Luft wirbeln lassen, und da Markis Bain Wasser beherrschte, würde er notfalls die Küche überfluten.
Finn und Thomas hatten jeweils ein eigenes Team, aber beide sollten dasselbe tun. Sie würden durch den Kerker eindringen. Loki war durch einen Kellerabschnitt geflüchtet, der eine Verbindungstür zum Kerker hatte. Der Keller verlief wie ein langes Labyrinth unter dem gesamten Palast, und Finn, Thomas und ihre Teams konnten sich durch die langen Gänge schleichen, unbemerkt in den Palast eindringen und dabei eine Menge Kobolde ausschalten.
Tove hatte sich freiwillig dazu bereit erklärt, die gefährlichste Mission zu übernehmen. Bain wollte ebenfalls daran teilnehmen, aber Tove bestand darauf, dass er sich Willas Team anschloss. Tove würde mit fünfzig Trackern durch den Haupteingang in den Palast vordringen. Sein Ziel war es, möglichst viel Lärm zu machen und die Aufmerksamkeit der Kobolde auf sich zu ziehen. So konnten sich die anderen Teams von hinten anschleichen, während die Kobolde sich auf Toves Leute konzentrierten.
Auch Duncan hatte sich freiwillig für Toves Mission gemeldet, aber ich hatte ihn in Willas Team gesteckt. Bislang klang ihre Aufgabe am ungefährlichsten. Was nicht bedeutete, dass sie ungefährlich war.
Loki musste mich in den Palast schleusen und zu Oren bringen. Danach würde er Tove unterstützen. Der Gedanke, mich allein zu lassen, gefiel ihm gar nicht, aber er wusste, dass ich meine Mission nur allein durchführen konnte.
In der langen Geschichte der Tryll hatten wir niemals selbst Feinde angegriffen, egal wie sehr man uns auch provoziert haben mochte. Oren würde nicht damit rechnen, dass wir in die Offensive gingen, und möglicherweise verschaffte uns das den entscheidenden Vorteil.
Loki kannte sich am besten in Ondarike aus, also saß er am Steuer unseres SUV und führte die Cadillac-Kolonne an, mit der wir unterwegs waren. Als wir in die Nähe des Palastes gelangten, schaltete er die Scheinwerfer aus und die Autos hinter uns folgten seinem Beispiel. Er parkte am Fuß des Hügels hinter einem kahlen Waldstück, das unsere Autos verbarg. Näher wollte er nicht an den Palast heranfahren.
»Bist du sicher, dass du das tun willst?«, fragte Loki mich leise.
»Ja«, sagte ich. »Und du?«
»Nicht so sicher, wie ich gerne wäre«, gestand er.
»Bring mich einfach zu Oren.«
Ich drehte mich um und betrachtete all die anderen Tryll, die aus ihren Autos stiegen. Finn führte bereits ein paar den Hügel hinauf und erklärte ihnen, wie sie in den Palast gelangen würden. Loki hatte den Teamleitern vor unserem Aufbruch detailgenaue Karten gezeichnet, aber wir hatten nicht genug Zeit gehabt, sie allen Tryll zu zeigen.
»Wissen alle, was sie zu tun haben?«, fragte ich und schaute zu Willa, Tove und Duncan.
»Ja, wir schaffen das schon.« Willa drückte mir den Arm. »Pass auf dich auf.«
»Wir packen das«, sagte Duncan und lächelte nervös.
»Spiel nicht den Helden«, sagte ich streng. »Geh kein unnötiges Risiko ein.«
»Gib auf sie acht«, sagte Tove zu Loki.
»Ich werde mein Bestes tun«, versicherte dieser.
Inzwischen schlichen sich fast alle den Hügel hinauf. Loki und ich entfernten uns von den anderen, da wir durch einen Eingang auf der anderen Seite des Palastes eindringen würden. Wir wollten den Kobolden aus dem Weg gehen und direkt den König aufsuchen.
Wir gingen zwischen den Bäumen hindurch und rutschten über den Schnee und Zweige, die unter unseren Füßen knackten. Als wir den Palast erreichten, führte Loki mich zu einer kleinen Holztür, die beinahe komplett von Ranken zugewuchert war. Sie waren braun und sahen tot aus, aber sie waren mit scharfen Dornen gespickt, an denen sich Loki die Hand aufriss, als er sie zur Seite schob.
Er öffnete die Tür und glitt ins Innere. Ich folgte ihm. Wir betraten einen engen, schwach beleuchteten Flur, der mit roten Samtteppichen ausgelegt war, die unsere Schritte dämpften. Während Loki mich durch den hinteren Teil des Palastes führte, hörte ich aus der Ferne Schreie und Krach. Die Schlacht hatte begonnen. Ich zuckte zusammen, als irgendetwas auf die Mauer neben uns prallte und einen tiefen Riss hinterließ.
»Was ist auf der anderen Seite der Mauer?«, fragte ich und deutete auf den Riss.
»Die Eingangshalle.« Loki nahm meine Hand und schaute mich an. »Wenn du das wirklich durchziehen willst, müssen wir uns beeilen. Er hat den Lärm sicher schon gehört.«
Ich nickte und wir beschleunigten unsere Schritte. Nachdem wir um ein paar Ecken gebogen waren, erreichten wir einen sehr engen Treppenschacht. Ich musste mich seitwärts drehen, um mich die Treppe hinaufzuzwängen, und die Stufen waren so schmal, dass ich auf Zehenspitzen balancierte.
Am oberen Ende der Treppe befand sich eine Tür, und als Loki sie aufschob, wusste ich gleich, wo wir waren. Direkt vor uns befand sich die mächtige Eichenholztür zu Orens Gemächern, in die Märchenszenen mit Weinreben, Feen und Trollen geschnitzt waren. Der Flur war verlassen und die Kampfgeräusche drangen nur gedämpft hierher.
Ich hörte einen Schrei, der sich viel zu sehr nach Tove anhörte, und der gesamte Palast erzitterte in den Grundfesten.
»Geh«, bat ich Loki.
»Ich will dich nicht mit ihm allein lassen.«
»Ich kann das.« Ich legte ihm die Hand auf die Brust und sah ihm in die Augen. »Sie brauchen dich unten. Mit dem König komme ich alleine klar.«
Er schüttelte den Kopf. »Nein, Wendy.«
»Bitte, Loki. Du musst ihnen helfen. Du bist stark und sie brauchen dich«, sagte ich, aber ich wusste, dass ich ihn damit nicht überzeugen würde. »Ich verfrachte dich selbst in die Eingangshalle, wenn es sein muss, aber das würde meine Fähigkeiten schwächen. Ich will das nicht machen, aber ich werde es tun.«
Er sah mich forschend an, und ich wusste, dass er bei mir bleiben wollte. Aber das durfte ich nicht zulassen. Ich wollte ihn nicht der Gefahr von Orens Gegenwart aussetzen. Außerdem brauchten ihn meine Freunde als Unterstützung im Kampf gegen die Kobolde.
»Ich kann das«, wiederholte ich. »Dafür wurde ich geboren.«
Widerwillig gab er nach. Er küsste mich schnell und heftig auf den Mund.
»Ich werde ihnen helfen und dann hole ich dich«, sagte er.
»Ich weiß. Aber geh jetzt.«
Er nickte und eilte den Flur entlang. Ich holte tief Luft und wandte mich den Türen zu. Dann ging ich über den Flur, bereit dazu, meinen Vater zu töten.