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Asyl

Ich starrte aus dem Fenster und hatte den Anwesenden den Rücken zugewandt, denn so lenkte ich die Aufmerksamkeit aller auf mich. Diesen Trick hatte ich von meiner Mutter gelernt. Elora hatte mir in den vergangenen Monaten viele Tipps gegeben, und zu den nützlichsten gehörten diejenigen, wie man eine Sitzung leitete.

»Prinzessin, Ihr legt große Naivität an den Tag«, sagte der Kanzler. »Ihr könnt nicht unser gesamtes Gesellschaftssystem auf den Kopf stellen.«

»Das habe ich auch nicht vor.« Ich drehte mich um und warf ihm einen kühlen Blick zu, und er senkte den Kopf und zerknüllte ein Taschentuch in seiner Hand.

»Aber wir können unsere Probleme nicht länger ignorieren.«

Ich musterte die Anwesenden und versuchte, so kalt und majestätisch zu wirken wie Elora. Ich hatte nicht vor, eine grausame Herrscherin zu werden, aber vor diesen Leuten durfte man keine Schwäche zeigen. Wenn ich hier etwas verändern wollte, musste ich mit harter Hand vorgehen.

Seit Elora ihren Herrscherpflichten nicht mehr nachkommen konnte, kümmerte ich mich um die täglichen Regierungsgeschäfte im Palast, zu denen eine Menge Sitzungen gehörten. Die Gespräche mit dem Beraterstab nahmen einen Großteil meiner Zeit in Anspruch.

Der Kanzler war von den Tryll ins Amt gewählt worden, aber sobald seine Amtszeit zu Ende ging, würde ich seinen Gegenkandidaten mit allen Kräften unterstützen. Er war ein intriganter Feigling und wir brauchten eine viel stärkere Persönlichkeit in seiner Position.

Garrett Strom – der »Vertraute« meiner Mutter – war heute auch hier, aber er nahm nicht regelmäßig an den Sitzungen teil. Wenn es Elora nicht gut ging, blieb er lieber bei ihr und kümmerte sich um sie.

Meine Assistentin Joss saß im hinteren Teil des Raums und machte sich eifrig Notizen, während wir sprachen. Sie war ein zierliches Menschenmädchen, das in Förening als Mänsklig aufgewachsen war und als Eloras Sekretärin gearbeitet hatte. Mit Beginn meiner Regentschaft hatte ich sie geerbt und jetzt arbeitete sie für mich.

Mein Bodyguard Duncan stand wie immer an der Tür zum Konferenzraum. Er folgte mir wie ein Schatten überallhin. Duncan war zwar klein und linkisch, hatte aber viel mehr Grips, als man ihm ansah. Ich hatte ihn in den vergangenen Monaten respektieren gelernt und war dankbar für seine Gegenwart, auch wenn er Finn Holmes, meinen letzten Leibwächter, nicht vollständig ersetzen konnte.

Am Kopf des Tisches saß Aurora Kroner und neben ihr mein Verlobter Tove. Üblicherweise stand er als Einziger auf meiner Seite, und ich war froh, dass er hier war. Ich hatte keine Ahnung, wie ich ohne jede Unterstützung hätte regieren können.

Außerdem anwesend waren die Marksinna Laris, eine Frau, der ich nicht traute, die aber zu den einflussreichsten Adligen von Förening gehörte; Markis Bain, der für die Platzierung der Changelings zuständig war, und Thomas Holmes, der Sicherheitschef und Tracker-Beauftragte.

Ein paar andere hochrangige Regierungsbeamte saßen mit ernsten Mienen weiter unten am Tisch. Die Situation der Tryll verschlechterte sich immer mehr und ich schlug gerade einschneidende Veränderungen vor. Die anderen wollten nicht, dass ich etwas veränderte – ich sollte das Gesellschaftssystem unterstützen, das sie seit Jahrhunderten hatten. Aber dieses System funktionierte einfach nicht mehr. Unsere Gesellschaft war zutiefst marode, und sie weigerten sich, zu erkennen, dass zum Teil sie selbst dafür verantwortlich waren.

»Bei allem Respekt, Prinzessin«, begann Aurora, und ihre Stimme klang so zuckersüß, dass ich das Gift darin beinahe nicht hörte. »Wir haben Wichtigeres zu bedenken. Die Vittra werden immer stärker, und da der Waffenstillstand bald endet …«

»Der Waffenstillstand«, fiel ihr die Marksinna Laris verächtlich schnaubend ins Wort. »Als ob uns der etwas genützt hätte.«

»Er ist noch in Kraft«, sagte ich und richtete mich auf. »Unsere Tracker sind jetzt da draußen und kümmern sich um unsere Probleme, und deshalb halte ich es für wichtig, dass wir ihre Situation verbessern, bevor sie zurückkehren.«

»Darum können wir uns kümmern, wenn sie zurückgekehrt sind«, wandte der Kanzler ein. »Jetzt sollten wir versuchen, uns selbst zu retten.«

»Ich habe nicht vor, alle Güter neu zu verteilen oder die Monarchie abzuschaffen«, sagte ich. »Die Tracker riskieren ihr Leben, um uns und unsere Changelings zu retten, und sie verdienen richtige Häuser, in die sie zurückkehren können. Wir sollten jetzt Geld dafür beiseitelegen, damit wir gleich mit dem Bauen beginnen können, wenn das hier alles vorbei ist.«

»Das ist zwar sehr nobel von Euch, Prinzessin, aber wir sollten unser Geld für die Vittra aufsparen«, sagte Markis Bain. Er war besonnen und höflich, selbst wenn er mir widersprach, und gehörte meiner Einschätzung nach zu den wenigen Adligen, denen tatsächlich das Wohl des Volkes am Herzen zu liegen schien.

»Wir können die Vittra nicht mit Geld abspeisen«, warf Tove ein. »Hier geht es nicht um Geld, sondern um Macht. Wir alle wissen, was sie wollen, und ein paar Tausend Dollar – oder ein paar Millionen Dollar – werden daran nichts ändern. Der König der Vittra wird alle Angebote ablehnen.«

»Ich werde alles in meiner Macht Stehende tun, um Förening zu schützen, aber Sie haben alle recht«, sagte ich. »Wir müssen eine adäquate Lösung für das Vittra-Problem finden. Unter Umständen wird alles auf einen blutigen Kampf hinauslaufen, und wenn das der Fall sein sollte, müssen wir unsere Truppen unterstützen. Sie verdienen die bestmögliche Fürsorge, und dazu gehören nun mal anständige Häuser und Zugang zu unseren Heilern, wenn sie im Kampf verletzt werden.«

»Heiler für die Tracker?« Die Marksinna Laris lachte und ein paar andere schmunzelten ebenfalls. »Macht Euch doch nicht lächerlich.«

»Was ist daran lächerlich?«, entgegnete ich und versuchte, nicht allzu eisig zu klingen. »Wir erwarten, dass sie ihr Leben für uns geben, sind aber nicht willens, ihre Verletzungen zu heilen? Wir können nicht mehr von ihnen verlangen, als wir selbst zu geben bereit sind.«

»Sie stehen unter uns«, sagte Laris, als hätte ich das Konzept nicht begriffen. »Es gibt einen Grund dafür, warum wir sie regieren. Warum um alles in der Welt sollten wir sie als gleichgestellt behandeln, wenn sie das nun mal nicht sind?«

»Weil es der Anstand gebietet«, beharrte ich. »Wir sind zwar keine Menschen, sollten aber trotzdem human handeln. Deshalb verlassen die Tryll unsere Städte und lassen ihre Kräfte sterben. Wir müssen ihnen einen Anreiz dafür bieten, zu bleiben.«

Laris murmelte etwas und starrte mit kaltem Blick auf den Eichentisch. Ihr schwarzes Haar war so straff zu einem Knoten zurückgesteckt, dass ihr Gesicht wie gebügelt wirkte. Wahrscheinlich wollte sie so die Aufmerksamkeit auf ihre Stärke lenken. Marksinna Laris war eine sehr mächtige Tryll, die Feuer erschaffen und kontrollieren konnte. Eine so starke Fähigkeit war sehr zehrend. Die Tryll wurden von ihren Fähigkeiten geschwächt, verloren einen Teil ihrer Lebenskraft und alterten schneller.

Aber wenn sie ihre Kräfte nicht einsetzten, schadeten die Fähigkeiten ihrem Verstand, zerfraßen ihre Gedanken und machten sie wahnsinnig. Das galt speziell für Tove, der zerstreut und unhöflich wirkte, wenn er kein Ventil für seine Psychokinese finden konnte.

»Es ist Zeit für Veränderungen«, sagte Tove, als sich ein verärgertes Schweigen über den Raum gesenkt hatte. »Sie können nach und nach stattfinden, aber sie sind unausweichlich.«

Es klopfte an der Tür, was die anderen daran hinderte, ihm zu widersprechen. Ein Blick auf das puterrote Gesicht des Kanzlers verriet, dass er das nur zu gerne getan hätte.

Duncan öffnete die Tür und Willa streckte mit einem schüchternen Lächeln den Kopf ins Zimmer. Als Marksinna und Garretts Tochter hatte sie jedes Recht, an diesen Sitzungen teilzunehmen, und ich hatte sie auch schon mehrmals dazu eingeladen. Aber sie lehnte immer mit der Begründung ab, dass sie mir dabei mehr schaden als nützen würde. Es fiel ihr schwer, höflich zu bleiben, wenn jemand ihr widersprach.

»Sorry«, sagte Willa, und Duncan machte ihr den Weg frei. »Ich will nicht stören. Aber es ist schon nach fünf Uhr und ich sollte die Prinzessin um drei zu ihrer Geburtstagsparty abholen.«

Ich warf einen Blick auf die Uhr. Die Sitzung hatte viel länger gedauert, als ursprünglich geplant. Willa kam zu mir und lächelte die anderen entschuldigend an, aber ich wusste, dass sie mich an den Haaren aus dem Zimmer zerren würde, wenn ich die Sitzung nicht sofort beendete.

»Ah, ja.« Der Kanzler lächelte mich ekelhaft lüstern an. »Ich hatte ganz vergessen, dass Ihr morgen achtzehn Jahre alt werdet.« Er leckte sich die Lippen, und Tove stand schnell auf, um ihm die Sicht auf mich zu versperren.

»Verzeihung«, sagte Tove. »Aber die Prinzessin und ich haben Pläne für heute Abend. Können wir das Gespräch nächste Woche fortsetzen?«

»Ihr werdet nächste Woche schon wieder arbeiten?« Laris wirkte entsetzt. »So schnell nach der Hochzeit? Verzichtet die Prinzessin etwa auf Flitterwochen?«

»Ich halte Flitterwochen zurzeit nicht für sinnvoll«, erklärte ich. »Hier gibt es für mich zu viel zu tun.«

Das stimmte zwar, war aber nicht der einzige Grund, aus dem ich auf Flitterwochen verzichtet hatte. Ich mochte Tove zwar sehr, konnte mir aber nicht vorstellen, was wir mit all der Zeit anfangen sollten. Ich hatte noch nicht einmal darüber nachgedacht, wie wir unsere Hochzeitsnacht verbringen würden.

»Wir müssen die Changeling-Verträge überarbeiten«, sagte Markis Bain und stand schnell auf. »Da die Tracker die Changelings früher als geplant zurückbringen und einige Familien inzwischen ganz auf die Praxis verzichten, ist alles durcheinandergeraten. Ihr müsst den Beschluss noch unterzeichnen, Prinzessin.«

»Genug der Arbeit.« Willa hakte sich bei mir unter und begann, mich in Richtung Tür zu ziehen. »Die Prinzessin ist Montag wieder da und kann dann alles unterschreiben, was ihr wollt.«

»Willa, es dauert doch nur einen Augenblick, das zu unterschreiben«, sagte ich, aber sie starrte mich so wütend an, dass ich Bain höflich anlächelte. »Ich werde mich gleich Montag früh darum kümmern.«

Tove blieb noch einen Augenblick stehen und sprach mit Bain, aber er kam gleich darauf zu uns in den Flur. Obwohl wir nicht mehr im Konferenzraum waren, ließ Willa meinen Arm nicht los.

Duncan hielt sich ein paar Schritte hinter uns, während wir uns im Südflügel aufhielten. Mir war sehr oft gesagt worden, dass ich Duncan während meiner offiziellen Aufgaben und in Gegenwart der Regierungsbeamten keinesfalls als Gleichgestellten behandeln durfte.

»Prinzessin?« Joss eilte mit einem überquellenden Aktenordner hinter mir her. »Prinzessin, soll ich für Montagmorgen einen Termin mit Markis Bain vereinbaren?«

»Ja, das wäre fantastisch«, sagte ich und verlangsamte meine Schritte, damit ich mit ihr reden konnte. »Danke, Joss.«

»Um zehn habt Ihr einen Termin mit dem Markis von Oslinna.« Joss blätterte in meinem Terminkalender und ein Zettel fiel heraus. Duncan hob ihn auf, bevor er den Boden erreicht hatte, und reichte ihn ihr. »Danke. Sorry. Prinzessin, wollt Ihr Euch vor oder nach diesem Termin mit Markis Bain treffen?«

»Sie wird zwar direkt nach ihrer Hochzeit wieder zur Arbeit erscheinen«, sagte Willa. »Aber sie wird auf keinen Fall schon frühmorgens Termine wahrnehmen. Leg das Treffen auf den Nachmittag.«

Ich warf Tove, der neben mir herging, einen Seitenblick zu, aber seine Miene war ausdruckslos. Seit seinem Heiratsantrag hatte er nur sehr wenig über unsere bevorstehende Hochzeit gesprochen. Seine Mutter und Willa hatten die Planung übernommen, also wusste ich nicht einmal, was er vom Farbthema oder dem Blumenschmuck hielt. Alles wurde über unsere Köpfe hinweg entschieden, also hatten wir nur sehr wenig zu besprechen.

»Wie wäre es um zwei?«, fragte Joss.

»Das wäre perfekt«, sagte ich. »Danke, Joss.«

»Alles klar.« Joss nickte und kritzelte eilig den Termin in den Kalender.

»Jetzt hat die Prinzessin bis Montag frei«, sagte Willa mit einem Schulterblick auf Joss. »Das sind fünf volle Tage ohne Anrufe, Konferenzen und Termine. Vergiss das nicht, Joss. Die Prinzessin ist ab jetzt nicht mehr zu erreichen.«

»Selbstverständlich, Marksinna Strom«, sagte Joss lächelnd. »Alles Gute zum Geburtstag, Prinzessin, und viel Glück mit der Hochzeit.«

»Unfassbar, was für ein Workaholic du geworden bist«, seufzte Willa. »Wenn du erst Königin bist, bekomme ich dich bestimmt gar nicht mehr zu Gesicht.«

»Sorry«, sagte ich. »Ich habe versucht, die Sitzung abzukürzen, aber dann haben wir uns verzettelt.«

»Diese Laris macht mich irre«, sagte Tove und schnitt eine Grimasse. »Wenn du Königin bist, solltest du sie verbannen.«

»Da du dann König bist, kannst du das selbst erledigen«, erwiderte ich.

»Nun ja, wartet, bis ihr seht, was wir für euch vorbereitet haben«, grinste Duncan. »Ihr werdet euch viel zu gut amüsieren, um an Laris und die anderen auch nur zu denken.«

Da ich in ein paar Tagen heiraten würde, war mir glücklicherweise der Ball erspart geblieben, der sonst stattfand, wenn eine Prinzessin Geburtstag hatte. Elora und Aurora hatten beschlossen, dass die Hochzeit unmittelbar nach meinem Geburtstag stattfinden sollte. Mein Geburtstag fiel auf einen Mittwoch, und die Hochzeit war für den Samstag angesetzt, also blieb keine Zeit für eine riesige Tryll-Geburtstagsparty.

Willa hatte aber darauf bestanden, mir eine Privatparty auszurichten, obwohl mir eigentlich nicht danach war. Bei allem was in Förening gerade vor sich ging, kam ich mir dabei wie eine Verräterin vor. Obwohl die Vittra einen Nichtangriffspakt mit uns geschlossen hatten, der bis zu meiner Krönung Bestand haben würde.

Worauf wir aber nicht geachtet hatten, war die spezielle Formulierung des Vertrags. Sie würden uns nicht angreifen, also die Tryll, die in Förening lebten. Alle anderen waren Freiwild für sie.

Die Vittra hatten begonnen, unsere Changelings zu jagen, die noch bei ihren menschlichen Wirtsfamilien lebten. Bis wir das merkten, hatten sie bereits ein paar entführt, aber dann schickten wir sofort all unsere besten Tracker los, um alle Changelings nach Hause zu bringen, die älter als sechzehn waren. Beinahe die gesamte Palastwache war unterwegs. Die jüngeren Changelings sollten bei ihren Familien bleiben, standen aber unter ständiger Beobachtung durch die Tracker. Wir wussten, dass die Vittra sie wahrscheinlich nicht verschleppen würden, da sie keine Großfahndungen der Menschen auslösen wollten. Aber wir hielten es dennoch für notwendig, die verwundbarsten Mitglieder unserer Gesellschaft mit allen Kräften zu schützen.

Das ließ uns schrecklich exponiert zurück. Um die Changelings zu schützen, mussten unsere Tracker herumreisen und konnten den Palast nicht bewachen. Sollten die Vittra den Waffenstillstand brechen, würden sie uns schutzlos vorfinden, aber meiner Meinung nach hatten wir keine Wahl. Wir durften nicht zulassen, dass sie unsere Kinder entführten oder verletzten, also schickte ich so viele Tracker wie möglich auf die Suche.

Finn war schon seit Monaten unterwegs. Er war unser bester Tracker und hatte bereits viele Changelings in ihre Tryll-Gemeinden zurückgebracht. Ich hatte ihn seit Mitte Dezember nicht mehr gesehen und manchmal fehlte er mir noch. Aber die Sehnsucht ließ allmählich nach.

Er hatte mir sehr deutlich gezeigt, dass seine Pflichten ihm über alles gingen und ich nie ein Teil seines Lebens werden würde. Ich heiratete bald einen anderen, und obwohl Finn mir immer noch viel bedeutete, musste ich ihn hinter mir lassen und mein Leben weiterleben.

»Wo ist die Party denn?«, fragte ich Willa und verbannte alle Gedanken an Finn aus meinem Kopf.

»Oben«, sagte Willa und führte mich zu der Freitreppe in der Eingangshalle. »Matt kümmert sich gerade um die letzten Feinheiten.«

»Die letzten Feinheiten?« Ich zog skeptisch eine Augenbraue hoch.

Plötzlich hämmerte jemand gegen das Eingangstor, das in den Angeln erbebte. Der Kronleuchter über uns wackelte. Normalerweise benutzten Besucher die Klingel, aber dieser hier schlug beinahe die Tür ein.

»Bleib zurück, Prinzessin«, sagte Duncan und ging zum Eingang.

»Duncan, ich kann öffnen«, sagte ich. Wenn jemand so heftig gegen die Tür klopfte, dass die ganze Halle erbebte, würde Duncan nichts gegen ihn ausrichten können. Ich machte eine Bewegung auf die Tür zu, aber Willa hielt mich auf.

»Lass ihn, Wendy«, sagte sie bestimmt. »Du und Tove könnt ihm helfen, wenn es nötig ist.«

»Nein.« Ich befreite mich aus ihrem Griff und lief Duncan nach. Ich wollte ihn verteidigen können, wenn es sein musste.

Das klang unsinnig, denn schließlich war er ja mein Leibwächter, aber ich war viel stärker als er. Seine eigentliche Aufgabe war, mich mit Leib und Leben zu beschützen, aber das würde ich ihn niemals tun lassen.

Als er die Tür öffnete, stand ich direkt hinter ihm. Duncan wollte die Tür eigentlich nur einen Spaltbreit öffnen, um zu sehen, was uns da draußen erwartete, aber ein Windstoß riss sie ihm aus der Hand. Das Tor knallte gegen die Wand und Schneeflocken wirbelten in die Halle.

Ein Schwall kalter Luft traf mich, aber nur sehr kurz. Willa konnte den Wind kontrollieren, und als er in den Palast wehte, hatte sie kurz die Hand gehoben und ihn besänftigt.

Vor uns stand eine Gestalt, die sich mit beiden Händen am Türrahmen abstützte. Der Mann stand nach vorne gebeugt da und ließ den Kopf hängen. Sein schwarzer Pulli war mit Schnee bedeckt. Er trug abgewetzte, schmutzige und zerrissene Kleidung.

»Können wir etwas für Sie tun?«, fragte Duncan.

»Ich muss zur Prinzessin«, sagte er, und als ich seine Stimme hörte, erschauderte ich.

»Loki?«, fragte ich fassungslos.

»Prinzessin?« Loki hob den Kopf. Sein schiefes Lächeln war nicht so verwegen wie sonst. Seine karamellbraunen Augen wirkten müde und verloren und auf seiner Wange prangte ein blauer Fleck. Dennoch war er immer noch so attraktiv, wie ich ihn in Erinnerung hatte, und mir stockte der Atem.

»Was ist passiert?«, fragte ich. »Was machst du hier?«

»Ich möchte mich für mein unangemeldetes Eindringen entschuldigen, Prinzessin«, sagte er, und sein Lächeln erstarb. »Ich würde zwar gerne behaupten, dies sei ein rein freundschaftlicher Besuch, aber …« Er schluckte und packte den Türrahmen fester.

»Ist alles in Ordnung?«, fragte ich und drängte mich an Duncan vorbei.

»Ich …« Loki machte den Mund auf, aber dann gaben seine Knie nach. Er sackte nach vorne und ich fing ihn auf. In meinen Armen ließ ich ihn langsam zu Boden sinken.

»Loki?« Ich strich ihm das Haar aus der Stirn und er blinzelte.

»Wendy.« Er lächelte mich schwach an. »Ich wäre schon viel früher kollabiert, wenn ich gewusst hätte, dass es mich in deine Arme führen würde.«

»Was ist los, Loki?«, fragte ich sanft. Wenn er nicht in so einer schlechten Verfassung gewesen wäre, hätte ich ihn für diese Bemerkung geohrfeigt, aber sein Gesicht verzog sich zu einer Grimasse des Schmerzes.

»Asyl«, sagte er mühsam und schloss die Augen. »Ich bitte um Asyl, Prinzessin.« Sein Kopf sackte weg und sein Körper erschlaffte. Er hatte das Bewusstsein verloren.