11

Hocking_Ornament.tif

Niederlage

Ich habe keine Ahnung wie ich nach unten gekommen war, denn mein Verstand setzte erst wieder ein, als ich bei Finn in der Eingangshalle war. Ein paar Leute hatten sich um ihn versammelt, darunter auch Thomas, aber ich schob alle beiseite, um zu Finn zu gelangen.

Er saß auf dem Boden und ich fiel neben ihm auf die Knie. Er lebte und ich schluchzte vor Erleichterung beinahe auf. Seine Schläfe war blutüberströmt, seine Kleidung zerfetzt. Ein Arm stand in einem merkwürdigen Winkel vom Körper ab, und ich realisierte erst mit Verzögerung, dass er gebrochen sein musste.

»Was ist passiert?«, fragte ich und berührte mit zitternden Händen sein Gesicht, um mich davon zu überzeugen, dass er leibhaftig vor mir saß.

»Wir haben sie überrascht«, sagte Finn und starrte mit feuchten Augen ins Leere. »Sie waren gerade auf dem Heimweg, glaube ich, und wir sind ihnen zufällig über den Weg gelaufen. Wir dachten, wir könnten sie überwältigen. Aber sie waren zu stark.« Er schluckte mühsam. »Sie haben den Kanzler getötet.«

»Scheiße«, sagte Tove, und ich sah, dass er hinter mir stand. Er hatte sich bisher um Markis Bain gekümmert, der relativ unbeschadet davongekommen zu sein schien.

»Tove, hol deine Mutter«, sagte ich, und er nickte stumm und rannte los. Ich wendete mich wieder Finn zu. »Bist du okay?«

»Ich lebe noch«, sagte er schlicht.

Finn stand unter Schock, also befragte ich ihn nicht weiter. Markis Bain berichtete uns, was genau geschehen war.

Die Rettungsmannschaft war auf dem Weg nach Oslinna gewesen, als sie auf ein Vittra-Lager gestoßen war. Wie er es beschrieb, klang es wie aus dem Märchen vom Rumpelstilzchen.

Die Kobolde hatten ein Feuer entzündet, um das sie tanzten. Dabei erzählten sie sich Geschichten darüber, wie sie Oslinna dem Erdboden gleichgemacht hatten.

Der Kanzler entschied, die Kobolde sofort anzugreifen und den Krieg gleich dort im Wald zu beenden. Anfangs war Finn dagegen gewesen, aber er lenkte ein. Sie mussten die Chance nutzen, die Vittra unschädlich zu machen, bevor sie noch andere Tryll verletzten.

Es gab nur Überlebende, weil unser Team die Vittra überrumpelt hatte, aber nicht nur der Kanzler war getötet worden. Außer ihm hatte noch ein Markis das Leben verloren und ein weiterer Tracker war schwer verletzt.

Alle Überlebenden waren in schlechter Verfassung. Als Aurora eingetroffen war und begann, die Verwundeten zu heilen, wiederholte Bain immer wieder, was für ein Glück es war, dass überhaupt jemand überlebt hatte. Aurora heilte Finns Arm, weigerte sich aber, noch mehr zu tun. Sie wollte ihre Energie nicht auf einen Tracker verschwenden, egal wie sehr ich sie anflehte.

Duncan und ich brachten Finn in sein Zimmer und Tove blieb in der Halle zurück. Er wollte sicherstellen, dass alle anderen gut nach Hause kämen, schien sich aber hauptsächlich um Markis Bain zu sorgen. Wir mussten einen anderen Weg finden, um Oslinna zu helfen, aber im Moment hatten wir keine Zeit, um neue Pläne zu schmieden.

»Ich muss mich nicht hinlegen«, protestierte Finn, als Duncan und ich ihm in sein Bett halfen. »Es geht mir gut.« Als ich seinen Arm berührte, verzerrte sich sein Gesicht vor Schmerz, und ich seufzte.

»Finn, es geht dir nicht gut«, sagte ich. »Du musst dich ausruhen.«

»Nein, ich muss herausfinden, wie ich diese verdammten Kobolde aufhalten kann«, entgegnete Finn. »Sie werden uns irgendwann angreifen, und wir müssen einen Weg finden, um sie zu schlagen.«

»Das werden wir«, sagte ich, obwohl ich mir da nicht so sicher war. »Aber im Moment können wir gar nichts tun. Wir reden morgen weiter, wenn du ein bisschen geschlafen hast.«

»Wendy.« Er sah mich an, und sein Blick wirkte noch düsterer als sonst.

»Du hast sie nicht gesehen. Du weißt nicht, wozu sie fähig sind.«

»Das stimmt«, gab ich zu. Sein Tonfall ließ mir das Blut in den Adern gefrieren. »Aber du kannst mir davon berichten. Morgen.«

»Lass mich wenigstens kurz mit Loki reden«, bat Finn beinahe verzweifelt. »Sie müssen irgendeine Schwachstelle haben, und wenn die jemand kennt, dann ein Vittra-Markis.«

»Er schläft wahrscheinlich …«

»Dann weck ihn auf, Wendy!«, schrie Finn, und ich zuckte zusammen. »Es geht um Leben und Tod!«

Ich drehte meinen Ehering und lenkte ein. »Na gut. Wenn du mir versprichst, dich hinzulegen, lasse ich dich mit Loki reden. Aber wenn ihr fertig seid, musst du dich bis morgen ausruhen. Ist das klar?«

»Von mir aus«, sagte Finn. Er hätte mir wahrscheinlich alles versprochen, wenn ich nur Loki zu ihm brachte.

»Duncan?« Ich schaute zur Tür, wo er wartete. »Hol bitte Loki. Sag ihm, ich hätte nach ihm geschickt.«

Duncan ließ mich mit Finn allein, und ich gebot ihm mit einer Geste, sich hinzulegen. Er seufzte, gehorchte aber. Ich setzte mich neben ihn und er starrte verärgert an die Decke. Sein Hemd war blutig und zerrissen. Vorsichtig streckte ich die Hand aus, um einen Schnitt an seinem Arm zu berühren.

»Lass das«, sagte er heftig.

»Sorry.« Ich ließ die Hand sinken. »Und es tut mir leid, was passiert ist. Ich hätte mit euch gehen können.«

»Red kein Blech. Wenn du mitgekommen wärst, hätten sie dich auch umgebracht.«

»Ich bin ein besserer Kämpfer als du, Finn.«

»Ich habe keine Lust, mich mit dir zu streiten«, sagte er, ohne den Blick von der Decke abzuwenden. »Du musst nicht hierbleiben. Es geht mir gut. Ich kann alleine mit Loki reden.«

»Ich lasse dich auf keinen Fall mit ihm alleine«, lehnte ich ab. »Nicht in deinem Zustand.«

»Glaubst du, er würde mich verletzen?«, fragte Finn.

»Nein, aber ich will nicht, dass du dich unnötig aufregst.«

Finn schnaubte verächtlich. Ich fand es grässlich, wie feindselig er sich mir gegenüber verhielt, aber ich wusste nicht, was ich dagegen tun sollte. Vielleicht musste ich es einfach ertragen. Wir schwiegen uns an, bis Duncan mit Loki zurückkam.

»Als mich die Prinzessin mitten in der Nacht zu sich rufen ließ, hatte ich mit einer schöneren Überraschung gerechnet«, sagte Loki seufzend, als er in Finns Türrahmen auftauchte. Sein helles Haar war total verwuschelt und auf seiner Wange hatte das Kissen einen Abdruck hinterlassen.

»Danke, dass du aufgestanden bist«, sagte ich. »Hat Duncan dir gesagt, was passiert ist?«

»Natürlich nicht«, sagte Loki.

»Die Rettungsmannschaft, die wir nach Oslinna geschickt hatten, wurde von Kobolden überwältigt«, sagte ich. »Es gab Verluste auf unserer Seite.«

»Ihr habt Glück gehabt, dass ihr nicht alle draufgegangen seid«, sagte Loki.

»Heute Abend haben gute Männer ihr Leben verloren«, knurrte Finn und versuchte, sich aufzusetzen. Ich legte ihm die Hand auf die Brust und drückte ihn wieder nach unten.

»Sie haben ihr Leben für die Leute hier geopfert! Für die Sicherheit der Prinzessin! Ich hätte geglaubt, dass dir wenigstens das etwas bedeutet!«

»Ich hatte nicht vor, ihren Einsatz herunterzuspielen«, sagte Loki und klang gleichzeitig verärgert und beschämt. »Die Kobolde sind kaum zu schlagen. Und da ich gehört habe, welchen Schaden sie in Oslinna angerichtet haben, hat es mich einfach überrascht, dass ihr noch am Leben seid.«

»Wir haben sie überrumpelt.« Finn ließ sich wieder in die Kissen sinken.

»Das hilft«, sagte Loki. »Die Kobolde sind zwar stark, aber nicht sehr schlau.«

»Wie können wir sie besiegen?«, fragte Finn.

»Ich weiß es ehrlich gesagt nicht. Ich habe noch nie versucht, sie zu schlagen.«

»Du musst ihre Schwachstelle kennen«, drängte Finn. »Es muss einen Weg geben, mit ihnen fertigzuwerden.«

»Möglicherweise gibt es einen«, räumte Loki ein. »Aber ich habe noch nie an ihrer Seite gekämpft. Der König lässt die Kobolde eigentlich nie die Vittra-Gebiete verlassen. Er hat Angst, die Menschen könnten uns auf die Schliche kommen, wenn sie die Kobolde sehen.«

»Warum setzt er sie dann jetzt ein?«, fragte Finn.

»Das solltest du eigentlich wissen«, seufzte Loki und setzte sich auf einen Stuhl. »Der König ist von Wendy besessen und wird alles tun, um sie zu bekommen.«

»Wie halten wir ihn auf?« Finn schaute zu Loki hinüber.

Loki starrte nachdenklich zu Boden, biss sich auf die Lippe und schüttelte dann traurig den Kopf. »Ich weiß es nicht.«

»Was ist, wenn wir ihn nicht stoppen können?«, fragte ich.

»Wir finden einen Weg«, versicherte Finn mir, schaute mich dabei aber nicht an.

»Die Kobolde sind ziemlich dumm«, fügte Loki schnell hinzu. »Und sie sind völlig wehrlos gegen eure Fähigkeiten. All eure Kräfte wirken bei ihnen doppelt so stark wie bei Menschen.«

»Für welche Fähigkeiten sind sie besonders empfänglich?«, fragte Finn.

»Zum Beispiel für Überzeugungskraft und Wendys andere Fähigkeiten«, sagte Loki mit einem Nicken in meine Richtung. »Dagegen sind sie machtlos. Deshalb musste ich die Prinzessin im Vittra-Palast bewachen. Sie hätte die Kobolde mühelos dazu bringen können, ihre Befehle zu befolgen.«

»Die Markis und Marksinna können die Kobolde also besiegen, ich aber nicht?«, fragte Finn.

Loki schüttelte den Kopf. »Nicht im Nahkampf, glaube ich.«

»Wir werden die Markis und Marksinna niemals dazu bringen, in die Schlacht zu ziehen«, sagte ich. »Heute Abend wurde neben dem Kanzler auch ein Markis getötet. Sie werden viel zu verängstigt sein.«

»Wir können sie überzeugen«, sagte Finn. »Wenn es der einzige Weg ist, die Vittra aufzuhalten, werden sie kämpfen müssen.«

»Es ist aber nicht der einzige Weg«, sagte ich, aber sowohl Loki als auch Finn ignorierten mich.

»Eure Leute sind total dekadent«, sagte Loki. »Ihr werdet sie von gar nichts überzeugen können.«

»Wir sind dekadent?«, höhnte Finn. »Dieses Statement wäre glaubwürdiger, wenn es nicht von einem verwöhnten Möchte-gern-Prinzen käme.«

»Ich weiß nicht, warum du dich so aufregst.« Loki richtete sich auf. »Du hast doch gesehen, wie diese Leute Wendy behandeln. Und sie ist ihre Prinzessin. Sie sind unverschämt.«

»Sie kennen sie noch nicht«, sagte Finn. »Das braucht Zeit. Und es ist auch nicht gerade hilfreich, dass sie so oft mit einem Vittra-Gefangenen abhängt.«

»Ich bin kein Gefangener«, sagte Loki mit angewidertem Gesichtsausdruck. »Ich bin freiwillig hergekommen.«

»Und das verstehe ich einfach nicht.« Finn schüttelte ungläubig den Kopf.

»Finn, er hat um Asyl gebeten und ich habe es ihm gewährt«, sagte ich.

»Aber aus welchem Motiv?«, fragte Finn. »Wir befinden uns im Krieg mit den Vittra und du lässt ihn einfach so bei uns bleiben.«

»Nervt es dich wirklich so sehr, dass sie mich in ihrer Nähe haben will?«, fragte Loki, und Finn starrte ihn wütend an.

»Ich will ihn nicht …« Ich unterbrach mich und schüttelte den Kopf. »Es ist völlig egal, warum Loki hier ist, aber er ist nun mal hier. Er ist vertrauenswürdig – das versichere ich dir. Außerdem ist sein Insiderwissen über die Vittra unschätzbar für uns.«

»Ich werde euch alles sagen, was ich weiß, aber nützen wird euch das nicht viel, Wendy«, sagte Loki. »Wenn es um Abkommen und Politik geht, kann ich helfen. Aber wenn ich wüsste, wie man den König ausschalten kann, hätte ich es schon längst getan.«

»Warum?«, fragte Finn. »Warum willst du den König ausschalten?«

»Weil er ein Monster ist.« Loki senkte den Blick und zupfte an seinem Hemd herum. »Unermesslich grausam.«

»Aber war das nicht schon immer so?«, hakte Finn nach. »Warum bist du erst jetzt abgehauen? Und warum bist du hierhergekommen? Es gibt noch andere Troll-Stämme und mehrere Hundert Siedlungen, die nicht im Krieg mit deinem König liegen.«

»Aber nur die Tryll haben Wendy.« Loki lächelte wieder, aber seine Augen wirkten traurig. »Und das allein war für mich ausschlaggebend.«

»Sie ist verheiratet, wie du sehr wohl weißt«, sagte Finn ätzend. »Also solltest du aufhören, sie ständig anzuflirten. Sie ist nicht interessiert.«

»Es ist allein Wendys Entscheidung, ob sie interessiert ist oder nicht«, sagte Loki scharf. »Und außerdem hältst du dich selbst nicht an deine guten Ratschläge.«

»Ich bin ihr Tracker.« Finn setzte sich auf, aber diesmal hielt ich ihn nicht zurück. Seine Augen loderten. »Es ist mein Job, sie zu beschützen.«

»Duncan ist ihr Tracker.« Loki deutete auf Duncan, der im Türrahmen stand und mit großen Augen ihrem hitzigen Wortgefecht folgte.

»Außerdem ist Wendy stärker als ihr beide zusammen. Du beschützt nicht sie, sondern dich, weil du ihr Exfreund bist und Liebeskummer hast.«

»Du hältst dich für superschlau, aber du hast keine Ahnung, wovon du sprichst«, knurrte Finn. »Wenn die Entscheidung bei mir läge, würde ich dich sofort zu den Vittra zurückschicken.«

»Sie liegt aber nicht bei dir!«, fuhr ich auf. »Sie liegt bei mir. Und dieses Gespräch ist vorbei. Finn muss sich ausruhen, und du bist dabei nicht sehr hilfreich, Loki!«

»Sorry«, sagte Loki und rieb die Hände an seinen Hosenbeinen.

»Würdest du bitte in dein Zimmer zurückgehen?«, bat ich Loki. »Ich komme gleich noch vorbei, dann reden wir.«

Er nickte und stand auf. »Gute Besserung«, sagte er zu Finn, und es klang tatsächlich aufrichtig.

Finn grunzte nur und Loki und Duncan verließen das Zimmer. Ich hätte Finn gerne umarmt und ihn irgendwie getröstet, weil ich das Gefühl hatte, er könne es gut gebrauchen. Und vielleicht galt das auch für mich.

»Schlaf ein bisschen«, sagte ich, weil mir nichts Besseres einfiel. Ich stand auf, aber er fasste nach meinem Handgelenk und hielt mich fest.

»Wendy, ich traue ihm nicht«, sagte er. Ich wusste, von wem er sprach.

»Ich weiß. Aber ich traue ihm.«

»Sei vorsichtig«, sagte Finn nur und ließ mich los.

Mitternacht war schon lange vorbei und der Rest des Palastes lag wieder in tiefem Schlaf. Morgen früh erwarteten uns endlose Sitzungen, aber jetzt waren alle in ihre Betten zurückgekehrt.

Im Flur war es dunkel, nur aus Lokis Zimmer drang warmer Lampenschein.

Er hörte mich nicht kommen, also blieb ich vor der Tür stehen und beobachtete ihn. Er machte gerade sein Bett, und als er fertig war, knabberte er an seinem Daumen und starrte nachdenklich darauf. Dann schüttelte er den Kopf und zog die Decke ein bisschen zurück, damit das Ganze nicht zu ordentlich wirkte. Aber mit diesem Ergebnis war er offenbar auch nicht zufrieden und er zog die Decke wieder glatt.

»Was machst du denn da?«, fragte ich.

»Nichts.« Er wirkte einen Moment lang überrascht, lächelte dann aber und fuhr sich durchs Haar. »Nichts. Du wolltest mit mir reden? Komm doch rein.«

»Hast du gerade für mich aufgeräumt?«, fragte ich.

»Naja …« Er fuhr sich wieder durchs Haar. »Wenn eine Prinzessin mich besucht, möchte ich einen guten Eindruck machen.«

»Aha.« Ich ging in sein Zimmer und schloss die Tür hinter mir. Er wirkte entzückt.

»Setz dich doch.« Loki deutete auf sein Bett. »Mach’s dir bequem.«

»Ich muss dich um einen Gefallen bitten.«

Er lächelte. »Für dich würde ich alles tun.«

»Bring mich nach Ondarike«, sagte ich, und sein Lächeln erstarb.

»Alles, nur das nicht.«

»Es ist mir sehr unangenehm, dich darum zu bitten, weil ich weiß, was Oren dir angetan hat. Und du musst auch nicht mit in den Palast kommen«, sagte ich schnell. »Ich kenne den Weg nicht und weiß nicht, wie ich reinkomme, aber du könntest es mir einfach erklären und mich dann vor der Tür absetzen. Ich möchte dich auf keinen Fall in Gefahr bringen oder dein Leben aufs Spiel setzen.«

»Aber du erwartest, dass ich deines aufs Spiel setze?« Loki grinste schief und schüttelte den Kopf. »Auf keinen Fall, Wendy.«

»Ich verspreche dir, dass du nicht in Gefahr geraten wirst«, sagte ich. »Wenn ich erst dort bin, wirst du ihm wahrscheinlich völlig egal sein. Du musst gar nicht in die Nähe des Palasts gehen. Sag mir nur, wie ich dorthinkomme.«

»Wendy, du hörst mir nicht zu«, sagte er. »Ich mache mir keine Sorgen um mich. Aber ich werde dich das nicht tun lassen.«

»Mir wird schon nichts passieren«, beteuerte ich. »Er ist mein Vater, und ich bin stark genug, um auf mich aufzupassen.«

»Du hast keine Ahnung, gegen wen du kämpfst.« Loki lachte freudlos. »Nein. Die Idee ist vollkommen hirnrissig. Ich werde nicht mit dir darüber diskutieren.«

»Loki, hör mir zu. Finn ist heute Nacht beinahe gestorben …«

»Weil dein Freund verletzt wurde, ist auf einmal Selbstmord für dich die einzige Lösung?«, fragte Finn.

»Er ist nicht mein Freund«, korrigierte ich.

»Von mir aus. Dann eben Exfreund«, sagte er. »Das macht es auch nicht besser. Es fällt mir zwar schwer, es zuzugeben, aber Finn hat recht. Wir finden einen anderen Weg. Ich weiß, dass ich heute Nacht nicht sehr hilfreich war, aber wenn du mir ein bisschen Zeit lässt, fällt mir sicher etwas ein.«

»Wir haben aber keine Zeit, Loki!« Ich holte tief Luft. »Ich habe nicht vor, mich Oren auszuliefern, um den Frieden zu sichern, aber ich muss wenigstens mit ihm reden und es irgendwie schaffen, den Krieg noch etwas hinauszuzögern. Wir brauchen Zeit, um eine Armee aufzustellen. Und er tötet unsere Leute bereits jetzt.«

»Du willst also, dass ich dich in den Vittra-Palast bringe, damit du ein bisschen mit dem König plaudern kannst«, sagte Loki. »Währenddessen warte ich draußen auf dich, und nach dem Gespräch kommst du raus und ich fahre dich wieder nach Hause. Ist das dein Plan?«

»So ungefähr.«

»Wendy!«, rief Loki entgeistert. »Er tut das alles nur, um dich zu bekommen! Warum um alles in der Welt sollte er dich wieder gehen lassen, wenn du erst in seinem Palast bist?«

»Erstens, weil er mich nicht aufhalten kann«, sagte ich. »Ich kann mich gegen ihn, die Kobolde und all seine Waffen verteidigen. Ich kann nicht alleine den Krieg gewinnen und alle Bürger meines Königreiches verteidigen. Aber mich allein kann ich durchaus schützen.«

»Das stimmt zwar, aber das Risiko ist trotzdem zu groß«, sagte Loki. »Er könnte versuchen, dich zu töten, wenn du gehst. Er würde dich nicht als Geisel nehmen oder nur bedrohen. Er würde dich lieber ermorden, als dich noch einmal hierher zurückkehren zu lassen.«

»Nein, noch nicht.« Ich schüttelte den Kopf. »Bald wird das der Fall sein, aber er will zuerst, dass ich Königin werde. Deshalb hat er dem Waffenstillstand zugestimmt. Er will sicherstellen, dass ich Tryll-Königin werde.«

»Er will beide Königreiche«, sagte Loki leise. »Und du willst ihm geben, wonach er verlangt.«

»Ja.« Ich nickte. »Ich werde mich dazu bereit erklären, an seiner Seite über die Tryll und die Vittra zu regieren, wenn er verspricht, das Blutvergießen bis nach meiner Krönung einzustellen.«

»Er würde nicht an deiner Seite regieren, sondern alle Macht an sich reißen.«

»Das weiß ich, aber dazu wird es gar nicht erst kommen«, sagte ich. »Ich habe nicht vor, meine Seite der Abmachung einzuhalten.«

Loki pfiff durch die Zähne und schüttelte den Kopf. »Wenn du dein Wort brichst, wird er alles – und ich meine alles – zerstören, was dir jemals etwas bedeutet hat.«

»Ich werde mein Wort nicht brechen«, sagte ich. »So weit wird es gar nicht kommen. Ich erkaufe uns nur die Zeit, die wir brauchen, um eine Armee aufzustellen. Dann werden wir die Vittra angreifen und besiegen, und ich werde Oren töten.«

»Du wirst ihn töten?« Skeptisch zog Loki eine Augenbraue hoch. »Weißt du denn, wie du das machen willst?«

»Nein. Noch nicht«, gestand ich. »Nur deshalb ist er noch am Leben. Aber ich werde einen Weg finden.«

»Ich weiß nicht mal, ob er überhaupt sterblich ist.«

»Alle Lebewesen sind sterblich.«

»Es gab schon viele, viele Anschläge auf Orens Leben«, sagte Loki. »Alle sind gescheitert.«

»Ja, aber durch die Adern dieser Attentäter floss auch nicht Orens eigenes Blut«, sagte ich. »Ich glaube, ich bin die Einzige, die stark genug ist, um ihn zu töten.«

Loki betrachtete mich einen Augenblick lang und fragte dann: »Und was ist, wenn du auch scheiterst? Wenn du all das auf dich nimmst und dann doch keinen Weg findest, um ihn zu töten?«

»Ich weiß es nicht«, sagte ich. »Ich muss einen Weg finden. Er wird immer weiter angreifen, bis er mich hat. Ich würde mich ihm sofort ausliefern, wenn das den Krieg beenden würde, aber ich glaube, das würde nicht mehr ausreichen.«

Loki starrte zu Boden und dachte angestrengt nach. Ich konnte zwar seine Gedanken nicht lesen, aber er sah ziemlich unglücklich aus.

»Bringst du mich hin?«, fragte ich.

Er leckte sich über die Lippen und stieß den Atem aus. »Du weißt nicht, was du da verlangst.«

»Ich weiß sehr genau, was …«

Loki unterbrach mich heftig. »Nein, Wendy, das weißt du nicht. Du hast keine Ahnung davon, wie es wirklich ist, in Ondarike unter der Herrschaft eines wahrhaft grausamen Königs zu leben. Du verstehst nicht, wozu er fähig ist. Er …«

Er brach mitten im Satz ab und kam auf mich zu. Seine Miene war sehr ernst, seine Augen wirkten dunkel.

»Oren hat meinen Vater getötet, als ich noch ein Kind war. Er hat ihn an den Knöcheln aufgehängt, ihm den Hals aufgeschlitzt und ihn wie ein Schwein ausbluten lassen.« Loki hielt meinen Blick fest, während er sprach. »Und das dauert viel länger, als man glaubt. Vielleicht kam es mir auch nur so lange vor, weil ich erst neun Jahre alt war und Oren mich gezwungen hat, dabei zuzusehen. Er sagte mir, das sei der Lohn für Verräter.«

»Das tut mir so leid«, flüsterte ich fassungslos.

»Ich erzähle dir das nicht, um Mitleid zu erregen«, sagte er. »Ich will, dass du weißt, gegen wen du antrittst. Dieser Mann hat keine Seele.«

»Ich weiß, dass er ein Monster ist.« Ich wich seinem Blick aus, um die Intimität zwischen uns aufzuheben. »Warum bist du in Ondarike geblieben, nachdem dir der König das angetan hatte?«

»Nun ja, ich war noch ein Kind. Ich wusste nicht, wo ich sonst hingehen sollte.«

»Und als du kein Kind mehr warst?« Ich hob vorsichtig den Kopf, denn ich war mir Lokis Nähe sehr bewusst. »Warum bist du noch so lange dortgeblieben?«

»Wegen Sara«, sagte Loki. »Sie ist wie eine Schwester für mich und außer ihr habe ich keine Familie. Der König war zu ihr mindestens genauso grausam wie zu mir und ich wollte sie nicht mit ihm allein lassen.«

»Aber jetzt ist dir das egal?«, fragte ich.

»Nein, egal ist es mir immer noch nicht. Aber ich kann sie nicht mehr beschützen. Am Ende saß ich eingesperrt im Kerker und konnte ihr gar nicht mehr helfen.«

»Bist du deshalb gegangen?«

»Nein.« Er schaute lächelnd auf mich herunter. »Ich bin wegen dir gegangen.« Ich suchte nach Worten, aber er sprach weiter, bevor ich antworten konnte. »Und jetzt bittest du mich, zurückzukehren.«

»Nein«, wehrte ich ab. »Ich werde dich nicht gegen deinen Willen dazu zwingen. Ich finde jemand anderen, der mich dorthinbringt.«

»Und wer soll das sein?«, fragte Loki. »Wer außer mir könnte dich denn dorthinbringen?«

»Keine Ahnung.« Ich überlegte krampfhaft. »Ich finde den Weg auch allein.«

Tove und ein paar Tracker kannten wahrscheinlich den Weg zum Palast, aber sie wussten über die Feinheiten nicht so genau Bescheid wie Loki. Aber wenn es sein musste, würde ich mir eine Landkarte aus der Einsatzzentrale klauen und mein Glück allein versuchen.

»Du kannst nicht allein gehen«, sagte er.

»Es tut mir furchtbar leid, was der König dir angetan hat. Wirklich. Ich weiß, wie schrecklich er ist, und die Tatsache, dass du mich ständig darauf hinweist, zeigt mir umso deutlicher, dass ich unbedingt zu ihm gehen muss. Ich muss ihn davon abhalten, meinem Volk dasselbe anzutun, was er seinen Leuten angetan hat. Ich muss gehen.«

Ich drehte mich um und griff nach der Türklinke, aber Loki hinderte mich daran. Er fasste nach meinem Handgelenk und stellte sich mir in den Weg.

»Loki«, seufzte ich und blickte zu ihm auf. »Lass mich los.«

»Nein, Wendy. Ich werde dich das nicht machen lassen.«

»Du kannst mich aber nicht aufhalten.«

»Ich bin viel stärker als du.«

Ich versuchte, ihn aus dem Weg zu schubsen, aber es war, als versuchte ich, eine Betonmauer zu bewegen. Er drückte mich gegen die Wand und stützte sich mit den Armen neben mir ab. Sein Körper berührte mich zwar nicht, war mir aber so nahe, dass ich mich nicht bewegen konnte.

»Körperlich bist du zwar stärker als ich, aber ich kann innerhalb von Sekunden dafür sorgen, dass du dich vor Schmerzen schreiend am Boden wälzt. Ich will dir nicht wehtun, aber wenn es sein muss, bin ich bereit dazu.«

»Du musst das nicht tun«, sagte Loki beschwörend. »Du musst nicht nach Ondarike.«

»Doch, ich muss. Ich muss mein Möglichstes tun, um Leben zu retten«, sagte ich. »Wenn du nicht mitkommen kannst, ist das kein Problem. Aber geh mir aus dem Weg.«

Er biss sich kopfschüttelnd auf die Lippe, rührte sich aber nicht.

»Es ist mitten in der Nacht und du willst mit mir abhauen«, sagte Loki. »Wie willst du das deinem Ehemann erklären?«

»Ich werde ihm gar nichts erklären.«

»Gar nichts?« Loki zog die Augenbraue hoch. »Die Prinzessin verschwindet spurlos, ohne jemandem Bescheid zu sagen? Hier wäre die Hölle los.«

»Ich werde Duncan bitten, Tove morgen früh zu sagen, wo ich bin«, sagte ich. »Das verschafft uns ein paar Stunden Vorsprung, bis uns jemand sucht.«

»Wenn der König dich nicht wieder gehen lässt, wird er alle töten, die dich retten wollen«, sagte Loki sehr ernst. »Das wären dann Finn, Tove, Duncan und vielleicht sogar Willa. Bist du bereit, auch ihr Leben für deinen Plan zu riskieren?«

»Das ist vielleicht meine einzige Chance, sie alle zu retten«, sagte ich mit erstickter Stimme.

»Kann ich dir das wirklich nicht ausreden?«, flüsterte Loki und sah mich forschend an.

»Nein.«

Er schluckte und strich mir eine Locke aus der Stirn. Danach ließ er seine Hand auf meiner Wange ruhen und ich ließ es zu. Sein Blick war seltsam traurig. Ich hätte ihn gerne gefragt, warum, aber ich wagte nicht zu sprechen.

»Ich möchte, dass du dich an diesen Augenblick erinnerst«, sagte er leise. Seine Stimme klang belegt.

»Warum?«, fragte ich.

»Du willst, dass ich dich küsse.«

»Nein«, log ich.

»Doch, das willst du. Und ich möchte, dass du dich daran erinnerst.«

»Aus welchem Grund?«

»Einfach so.« Ohne ein weiteres Wort wandte er sich von mir ab. »Wenn du das wirklich durchziehen willst, dann zieh dich an und mach dich schnell fertig. Du willst sicher nicht im Pyjama vor den König treten.«