18
Zukunftsaussichten
Elora hatte die »Gabe«, die Zukunft malen zu können, obwohl sie selbst diese Fähigkeit eher als Fluch ansah. Sie malte Szenen, die erst in der Zukunft stattfinden würden. Das war alles. Sie sah weder den Kontext des Bildes noch was dazu geführt hatte – nur eine einzige, scheinbar zufällig herausgegriffene Szene.
Sie war seit einiger Zeit zu schwach gewesen, um zu malen, da es ihr zu viel Kraft raubte, aber wenn Elora eine machtvolle Vision hatte, musste sie ihr nachgeben. Durch ihre Präkognition bekam sie schreckliche Migräne, die erst nachließ, wenn sie das Bild auf die Leinwand gebracht hatte. Elora versuchte, ihre Bilder möglichst niemandem zu zeigen, außer sie war der Ansicht, es sei unbedingt notwendig, alle über das zu informieren, was sie vorhergesehen hatte. Und dieses Mal war dies definitiv der Fall.
Das Bild stand auf einer Staffelei in der Einsatzzentrale. Elora hatte versucht, möglichst nur den Leuten Bescheid zu sagen, die unbedingt erfahren mussten, was auf dem Bild zu sehen war, aber wie Willa gesagt hatte, redete bereits der gesamte Palast darüber.
Garrett stand an der Tür und wimmelte alle ab, die das Bild aus reiner Neugier sehen wollten. Als Willa und ich ins Zimmer kamen, hatten sich Marksinna Laris, Markis Bain, Thomas, Tove und Aurora um die Staffelei versammelt. Ein paar andere Berater saßen am Tisch und wirkten zu geschockt, um zu sprechen. Ich schob Laris zur Seite, um freie Sicht auf das Gemälde zu bekommen, und Tove fasste nach meiner Hand. Das Bild war sogar noch schrecklicher, als Willa angedeutet hatte.
Elora malte so gut, dass es wie eine Fotografie wirkte. Alle Details waren sorgfältig ausgearbeitet. Das Bild zeigte die Eingangshalle des Palastes. Die Freitreppe war in sich zusammengestürzt. Der Kronleuchter, der sonst an der Decke hing, war zu Boden gefallen und vollkommen zerstört. Auf dem oberen Treppenabsatz brannte ein kleines Feuer und der goldene Stuck hatte sich von den Wänden gelöst.
Überall lagen Leichen herum. Einige erkannte ich nicht, andere waren mir entsetzlich vertraut. Willa war auf der zerstörten Treppe zusammengesackt, ihr Kopf in einem unnatürlichen Winkel verdreht. Ihr Genick musste gebrochen sein. Duncan war von dem herabgestürzten Kronleuchter erschlagen worden, sein Körper war von Scherben übersät. Tove lag in einer Blutlache. Finns verkrümmter Körper befand sich zwischen den Trümmern der Treppe. Knochen ragten aus seiner Haut. Loki hing von einem Schwert aufgespießt an der Wand wie ein Insekt in der Sammlung eines Entomologen.
Ich lag tot zu Füßen eines Mannes, die zerbrochene Krone war mir vom Kopf gerollt. Ich war nach meiner Krönung gestorben. Ich war Königin gewesen.
Auf dem Bild drehte der Mann dem Betrachter den Rücken zu, aber sein langes, dunkles Haar und das schwarze Samtjackett waren unverkennbar – es war Oren, mein Vater. Er war in den Palast eingedrungen und hatte dieses Massaker verübt. Auf dem Bild, das Elora gemalt hatte, lagen mindestens zwanzig Leichen.
Wir würden alle sterben.
»Wann hast du das gemalt?«, fragte ich Elora, als ich wieder sprechen konnte.
Sie saß in einem Sessel vor dem Fenster und betrachtete die Schneeflocken, die auf die Kiefern fielen. Die Haut ihrer Hände, die sie im Schoß gefaltet hatte, war grau und faltig. Sie lag im Sterben und dieses Bild hatte ihr wahrscheinlich die letzte Lebenskraft geraubt.
»Gestern Abend, als ihr in Oslinna wart«, sagte Elora. »Ich war mir nicht sicher, ob ich es überhaupt jemandem zeigen sollte. Ich wollte keine unnötige Panik auslösen, aber Garrett war der Ansicht, ihr solltet davon erfahren.«
»Vielleicht lässt es sich irgendwie abwenden«, sagte Garrett, und ich warf ihm einen Blick zu. Sein Gesicht war angespannt und besorgt. Auch seine Tochter war auf dem Bild als Leiche zu sehen.
»Wie sollen wir das abwenden?«, fragte Laris mit schriller Stimme. »Es ist die Zukunft!«
»Man kann die Zukunft nicht verhindern«, sagte Tove. »Aber man kann sie ändern.« Er blickte mich fragend an. »Stimmt’s?«
»Ja.« Ich nickte. »Elora hat gesagt, die Zukunft sei formbar, und nicht jede Szene, die sie malt, muss genau so eintreffen.«
»Aber sie könnte eintreffen«, warf Aurora ein. »Der Weg, den wir eingeschlagen haben, wird uns zu diesem Ereignis führen. Der König der Vittra wird den Palast zerstören und Förening einnehmen.«
»Das wissen wir doch gar nicht«, sagte Willa in dem vergeblichen Versuch, zu helfen. »Das Bild zeigt nur, dass einige von uns sterben werden.«
»Ein schöner Trost, Marksinna«, sagte Laris sarkastisch, und Tove warf ihr einen strengen Blick zu.
»Aurora hat uns gerade den entscheidenden Hinweis gegeben«, sagte ich. »Wir müssen nur unseren Kurs ändern.«
»Und woher sollen wir wissen, ob wir den richtigen Kurs setzen?«, fragte Laris. »Vielleicht werden gerade unsere Bemühungen, diese Szene zu verhindern, dazu führen, dass sie eintrifft.«
»Wir können nicht untätig herumsitzen.« Ich wendete mich von dem Bild ab, weil ich den Anblick meiner toten Freunde nicht mehr ertrug, und lehnte mich an den Tisch. Verzweifelt vergrub ich die Hände in meinem Haar. Ich musste einen Weg finden, die Zukunft zu verändern und dieses Blutbad zu verhindern. Ich durfte das nicht geschehen lassen.
»Wir müssen ein Element entfernen«, sagte ich laut nachdenkend. »Wir müssen etwas in dem Gemälde verändern. Etwas herausnehmen. Dann wissen wir, dass wir die Zukunft verändert haben.«
»Und was?«, fragte Willa. »Sollen wir die Treppe rausreißen?«
»Das kann ich jetzt gleich machen«, erbot sich Tove.
»Wir brauchen die Treppe«, sagte Aurora. »Ohne sie kommen wir nicht in den ersten Stock.«
»Was wir nicht brauchen, ist die Prinzessin«, murmelte Laris halblaut.
»Marksinna, ich habe Sie gewarnt …«, begann Tove, aber ich unterbrach ihn.
»Warte.« Ich richtete mich auf. »Sie hat recht.«
»Womit?«, fragte Willa verwirrt.
»Wenn wir die Prinzessin loswerden, verändert sich die Szene«, sagte Aurora langsam. »Der König ist schon die ganze Zeit hinter ihr her und auf dem Bild hat er sein Ziel erreicht. Wenn wir sie an ihn übergeben, wird diese Szene so nicht stattfinden.«
Alle schwiegen, und Willas und Toves unsicheren, besorgten Mienen nach zu urteilen, zogen sogar sie diese Möglichkeit in Betracht. Und das konnte ich ihnen nun wirklich nicht übel nehmen. Wenn das Bild nur einen von ihnen tot gezeigt hätte, wären sie wahrscheinlich nichtsdestotrotz bereit gewesen, für ihre Prinzessin zu kämpfen, aber es waren alle tot. Mein Leben war nicht mehr wert als das ihre.
»Aber selbst wenn wir dem König die Prinzessin geben, wird er trotzdem versuchen, sich das Tryll-Königreich unter den Nagel zu reißen«, sagte Bain schließlich. »Er wird uns auch angreifen, wenn er sie hat.«
»Möglich«, stimmte ich zu.
»Ich würde sagen, sicherlich«, sagte Tove und schaute mich mitfühlend an. »Du bist für ihn nur Mittel zum Zweck. Sein eigentliches Ziel ist die Herrschaft über beide Königreiche.«
»Ich weiß, dass du recht hast, aber …« Ich verstummte. »Ich will gar nicht behaupten, dass es den Krieg verhindern wird, wenn ich mich dem König ausliefere. Das wird es nicht. Aber es wird verhindern, dass dieses Bild Wirklichkeit wird.«
»Na und?«, fragte Tove achselzuckend. »Wir werden dann eben nicht an diesem Tag und auf diese Weise sterben. Aber der König wird uns trotzdem töten.«
»Nein«, protestierte ich. »Wenn ich mich in die Hand des Königs begebe und euch damit mehr Zeit erkaufe, euch auf den Kampf vorzubereiten, wird nicht nur das Bild verhindert. Dies kann auch eure Chancen verbessern, den Krieg zu gewinnen.«
»Er wird dich einfach umbringen, Wendy«, sagte Tove. »Und das weißt du genau.«
»Tove«, sagte Aurora sanft. »Wenn sie beim König ist, verschwindet sie damit automatisch aus diesem Bild. Dadurch wäre die Zukunft verändert, und vielleicht ist das die einzige Möglichkeit, dieses Massaker zu verhindern. Wir müssen es wenigstens in Betracht ziehen.«
»Ihr werdet ihm meine Tochter nicht übergeben«, sagte Elora fest. Sie packte die Armlehnen ihres Sessels und stand mühsam auf.
»Wenn ich ohnehin sterben muss, sollte ich zumindest die anderen schützen«, wandte ich ein.
»Du wirst eine andere Lösung finden«, beharrte meine Mutter. »Ich werde dich nicht dafür opfern.«
»Du opferst mich doch gar nicht«, sagte ich. »Ich erkläre mich freiwillig bereit dazu.«
»Nein«, sagte Elora. »Du wirst bei uns bleiben. Das ist ein ausdrücklicher Befehl.«
»Elora, ich weiß, dass die Vorstellung, dein Kind zu verlieren, unerträglich ist«, sagte Aurora, so sanft sie konnte. »Aber du solltest die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass du nur so das Königreich retten kannst.«
»Wenn du dich weigerst, werden wir dich stürzen«, sagte Laris. »Das gesamte Königreich würde sich hinter mich stellen, falls du vorhast, uns in den sicheren Tod zu führen.«
»Es ist nicht der sichere Tod!«, fuhr Elora sie an. »Stürzt mich doch, wenn ihr wollt. Aber bis ihr das getan habt, bin ich eure Königin. Die Prinzessin geht nirgendwohin.«
»Elora, bitte setz dich doch wieder«, sagte Garrett sanft und ging zu ihr.
»Ich will mich aber nicht setzen!« Sie schob die Hand weg, die er ihr reichte. »Ich bin keine senile alte Frau. Ich bin die Königin und ihre Mutter, und noch treffe ich die Entscheidungen darüber, was getan wird! Und zwar ausschließlich ich!«
»Elora«, sagte ich. »Denk noch mal darüber nach. Du hast mir doch immer gesagt, dass das Wohl des Königreichs an erster Stelle steht.«
»Vielleicht war das ein Fehler.« Eloras Augen, die früher einmal dunkel gewesen waren und jetzt beinahe silbern schimmerten, wanderten durch den Raum. Ich bezweifelte, dass sie überhaupt noch etwas sehen konnte. »Ich habe diesem Königreich alles geopfert. Alles! Und was hat es uns genützt?«
Sie machte einen ziellosen Schritt nach vorne, dann gaben ihre Beine unter ihr nach und sie stürzte zu Boden. Garrett versuchte, sie aufzufangen, war aber nicht schnell genug. Als sie auf dem Boden aufprallte, war sie bereits bewusstlos.
Ich eilte an ihre Seite und Garrett zog sie auf seinen Schoß. Eloras weißes Haar umfloss ihr Gesicht und sie lag reglos in seinen Armen. Ein dünner Blutfaden rann aus ihrer Nase, aber ich bezweifelte, dass sie sich bei ihrem Sturz verletzt hatte. Nasenbluten schien eine Nebenwirkung zu sein, wenn wir unsere Fähigkeiten überstrapazierten.
»Wie geht es ihr?«, fragte ich und kniete mich neben sie. Ich hätte sie gerne berührt, aber ich wagte es nicht. Sie wirkte so zerbrechlich.
»Sie lebt, falls du das wissen wolltest«, sagte Garrett. Er zog ein Taschentuch aus seinem Anzug und wischte Elora das Blut vom Gesicht. »Aber seitdem sie dieses Bild gemalt hat, geht es ihr wirklich schlecht.«
»Aurora«, sagte ich und schaute zu ihr auf. »Komm her und heile sie.«
»Nein, Prinzessin«, sagte Garrett traurig. »Das wird nichts nützen.«
»Was soll das denn heißen?«, fragte ich ungläubig. »Sie ist krank!«
»Wir können Elora nicht mehr helfen.« Garrett betrachtete meine Mutter, die dunklen Augen voller Liebe. »Sie ist nicht krank und kann nicht geheilt werden. Sie hat all ihre Lebenskraft aufgebraucht und die kann Aurora ihr nicht zurückgeben.«
»Aber sie kann ihr doch trotzdem helfen«, beharrte ich. »Sie muss etwas tun!«
»Nein«, sagte er schlicht. Er stand auf, Elora immer noch in den Armen. »Ich bringe sie jetzt in ihr Zimmer und mache es ihr bequem. Mehr können wir nicht für sie tun.«
»Ich komme mit.« Ich stand auf und blickte in die Runde. »Wir werden diese Diskussion morgen fortsetzen.«
»Ich dachte, es sei schon alles entschieden?«, fragte Laris mit bösartigem Lächeln.
»Wir diskutieren morgen weiter«, sagte Tove entschieden und bedeckte das Gemälde mit einem dunklen Tuch.
Ich ging mit Garrett ins Zimmer meiner Mutter und drängte alle Gedanken an das Horrorbild beiseite. Ich wollte bei Elora sein, solange es noch ging. Sie hatte nicht mehr viel Zeit, auch wenn ich nicht genau wusste, was das bedeutete. Vielleicht blieben ihr noch ein paar Stunden, ein paar Tage, eventuell sogar noch ein paar Wochen. Aber das Ende stand kurz bevor.
Das bedeutete, dass ich bald Königin werden würde, aber daran durfte ich jetzt auch nicht denken. Mir blieb nur noch wenig Zeit mit meiner Mutter, und ich wollte jede Sekunde davon nutzen und mich nicht von der Sorge um das Königreich, um meine Freunde und sogar meine Ehe ablenken lassen.
Ich setzte mich in den Sessel neben ihrem Bett und wartete darauf, dass sie wieder aufwachte. Es dauerte länger, als ich erwartet hatte, und irgendwann nickte ich ein. Garrett musste mich wecken, als Elora wieder bei Bewusstsein war.
»Prinzessin?«, fragte Elora schwach und schien überrascht zu sein, mich zu sehen.
»Sie hat an deiner Seite gewartet«, sagte Garrett. Er stand am Fußende des Bettes und schaute auf sie herab. Unter ihren Decken wirkte sie winzig klein.
»Ich würde gerne unter vier Augen mit meiner Tochter sprechen, falls dir das nichts ausmacht«, bat Elora.
»Aber natürlich«, sagte Garrett. »Ich warte draußen, falls du mich brauchst.«
»Danke.« Sie lächelte ihn an und er ließ uns allein.
»Wie fühlst du dich?«, fragte ich und rückte den Stuhl näher ans Bett.
Ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. »Es ging mir schon besser.«
»Das tut mir leid.«
»Was ich vorhin gesagt habe, war mein voller Ernst.« Elora drehte den Kopf in meine Richtung, aber ich wusste nicht, ob sie mich sehen konnte. »Du solltest dich den Vittra nicht ausliefern. Auf keinen Fall.«
»Ich kann nicht zulassen, dass diese Leute wegen mir sterben«, sagte ich sanft. Ich wollte mich in ihrem Zustand auf keinen Fall mit ihr streiten, aber es wäre mir wie ein Sakrileg erschienen, sie an ihrem Sterbebett anzulügen.
»Es muss einen anderen Weg geben«, beharrte sie. »Es darf nicht sein, dass die einzige Lösung ist, dich deinem Vater auszuliefern. Ich habe alles richtig gemacht und immer zum Wohle des Königreichs gehandelt. Das Einzige, was ich dafür wollte war deine Sicherheit.«
»Hier geht es doch nicht um meine Sicherheit«, sagte ich. »Die war dir doch bisher auch nicht so wichtig.«
»Natürlich war sie mir wichtig«, sagte Elora empört. »Du bist meine Tochter. Es ist nur natürlich, dass ich mich um dich sorge.« Sie legte eine Pause ein und seufzte. »Ich bereue, dass ich dich dazu gezwungen habe, Tove zu heiraten.«
»Du hast mich nicht dazu gezwungen. Er hat mir einen Antrag gemacht und ich habe eingewilligt.«
»Dann hätte ich es eben nicht zulassen dürfen«, sagte Elora. »Ich wusste, dass du ihn nicht liebst. Aber ich dachte, ich könnte dich damit schützen und du würdest trotzdem glücklich werden. Aber inzwischen glaube ich, alles was ich getan habe, hat dich nur unglücklich gemacht.«
»Ich bin doch glücklich«, sagte ich, und das war nicht ganz gelogen.
Vieles in meinem Leben machte mich glücklich. Ich hatte diese Aspekte in letzter Zeit nur vernachlässigt.
»Mach nicht dieselben Fehler wie ich«, sagte sie. »Ich habe aus Staatsräson einen Mann geheiratet, den ich nicht liebte. Ich habe den Mann, den ich liebte, zum Wohl des Königreichs gehen lassen. Und ich habe mein einziges Kind weggegeben. Alles nur zum Wohle des Königreichs.«
»Du hast mich nicht einfach so weggegeben«, sagte ich. »Du musstest mich vor Oren verstecken.«
»Aber ich hätte bei dir bleiben müssen«, sagte Elora. »Wir hätten uns zusammen verstecken können, dann wäre dir all das hier erspart geblieben. Ich bereue nur eins wirklich, und zwar, dass ich nicht bei dir geblieben bin.«
»Wieso sagst du das jetzt erst?«, fragte ich. »Hättest du mir das nicht schon früher erzählen können?«
»Ich wollte nicht, dass du mich liebst«, sagte Elora ernst. »Ich wusste, dass uns nur wenig Zeit bleiben würde, und ich wollte nicht, dass du mich vermisst. Ich hielt es für besser, dass du nie erfährst, wie viel du mir immer bedeutet hast.«
»Warum hast du deine Meinung geändert?«, fragte ich.
»Ich will nicht sterben, ohne dass du weißt, wie sehr ich dich liebe.« Sie streckte die Hand nach mir aus und ich ergriff sie. Ihre Haut fühlte sich kühl und weich an. »Ich habe so vieles falsch gemacht. Aber ich wollte dich stark machen, damit du dich schützen kannst. Es tut mir alles unendlich leid.«
»Dir muss nichts leidtun.« Ich zwang mich, sie anzulächeln. »Du hast dein Bestes getan, das weiß ich.«
»Und ich weiß, dass du eine gute Königin sein wirst: Eine starke, edle Regentin, und das ist viel mehr, als diese Leute verdienen«, fuhr sie fort. »Aber gib ihnen nicht zu viel. Du musst einen Teil von dir für dich selbst behalten. Und hör auf dein Herz.«
»Du rätst mir, ich solle meinem Herzen folgen? Ich fasse es nicht«, sagte ich. »Das hätte ich niemals von dir erwartet.«
»Benutze deinen Verstand, aber hör immer auf die Stimme deines Herzens.« Elora lächelte mich an. »Manchmal hat es recht.«
Elora und ich sprachen noch eine Zeitlang miteinander. Sie sagte mir nicht mehr viel Neues, aber auf merkwürdige Weise fühlte sich dieses Gespräch wie unsere erste richtige Unterhaltung an.
Sie redete nicht als Königin mit der Prinzessin, sondern als Mutter mit ihrer Tochter.
Viel zu schnell wurde sie müde und schlief ein. Ich blieb noch eine Weile an ihrem Bett sitzen, weil ich sie nicht verlassen wollte. Ich wollte jede kostbare Sekunde nutzen, die ich noch mit ihr verbringen konnte.