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Die Wahrheit

Ich hatte vergessen, wie höhlenartig die Gemächer des Königs waren. Die fensterlosen Wände waren bis zur hohen Decke mit dunklem Mahagoni getäfelt. Kandelaber verbreiteten ein flackerndes Licht.

Wir saßen in eleganten roten Sesseln, die neben einem Bücherregal und einem riesigen Schreibtisch das einzige Mobiliar des Zimmers bildeten. Loki, Sara und ich saßen schweigend da und warteten auf den König. Loki kaute an seinem Daumennagel herum und wippte nervös mit den Beinen. Sara hatte die Hände im Schoß gefaltet und starrte uns mit ausdrucksloser Miene an.

Als wir das Schloss betreten hatten, war Saras winziger Zwergspitz bellend auf uns zugestürmt. Mich knurrte er an, aber er freute sich riesig darüber, Loki zu sehen, und sprang übermütig an ihm hoch. Sara erschien einen Moment später, das Gebell hatte sie alarmiert. Als sie uns sah, wurde sie leichenblass, blieb wie angewurzelt stehen und starrte uns stumm an. Loki fragte sie, ob sie sich freue, ihn wiederzusehen. Statt einer Antwort schickte sie einen Kobold los, um den König zu holen, und führte uns in seine Gemächer, wo wir jetzt auf ihn warteten.

Sie reichte den Spitz dem Kobold Ludlow und bedeutete uns, Platz zu nehmen. Wir warteten eine gefühlte Ewigkeit schweigend.

»Ihr hättet nicht herkommen sollen«, sagte Sara schließlich.

»Das weiß ich«, sagte Loki.

»Du hättest sie nicht hierherbringen dürfen«, sagte Sara.

»Das weiß ich«, sagte Loki.

»Warum bist du zurückgekommen?«, fragte sie.

»Ich weiß es nicht«, sagte Loki ärgerlich.

»Das weißt du nicht?«, schnaubte Sara. »Er wird dich umbringen.«

»Das weiß ich«, sagte er leise.

»Das werde ich nicht zulassen«, sagte ich fest, und Loki schaute zu mir hoch.

»Verzeiht mir, Prinzessin, aber Ihr seid sehr naiv«, sagte Sara.

»Ich habe einen Plan«, sagte ich mit mehr Überzeugung, als ich empfand. »Er wird funktionieren.«

»Er wird Euch niemals gehen lassen«, sagte Sara, als wolle sie mich warnen.

»Doch«, beharrte ich. »Wenn er dafür etwas bekommt, das mehr wert ist als ich.«

»Und was könnte das sein?«, fragte Sara.

»Mein Königreich.«

Loki versuchte, das Thema zu wechseln, indem er auf zwei Schwerter zeigte, die an der Wand hingen. Er erklärte, dass wahrscheinlich auch ein normales Eisenschwert dazu ausreichen würde, einen Vittra zu töten. Aber um sicherzustellen, dass er nur einen einzigen Schlag brauchte, hatte sich Oren zwei Schwerter aus Platin und Diamanten anfertigen lassen, mit denen er alle Exekutionen durchführte.

Ich wusste nicht, wie Loki auf den Gedanken gekommen war, seine Ausführungen würden die Atmosphäre auflockern, aber das war jetzt auch egal. Die Flügeltüren der Gemächer wurden aufgerissen und der König kam herein. Loki hörte sofort auf, mit dem Bein zu wippen, und legte die Hände in den Schoß. Oren lächelte uns an, und mir lief es eiskalt über den Rücken. Sara stand auf, als er den Raum betrat, also tat ich es ihr nach. Loki folgte unserem Beispiel, wenn auch sehr zögernd.

»Du hast sie also endlich hergebracht«, sagte Oren und warf Loki einen prüfenden Blick zu.

»Ich habe sie nicht hergebracht, Hoheit«, sagte Loki. »Sie hat mich hergebracht.«

»Ach?« Oren wirkte überrascht, nickte mir aber dann anerkennend zu. »Du hast also den Müll gefunden und beschlossen, meiner Bitte zu folgen und ihn zurückzubringen.«

»Nein«, sagte ich. »Wenn ich gehe, nehme ich ihn wieder mit.«

»Wenn du gehst?«, fragte Oren und lachte dröhnend. »Oh meine liebe, süße Prinzessin, du wirst nicht gehen.«

»Du hast noch nicht gehört, was ich dir anzubieten habe«, sagte ich.

»Alles was ich will, befindet sich bereits in diesem Raum.« Oren hatte begonnen, langsam um uns herumzugehen. Loki drehte sich mit ihm, weil er ihn nicht aus den Augen lassen wollte. Ich rührte mich nicht.

»Du hast weder Förening noch die anderen Städte des Tryll-Königreichs«, sagte ich. »Du hast nicht einmal die Überreste von Oslinna. Du hast die Stadt zwar zerstört, aber sie gehört immer noch uns.«

»Ich werde dein Königreich bald bekommen«, sagte Oren direkt hinter mir.

»Mag sein«, sagte ich. »Aber wie lange wird das dauern? Die Prinzessin zu besitzen, bedeutet noch lange nicht, dass du die Tryll besiegt hast. Sie werden dich nur noch heftiger bekämpfen, wenn ich fort bin.«

»Was schlägst du also vor?«, fragte Oren und baute sich direkt vor mir auf.

»Ich brauche Zeit«, sagte ich. »Zeit, um meinen Leuten die Idee schmackhaft zu machen und Aufstände wie die zu vermeiden, die nach deiner Hochzeit mit meiner Mutter stattfanden.«

»Ich habe diesen Aufstand im Keim erstickt«, sagte Oren mit einem gemeinen Lächeln. Wahrscheinlich dachte er an die Frauen und Kinder, die er dabei getötet hatte.

»Aber das Königreich hast du verloren, habe ich recht?«, fragte ich. Sein Lächeln erstarb.

»Wie könntest du mir das Tryll-Königreich garantieren?«, fragte Oren.

»Ich werde bald Königin sein«, sagte ich. »Du hast Elora gesehen und weißt, dass es nicht mehr lange dauern wird.«

»Und dann endet unser Waffenstillstand«, sagte Oren drohend.

»Wenn du mir bis zu meiner Krönung Zeit lässt, mein Volk auf den Übergang vorzubereiten, wird alles reibungslos ablaufen«, sagte ich. »Ich kann sie davon überzeugen, dass es die richtige Entscheidung ist. Wenn sie glauben, dass ich an deiner Seite und nicht unter dir regieren werde, würden sie einer Vereinigung zustimmen.«

»Du würdest aber nicht an meiner Seite regieren«, knurrte Oren.

»Das weiß ich«, sagte ich eilig. »Ich muss sie nur auf meine Seite ziehen. Dir ihre Loyalität sichern. Wenn alles bereit ist und du der König aller Vittra und Tryll bist, werden sie dir treu zu Diensten stehen.«

»Warum?« Oren schaute mich misstrauisch an und wich einen Schritt zurück. »Warum würdest du das tun?«

»Weil ich weiß, dass du so lange weiterkämpfen wirst, bis du gewonnen hast. Aber das wird Tausende meiner Untertanen das Leben kosten«, sagte ich. »Ich möchte lieber mit dir zusammenarbeiten. Eine unblutige Übernahme halte ich für besser als eine, die unzählige Todesopfer fordern wird.«

»Hm.« Oren schien darüber nachzudenken und nickte. »Klug. Sehr klug. Was willst du als Gegenleistung?«

»Keine weiteren Angriffe auf unsere Städte«, sagte ich. »Stell alle Kampfhandlungen gegen uns ein. Wenn du weiterhin meine Leute abschlachtest, wird es schwierig werden, sie von deinen guten Absichten zu überzeugen. Und außerdem wird das ganze Königreich bald dir gehören. Du würdest im Endeffekt also nur deinen eigenen Besitz zerstören.«

»Das sind stichhaltige Argumente«, sagte Oren. Er schritt wieder durch den Raum, kehrte uns aber diesmal den Rücken zu. »Und wie passt Loki in dieses Bild?«

»Er ist ein Vittra«, sagte ich. »Wenn er sich den Tryll gegenüber freundlich zeigt, wird er dazu beitragen, sie von deiner Gutartigkeit zu überzeugen. Davon, dass alles nur ein Missverständnis war. Er wird dir helfen, das Vertrauen deiner zukünftigen Untertanen zu gewinnen.«

»Und das soll wirklich er machen?« Oren drehte sich wieder zu uns um. »Ich könnte dir stattdessen Sara mitgeben.«

»Sie kennen Loki bereits«, sagte ich. »Und sie fassen allmählich Vertrauen zu ihm.«

»Du fasst Vertrauen zu ihm, meinst du.« Orens Grinsen wurde breiter. »Er hat es dir also nicht gesagt, richtig?«

»Die Frage ist zu vage formuliert«, sagte ich. »Ich habe keine Ahnung, worauf du anspielst.«

»Wundervoll!« Oren lachte hämisch. »Du weißt es nicht!«

Ich fuhr mir mit der Zunge über die Lippen. »Was denn?«

Oren lachte wieder. »Es ist alles gelogen!«

»Das ist nicht wahr«, sagte Loki schnell. Aus dem Augenwinkel sah ich, dass er blass geworden war. Seine Stimme zitterte. »Die Narben auf meinem Rücken sind keine Lügen.«

»Tja, die hattest du auch verdient.« Oren hörte auf zu lachen und sah ihn böse an. »Du hast einmal zu oft versagt.«

»Ich habe nicht versagt«, sagte Loki langsam. »Ich habe mich geweigert, dir zu gehorchen.«

»Du hast versagt.« Oren machte ein paar Schritte auf ihn zu, und Loki schaffte es nur mit Mühe, ihm weiter in die Augen zu sehen. »Sie ist nicht mit dir durchgebrannt. Sie hat einen anderen gewählt. Du hast also versagt.«

»Was?«, fragte ich, und Übelkeit stieg in mir auf.

»Ich hätte sie niemals hierher zurückgebracht«, beharrte Loki.

»Das sagst du jetzt.« Oren grinste. »Als du zurückkamst, hast du noch ganz anders geredet.«

»Ich war im Kerker angekettet und du hast auf mich eingeschlagen!«, schrie Loki. »Ich hätte dir alles versprochen.«

»Das hast du auch«, sagte Oren. »Du hast eingewilligt, die Prinzessin zu verführen und sie dazu zu bringen, sich in dich zu verlieben, damit sie mit dir zu mir zurückkommt. Stimmt das etwa nicht?«

»Das stimmt, aber …«, begann Loki, aber Oren schnitt ihm das Wort ab.

»Du bist zu ihrem Palast gegangen und hast dich absichtlich fangen lassen, damit du in ihrer Nähe sein, Zeit mit ihr verbringen und sie manipulieren konntest«, sagte er.

»So war es nicht …«, beharrte Loki.

»Als Sara dich zurückbrachte, sagtest du, sie wäre beinahe soweit.« Oren lächelte, als erzähle er eine launige Anekdote. »Du hast mir erzählt, dass sie dich beinahe geküsst hätte und ganz rot geworden sei, als du ihr vorschlugst, dich zu heiraten, statt diesen Idioten, mit dem sie jetzt vermählt ist.«

Loki schwieg. Er starrte auf den Boden und biss sich auf die Lippe. Mir wurde ganz schwach vor Schmerz, weil ich wusste, dass Oren die Wahrheit sagte.

»War es nicht so?«, brüllte Oren. Loki zuckte zusammen, starrte aber weiter zu Boden.

»Ich hatte keine Wahl«, sagte er leise.

»Und das macht alles wieder gut, stimmt’s?« Oren sah mich lächelnd an. »Alles, was zwischen euch jemals geschehen ist, war eine Lüge. Aber da er nur getan hat, worum ich ihn gebeten habe, ist ja alles in Ordnung. Oder etwa nicht? Ist es okay für dich, dass alles was er jemals zu dir gesagt hat, gelogen war?«

»Das ist nicht wahr«, sagte Loki und hob den Kopf. »Ich habe nicht gelogen. Ich habe nie gelogen.«

»Wie kannst du seinen Worten jetzt noch Glauben schenken?«, fragte Oren achselzuckend.

»Warum sagst du mir das?«, fragte ich. Überrascht registrierte ich, wie gelassen meine Stimme klang.

»Weil ich hoffe, du überlegst es dir anders«, sagte Oren.

»Du kannst in deinen Palast zu deinem Ehemann und deinem Königreich zurückkehren. Aber lass Loki bei mir. Du brauchst ihn nicht. Er ist nutzlos. Er ist ein Stück Müll.«

»Nein«, sagte ich und schaute Oren fest an. »Er kommt mit mir. Wenn du an unserem Deal interessiert bist, mich und mein Königreich sofort nach meiner Krönung haben willst, dann kommt er jetzt mit mir zurück. Das ist die Bedingung.«

»So viel bedeutet er dir?«, fragte Oren. Er kam zu mir und stellte sich so dicht vor mich, dass ich seinen Atem auf meinem Gesicht spürte. »Obwohl du weißt, dass er dich verraten hat, willst du ihn immer noch mitnehmen?«

Ich wählte meine nächsten Worte sehr sorgfältig. »Ich habe versprochen, ihn wieder mitzunehmen, und ich halte meine Versprechen«, sagte ich.

»Gut«, sagte Oren. »Denn wenn du mir nicht, wie versprochen, sofort nach deiner Krönung dein Königreich übergibst, dann wird Loki der Erste sein, den ich töte. Und zwar vor deinen Augen. Haben wir uns verstanden?«

»Ja«, sagte ich.

»Gut«, sagte er lächelnd. »Dann ist es abgemacht. Das Tryll-Königreich wird mir gehören.«

»Und bis dahin wirst du keinem Tryll und keiner Tryll-Stadt zu nahe kommen«, sagte ich. »Du wirst uns alle in Ruhe lassen.«

»Einverstanden«, sagte Oren und streckte die Hand aus.

Ich schüttelte sie und kam mir vor, als hätte ich gerade einen Vertrag mit dem Teufel geschlossen.

Sara brachte uns zur Tür und ich schwieg den ganzen Weg über. Sie sagte nur sehr wenig, aber am Ausgang warnte sie Loki und mich, vorsichtig zu sein. Sie umarmte Loki zum Abschied, und es sah aus, als hätte sie mich am liebsten auch umarmt, aber das hätte ich nicht zugelassen.

Loki und ich gingen zum Auto, und ich weigerte mich, ihn auch nur anzusehen. Als wir eingestiegen waren, starrte ich stur zum Fenster hinaus.

»Wendy, ich weiß, dass du wütend bist, aber du musst mir zuhören. Manches was der König gesagt hat, entspricht der Wahrheit, aber er hat alle Tatsachen verdreht.«

»Ich will nicht darüber reden.«

»Wendy.«

»Fahr einfach«, zischte ich.

Er seufzte, sagte aber nichts mehr und fuhr los. Wir ließen den Vittra-Palast hinter uns.

Eigentlich hätte ich erleichtert sein müssen. Ich hatte mit Oren gesprochen und bekommen, was ich wollte. Ich hatte mir und meinem Volk mehr Zeit erkauft. Und Oren hatte weder mich noch Loki umgebracht, was durchaus im Bereich des Möglichen gelegen hätte.

Aber mir war nicht klar gewesen, wie viel ich für Loki empfand, bis ich herausgefunden hatte, dass alles eine Lüge gewesen war. Loki hatte nur Befehlen gehorcht und merkwürdigerweise warf ich ihm das gar nicht vor. Aber ich kam mir dennoch vor wie eine Idiotin, und ich kapierte nicht, warum er weiter mit meinen Gefühlen gespielt hatte, als er den Vittra schon längst entkommen war.

Was mich am meisten verletzte, war, dass er mich durchaus in Versuchung geführt hatte. An dem Abend, an dem Loki mich in meinem geheimen Garten überrascht hatte, wäre ich wirklich am liebsten mit ihm durchgebrannt. Ich hatte sogar ein schlechtes Gewissen gehabt, weil ich ihn abgewiesen hatte. Ich hatte gefürchtet, ich hätte seine Gefühle verletzt.

Aber all das war eine Lüge gewesen.

Ich drehte an meinem Ehering und unterdrückte meine Tränen. Wahrscheinlich verdiente ich nichts Besseres, weil ich meinen Verlobten betrogen hatte und in Versuchung gewesen war, meinen Ehemann zu betrügen. Tove und ich führten zwar keine normale Ehe, aber das rechtfertigte keinesfalls meine seltsamen Gefühle für Loki.

Dies war ein Schuss vor den Bug. Ich musste mich jetzt darauf konzentrieren, mein Ehegelübde zu ehren und mein Königreich zu retten. Nicht darauf, was ich für einen dummen Typen empfand.

»Ich weiß, dass du mich gerade für einen Mistkerl hältst«, sagte Loki, nachdem wir mehr als eine Stunde lang schweigend gefahren waren. Ich schwieg, also fuhr er fort. »Oren ist ein Meister der Manipulation. Er versucht, dich gegen mich aufzubringen, um mich zu quälen. Um uns beide zu quälen.«

Ich starrte aus dem Fenster. Seit unserem Aufbruch hatte ich ihn noch kein einziges Mal angesehen.

»Wendy«, seufzte er. »Bitte. Du musst mir zuhören.«

»Ich muss gar nichts«, sagte ich. »Ich habe dich lebend wieder aus dem Palast gebracht. Ich habe mein Soll erfüllt.«

»Wendy!«, brüllte Loki. »Ich hatte nie die Absicht, dich zu Oren zurückzubringen. Der König mag vieles sein, aber dumm ist er nicht. Er weiß ganz genau, dass ich dich, Matt und Rhys habe entkommen lassen. Er wollte mich eigentlich umbringen, aber er hat mich laufen lassen, damit ich dich zu ihm bringe. Das habe ich dir schon gesagt.«

Ich lachte bitter auf. »Du hast allerdings vergessen, zu erwähnen, dass das bedeutete, mich vorher zu verführen.«

»Weil ich das nicht tun wollte, Wendy. Das schwöre ich dir.«

»Ich glaube dir nicht«, sagte ich und wischte mir die Tränen aus den Augen. »Ich kann dir überhaupt nichts mehr glauben.«

»So ein Bullshit!« Er schüttelte den Kopf, fuhr dann abrupt an den Straßenrand und stellte den Motor ab.

»Was ist daran Bullshit?«, schrie ich. »Du hast mich belogen! Du hast mich reingelegt!«

»Ich habe dich überhaupt nicht reingelegt«, schrie Loki zurück. »Ich habe nie gelogen! All meine Gefühle für dich sind echt! Und ich bin für dich durch die Hölle gegangen!«

»Hör auf, Loki! Du kannst aufhören. Ich kenne jetzt die Wahrheit!«

»Die kennst du nicht!«

»Ich kann das nicht.« Ich schüttelte den Kopf. »Ich will das nicht.«

Es gab nur eine Fluchtmöglichkeit, also stieg ich aus dem Wagen. Wir waren inzwischen so weit gefahren, dass wieder Schnee lag, und ich ging barfüßig in die Kälte hinaus. Die Landstraße war verlassen, neben uns erstreckten sich endlose Maisfelder.

»Wo willst du hin?«, fragte Loki und sprang ebenfalls aus dem Auto.

»Nirgendwohin. Ich brauche frische Luft.« Ich wickelte mich enger in meinen Umhang. »Ich ertrage deine Gegenwart nicht.«

»Hör auf«, flehte Loki und lief mir nach. »Du hast nur seine Version der Geschichte gehört. Du weißt nicht, was wirklich passiert ist. Bitte hör mich an.«

»Warum?«, fragte ich und drehte mich zu ihm um. »Warum sollte ich mir deine Lügen anhören?«

»Er hätte mich getötet. Er exekutiert alle, die seinen Befehlen nicht gehorchen. Unter Orens Herrschaft zu überleben bedeutet, alles zu sagen und zu tun, was der König fordert, ob es nun der Wahrheit entspricht oder nicht. Das hast du doch heute erlebt.« Loki holte tief Luft. »Als du zum ersten Mal im Palast warst, hat er gesehen, wie wir beide miteinander umgegangen sind. Er dachte, er könne das gegen dich einsetzen. Er glaubte, du würdest dich in mich verlieben.«

»Ich werde dich niemals lieben«, sagte ich kalt, und sein Gesicht verzog sich vor Schmerz.

»Ich sage dir nur, was der König geglaubt hat«, fuhr Loki vorsichtig fort. »Also befahl er mir, dich dazu zu bringen, freiwillig mit mir zurückzukommen, und ich willigte ein. Weil ich keine Wahl hatte.

Aber Wendy, ich schwöre dir, dass ich dich niemals zu ihm zurückgebracht hätte. Sonst hätte ich gestern Nacht nicht versucht, dir auszureden, zu ihm zu gehen. Wäre das mein Plan gewesen, hätte ich dich dazu ermutigt, dich in seine Hände zu begeben.«

»Ich verstehe, dass du Oren nach dem Mund reden musstest, um zu überleben«, sagte ich. »Ganz ehrlich. Und das kann ich dir auch verzeihen. Aber warum hast du mir nicht die Wahrheit gesagt, als du vor meiner Tür zusammengebrochen bist und um Asyl gebeten hast?«

Loki starrte traurig zu Boden, hob dann den Kopf und schaute mir in die Augen. »Weil ich mich dafür geschämt habe, dass ich zugestimmt hatte, auch wenn ich nicht vorhatte, Orens Befehl zu befolgen. Und weil ich nicht wollte, dass du schlecht von mir denkst. Ich wollte nicht, dass du all das in Frage stellst, was zwischen uns passiert war.« Er lächelte traurig. »Ich wollte nicht, dass du mich so ansiehst wie jetzt gerade.«

»Warum bist du dann überhaupt nach Ondarike zurückgegangen?«, fragte ich mit belegter Stimme. »Warum hast du dich nicht geweigert, mit Sara zu gehen? Du hättest doch in Förening bleiben können.«

»Wenn ich geblieben wäre, hätte der König behaupten können, damit sei das Abkommen ungültig«, sagte Loki. »Es hätte passieren können, dass er den Palast angreift und dich in seine Gewalt bringt. Das wollte ich nicht riskieren.«

»Und was ist mit all dem, was du im Garten gesagt hast?«, fragte ich und schaute zu Boden. Aus unerfindlichen Gründen fiel es mir plötzlich sehr schwer, seinem Blick zu begegnen. »Wolltest du mich zu ihm zurückbringen, als du mich gebeten hast, mit dir durchzubrennen?«

»Nein«, sagte Loki vehement. »Das hätte ich nie getan. Nicht einmal, um mein eigenes Leben zu retten. Nicht einmal für das gesamte Königreich. Als ich dich geküsst habe und dich bat, meine Frau zu werden, habe ich das völlig ernst gemeint. Ich wollte mit dir zusammen sein.«

Ich schniefte und starrte in die weiße Ödnis, die uns umgab. Mein Herz fühlte sich auf einmal viel leichter an. Ich sah in der Ferne ein Auto auftauchen, aber dann legte Loki seine Hand unter mein Kinn und hob meinen Kopf, sodass ich ihm in die Augen blickte.

»Ich musste mich zwischen dem König und dir entscheiden, und ich habe dich gewählt«, sagte Loki. »Im Garten waren wir ganz allein. Ich hätte dich problemlos ausschalten, über die Schulter werfen und zum König schleppen können. Dann hätte er mich sicher nicht gefoltert. Aber das habe ich nicht getan.« Er kam näher, und ich spürte die Wärme, die sein Körper ausstrahlte. »Er hat mir gesagt, was er mit mir machen würde, wenn ich dich nicht zurückbrächte. Aber ich konnte es trotzdem nicht tun.«

Er hob die andere Hand und umfasste mein Gesicht.

Seine Haut berührte warm die meine, und ich hätte den Blick auch nicht abwenden können, wenn er mich nicht festgehalten hätte. In seinen Augen sah ich eine Sehnsucht und eine Wärme, die mir den Atem raubte.

»Verstehst du jetzt?«, fragte Loki rau. »Ich würde es wieder tun, Wendy. Ich würde für dich noch einmal durch die Hölle gehen. Egal wie sehr du mich jetzt gerade hasst.«

Ich war so gebannt, dass ich erst merkte, wie nahe uns das andere Auto gekommen war, als es mit quietschenden Reifen neben uns anhielt und beinahe den Cadillac rammte. Loki stellte sich schützend vor mich. Die Fahrertür ging auf und Tove sprang auf die Straße. Auf der Beifahrerseite riss Finn die Tür auf, rannte um das Auto herum und stürzte sich auf Loki.