16
Eine einzige Nacht
Ich war zu Aurora gegangen und hatte sie gebeten, sich in der Nacht um Tove zu kümmern. Ich fühlte mich schuldig, weil ich nicht bei ihm geblieben war, aber sie würde besser mit ihm zurechtkommen, falls er noch einmal die Kontrolle über sich verlor.
Da sie bei Tove schlief, bekam ich ihr Zimmer. In der Ecke stand ein Himmelbett mit roten Vorhängen und roter Bettwäsche. Eine Zimmerwand war eingedrückt und lehnte schräg über dem Bett, was den Raum noch kleiner wirken ließ.
»Geht es dir einigermaßen gut?«, fragte Loki.
Er hatte mich hierherbegleitet und stand abwartend im Türrahmen.
»Ja, mir geht’s prima«, log ich und setzte mich aufs Bett. »Mein Königreich fällt auseinander. Leute sterben. Ich muss meinen Vater umbringen. Und mein Ehemann ist gerade verrückt geworden.«
»Wendy, das alles ist nicht deine Schuld.«
»So fühlt es sich aber an«, sagte ich, und eine Träne lief mir über die Wange. »Ich mache alles nur noch schlimmer.«
»Das stimmt doch gar nicht.« Loki kam zu mir und setzte sich neben mich aufs Bett. »Weine nicht, Wendy.«
»Ich weine nicht«, log ich wieder, wischte mir die Augen trocken und schaute ihn an. »Warum bist du so nett zu mir?«
»Warum sollte ich denn nicht nett zu dir sein?«, fragte Loki verwirrt.
»Deshalb.« Ich deutete auf die Narben, die seinen Rücken überzogen. »Weil du die wegen mir bekommen hast.«
»Nein.« Loki schüttelte den Kopf. »Ich habe diese Narben wegen der Grausamkeit meines Königs.«
»Aber wenn ich bei ihm geblieben wäre, hätte ich all das hier verhindern können«, sagte ich. »All diese Leute wären noch am Leben. Sogar Tove würde es besser gehen.«
»Und du wärst wahrscheinlich tot«, sagte Loki. »Der König würde die Tryll immer noch hassen. Vielleicht sogar noch mehr, denn er würde ihnen vorwerfen, dass sie dich einer Gehirnwäsche unterzogen hätten. Er würde sie irgendwann angreifen und sich ihr Königreich einverleiben.«
»Vielleicht«, sagte ich achselzuckend. »Vielleicht aber auch nicht.«
»Hör auf.« Er legte den Arm um mich. Mir wurde warm und plötzlich fühlte ich mich sicher und geborgen. »Nicht alles ist deine Schuld und du kannst auch nicht alles in Ordnung bringen. Du bist nur eine einzelne Person.«
»Es ist nie genug.« Ich schluckte und sah zu ihm auf. »Was ich auch tue, es ist nie genug.«
»Glaub mir, du tust mehr als genug.« Er lächelte und strich mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht.
Unsere Blicke trafen sich, und ich spürte eine inzwischen vertraute Sehnsucht in mir aufsteigen, die jedes Mal stärker wurde, wenn ich mit ihm zusammen war.
»Warum wolltest du, dass ich mich daran erinnere?«, fragte ich.
»Wie bitte?«
»Als wir in deinem Zimmer waren, hast du gesagt, ich solle mich daran erinnern, dass ich von dir geküsst werden wollte.«
»Du gibst also zu, dass du von mir geküsst werden wolltest?« Loki grinste.
»Loki.«
»Wendy«, antwortete er und lächelte mich an.
»Warum hast du mich denn nicht einfach geküsst?«, fragte ich. »Das wäre doch eine schönere Erinnerung gewesen.«
»Es war nicht der richtige Zeitpunkt.«
»Warum nicht?«
»Du warst auf einer Mission. Wenn ich dich geküsst hätte, wäre es nach einem Augenblick vorbei gewesen, weil du so in Eile warst«, sagte er. »Und ein Augenblick wäre mir nicht genug gewesen.«
»Und wann ist der richtige Zeitpunkt?«, fragte ich.
»Sag du es mir«, flüsterte er.
Er legte mir die Hand auf die Wange und wischte meine Tränen weg. Seine Augen blickten mich forschend an. Dann beugte er sich vor und berührte meinen Mund mit seinen Lippen. Zuerst nur ganz zart, als sei er sich nicht sicher, ob er vielleicht träume. Seine Küsse waren sanft und zärtlich und ganz anders als Finns.
Sobald mir Finn einfiel, drängte ich jeden Gedanken an ihn sofort beiseite. Ich wollte an niemand anderen denken. Ich wollte einzig und allein Loki spüren. Meine Erschöpfung verschwand, als ein warmes, tiefes Gefühl in mir aufstieg. Lokis Küsse wurden leidenschaftlicher und er drückte mich sanft aufs Bett. Dann legte er mir einen Arm um die Taille. Ich hielt mich an ihm fest und grub die Hände in seinen nackten Rücken. Seine Narben, die Narben, mit denen er für meine Sicherheit bezahlt hatte, fühlten sich unter meinen Fingern wie Braille-Schrift an.
»Wendy«, murmelte er, als er meinen Hals küsste. Seine Lippen wanderten über meine Haut und ich begann zu zittern.
Er hielt einen Augenblick inne und schaute mich an. Sein helles Haar fiel ihm in die Augen. Etwas an der Art, wie er mich mit seinen karamellfarbenen Augen ansah, ließ mein Herz schneller schlagen. Es war, als sähe ich ihn zum ersten Mal wirklich. All seine Mauern waren eingestürzt und von seiner Frechheit und Coolness war nichts übrig geblieben. Er war ganz er selbst, und ich realisierte, dass ich ihn bisher noch nicht gekannt hatte.
Loki war verwundbar und lieb, einsam und ziemlich verängstigt. Und ich bedeutete ihm sehr viel. So viel, dass es ihm schreckliche Angst einjagte. Ich hätte eigentlich auch Angst haben müssen, aber die hatte ich nicht.
Ich konnte nur daran denken, dass ich noch nie etwas so Schönes wie ihn gesehen hatte. Es kam mir merkwürdig vor, so etwas über einen Mann zu denken, aber so war es. Als er auf mich herabschaute und geduldig darauf wartete, dass ich ihn annahm oder abwies, war Loki wahrhaft schön.
Ich streckte die Hand aus und berührte sein Gesicht, beinahe erstaunt darüber, dass es ihn wirklich gab. Er schloss die Augen und küsste meine Handfläche. Seine Hand lag auf meiner Hüfte, und als sein Griff fester wurde, liefen heiße Schauer durch meinen Körper.
»Ich hasse es, das fragen zu müssen, aber …« Loki verstummte und fuhr dann mit rauer Stimme fort. »Willst du das wirklich tun?«
»Ich will dich, Loki«, sagte ich, ohne nachzudenken.
Ich wollte ihn, ich brauchte ihn, und eine einzige Nacht lang wollte ich nicht darüber nachdenken, welche Konsequenzen das haben würde. Ich wollte einfach nur bei ihm sein.
Loki lächelte erleichtert und sein Gesicht strahlte geradezu. Er beugte sich vor und küsste mich wieder, voller Leidenschaft und Verlangen.
Seine Hand glitt unter mein Nachthemd und legte sich fest und sicher auf meinen Oberschenkel. Ich liebte seine Kraft, die ich auch in der zartesten Berührung spüren konnte. Loki versuchte, sich zurückzuhalten, um mir nicht wehzutun, aber als er versuchte, mir den Slip auszuziehen, zerriss er ihn dabei.
Ich zog mein Nachthemd selber aus, denn ich wollte nicht, dass sich das wiederholte. Loki versuchte, sehr vorsichtig zu sein, und ein Teil von mir wollte das auch, weil ich mir so mein erstes Mal vorgestellt hatte. Aber wir konnten uns nicht lange beherrschen.
Er begann, ganz vorsichtig in mich einzudringen, aber ich stöhnte auf und drückte ihn an mich, und damit brachen alle Dämme. Es tat weh und ich vergrub mein Gesicht an seiner Schulter, um nicht laut aufzuschreien. Aber er verlangsamte sein Tempo nicht und schon sehr bald stieg Hitze in mir auf. Ich wollte nicht, dass er langsamer wurde, denn sogar der Schmerz fühlte sich unglaublich gut an.
Nach unserem gemeinsamen Höhepunkt brach er neben mir auf dem Bett zusammen und wir schnappten beide nach Luft. Das Bettgestell kam mir auf einmal sehr abschüssig vor, und ich erinnerte mich an das Geräusch von berstendem Holz, also hatten wir es wahrscheinlich im Eifer des Gefechts kaputt gemacht. Die roten Vorhänge des Himmelbetts waren vorher geöffnet gewesen, hatten sich aber aus ihren Haltern gelöst und schirmten uns jetzt von der Außenwelt ab.
Im Zimmer brannten nur ein paar Kerzen, und ihr Flackern drang durch die Vorhänge und tauchte uns in warmes rotes Licht. Ich hatte mich in meinem Leben noch nie zuvor so zufrieden und sicher gefühlt.
Ich lag auf dem Rücken und Loki kuschelte sich an mich. Einen Arm hatte er mir unter den Nacken geschoben, der andere lag auf meinem Bauch. Ich umschlang ihn mit beiden Händen und zog ihn noch enger an mich.
Als ich so in seinen Armen lag, befand sich die Narbe auf seiner Brust genau vor meinen Augen. Ich hatte sie noch nie aus der Nähe betrachtet. Sie sah gezackt und martialisch aus. Sie begann rechts über seinem Herzen und verlief dann in einer schrägen Linie bis unter seine linke Brustwarze.
»Hasst du mich?«, fragte ich leise.
»Warum um alles in der Welt sollte ich dich denn hassen?«
»Deshalb.« Ich berührte die Narbe und er erschauerte. »Weil mein Vater dir das wegen mir angetan hat.«
»Nein, ich hasse dich nicht.« Er küsste meine Schläfe. »Das könnte ich gar nicht. Außerdem bist du nicht für die Untaten des Königs verantwortlich.«
»Wie hast du die bekommen?«, fragte ich.
»Bevor der König sich dazu entschied, mich zu foltern, wollte er mich eigentlich töten«, sagte Loki beinahe müde. »Er brachte erst sein Schwert zum Einsatz, überlegte es sich aber dann doch anders.«
»Er hat dich beinahe umgebracht?« Ich schaute ihn an, und allein die Vorstellung, Loki könnte sterben, ließ mir die Tränen in die Augen steigen.
»Er hat es ja nicht getan.« Loki strich mein Haar zurück und blieb in den wirren Locken hängen. Lächelnd schaute er auf mich herab. »Er hat es nicht geschafft, mich umzubringen, obwohl er es wirklich versucht hat. Mein Herz hat sich geweigert, aufzugeben. Es wusste, dass ich etwas hatte, wofür es sich zu leben lohnt.«
»So etwas darfst du nicht sagen.« Ich schluckte meine Tränen herunter und senkte den Blick. »Die heutige Nacht war … wunderschön und unvergesslich. Aber sie wird sich nie wiederholen.«
»Ach, Wendy«, stöhnte Loki und rollte sich auf den Rücken. »Warum musstest du das denn jetzt sagen?«
»Deshalb.« Ich setzte mich auf und zog die Knie an die Brust. Das Laken bedeckte meine Beine, aber ich wendete ihm den nackten Rücken zu. »Ich will dich nicht …« Ich seufzte. »Ich will dich nicht noch mehr verletzen.«
»Es sieht eher so aus, als hätte ich dich verletzt.« Loki setzte sich ebenfalls auf und berührte meinen Arm.
»Was?« Ich schaute auf seine Hand und sah einen violetten Bluterguss auf meinem Arm. »Daran erinnere ich mich gar nicht.« Ich würde morgen wahrscheinlich blaue Flecke auf den Oberschenkeln haben, aber Loki hatte mich doch gar nicht an den Armen gepackt. »Oh. Der ist nicht von dir. Der ist von Tove.«
»Tove«, seufzte Loki. Er schwieg einen Augenblick lang und schaute mich dann an. »Du gehst morgen zu ihm zurück, richtig?«
»Er ist mein Ehemann.«
»Er hat dich geschlagen.«
»Tove war nicht er selbst. Wenn es ihm wieder gut geht, wird er sich deshalb entsetzlich fühlen. Es wird nie wieder vorkommen.«
»Das möchte ich ihm auch geraten haben«, sagte Loki grimmig.
»Außerdem habe ich ihn aus einem bestimmten Grund geheiratet, und an dem hat sich nichts geändert.«
»Und welcher Grund ist das?«, fragte Loki. »Ich weiß, dass du ihn nicht liebst.«
»Die Tryll wollen mich nicht als ihre Königin«, sagte ich. »Sie vertrauen mir nicht, unter anderem wegen meines Vaters. Toves Familie ist sehr einflussreich und angesehen, und das gleicht meinen Makel wieder aus. Wenn ich nicht mit Tove verheiratet wäre, wäre seine Mutter die Erste, die mich vom Thron stürzen würde. Ohne Tove könnte ich niemals Königin werden.«
»Und wieso wäre das so schlimm?«, fragte Loki. »Diese Leute vertrauen dir nicht und sie mögen dich nicht, und trotzdem opferst du dich für sie auf. Warum tust du das?«
»Weil sie mich brauchen. Ich kann ihnen helfen. Ich kann sie retten. Nur ich kann meinem Vater entgegentreten, und außer mir hat niemand Interesse daran, für die Rechte der Tracker und der bürgerlichen Tryll einzutreten. Ich muss Königin werden.«
»Ich wünschte, du wärest nicht so überzeugt davon.« Loki legte den Arm um mich und rückte näher. Er küsste mich auf die Schulter und flüsterte: »Ich will nicht, dass du morgen zu Tove zurückgehst.«
»Ich muss aber.«
»Ich weiß«, sagte er. »Aber ich will es trotzdem nicht.«
»Heute Nacht bin ich bei dir.« Ich lächelte ihm zu, und er hob den Kopf und schaute mir in die Augen. »Mehr kann ich dir nicht geben.«
»Ich will nicht nur eine einzige Nacht. Ich will alle Nächte. Ich will dich, mit Haut und Haaren und bis in alle Ewigkeit.«
Tränen stiegen mir in die Augen und mein Herz sehnte sich so sehr nach einem Leben mit ihm, dass es mir körperliche Schmerzen verursachte. Ich war gleichzeitig so glücklich und so traurig wie noch nie in meinem Leben.
»Weine nicht, Wendy.« Er lächelte mich wehmütig an und ich erkannte meinen Schmerz in seinen Augen wieder. Er zog mich an sich und küsste mich auf die Stirn, die Wangen und den Mund.
»Wenn du mir nur diese Nacht geben kannst, dann will ich, dass wir sie voll auskosten«, sagte er. »Kein Wort mehr über das Königreich, deine Verantwortung und andere Leute. Denk nicht einmal daran. Du bist keine Prinzessin und ich bin kein Vittra. Wir sind ein Mann und eine Frau, die verrückt nacheinander sind und sich zufällig nackt im selben Bett befinden.«
Ich nickte. »Das kriege ich hin.«
»Gut. Ich bin nämlich entschlossen, meine Zeit mit dir zu genießen.« Lächelnd drückte er mich aufs Bett. »Ich glaube, beim letzten Mal haben wir das Bett ein bisschen demoliert. Ich finde, wir sollten es komplett zerstören. Bist du dabei?«
Ich lachte und er küsste mich. Morgen würde ich diese Nacht vielleicht bereuen. Morgen würde ich bestimmt für dieses Glück bezahlen müssen. Aber für eine einzige Nacht weigerte ich mich, nachzudenken oder mir Sorgen zu machen. Ich war bei Loki, und er gab mir das Gefühl, als sei ich für ihn das Wichtigste auf der Welt. Und in dieser Nacht war auch er für mich das Einzige, was zählte.
Am Morgen weckte mich lautes Klopfen an der Tür, und ich registrierte überrascht, dass ich tatsächlich geschlafen haben musste. Die Erinnerungen an die vergangene Nacht umhüllten mich wie ein Mantel des Glücks. Alles fühlte sich an wie ein wunderbarer Traum, und ich hätte es nie für möglich gehalten, dass man einer anderen Person so nahe kommen und dabei so … glücklich sein konnte. Lokis starke Arme hielten mich und ich kuschelte mich eng an ihn. Ich wäre am liebsten bis in alle Ewigkeit so neben ihm liegen geblieben.
»Prinzessin?«, rief Aurora vor meinem Schlafzimmer, und ihre Stimme riss mich wie eine eiskalte Dusche aus meinem Traum. »Bist du wach? Ich muss meine Kleider holen.« Lokis Arme verspannten sich, und bevor ich antworten konnte, ging die Schlafzimmertür knarrend auf und Aurora kam herein.