Vorwort des Autors: Das Nein im Verhandlungsprozess

»Ihr Baby kann schon an der kleinsten Erkältung sterben«, verkündete der Arzt meiner Frau und mir unverblümt am Ende einer Untersuchung. Meine Frau hielt unsere kleine Tochter Gabriela in den Armen. Wir waren starr vor Angst. Gabriela litt unter einer angeborenen Erkrankung der Wirbelsäule, und dieser Arzttermin war nur der Anfang einer langen medizinischen Odyssee: Es folgten Hunderte von Untersuchungen, Dutzende von Behandlungen und sieben große operative Eingriffe innerhalb von sieben Jahren. Unsere Reise ist auch heute noch nicht vorüber, aber glücklicherweise ist Gabriela trotz ihrer körperlichen Probleme ein gesundes und glückliches Kind. Wenn ich die vergangenen acht Jahre Revue passieren lasse, in denen wir mit einer Unzahl von Ärzten, Krankenschwestern, Krankenhäusern und Versicherungsgesellschaften verhandeln mussten, wird mir klar, dass ich hier sämtliche Fähigkeiten benötigt habe, die ich mir im Rahmen meiner jahrelangen Tätigkeit als Mediator, bei der ich anderen geholfen hatte, in Verhandlungen zu einem Ja zu kommen, angeeignet hatte. Außerdem erkannte ich, dass Nein zu sagen eine Schlüsselqualifikation ist, die ich zum Schutz meiner Tochter und meiner Familie erwerben musste.

Ich sagte Nein zu der Art und Weise, wie die Ärzte mit uns kommunizierten: Obwohl sie vielleicht die besten Absichten hatten, versetzten sie Eltern und Patientin unnötig in Angst. Es ging weiter damit, dass ich Nein sagte zum Verhalten der Ärzte im Praktikum sowie der Studenten, die in den frühen Morgenstunden lärmend in Gabrielas Krankenzimmer hineinplatzten und sie wie ein lebloses Objekt behandelten. In meinem Beruf sagte ich Nein zu Dutzenden von Einladungen und dringenden Anfragen, weil ich die kostbare Zeit für meine Familie oder für Recherchen zu medizinischen Themen benötigte.

Dabei war es wichtig, mein Nein freundlich zu formulieren. Immerhin waren die Ärzte und Krankenschwestern für das Leben meines Kindes verantwortlich. Sie standen unter ungeheurem Druck, denn sie waren Teil eines schlecht funktionierenden medizinischen Systems, durch das sie lediglich ein paar Minuten Zeit für jeden einzelnen Patienten zur Verfügung hatten. Meine Frau und ich mussten lernen, erst einmal innezuhalten, bevor wir reagierten. Nur so konnten wir unser Nein nicht nur energisch, sondern auch respektvoll vorbringen.

Wie bei jedem guten Nein, so stand auch das unsere im Dienste eines höheren Ja, dem Ja zur Gesundheit und zum Wohlbefinden unserer Tochter. Mit anderen Worten: Unserem Nein lag keine negative Intention zugrunde, sondern eine positive. Es sollte unsere Tochter schützen und ihr – und uns selbst – ein besseres Leben ermöglichen. Natürlich hatten wir dabei nicht immer Erfolg, aber mit der Zeit lernten wir, effizienter zu sein.

Dieses Buch handelt von der geradezu lebenswichtigen Kunst, in jedem Lebensbereich ein positives Nein übermitteln zu können.

Von meiner Ausbildung her bin ich Anthropologe: Ich habe die Natur und das Verhalten des Menschen studiert. Von Berufs wegen bin ich Verhandlungsexperte: Lehrer, Berater und Mediator. Meine Leidenschaft aber gehört der Suche nach dem Frieden.

Wenn es früher am Abendbrottisch Streit gab, fragte ich mich schon als Kind, ob es nicht einen besseren Weg zur Beilegung von Differenzen gibt als destruktive Wortgefechte und Auseinandersetzungen. Dann besuchte ich die Schule in Europa. Der Zweite Weltkrieg war erst 15 Jahre her, die Erinnerung war immer noch frisch und die materiellen Narben noch sichtbar. Und so stellte ich mir diese Frage umso mehr.

Ich gehöre einer Generation an, die mit der ständigen Bedrohung eines scheinbar fernen, aber dennoch möglichen Dritten Weltkrieges aufwuchs, eines Krieges, der das Überleben der gesamten Menschheit infrage stellen würde. In der Schule hatten wir sogar einen Atombunker, und wenn wir abends mit unseren Freunden darüber sprachen, was wir mit unserer Zukunft anfangen wollten, dann fragten wir uns mehr als einmal, ob wir überhaupt eine Zukunft hatten. Damals wie heute war ich der Ansicht, dass es eine bessere Möglichkeit als das Wettrüsten von Massenvernichtungswaffen geben musste, um unsere Gesellschaft und uns selbst zu beschützen.

Meine Suche nach Lösungen für dieses Dilemma machte mich zum professionellen Beobachter menschlicher Konfliktsituationen. Doch mit der Beobachterrolle allein wollte ich mich nicht zufriedengeben. Als Verhandlungsführer und Mediator wollte ich das Gelernte anwenden. So kam es, dass ich in den vergangenen drei Jahrzehnten stets als neutraler Dritter hinzugezogen wurde: Ich versuchte, zwischenmenschliche Konfliktsituationen zu entschärfen, egal ob es nun um Familienstreitigkeiten, um den Streik von Bergleuten, um Firmenkonflikte oder ethnische Kriege im Nahen Osten, in Europa, Asien und Afrika ging. Im Rahmen dieser Tätigkeit hatte ich Gelegenheit, Tausende von Menschen und Hunderte von Organisationen und Regierungsbehörden dabei zu beraten, wie sie unter den schwierigsten Umständen eine Einigung herbeiführen können.

Im Verlauf meiner Arbeit wurde ich Zeuge der riesigen Verschwendung und des sinnlosen Leidens, das destruktive Auseinandersetzungen hervorrufen können – zerstörte Familien und Freundschaften, verheerende Streiks und Rechtsstreitigkeiten sowie gescheiterte Unternehmen. Ich suchte die Kriegsgebiete persönlich auf und sah mit eigenen Augen, wie Gewalt die Herzen unschuldiger Menschen in Angst und Schrecken versetzt. Ironischerweise erlebte ich aber auch Situationen, in denen ich mir mehr Konflikt und Widerstand gewünscht hätte – wenn Partner und Kinder schweigend Misshandlungen hinnahmen, wenn Vorgesetzte ihre Angestellten schikanierten oder wenn ganze Gesellschaften in Furcht lebten und unter dem Joch einer totalitären Diktatur litten.

Auf der Basis des Program on Negotiation, des Programms für sachbezogenes Verhandeln, das wir an der Harvard Law School entwickelten, erarbeitete ich bessere Möglichkeiten, um mit unseren Schwierigkeiten und Differenzen fertig zu werden. Vor 25 Jahren waren Roger Fisher und ich als Autoren an einem Buch beteiligt, das den Titel Das Harvard-Konzept trägt und das sich auf die Frage konzentriert, wie man eine Einigung erzielt, die beide Seiten zugute kommt. Das Buch wurde meiner Ansicht nach deshalb ein Bestseller, weil es die Menschen an die Prinzipien des gesunden Menschenverstandes erinnert, die sie wahrscheinlich schon kennen, aber häufig vergessen anzuwenden.

Zehn Jahre später schrieb ich ein Buch mit dem Titel Schwierige Verhandlungen, weil ich von den Lesern des ersten Werkes allzu häufig gefragt worden war, wie man kooperativ verhandeln kann, wenn die andere Seite gar kein Interesse daran hat. Wie kann man mit schwierigen Menschen und in schwierigen Situationen sachbezogen verhandeln und zu einer Einigung gelangen?

Im Lauf der Jahre wurde mir klar, dass der Versuch, zu einem Ja zu kommen, nur eine Hälfte der Wahrheit ist – und zwar die leichtere. Ein Kunde von mir, der Geschäftsführer einer Firma, sagte eines Tages zu mir: »Eine Einigung zu erzielen ist für meine Leute kein Problem. Viel schwerer fällt es ihnen, Nein zu sagen.« Oder wie der langjährige britische Premierminister Tony Blair es formulierte: »Gutes Führungsverhalten zeigt sich nicht durch die Fähigkeit, Ja zu sagen, sondern Nein.« Lange nach der Veröffentlichung von Das Harvard-Konzept erschien ein Cartoon in der Zeitung Boston Globe. Ein Mann in Anzug und Krawatte bat einen Bibliothekar um ein gutes Buch zum Thema Verhandlungstechnik. »Dieses hier ist sehr beliebt«, antwortete der Bibliothekar und reichte ihm ein Exemplar des Harvard-Konzepts. »Hier geht es darum, wie Sie durch sachbezogenes Verhandeln zu einer Einigung gelangen.« »An einer Einigung bin ich gar nicht interessiert!«, konterte der Mann.

Bis zu diesem Zeitpunkt war ich bei meiner Arbeit davon ausgegangen, dass Konflikte nichts anderes seien als die Unfähigkeit, sich zu einigen. Aber dabei hatte ich etwas Wichtiges übersehen. Denn selbst wenn es gelingt, eine Einigung zu erzielen, handelt es sich oft um eine unsichere oder unbefriedigende Lösung, weil die wahren Probleme vertuscht oder nicht offen angesprochen, sondern lediglich vertagt werden.

Langsam wurde mir klar, dass der Hauptstolperstein bei Verhandlungen nicht darin besteht, dass zwei Parteien kein gemeinsames Ja erzielen können, sondern in ihrer Unfähigkeit, sich im Vorfeld zu einem Nein durchzuringen. Allzu häufig geschieht es, dass wir nicht Nein sagen, obwohl wir es durchaus wollen oder zumindest genau wissen, dass es besser für uns und unsere Umwelt wäre. Und manchmal sagen wir sogar Nein, aber dann auf eine Art und Weise, die jede Verständigung im Keim erstickt und Beziehungen zerstört. Wir unterwerfen uns unangemessenen Forderungen, Ungerechtigkeiten, ja sogar Misshandlungen – oder wir lassen uns auf destruktive Auseinandersetzungen ein, bei denen alle Seiten nur verlieren können.

Als Roger Fisher und ich Das Harvard-Konzept schrieben, reagierten wir auf die steigende Tendenz zu feindseligen Auseinandersetzungen und die daraus resultierende, immer größer werdende Notwendigkeit, in Familien, am Arbeitsplatz und in der Welt im Allgemeinen kooperativ und sachbezogen zu verhandeln. Es ist zwar immer noch genauso wichtig wie damals, zu einem gemeinsamen Ja zu kommen. Doch heutzutage sehen sich die Menschen mehr denn je mit der dringenden Notwendigkeit konfrontiert, auch Nein sagen zu können, und zwar auf positive Art und Weise, indem sie für das eintreten, was sie für wertvoll halten, ohne persönliche Beziehungen zu zerstören. Das Nein ist genauso wichtig wie das Ja. Es ist die Voraussetzung, um effektiv Ja sagen zu können. Wer an einer Stelle eine Zusage macht, muss an anderer Stelle Nein sagen. In diesem Sinne steht das Nein vor dem Ja.

Aus meiner Sicht vervollständigt dieses Buch, Nein sagen und trotzdem erfolgreich verhandeln, eine Trilogie, die mit dem Titel Das Harvard-Konzept begann und mit Schwierige Verhandlungen fortgeführt wurde. Während Das Harvard-Konzept sich darauf konzentriert , wie man eine beidseitige Einigung erzielt, und das Buch Schwierige Verhandlungen sich mit der Frage beschäftigt, wie man die Gegenseite zur Überwindung ihrer Widerstände und Vorbehalte sowie zur Zusammenarbeit bewegt, konzentriert sich Nein sagen und trotzdem erfolgreich verhandeln auf Sie selbst und darauf, wie Sie lernen können, Ihre eigenen Interessen selbstbewusst zu vertreten. Da man logischerweise immer bei der Betrachtung der eigenen Person beginnen sollte, gilt Nein sagen und trotzdem erfolgreich verhandeln nicht als Folgeband zu den beiden anderen Büchern, sondern als deren Vorläufer. Dieses Werk liefert die notwendige Basis für Das Harvard-Konzept und Schwierige Verhandlungen. Jedes Buch steht für sich allein, trotzdem ergänzen und erweitern sie sich gegenseitig.

Nein sagen und trotzdem erfolgreich verhandeln ist meiner Auffassung nach nicht nur ein Buch über Verhandlungstechniken, sondern ein allgemeiner Ratgeber, denn im Leben dreht sich schließlich alles um Ja und Nein. Wir alle sind täglich mit der Notwendigkeit konfrontiert, Nein zu sagen, ob zu Freunden oder Familienmitgliedern, zu unseren Vorgesetzten, Angestellten, Kollegen oder zu uns selbst. Ob und wie wir Nein sagen, hat maßgeblichen Einfluss auf unsere Lebensqualität. Es gehört also zu unseren wichtigsten Fähigkeiten, dieses Wort ebenso freundlich wie effizient von uns zu geben.

Eine Bemerkung zum Thema Sprache: Ich nutze Begriffe wie »der andere« oder »die Gegenseite«, um mich auf die andere Person oder die andere Seite zu beziehen, gegenüber der man sich mit Nein abgrenzen muss. Diese Begriffe sowie die dazugehörigen Pronomen vermeiden eine Unterscheidung zwischen weiblichem und männlichem Gegenüber. Außerdem werden »Ja« und »Nein« durchgängig groß geschrieben, um ihre Bedeutung und ihre Beziehung zueinander hervorzuheben.

Und noch eine Anmerkung zum Thema Kultur: Nein muss man überall sagen, doch in unterschiedlichen Kulturen geschieht dies auf verschiedene Weise. Angehörige bestimmter Volksgruppen in Ostasien beispielsweise legen besonderen Wert darauf, das Wort selbst nicht zu benutzen, besonders nicht bei Personen, die ihnen nahe stehen. Natürlich sagen die Menschen in diesen Gesellschaften durchaus Nein, aber auf indirekte Art. Als ausgebildeter Anthropologe respektiere ich kulturelle Unterschiede selbstverständlich ganz besonders. Gleichzeitig glaube ich, dass die Grundprinzipien eines positiven Neins kulturübergreifend anwendbar sind. Man muss nur verstehen, dass die speziellen Techniken, um diese Prinzipien durchzusetzen, von Kultur zu Kultur unterschiedlich sein können.

Gestatten Sie mir zum Abschluss noch eine Bemerkung über meine eigene Reise des Lernens. Wie die meisten Menschen empfinde auch ich es als Herausforderung, in bestimmten Situationen Nein zu sagen. Sowohl in meinem Privat- als auch in meinem Berufsleben ist es mir schon oft passiert, dass ich vorschnell Ja gesagt und es anschließend leidenschaftlich bereut habe. Manchmal ließ ich mich sogar dazu hinreißen, mit Angriff oder Ausweichen zu reagieren, statt mein Gegenüber in eine gesunde Auseinandersetzung zu verwickeln. Nein sagen und trotzdem erfolgreich verhandeln spiegelt nicht nur meine eigenen Erfahrungen wider, sondern auch das, was ich durch die 30-jährige Zusammenarbeit mit Führungskräften und Managern auf dem gesamten Globus gelernt habe. Ich hoffe inständig, dass Sie, der Leser und die Leserin, durch die Lektüre dieses Buches ebenso viel über die Kunst des Neinsagens lernen werden, wie ich es durch das Schreiben tat.