Säule 3: Lernen, zusammen zu leben

 
Inklusive Schule: Heterogenität als Schatzkiste der Talente
 

Das deutsche Schulsystem ist eines der selektivsten der Welt. Deutschland ist Spitzenreiter in der sozialen Exklusion von Kindern mit Behinderung, aus sozial schwachen und aus Einwandererfamilien. Während in anderen Ländern das Bildungssystem soziale Benachteiligung ausgleicht, wird diese in Deutschland durch die Schule häufig noch verstärkt. Wer nicht in das Einheitsschema passt, wird nach unten durchgereicht. Wenn aber schon Drittklässler schlecht schlafen, psychosomatische Beschwerden haben, unter Angst lernen, wenn der Kampf um Noten zur Zulassung oder Nichtzulassung zum Gymnasium das Lernen und die Herzen bestimmt, wenn zehnjährige Kinder ihren Selbstwert über die ihnen zugewiesene Schulform definieren, dann ist das Beschädigung von Kinderseelen.

Wir sind nicht dazu da, Menschen an vorgegebene Systeme anzupassen. Unser Beruf, unsere Berufung ist es, für – und vor allem mit – den Menschen Systeme so als ihre eigenen zu gestalten, dass sie sich in ihnen wohlfühlen und dass sie dadurch Lebens-Sinn erfahren.

Otto Herz, Reformpädagoge, 2010

 

Das bestehende System schneidet unten ab und deckelt oben.

 

Selbst in unseren Gymnasien tun wir so, als wären alle Kinder gleich. Dabei ist jede Gymnasialklasse höchst heterogen. Trotzdem machen alle Kinder das Gleiche, und Stofffülle, Leistungsdruck und die Selektion erzeugen den Ungeist der Konkurrenz von Siegern und Verlierern. Das fördert das alte Ego-System. Wir brauchen aber Kreatitivät, die Fähigkeit zu Kooperation, wir brauchen Heranwachsende mit positiven Erfahrungen mit Unterschiedlichkeit, mit Handlungskompetenz in heterogenen Gruppen und mit Gestaltungsmut! Uns scheint gar nicht klar zu sein, was wir mit diesem elitären Kastendenken, das Kinder als »Hauptschüler« und »Gymnasiast« etikettiert, anrichten, welche Wirkung es für den Gemeinsinn in unserer Gesellschaft hat und für die Entwicklung ablehnender Haltungen unter den verschiedenen sozialen Gruppen.

Im Schuljahr 2008 / 2009 wurde im Bereich der Kindertageseinrichtungen ein Inklusionsanteil von über 60 Prozent erreicht, in Grundschulen waren es rund 34 Prozent, und in der Sekundarstufe I wurden gerade mal 15 Prozent der Kinder mit Förderbedarf gemeinsam mit anderen Kindern unterrichtet. Betroffen vom Ausschluss sind über eine halbe Million Kinder. Drei Viertel aller Förderschulabgänger erreichen keinen Hauptschulabschluss.[18]

 

Inklusion steht für Menschenwürde. Sie leitet sich ab aus der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, aus der UN-Konvention über die Rechte der Kinder, aus der UN-Konvention über die Rechte Behinderter. Menschenrechte sind Grundrechte.

Wie wollen wir das Zusammenleben in der einen Welt lernen, wenn wir unseren Kindern nicht die Erfahrung ermöglichen, dass in der Vielfalt ungeheure Potenziale stecken?

 

Inklusion ist – insbesondere in Deutschland – die Herausforderung der Zukunft. Sie anzunehmen und gelingen zu lassen bedeutet, Heterogenität als Normalität zu akzeptieren und Vielfalt als Chance zu betrachten. Mit Blick auf die bestehenden und sich abzeichnenden großen ökologischen und gesellschaftlichen Probleme in unserer Welt bedeutet dies auch: die Fähigkeit, die Stärken eines jeden Einzelnen zu sehen, um so in heterogenen Gruppen konstruktiv arbeiten und innovative Lösungen gemeinsam finden zu können.

Entscheidend für den Stellenwert der Inklusion im Bildungssystem war die UNESCO-Weltkonferenz 1994 im spanischen Salamanca mit Regierungsvertretern aus fast 200 Staaten. Hier wurde Inklusion zum wichtigsten Ziel der internationalen Bildungspolitik erklärt und das Programm der »Einen Schule für Alle« beschlossen.

Das Leitprinzip der Erklärung besagt, dass Schulen alle Kinder, unabhängig von ihren physischen, intellektuellen, sozialen, emotionalen, sprachlichen oder anderen Fähigkeiten aufnehmen sollen. Das soll behinderte und begabte Kinder einschließen, Kinder von entlegenen oder nomadischen Völkern, von sprachlichen, kulturellen oder ethnischen Minoritäten sowie Kinder von anders benachteiligten Randgruppen oder -gebieten.

Inklusion beginnt in der Haltung, in den Herzen der Menschen, im Geist, der in Schulen weht. Inklusion bedeutet: Alle lernen mit allen gemeinsam! Alle gehören von Anfang an und immer zusammen. In all der großartigen Vielfalt, die es gibt!

Margret Rasfeld, Schulleiterin

 

Jedes Kind hat Talente und Begabungen, die es von Natur aus mitbringt. »Diese werden an der esbz erkannt und gefördert. Nichts wird übersehen. Jeder ist ein wichtiger Teil der Schule«, sagt die Erzieherin Gülcan Peköz über unsere Arbeit. Bildung – orientiert am Maß des Menschlichen – versteht ihren Auftrag als Beitrag zur Verständigung innerhalb unserer Gesellschaft und als Beitrag zum Frieden weltweit. Unter dieser Voraussetzung bedeutet Inklusion auch und besonders Wertschätzung aller. Wertschätzung ist der Schlüssel für den Umgang mit anderen, denn nichts baut Menschen mehr auf. Gemeinsames Lernen bis zur 10. Klasse und Binnendifferenzierung gemäß den individuellen und besonderen Bedürfnissen jedes Einzelnen muss endlich an die Stelle von Selektion und Stigmatisierung Einzelner treten. Darin unterscheidet sich der Inklusionsansatz fundamental von den bisher verfolgten Integrationsbestrebungen, bei denen es stets darum ging, Kinder mit Handicap in einen definierten Anforderungsrahmen einzupassen.

Integriert werden kann nur, was vorher ausgesondert wurde. Insofern ist Integration notwendigerweise die Exklusion vorgeschaltet. Dagegen geht die Inklusion von der Würde jedes Menschen und der Subjektstellung des Kindes aus, Besonderheiten und unterschiedliche individuelle Bedürfnisse eingeschlossen. Es verstößt gegen ein im Schöpfungsglauben begründetes Bildungsverständnis, wenn ein Bildungssystem systematisch Verlierer hervorbringt und wenn beispielsweise die soziale Herkunft über den Bildungserfolg entscheidet.[19]

Studien zeigen[20], dass sich die Raten der Abbrecher und Wiederholer durch Inklusion deutlich reduzieren und der Leistungsdurchschnitt steigt. »An der esbz hat jeder die Chance, Abitur zu machen«, ist Martha überzeugt. Die engagierte Fünfzehnjährige weiß noch gut, wie viel psychischen Druck die Selektion am Ende der Grundschule für sie bedeutete. Schon in der 4. Klasse habe sie angefangen, darüber nachzudenken, ob sie wohl ihr Abitur schaffen werde. Als es dann so weit war, wechselte sie auf die esbz: »Ich gehe auf diese Schule, weil ich finde, dass jeder einen speziellen Lernweg hat.«

Am 26. März 2009 trat die UN-Behindertenrechtskonvention in Deutschland in Kraft. Danach haben alle Kinder mit Behinderungen das Recht, nicht vom allgemeinen Bildungssystem ausgeschlossen zu werden und eine allgemeine Schule zu besuchen. Die Vertragsstaaten haben sich dazu – wie es im Originaltext Art. 24 heißt – verpflichtet, ein »inclusive education system« zu schaffen[21]; die deutsche Übersetzung »integratives Bildungssystem« ist laut Artikel 50 der Konvention nicht verbindlich; sie verschleiert, dass Inklusion mehr ist als Integration.

 

An der esbz wollen wir jedes Kind als Kind Gottes in seiner Einzigartigkeit wahrnehmen und achten, es fördern und fordern, Schatzsucher sein. Wir setzen bei den Stärken der Kinder an und schaffen Gelegenheiten, dass sie ihre jeweiligen Potenziale sinnvoll einbringen können. Im Lernbüro kann jedes Kind seinen Möglichkeiten und seinem individuellen Lerntempo gemäß arbeiten. Durch die Jahrgangsmischung in den Stufen 7 bis 9 haben wir eine natürliche Inklusion der Jahrgänge. Und durch die vielen, ganz unterschiedlichen Projekte bekommt jedes Kind unzählige Gelegenheiten, seine Stärken einzusetzen oder vielleicht auch erst zu entdecken. Es weiß ja noch gar nicht jeder, dass beziehungsweise wo er exzellent ist.

Unsere Gemeinschaftsschule soll ein Haus des Lernens sein, in dem alle willkommen sind und sich angenommen fühlen: Kinder mit Begabungen aller Art, Kinder mit Handicap und Kinder aus vielen unterschiedlichsten Kulturkreisen. In dieser großen Heterogenität und in den jahrgangsgemischten Lerngruppen kann sich Gemeinschaftsgefühl sowie ein Klima von Akzeptanz und Wertschätzung für Verschiedenheit entwickeln. Wir verstehen Vielfalt auch als Potenzial für ein humanes, demokratisches Zusammenleben.

Jeder Mensch ist einzigartig. Jeder zählt. Jeder kann etwas. Jeder ist exzellent – er muss seine individuellen Stärken nur entdecken dürfen.

 

Eine Frage, die uns Lehrern sehr häufig gestellt wird, lautet: Woher nehmt ihr die Zeit, jeden Schüler individuell zu betrachten? Denn Inklusion hängt, leider, an vielen Schulen von der Bereitschaft des jeweiligen Landes ab, die finanziellen und personellen Ressourcen bereitzustellen. Unbenommen der Notwendigkeit angemessener Ausstattung ist und bleibt die Basis für alles der Mut zu beginnen sowie ein Arbeitsklima, das geprägt ist von guten Beziehungen und von Vertrauen. Wichtig ist auch, frühzeitig Strukturen zu schaffen, die Zeit und Freiräume geben.

Ich liebe hier nicht jeden, ich bin hier auch nicht mit jedem befreundet. Aber nach einer Zeit kennen wir von jedem die Schwächen und Stärken. Jeder kann mal helfen, und jeder kriegt mal Hilfe. Das ist ganz toll.

Martha, 9. Klasse

 

Wir gehen nicht davon aus, dass die Lehrer alles, was ihre Schüler betrifft, im Blick haben müssen, sondern dass die Kinder von sich aus aufmerksam machen auf das, was sie brauchen. Damit diese Verständigung auch klappt, wird sie in den regelmäßigen Tutorengesprächen geübt. Ein Junge beispielsweise tut sich sehr schwer damit, Texte selbständig zu erlesen. Er weiß aber, wenn er nicht mehr kann, darf und soll er zu Frau Rodewald gehen und ihr Bescheid geben. »Dann kürzen wir den Text – oder ein Mitschüler liest ihm vor, damit stärken wir gleichzeitig die soziale Ebene«, sagt unsere Sonderschulpädagogin.

Diese Selbstermächtigung der Kinder ist Ausdruck des Paradigmenwechsels der Erwachsenen vom »allwissenden Belehrer« hin zum Coach und Lernbegleiter, auch die Struktur des Lernbüros, in dem die Schüler ihren eigenen Stärken entsprechend und in ihrem eigenen Tempo lernen können, gehört hierzu. Die Regel, sich bei Fragen zunächst Hilfe bei Mitschülern zu suchen, soll die Selbständigkeit der Kinder fördern, trägt aber auch zur Entlastung der Lehrer bei. »Am Anfang«, sagt Aileen Rodewald, »war die Gefahr groß, alles selbst beantworten zu wollen und speziell die schwächeren Schüler dadurch abhängig zu machen.« Sie hat es sich daher antrainiert, Fragen auf der Metaebene zu stellen: Welchen Mitschüler kannst du fragen? Wo kannst du noch nachsehen? Wie gut oder wie schlecht die selbständige Arbeit, die für alle Kinder gilt, dann funktioniert, zeigt sich bei den Tutorengesprächen. Gute Beziehungen sind elementare Grundlage für das Lernen. Die in den regelmäßigen Tutorengesprächen angelegte starke Beziehungsebene erleichtert es den Schülern, angstfrei »echte« Aussagen zu machen, so dass sie auf diese Art tatsächliche individuelle Unterstützung – auch beziehungsweise gerade auf der Leistungsebene – von ihren Tutoren erhalten können. »Meint der Lehrer das ernst? Ich soll sagen, wo meine Schwierigkeiten liegen? Damit mache ich mich ja blank …«, beobachtet Aileen Rodewald. Doch das nötige Vertrauen wird im Laufe der Gespräche aufgebaut.

Erstmals merkte ich in dieser Schule eine Wärme und Menschlichkeit, die mir und meinem Sohn vom ersten Tag entgegengebracht wurde. Er geht seitdem erstmals in seinem Leben gern zur Schule. Mein Kind ist ein Autist und beginnt sich hier zu öffnen, wie die Therapeutin es beschreibt. So etwas geht nur in einer optimalen Umwelt. Viele Autisten schaffen das nie.

Birgit Sonntag, Schülermutter

 

Unser Lernbüro Plus ist entsprechend dem Rahmenlehrplan, der sich bei Kindern mit Förderschwerpunkten vom üblichen unterscheidet, mit anderen Materialien ausgestattet, bietet mehr Platz, und es sind mehr Tutoren dort präsent, die jederzeit intervenieren können. Gerade unsere Sonderpädagogin hatte anfangs große Bedenken, ein spezielles Lernbüro für Kinder mit Förderbedarf einzurichten: »Ich dachte, es entspricht nicht den Leitlinien der Inklusion, wenn wir diese Kinder wieder separieren und anders mit ihnen umgehen.« Inzwischen hat sich das Lernbüro Plus, das zunächst zur Erprobung eingeführt wurde, sehr bewährt. Nicht zuletzt auch deshalb, weil es allen Kindern offensteht und auch von vielen genutzt wird.

Ich hatte schon immer dieses Vertrauen in meinen Sohn, dass er genau so, wie er ist, richtig ist. Und das erlebt er jetzt auch an dieser Schule. Da wird nicht geschaut, was jemand nicht kann, sondern man achtet auf seine Stärken. Man bringt den Kindern Vertrauen entgegen, dieses unglaubliche Vorschussvertrauen.

Anja Niesler, Mutter eines hochbegabten Schülers

 

Mit dem Lernpfad-System im Lernbüro haben wir uns, zusätzlich zu den generellen Möglichkeiten im Lernbüro, ein weiteres Mittel zur Differenzierung verschafft: Es gibt drei Lernpfade: der Zwei-Sterne-Pfad ist der Normbereich, der Ein-Stern-Pfad bedeutet fördern, der Drei-Sterne-Pfad steht für fordern. Welcher Pfad gewählt wird, kann von Baustein zu Baustein neu entschieden werden. Außerdem haben wir sogenannte freie Bausteine eingeführt, die es den Lehrern ermöglichen, noch differenzierter Zertifikate zu vergeben. »Im Lernbüro Plus gibt es beispielsweise die Möglichkeit, mit Rechenbrettern zu arbeiten und darin ein Mathe-Zertifikat zu machen. Oder im letzten Jahr hatte ich zwei Tutandinnen, die ein eigenes Buch geschrieben haben und dafür einen Baustein anerkannt bekommen haben«, sagt Aileen Rodewald. »Das ist für mich inklusiv und das ist Stärken stärken.«

Als Tristan zum zweiten Halbjahr der 7. Klasse auf die neugegründete esbz wechselte, war er, »was seine Leistungen und das Verhalten in der Schule betraf, auf dem absteigenden Ast«, wie sein Vater sagte. Er war gerade von einer Gesamtschule geflogen, die dortige Schulleiterin empfahl ihm »eine gute Hauptschule«. Für seinen Vater war es »wie eine Offenbarung«, als Tristan an der esbz eine zweite Chance bekam. »Vieles war provisorisch, hatte aber auch was von Aufbruchstimmung, Tatendrang, Pioniergeist. Was aber das Beste war, es gab nur motivierte Lehrer.«

Mein Sohn ging in eine normale Grundschule und war unglücklich – dort musste das Kind zur Schule passen, sonst gab es Schwierigkeiten. An der esbz wird geguckt: Wie lernt das Kind? Wie macht es das? Und man versucht, dem Kind gerecht zu werden.

Corinna Bergmann, Schülermutter

 

Tristan war bald beliebt bei Mitschülern wie auch Lehrern und wurde zwei Jahre später sogar als »Aufsteiger des Halbjahres« ausgezeichnet – obwohl längst nicht alle Leistungen zufriedenstellend waren. Aber die Verbesserung war deutlich und wurde, entsprechend der Schulphilosophie, gewürdigt. »Das tut enorm was fürs Selbstwertgefühl. Wie schnell fühlt man sich als Versager, wenn einem Dinge nicht gelingen, die andere scheinbar mühelos hinbekommen«, sagt der Vater. Besonders seine Herausforderung, allein in einem schottischen Dorf auf einer Schaffarm, hat ihm einen ungeheuren Schub ermöglicht.

Trotzdem brauchte Tristan noch sehr viel Vertrauen seitens der Schule, bis er seinen Weg wirklich gefunden hatte. Es gab eine größere Verfehlung, die seine Schullaufbahn an der esbz beinahe beendet hätte. »Und bei aller Liebe und allem Verständnis für meinen Sohn, ich hätte die Schule verstanden. Dass es nicht zum Schulverweis gekommen ist, zeigt, wie an dieser Schule gearbeitet wird«, meinte sein Vater dazu. Lehrer, Eltern und Mitschüler haben intensiv beraten, viel Zeit investiert und nicht einfach die naheliegendste Lösung umgesetzt. Aus heutiger Sicht war der Mut aller Beteiligten, sich um Tristan zu bemühen, ohne jedoch sein Fehlverhalten gutzuheißen, richtig: Er schaffte einen guten erweiterten Hauptschulabschluss und fand, auch dank seiner Erfahrung in der Holzwerkstatt der esbz, sofort eine Lehrstelle zum Tischler.

Anja Niesler ist sehr glücklich darüber, wie ihr hochbegabter Sohn sich entwickelt hat, seit er an der esbz ist. In der Grundschule war er so stark unterfordert, dass es sich in körperlichen und psychischen Leiden äußerte, die von Jahr zu Jahr schlimmer wurden. Entgegen der Empfehlung der Grundschule übersprang Leon eine Klasse und kam an die esbz. »Und alles war gut. Seitdem ist überhaupt alles gut«, sagt seine Mutter. Auch die 7. Klasse war für ihren Sohn nicht schwierig, er hätte im Grunde schon wieder springen können, aber das brauchte er aufgrund des Lernbüro-Systems nicht.

Das Engagement der Schule bietet ein wunderbares Fundament für Schüler mit Besonderheiten. Ich war erstaunt, wie viel natürliche Offenheit, Lust auf Herausforderung und Freundlichkeit die Lehrer gegenüber Konstantin zeigten. Ich habe das Gefühl, hier ist er wirklich willkommen.

Familientherapeutin, die ein Kind mit Asperger-Syndrom an der esbz begleitet

 

Auch in anderen Fächern hat Leon die Möglichkeit, in die Tiefe zu arbeiten. Zum Beispiel sollten die Kinder ihr Projekt Verantwortung anhand eines Fragenkatalogs dokumentieren. Leon suchte sich eine individuelle anspruchsvolle Möglichkeit und gestaltete aus einem alten Buch und Fotos und mit viel Farbe ein ungewöhnliches eigenes Werk. »Leon wird an dieser Schule für seine Leistung anerkannt«, sagt seine Mutter. »Anderswo heißt es dann nur: ›Typisch der, der ist ja überall gut.‹ Als ob es ein Makel wäre, dass du intelligent bist oder dir besondere Mühe gibst.«

Looking at education through an inclusive lens implies a shift from seeing the child as a problem to seeing the education system as a problem.

UNESCO[22]

 

Wie Menschen sich in der Schule wahrgenommen, angenommen, wertgeschätzt fühlen, welches Entwicklungspotenzial sich dadurch entfalten darf, hat vor allem mit dem Geist der Schule zu tun. Ist er geprägt von Vertrauen, Zutrauen, mit dem Herzen Sehen und Menschlichkeit, so kann ein Gefühl der Zugehörigkeit und der eigenen Würde entstehen. »Sense of belonging« und »sense of dignity« heißt es in der UN-Konvention. Was das an Wundern für die Entwicklung eines Kindes bedeuten kann, durften wir an Konstantin erleben.

Nach massiven Anfangsschwierigkeiten, die eine Teilnahme am normalen Unterricht weitgehend unmöglich machten, auf die wir aber sehr achtsam, differenziert und wertschätzend eingegangen sind, konnte Konstantin, ein Kind mit Asperger-Syndrom, doch nach und nach Vertrauen entwickeln. Vertrauen ist häufig der Durchbruch für Kinder, die sich »wie durch einen Stempel« als »nicht normal« empfinden. Konstantin hat seine Angst, zu scheitern und abgeschoben zu werden, überwinden können, hat sogar seine Matheblockade verloren, er hat gelernt, differenziert zu reden, und er hat wieder mit dem Zeichnen angefangen, was er seit der Grundschule nicht mehr tat. Was aber noch viel wichtiger ist: Er hat Zukunftspläne und Träume. Seine Mutter sagt, sie sei dankbar, dass sie und ihr Sohn »in Entscheidungen einbezogen wurden und mitgestalten konnten«. Die auf Konstantin zugeschnittenen Lösungen ließen bei ihm Vertrauen aufkommen, ein Gefühl, sich auf Lehrer verlassen zu können. Ihm werde, meint seine Mutter, das Gefühl gegeben: »Wir akzeptieren dich, wie du bist.«

Ich habe gelernt – wie viele andere Schüler dieser Schule –, kleine Aussetzer und Auffälligkeiten zu tolerieren. Denn hat nicht jeder seine Fehler? Und ist es nicht besser, diese zeigen zu können, anstatt sie zu verstecken?

Ronja, 11. Klasse

 

Aileen Rodewald ist zu Recht stolz auf die kooperative Förderplanung, die auf ihre Initiative hin an der esbz eingeführt und in der auch die Kollegen fortgebildet wurden. In der Integration gehen Sonderpädagogen in die Klasse, beobachten das Kind eine Zeitlang und schreiben dann häufig einen Förderplan mit Zielen, Interventionsmaßnahmen, die dem Schüler und seinen Eltern mitgeteilt werden. Bei der kooperativen Förderplanung sitzen alle Beteiligten an einem Tisch und entwickeln gemeinsam die Ziele: das Kind und seine Eltern, alle Lehrer des Kindes und bei Bedarf außerschulische Experten wie beispielsweise eine Psychologin oder ein Berufsberater. Koordiniert wird die Runde von einem Sonderpädagogen. Insbesondere die Zusammenarbeit mit den Eltern ist wichtig, sind sie doch mit ihren speziellen Erfahrungen in so mancher Hinsicht viel kompetenter als die Schule. Kinder mit besonderem Förderbedarf haben neben den beiden üblichen Bilanz- und Zielgesprächen pro Schuljahr zusätzlich ein Förderplanungsgespräch. Darin geht es wesentlich um neue Ziele und mögliche Problemlösungen, für die sich alle Gesprächsteilnehmer verantwortlich fühlen.

2008, also bereits im zweiten Aufbaujahr der Schule, gründeten Eltern an der esbz eine Inklusions-AG, die die Lehrer in ihrer Arbeit unterstützt. Die Arbeitsgruppe ist außerdem ein wichtiges Forum für den Austausch der Eltern untereinander.

Folgende Faktoren haben sich als wesentlich für das Gelingen von Inklusion an der esbz herauskristallisiert:

 
  • das Ethos der Schule
  • Zutrauen in alle Jugendlichen
  • Jahrgangsmischung
  • Teamstruktur
  • Tutorensystem
  • eine Lob- und Anerkennungskultur
  • Gelegenheitsstrukturen für zivilgesellschaftliches Engagement und Selbstwirksamkeitserfahrungen
  • die Mutkarte
  • demokratische Strukturen (Lernbüro, Klassenrat, Schulversammlung)
  • Gemeinschaftserfahrungen (Schulversammlung, Klassenstunden, Lied der Woche)
  • Rituale zur gegenseitigen Achtung
  • gemeinsam erarbeitete Regeln und Sanktionen für Regelverletzungen

Inklusive Bildung wird international längst als pädagogischer Grundauftrag verstanden, in Ländern wie Italien, Spanien oder den skandinavischen Staaten ist Inklusion der Normalfall. In Deutschland dagegen finden sich weiterhin fast eine halbe Million Kinder auf Sonderschulen, dabei überproportional viele Kinder mit Migrations- und / oder Armutshintergrund. Unser Bildungssystem reproduziert und produziert damit gesellschaftliche Ungleichheit, statt sie auszugleichen.

Ungleichheit ist Gift für Gesellschaften.

 

Eine Vielzahl der drängendsten sozialen Probleme entwickelter Gesellschaften hängt statistisch gesehen eindeutig davon ab, wie ungleich die Chancenverteilung in einem Land ist.[23] Ab einem gewissen Einkommensniveau ist, wie Studien eindrucksvoll belegen[24], nicht mehr die Höhe des Durchschnittseinkommens, sondern die Verteilung des Einkommens ausschlaggebend dafür, ob es den Menschen, und zwar in allen Schichten, besser oder schlechter geht.

Mit der im März 2009 in Kraft getretenen UN-Behindertenrechtskonvention hat sich Deutschland dazu verpflichtet, ein inklusives Bildungssystem zu schaffen. Die Vielfalt der Gesellschaft wird dann hoffentlich endlich auch in unseren Schulen gelebt und darüber Respekt und der konstruktive Umgang mit Andersartigkeit, eine wichtige Grundlage für die Stärkung der demokratischen Kultur, gelernt.

Verbinden und nutzen wir den gesetzlichen Auftrag zur Inklusion mit der Vision einer neu gedachten Schule!

Tipp:

Peer Learning: Die Mitschüler als erste Lehrer

 

»Hit the road, Jack, and don’t you come back no more, no more, no more, no more«, singen die Jugendlichen, und Paulina gibt Melodie und Rhythmus am Klavier vor. Es ist Donnerstag, Mittagspause, und Schüler aus der 11. Klasse bieten Singen für die Siebt- bis Zehntklässler an in »Dialog & Bewegung«. Das ist ein Projekt, das die esbz in diesem Jahr eingeführt hat, und die Elftklässler haben sich in kleinen Gruppen Angebote dazu überlegt. »Dabei geht es darum, seine Stärken ausleben zu dürfen«, erklärt Shana, »aber auch, mit einer Gruppe umgehen zu lernen.« Die Teilnahme für die Jüngeren ist freiwillig, aber schon in den ersten Wochen zeigte sich, dass sie die Angebote ihrer älteren Mitschüler als Entspannung und Abwechslung in der einstündigen Mittagspause sehr gerne annehmen und beim Kicken in der Turnhalle mitmachen, beim Kreativworkshop in der Bibliothek Armbänder aus Garn knüpfen lernen oder auf der Bühne im Forum einen Popsong einstudieren, um ihn später auf der Schulversammlung für alle zu singen.

Ich habe einen Coachee im Lernbüro, eigentlich in Mathe, aber letzte Woche haben wir Deutsch zusammen gemacht und einen Baustein beendet. Ja, das macht Spaß.

Lotte, 10. Klasse

 

Peer Learning – also das gemeinsame Lernen von (fast) Gleichaltrigen – ist ein wesentlicher Bestandteil des Schulkonzeptes der esbz. Es ist gemeinschaftsbildend, es ist inklusiv, und die Kinder lernen von klein auf, in stets neu zusammengesetzten Teams zu arbeiten. Beide Seiten profitieren von diesem Lernprozess: Die Jüngeren bekommen Unterstützung von den Älteren, die wiederum erwerben soziale und fachliche Kompetenzen. »Ich hätte nie gedacht, dass das so gut funktioniert, wenn ich mit Jüngeren in eine Klasse gehe«, hat Nicolas festgestellt. »Klar bin ich auch mal genervt. Aber wenn man später zum Beispiel jemanden in der Firma hat, der nicht so arbeitet, wie man das gerne hätte, muss man damit ja auch umgehen.«

Grundlage für das Funktionieren von Peer Learning ist die Beobachtung, dass für Kinder und Jugendliche Gleichaltrige eine größere Glaubwürdigkeit besitzen und dass diesen gleichaltrigen »Lehrern« aufgrund der höheren Identifikation mehr Aufmerksamkeit geschenkt wird als älteren. Schüler trauen sich bei einem Mitschüler auch eher, noch einmal nachzufragen, als bei einem Lehrer. Entscheidend für den Erfolg ist eine Qualifikation der Peers.

Ich lerne selbst auch etwas dabei, wenn ich anderen im Lernbüro helfe. Mir fällt es nicht so leicht, anderen etwas zu erklären, aber ich denke, es ist wichtig, das zu können.

Jonathan, 10. Klasse

 

Herzstück des Peer Learning ist das Lernbüro, in dem die Schüler jahrgangsübergreifend von Stufe 7 bis 9 miteinander lernen. Seit diesem Schuljahr sind auch die Zehntklässler mit im Lernbüro, jeder Schüler für jeweils eine Stunde pro Woche, wir nennen es das »Projekt Verantwortung« der Zehnten. »Da sind zum einen die Coachs, die einen bestimmten Schüler begleiten, auch in mehreren Lernbüros«, sagt Julius. »Dann gibt es die Lernbüro-Lehrer-Assistenten. Die sind in einem Fach richtig gut und im Lernbüro für alle da, die kann jeder ansprechen. Und ein paar von uns sind Koordinatoren, die organisieren das Ganze, und falls es Probleme mit den Coachs und Coachees gibt, dann regeln die das.«

Jonathan beispielsweise ist sehr gut in Mathe und hat sich daher als Assistent für das Mathe-Lernbüro gemeldet. »Wenn ein Schüler einen Test zurückbekommt, gehen wir den zusammen durch, weil der Lehrer dafür nicht so viel Zeit hat«, erklärte er einmal in einer Lehrerfortbildung – und sorgte damit für Gemurmel. Der Gedanke, dass ein Schüler eine ihrer ureigensten Aufgaben übernimmt und sie damit ein Stück Kontrolle abgeben müssen, scheint vielen Lehrern nicht zu behagen. Vielleicht ermutigt es sie zu hören, dass die Kollegen an der esbz sehr gute Erfahrungen damit machen. Dass die Schüler in den Lernbüros individuell, also entsprechend ihrem eigenen Lerntempo und ihren Stärken, Bausteine bearbeiten, bietet den Coachs Strukturen, in die sie sich leicht integrieren können.

»Einer meiner Siebtklässler ist in allen Hauptfächern eher schwach«, berichtet Iris Rösner, seine Mathematik- und Klassenlehrerin. »Er hat jetzt einen Zehntklässler als persönlichen Coach bekommen. Die beiden werden das gesamte Schuljahr über zusammenarbeiten.« Eine andere Schülerin sei in Mathe eigentlich gut, aber wenn sie eine Hürde sehe, blockiere sie leicht. »Von ihrem Coach lässt sie sich da viel leichter rüberhelfen als von mir«, beobachtet Iris Rösner.

»Ich finde das Projekt gut, denn es gibt ja immer nur einen Lehrer pro Lernbüro«, sagt die Achtklässlerin Khrystyna, und ihre Freundin Sarah, die bereits in die Neunte geht, ergänzt: »Wenn mehrere Schüler ein Problem haben, geht das jetzt viel schneller voran, weil es noch jemanden gibt, den man fragen kann.« Und es gibt noch die Variante des Selbst-Coaching. »Ich habe in Mathe manches wieder vergessen, jetzt schau ich mir alles noch mal an«, erklärt Hannah, und es ist kein Frust oder Selbstmitleid zu hören, sondern eine selbstbewusste Schülerin, die das Projekt als Chance begreift, ihre fachliche Leistung zu verbessern. Die Schüler arbeiten bei uns nicht mehr nach dem Prinzip »Du sollst«, sondern nach dem erfolgversprechenderen Prinzip »Ich kann«.

Peer Learning findet auch in den Werkstätten statt, die von Schülern angeboten werden dürfen: Ein sechzehnjähriger Karate-Experte hat beispielsweise eine Karate-Werkstatt angeboten, zwei Mädchen einen Tanzworkshop und ein anderes Mädchen Hula-Hoop. Auch im Projekt Verantwortung bieten sich den Jugendlichen Gelegenheiten für Peer Learning, etwa wenn sie in Grundschulen nachmittags Arbeitsgemeinschaften anbieten.

Felix, der Erfinder von Plant for the Planet, war auch bei der Klimaakademie. Der hat einfach vor uns allen geredet, ganz frei. Nachher hat er einen Vortrag gehalten, das war auf dem Vision Summit vor 1000 Leuten. Die Erfahrung hat meinen Bruder und mich so bewegt, dass wir unbedingt etwas tun wollten.

Lara-Luna, 8. Klasse

 

Besonders gut lässt sich die Peer Education im Projekt Plant for the Planet und der Kinderklimabotschafter-Ausbildung beobachten. Lara-Luna war noch in der Grundschule, als sie ihren Eltern erzählte, sie wolle unbedingt etwas für die Umwelt tun. Gemeinsam recherchierten sie daraufhin im Internet und stießen auf das Versprechen der esbz, 100 000 Bäume zu pflanzen, und die Klimaakademie, bei der Schüler der esbz Kinder zu Klimabotschaftern ausbilden.

Das Besondere an den Klimaakademien ist, dass Schüler Schüler ausbilden. Der einzige Erwachsene, der an dem Tag beteiligt ist, ist ein Förster. Zum Schluss, wenn die Kinder ihre Ergebnisse präsentieren, ihren ersten Vortrag halten und dann von uns eine tolle Urkunde bekommen, die sie als Klimabotschafter ausweist, strahlen sie.

Mia, Stella, Karoline und Szesima, 9. und 10. Klasse

 

Lara-Luna nahm zusammen mit ihrem Bruder an der nächsten Akademie teil, die am Rande des Vision Summit mit rund 70 Kindern aus ganz Deutschland stattfand. »Wir haben gelernt, worum es beim Klimaschutz geht,wie Klimagerechtigkeit funktioniert und wie wir uns dafür einsetzen können«, erzählte sie anschließend. »Und wir haben gelernt, Vorträge zu halten und Plakate zu machen, und haben CDs mit Material mitbekommen.«

Lara-Luna und ihr Bruder waren von der Erfahrung so beeindruckt, dass sie anschließend der Leiterin ihrer Grundschule von Plant for the Planet erzählten. Sie erhielten die Erlaubnis, in fast allen Klassen einen Vortrag darüber zu halten. Anschließend organisierte Lara-Luna eine Klimaakademie an ihrer Schule, zu der sie Schüler der esbz als Ausbilder einlud – 40 Kinder nahmen daran teil. »Da hab ich gemerkt, dass wir richtig etwas bewegt haben, das war toll.« Seit Lara-Luna an der esbz ist, hält sie oft Vorträge an anderen Schulen, wie erst neulich an einer Grundschule in Potsdam. »Danach wollten alle Schüler dort, dass wir bei ihnen an der Schule eine Klimaakademie machen«, erzählt sie.

Peer Education ist auch die Basis für unser Sprachbotschafter-Programm. Wir arbeiten daran, das noch junge Peer-Education-Programm so zu skalieren, dass es mit möglichst geringem Aufwand von möglichst vielen Schulen aufgegriffen werden kann. Unsere Vision: Es soll bundesweit 10 000 Lernbotschafter geben bis 2016!

Klassenrat und Soziales Lernen: Schule gemeinsam verantworten

 

Heranwachsende bei der Entwicklung zu mündigen Bürgern mit Gestaltungsmut und Gestaltungskompetenz in globaler Verantwortung zu fördern ist als pädagogischer Kernauftrag in den Schulgesetzen der Länder verankert. Doch an Demokratie kann nur glauben, wer erlebt, dass sie hält, was sie verspricht. Positiv erfahrene Demokratie und demokratisches Handeln fördern Selbstwirksamkeit und wachsame Achtsamkeit gegenüber Gefährdungen dieses hohen Gutes. Die in den Schulgesetzen verankerten Bildungs- und Erziehungsziele – Eigeninitiative, Mitverantwortung, Mündigkeit, soziale Handlungskompetenz, Demokratiefähigkeit – erfordern als förderndes Umfeld das gelebte Recht auf Gestaltungsräume, Beteiligung, Fehlerfreundlichkeit, Anerkennung des individuellen Engagements und Lernfortschritts und auf die Erfahrung, dass das eigene Denken und Handeln Veränderung initiieren und bewirken kann.

Schule ist die Polis im Kleinen, wo Heranwachsende Demokratie lernen.

Margret Rasfeld, Schulleiterin

 

An der esbz ist die Entwicklung einer demokratischen Schulkultur der Weg und das Ziel zugleich. Als Schule im Aufbau, die sich zudem kontinuierlich weiterentwickelt, haben wir partizipative Grundstrukturen, die es allen an Schule beteiligten Gruppen ermöglichen, sich aktiv und gleichberechtigt in diesen Prozess einzubringen. Zur demokratischen Kultur gehören die selbstbestimmten Lernformate und unsere wöchentliche Schulversammlung, das zivilgesellschaftliche Engagement im Projekt Verantwortung und die Herausforderungen, der Klassenrat und das Fach Soziales Lernen.

»Soziales Lernen« deckt an der esbz eine Bandbreite an Themen ab, die alle mit der Frage zu tun haben: Wie können wir gut gemeinsam leben? Jede Woche haben die Klassen der Stufe 7 bis 9 ein Halbjahr lang eine Doppelstunde, um zu diskutieren und eigene Strukturen für ein Miteinander zu entwickeln.

Themen wie Freundschaft, Mobbing, Außenseiter, Zivilcourage werden von den Schülern offen und in einer wertschätzenden, ermutigenden Atmosphäre angesprochen, für bestehende Konflikte werden Lösungen gesucht. Da in jedem Schuljahr etwa ein Drittel der jahrgangsgemischten Klassen 7 bis 9 die Klasse verlässt beziehungsweise neu hinzukommt, kommt Sozialem Lernen eine sehr wichtige gemeinschaftsbildende und inklusive Funktion zu. Der Wechsel an die weiterführende Schule ist für Kinder oft mit Unsicherheit und psychischem Stress verbunden. Gerade für die Siebtklässler ist Soziales Lernen daher ein wichtiges Element, um an ihrer neuen Schule anzukommen und ihre eigene Rolle dort zu finden.

Der Klassenrat fördert soziale und moralische Lernprozesse, insbesondere den Perspektivenwechsel, und stellt damit eine wirksame Prävention gegen das Abgleiten in rechtsextreme und rassistische Vorurteile im Jugendalter dar.

 

Der Klassenrat ist an der esbz als Klassenstunde mit den Klassenlehrern im Stundenplan aller Jahrgangsstufen verankert. Er ist Diskussionsforum sowie Planungs- und Handlungszentrum, das die Klasse als Verantwortungsgemeinschaft stärkt. Im Klassenrat werden Lösungen für Probleme gesucht und Ideen geboren. Der Klassenrat fördert soziale und moralische Lernprozesse, insbesondere den Perspektivenwechsel, und stellt damit auch eine wirksame Prävention gegen das Abgleiten in rechtsextreme und rassistische Vorurteile im Jugendalter dar. Der Klassenrat findet an der esbz im Stuhlkreis statt und wird von ein oder zwei Schülern geleitet, die die Klasse ausgewählt hat. »Wir haben bei uns vereinbart, dass das diejenigen machen, die mündlich nicht so gut sind, und zwar für ein halbes Jahr, damit man auch was dabei lernt«, erzählt Elena. Sie selbst hatte sich im Bilanz- und Zielgespräch vorgenommen, sich mündlich zu verbessern, und sich daraufhin für die Klassenratsleitung gemeldet.

Inzwischen hat die Zehntklässlerin, gemeinsam mit ihrer Freundin Antonia, auch schon häufig Fortbildungen für Lehrer und Schulleiter zum Thema Klassenrat gegeben. »Was mich anfangs echt überrascht hat, ist, dass beim Klassenrat plötzlich alle mitarbeiten«, erzählt Antonia. »Auch die, die sonst eher keinen Bock haben oder sehr still sind.« Das liege daran, ist sie überzeugt, dass es um Sachen gehe, die sie selbst betreffen, und weil jeder mitreden und mitentscheiden kann. Die Klassen bestimmen auch einen Regelwächter, der darauf achtet, dass die Sitzung geordnet abläuft. »Das hat bei uns einer gemacht, der sonst eigentlich selbst immer stört und quatscht«, erzählt Elena. Als weitere wechselnd besetzte Posten gibt es den Protokollführer und den Zeitwächter.

Jede Klasse gestaltet ihre Klassenratssitzungen etwas anders. Als einzig feste Grundregel gilt für alle: Die Lehrer halten sich raus. Wenn die Klasse ein Thema unter sich diskutieren möchte – beispielsweise wen sie als Vertrauenslehrer vorschlagen –, kann sie die Lehrer vorübergehend aus dem Raum schicken. Ob Lehrer bei Abstimmungen mitmachen dürfen, entscheidet ebenfalls jede Klasse für sich und themenbezogen. Durch diesen Rollenwechsel haben die Lehrer die Möglichkeit, die Schüler noch besser kennenzulernen.

»Nebenbei hat es den Effekt, dass die ganzen Gruppendynamiken, die sonst nur in der Pause stattfinden, auf den Tisch kommen und bearbeitet werden können«, berichtet Cornelia Knoefel von ihrer inzwischen einjährigen Erfahrung mit dem Klassenrat. Sie ist Lehrerin an einer privaten Berufsfachschule und hat nach einer Fortbildung durch Schüler der esbz den Klassenrat in ihrer eigenen Klasse eingeführt. Zwar empfindet sie es als schwierig, ein einzelnes Detail aus dem Konzept der esbz in die eigene Schulstruktur zu integrieren, dennoch beobachtet sie durchaus positive Veränderungen: »Das ist eine hervorragende Übung für meine Schüler, dass sie selbst so ein Gruppengespräch strukturieren, es moderieren, lernen, sich gegenseitig zu Wort kommen zu lassen.«

Während des Klassenrates quatschten zwei Jungs und störten. Daraufhin forderte eine Mitschülerin, Regelwächterin, einen der beiden auf, sich auf einen anderen Platz im Stuhlkreis zu setzen. Erstaunlich: Der Junge macht es ohne Widerrede.

Renate Birke, Beobachtung bei einer Hospitation

 

Das Themenbuch, in das alle Schüler die Woche über eintragen können, worüber sie beim nächsten Klassenrat sprechen möchten, hat sich als Hilfsmittel für die Treffen sehr bewährt. Es wird außerdem von jeder Sitzung ein Protokoll angefertigt, die dort festgehaltenen Beschlüsse werden zu Beginn der nächsten Sitzung noch einmal vorgelesen. »Da schauen wir dann, ob beispielsweise ein Streit wirklich geschlichtet wurde oder wie sich etwas entwickelt hat«, erklärt Antonia. »Wir reden also nicht nur!«

Es sind »große« und »kleinere« Angelegenheiten, die im Klassenrat besprochen werden. Eine Zehnte beispielsweise möchte über ein Wochenende gemeinsam wegfahren. Ein Schüler hat Übernachtungsmöglichkeiten recherchiert, die er vor der Klasse präsentiert, damit sie darüber abstimmen kann. Eine andere Klasse möchte ihren Klassenraum verschönern, die Vorschläge in der Diskussion reichen von »Poster aufhängen« bis zu »Boden streichen«. Es gab aber auch den Fall, dass eine elfte Klasse unzufrieden damit war, dass alle Übungsstunden an einem einzigen Tag liegen. Die Schulleitung hat die Anregung aufgenommen und arbeitet an einer Änderung.

Ein Schüler aus der Klasse 8 beschreibt die Partizipationsmöglichkeiten so: »Klassenrat und die Versammlung sind Orte, wo wir mitbestimmen und unsere Meinung sagen können. Alle treffen sich hier. Es werden Projekte vorgestellt und wichtige Themen ans Licht gebracht. Die Moderation übernehmen wir selbst. Versammlung und Klassenrat sind Stunden, wo wir Verantwortung für das, was in der Schule passiert, übernehmen, wo wir über Probleme und Verbesserungen sprechen können und für den Ablauf und die Präsentation selbst verantwortlich sind.«

Tipp:

  • Das SV-Bildungswerk, ein von Schülern gegründeter Verein, unterstützt und vernetzt bundesweit Schulen in der demokratischen Schulentwicklung. Schülervertreter oder Lehrer können ein Seminar für die SV nach ihren Vorstellungen, zum Beispiel auch für Klassenratstrainings, kostenfrei buchen. Junge SV-Berater kommen an Schulen und teamen ein Seminar mit der Schülervertretung. Schülervertreter können durch eine Ausbildung SV-Berater werden und vieles mehr; www.sv-bildungswerk.de
  • Die Deutsche Gesellschaft für Demokratiepädagogik (DeGeDe) e. V. ist eine gemeinnützige Vereinigung, die sich für die Entwicklung demokratischer Handlungskompetenzen und die Förderung demokratischer Organisationskulturen in Kita, Hort, Schule und anderen Bildungseinrichtungen einsetzt und dazu im Dialog als Netzwerk und Forum dem Fachdiskurs Geltung verschafft; www.degede.de
  • Wir sind Klasse! – Bei der Klassenratsinitiative der DeGeDe (zunächst für Berlin und Brandenburg) handelt es sich um einen nachhaltigen Prozess der Verankerung des Klassenrats und dessen Weiterentwicklung in der einzelnen Schule, aber auch im Netzwerk. Die Schulen werden durch Trainingsangebote nach dem Peer-Prinzip unterstützt. Die Startbox der Klassenratsinitiative ist auch käuflich zu erwerben. Mehr dazu unter: www.wir-sind-klasse.de
  • »Hands Across the Campus« ist ein Bildungsprogramm mit dem Ziel, demokratische Arbeits- und Kommunikationsformen und die Anerkennung von Vielfalt in der Schule zu stärken. Neben dem Grundwertecurriculum werden das Youth Leadership Program und Lernen durch Engagement vorgestellt; Download unter www.raa-brandenburg.de/Portals/4/media/UserDocs/HANDS_RZ_PDF_ANSICHT.pdf; für Grundschulen gibt es Entsprechendes: American Jewish Comittee / LISUM (Hrsg.): Hands for Kids – Ein Grundwertecurriculum für Demokratie, Berlin 2010, infos unter: www.handsgermany.org
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Schulversammlung: Demokratie braucht Öffentlichkeit

 

Jeden Freitag kommt die Schulgemeinde der esbz zum Abschluss der Schulwoche für eine Stunde im Forum zusammen. Oft stoßen auch Eltern dazu und natürlich Herr Baumann, unser Hausmeister. Es sind auch Partner der Schule und andere Gäste willkommen. Die Schulversammlung ist ein öffentlicher Ermutigungsort – hier erleben wir die Schule am stärksten als Gemeinschaft, denn die Versammlung ist der Schritt vom »Ich und meine Klasse« zum »Wir und unsere Schule«.

Zu Recht wurdest du von deinen Mitschülern zum sozialen Aufsteiger des Jahres gewählt. … Dein Einsatz für die Interessen deiner Mitschüler und für mehr Fairness unter Schülern und Lehrern zeugt von großem Mut und einem guten Herz. Du hast sogar die ungeliebten Aufgaben anderer übernommen, damit es keinen Streit gibt, und hast gesehen, wo noch eine Hand fehlt. Dann warst du da.

Auszeichnung an der esbz

 

Ganz gleich, wie modern eine Schule ist, wie vertraut die Atmosphäre dort sein mag: Im Klassenraum bleibt immer ein Rest von Hierarchie zwischen Lehrer und Schüler zurück und von dem Bild, das man von alter Schule im Kopf hat. Erst in Formaten, die völlig anders sind, kann das aufgebrochen werden. Bei der Schulversammlung, die völlig eigenständig von den Schülern vorbereitet wird, befinden wir uns plötzlich im öffentlichen Raum, in dem die Lehrer in ihrer sonstigen Rolle praktisch nicht vorkommen – es sei denn, sie gehen auf die Bühne.

Durch das Ritual der wöchentlichen Versammlung von rund 400 Menschen gewöhnen sich bereits Siebtklässler an eine Großversammlung: Sie lernen, welche Regeln dort gelten, wie man sich verhält und wie man selbst etwas dazu beitragen kann. Hier wird das öffentliche Sprechen und der Mut zum öffentlichen Diskurs, eine wichtige demokratische Kernkompetenz, früh geübt und gelernt.

Eine Schule, die nicht jede Woche Gutes zu loben weiß, hat eine Woche falsch gelebt!

 

Die Schulversammlung beginnt nach einer musikalischen Einführung mit dem Lob. Alle, die jemanden loben möchten, kommen auf die Bühne. Manchmal bildet sich eine regelrechte Schlange. Da loben Kinder ihre Mitschüler, Lehrer ihre Schüler – und umgekehrt! »Das ist ein ganz tolles Erlebnis, eine schöne Bestätigung für einen selbst und seine Arbeit«, findet die Mittelstufenleiterin Jenni Leonhard. »Es zeigt mir immer wieder, dass es die Mühen wert ist, zum Beispiel wenn es bei einem Schüler eine Krise zu Hause gibt und ich mit ihm mitleide und dann höre, dass er mir dankbar dafür ist und es ihm geholfen hat.« Es werden aber auch vermeintlich kleine Dinge anerkannt, etwa »Mathilda hat mir in der letzten Stunde so toll Algebra erklärt« oder »Die Jungs, die diese Woche mit Putzen dran sind, waren besonders gründlich«. Auch unser rühriger Hausmeister, von Schülern oft als »Der Mann, der alles kann« bezeichnet, wird regelmäßig gelobt. »Er ist fast täglich auf unserem Schulgelände aktiv und zeigt trotz anstrengender Arbeit niemals Müdigkeit oder schlechte Laune. Welch ein Glück, dass SIE bei uns sind!«, heißt es dann.

Du hast Besonderes geleistet. Du hast trotz deiner schwierigen gesundheitlichen Situation nicht aufgegeben und bist jeden Tag um 8 Uhr in der Schule gewesen. Mutig hast du in der Klasse über deinen verschobenen Schlafrhythmus und die therapeutischen Maßnahmen berichtet.

Auszeichnung an der esbz

 

»Manche denken, es sei nicht so wichtig, solche lobenden Worte auszusprechen«, sagt Clara auf einer Lehrerfortbildung. »Aber es ist eine ganz schöne Herausforderung, sich vor die ganze Schule zu stellen und das zu sagen. Das weiß auch jeder an der Schule, glaube ich. Und wenn man dann selbst gelobt wird, freut man sich einfach, und es ermutigt einen, Dinge noch mal zu tun.« In Deutschland ist eine Anerkennungskultur nicht besonders ausgeprägt. Aber ein respektvoller und anerkennender Umgang lässt sich etablieren!

Gerade an einer Schule, an der Lernen auf individuellen Wegen stattfindet, liegt es auf der Hand, dass alles, was Einzelne Besonderes können und leisten, gesehen und anerkannt wird und werden muss. Eine Schule, die eine Kultur des Lobes bewusst pflegt, weiß – ohne Standards zu unterlaufen – jede Woche hinreichend viel zu loben. »Die Schulversammlung prägt auch das Schülermiteinander«, ergänzt Jenni Leonhard, »weil das vor allem eine Versammlung ist, bei der Schüler etwas für Schüler tun.«

Du verdienst ein dickes Lob für deine Unterstützung der neuen Siebtklässler in unserer Klasse. Du hast ihnen den Übergang in unsere Schule erleichtert, indem du ihnen alles gezeigt, erklärt und immer wieder Mut gemacht hast.

Auszeichnung an der esbz

 

Die Schulversammlung wird von den Klassen im Wechsel organisiert. Das heißt, schon Siebtklässler lernen, eine solche Veranstaltung zu organisieren und zu moderieren. Feste Elemente außer dem anfänglichen Lob sind: »Speak your Mind«. Hier darf jeder auf die Bühne kommen, um Kritik zu üben und Verbesserungsvorschläge zu machen – ein wichtiges Training dafür, öffentlich Courage zu zeigen und auch Dinge anzusprechen, die nicht so gut laufen. Alle singen gemeinsam das Lied der Woche, das die Schüler zuvor in ihren Klassenstunden einstudiert haben. Und für alle Geburtstagskinder der Woche, die nach vorne auf die Bühne geholt werden, schmettert das Plenum »Happy Birthday«. Einige Schüler bereiten Fürbitten vor, die sie beispielsweise für die Opfer der Katastrophe in Fukushima sprechen. Und alle gemeinsam beten das Vaterunser – nachdem es zuerst auf der Bühne von einem Kind in einer fremden Sprache vorgetragen wurde (jede Woche in einer anderen Sprache, wir sind bei 19 Sprachen angelangt).

Und schließlich hat jeder die Möglichkeit, etwas beizutragen, was er sich selbst überlegt hat. Da steht dann Antonia, eine Elftklässlerin mit einer unglaublichen Stimme, auf der Bühne und singt mit vier Siebtklässlern »Oh happy day«, dass uns die Tränen in den Augen stehen. Oder zwei Jungs bringen mit ihrem rhythmischen Beatboxing alle zum Jubeln. Neulich hat eine Schülerin für eine Freundin ein Lied zum Geburtstag gesungen, das sie selbst gedichtet hatte. Eigentlich ein sehr selbstbewusstes Mädchen, aber die Aufregung war ihr anzusehen. Danach haben alle dreimal geklatscht – solchen Applaus bekommt bei uns, wer besonders mutig ist. Dafür gibt es meist noch einmal ein großes Lob.

Dadurch, dass die wöchentliche Versammlung ein festes Lernarrangement ist, bietet es auch Raum für mehr: Es können Projektergebnisse vorgestellt, Ergebnisse aus der Herausforderung gezeigt oder auch eine Lesung veranstaltet werden. Da wird der 100 000. Baum gefeiert, den die Kinder im Rahmen ihres Versprechens auf dem eigenen Schulhof pflanzen. Da werden »Menschen mit Botschaften« eingeladen, um von ihren Erfahrungen zu berichten. Und das Format bietet der Schulleitung die Möglichkeit, rasch und unkompliziert Dinge anzusagen oder auch eine außerordentliche Versammlung einzuberufen.

Loben hat sehr viel mit dem Selbstkonzept zu tun: Was kann ich? Was sind meine Stärken? Aber auch die Schwächen auszuloten und zu merken, dass man hier Fehler machen und daraus lernen darf. Wichtig ist für mich, dass das Lob echt ist und der andere merkt, dass es von Herzen kommt.

Mandy Voggenauer, Lehrerin für Naturwissenschaften

 

Zum Halbjahres- und zum Schuljahresende wird die Schulversammlung zur Auszeichnungsversammlung, dann gibt es besonderes Lob in Form von Urkunden. Und beim Verantwortungsfest, dem Abschlussfest vom Projekt Verantwortung, werden besondere Leistungen von Kindern, die Verantwortung gezeigt haben, gefeiert. »Ich bin da sehr mit meinem Herzen dabei, aber für mich ist ein Lob genauso wichtig, wie eine Auszeichnung zu überreichen«, sagt Mandy Voggenauer. »Aber für die Kinder ist es schon wichtiger, eine Urkunde zu bekommen, denn die ist sichtbar, die können sie der Oma zeigen und abheften, daran kann jeder sich Monate später noch mal erfreuen.« Auch alle Lehrer werden bei der Auszeichnungsversammlung von der Schulleitung ausgezeichnet.

Es ist sehr schön zu beobachten, wie die Schüler von Mal zu Mal mutiger werden und sich trauen, bei der Schulversammlung nach vorne auf die Bühne zu gehen. In der Regel sind übrigens die Schüler mutiger als die Lehrer. Ein Lehrer geht zwar auf die Bühne und macht mühelos eine Ansage, aber dort etwas von sich persönlich zu sagen, das ist für viele schon ein großer Schritt. Und wenn das vorkommt, ist höchste Aufmerksamkeit im Raum.

Naturerfahrung und Gemeinschaft: Neue und fast vergessene Wege zur Potenzialentdeckung

 

Natur kann man nicht aus zweiter Hand erfahren. Im Fernsehen ist der Bach nicht nass, der Waldboden duftet nicht, da fehlt die sinnliche Erfahrung. Wer schon einmal Kinder beim Spielen in der freien Natur beobachten konnte, der wird gesehen haben, was für ein Experimentierfeld voller Schätze sie für sie ist. Wenn jedoch diese Primärerfahrung fehlt, fehlen auch die entsprechenden Bahnen im Gehirn – nach dem Prinzip: »Use it or loose it«. Und in genau diese Richtung droht sich unsere Gesellschaft mit zunehmender Mediatisierung zu entwickeln. Es wächst bereits eine Generation heran, in der es Kinder gibt, die aus erster Hand nur noch Technikerfahrungen machen und deren Kontakt mit der Natur – wenn es ihn denn überhaupt noch gibt – sich auf gelegentliche Besuche im Park oder im Streichelzoo beschränkt.

Richard Louv, der US-amerikanische Umweltaktivist und Autor des wachrüttelnden und für manchen vielleicht auch provozierenden Buches Das letzte Kind im Wald?[25], hat dafür den neuen Begriff »Natur-Defizit-Störung« geprägt. In seinem Buch, für das er mit 3000 Kindern und Eltern gesprochen hat, beschreibt er eine Generation, die sich zwar mit Umwelt- und Klimaschutz beschäftigt und sich im Internet über die Abholzung des Regenwaldes informiert, die aber kein ungestörtes, selbstmotiviertes Spielen in der freien Natur, kein von Erwachsenen unreglementiertes Herumstromern in Wald und Wiesen kennt.

Er erklärt, wie die Natur die Kreativität und Neugierde fördert, die Wahrnehmung schärft und wie sie dazu beiträgt, dass ein Kind die in ihm angelegten Potenziale entdecken, spielerisch ausprobieren und entwickeln kann. Und er weist darauf hin, dass die Forschung zunehmend einen Zusammenhang zwischen unserer mentalen, körperlichen und spirituellen Gesundheit und primären positiven Naturerlebnissen herstellt. Schließlich beschreibt er aber auch Maßnahmen, die wir ergreifen können, und nennt Best-Practice-Beispiele. In den USA, wo es zugegebenermaßen weitaus größere Probleme mit Fettleibigkeit schon bei Kindern gibt, hat sein (bereits 2005 erschienener) Bestseller die sogenannte »No Child left inside«-Bewegung befeuert, die sich dafür starkmacht, Kindern eine solche Draußen-Erfahrung und Natur-Alphabetisierung zu ermöglichen.

Spiele nehmen den Kindern die Berührungsängste: Wenn wir Räuber und Gendarm spielen, rennen sie durch den Wald und springen über Sträucher, wo sie sonst auf dem Weg geblieben wären. Oder sie verstecken sich hinter einem Strauch und bleiben auch dann sitzen, wenn etwas über sie drüberkrabbelt, weil sie nicht entdeckt werden wollen. So erweitern wir die Komfortzone.

Annika Mersmann, Wildnispädagogin

 

Mit dem Projekt Herausforderung hat die esbz bereits Räume geschaffen, die Jugendlichen Naturerfahrung ermöglichen können. Vorausgesetzt natürlich, sie haben eine entsprechende Aufgabe gewählt – wie 2010 die elf Jungen, die 380 Kilometer auf dem Benediktusweg in Thüringen wanderten. Oder David und Merlin, die drei Wochen in den Alpen verbrachten: »Die beiden befinden sich gerade in der wahrscheinlich intensivsten Phase ihrer Herausforderung«, mailte Timothy Campling, Vater des einen Jungen. »Sie leben seit einigen Tagen in ihrem selbst gebauten Unterschlupf im Wald und ernähren sich von dem, was sie dort finden und was sie in den Wochen davor gelernt haben. Sie sind wohlauf und begeistert und melden sich täglich.«

Drei andere Jungs halfen in Südfrankreich, wo es einen Flächenbrand gegeben hatte, Hunderte Bäume zu entkohlen, damit diese wieder ausschlagen können. In Berlin können sie nicht ohne ihre Handys leben, aber dort gab es keinen Empfang. Und in der Steinhütte, in der sie drei Wochen abseits der Zivilisation wohnten, gab es weder Strom noch warmes Wasser. Anschließend erzählten sie, es wäre großartig gewesen und es hätte ihnen dort gar nichts gefehlt.

Es geht um einen achtsamen Umgang mit der Natur, der eine Verbindung mit ihr ermöglicht anstelle ihrer Kriminalisierung, die an immer mehr Orten zu beobachten ist: etwa im Naturschutzgebiet, wo man nichts berühren, oder in der Grünanlage, die nicht betreten werden darf.

Annika Mersmann, Wildnispädagogin

 

Um solche Erfahrungen auch im Schulalltag zu ermöglichen, hat die esbz eine Sozialpädagogin mit Zusatzqualifikation Wildnispädagogik eingestellt, die an drei Tagen pro Woche einen Kurs Naturverbindung und Gemeinschaft anbietet. »Am Anfang, als ich Leute kennengelernt habe, die in einem Tipi überwintern wollten, habe ich mich gefragt: Wofür braucht man das überhaupt?«, gibt Annika Mersmann zu. »Man kann sich auch fragen: Wozu soll ich Vögel kennen, was bringt mir das?« Sie selbst ist als Kind zu den Pfadfindern gekommen, leitete als Jugendliche eine eigene Gruppe und lebte als Erwachsene ein Jahr lang in den USA in der Wildnis – mit sechs anderen mutig Entschlossenen und sehr eingeschränkter Ausrüstung. Heute sagt sie: »Was ich erkenne, im Herzen, nicht vom Kopf her, damit fühle ich mich verbunden. Es ist, als habe ich plötzlich ganz viele Anker um mich herum, die mich erden, die mich einen Moment innehalten lassen.« Wildnispädagogik bedeutet für sie, die Verbindung zur Natur, zu sich selbst und zu ihren Mitmenschen zu stärken. An der esbz arbeitet sie daran in verschiedenen Formaten.

Jugendliche der Stufe 7 bis 9 können Naturerfahrung als wöchentlich zweistündige Werkstatt wählen. Das stellt die Pädagogin vor die Herausforderung, Natur in der Stadt erlebbar zu machen – die esbz liegt im Zentrum Berlins –, doch das geht besser, als man vermuten würde. Da wird beispielsweise die Frage gestellt: Was gibt es auf dem Schulhof Essbares? Die Pädagogin zeigt den Kindern Brennnesseln, Lindenblätter, Spitzwegerich, Weißen Gänsefuß, daraufhin machen sie sich selbst auf die Suche. »Ein Junge hat sogar eine Meerrettichwurzel gefunden, da war ich beeindruckt«, sagt Annika Mersmann. Das Gefundene wird anschließend gemeinsam gegessen. An einem anderen Tag soll die Gruppe sich vorstellen, dass ein Klassenkamerad ins Wasser gefallen ist und sie dafür sorgen müssen, dass er sich wieder aufwärmen und die Kleider trocknen kann. Dann wird auf dem Schulhof Holz gesammelt, und die Kinder probieren, mit einem Feuerstein ein Feuer zu entfachen. »Wenn das nicht gleich klappt mit dem Feuerbohrer, geben manche auf«, erzählte Annika Mersmann. »Aber wenn sie sehen, dass es bei einem anderen klappt, probieren sie es oft noch mal.«

Am Mittwoch und Donnerstag hat die Pädagogin jeweils fünf Stunden Zeit und kann mit den Schülern in ein großes Waldstück an der Spree fahren. »Neulich haben wir gelernt, wie man eine Hütte baut, in der man ohne Schlafsack warm bleibt«, erzählt der Siebtklässler Laslo, der auch bei den Pfadfindern ist. »Das braucht man vielleicht nicht unbedingt in der Großstadt, aber ist sicher sehr praktisch, wenn man sich auf einer Wanderung verläuft.« Andere in der Gruppe stoßen in der Natur schnell an die Grenzen. »Sie fallen dann leicht in eine Opferrolle: Es ist kalt, oder irgendetwas klappt nicht, wie es soll«, sagt Annika Mersmann. »Sie suchen Gründe im Außen, anstatt zu sagen: Wir schaffen das jetzt, wir finden das heraus und tun, was dafür nötig ist!« Durch den Kurs – so hofft sie – wird die Eigeninitiative stetig größer. Gemeinsam mit Eltern hat Annika Mersmann einen Arbeitskreis Naturverbindung gegründet, der den Schulhof mitgestalten wird. Eine erste Idee war, Bienen auf dem Schuldach zu halten.

Angeregt durch einen Workshop der Sinn-Stiftung, in dem es um Potenzial-Coaching, systemische Natur- und Erfahrungspädagogik und natürliches Lernen in Gemeinschaft und um Aktiv-Höfe ging, entstand die Vision, für unsere Schule solch einen Aktiv-Hof zu gestalten. »Dort nämlich bietet sich die Gelegenheit, Natur in Gemeinschaft zu erfahren und immer besser zu verstehen und daraus auch wieder sich selbst zu verstehen«, beschreibt es Annette Frauendorf.

Der Geschäftsführer der Sinn-Stiftung, Christian Rauschenfels, arbeitet gemeinsam mit Partnern an der Entwicklung eines Netzwerkes solcher Aktiv-Höfe als Orte für Potenzialentfaltung, die für alle Kinder und Jugendlichen im deutschsprachigen Raum zugänglich sein sollen. Schulen sind eingeladen, mit Unterstützung der Stiftung und weiteren Partnern eigene Lernorte als Schulerweiterung für Natur-, Gemeinschafts-, Körper- und Bewegungserfahrungen sowie Selbstwirksamkeits- und Bedeutsamkeitserfahrungen zu schaffen.

Auf einem Aktiv-Hof verbringt man gemeinsame Tage, nicht Schultage. Die Schüler erleben sich dort ganz anders, und auch wir als Lehrer erleben die Schüler ganz anders, nämlich von allen Seiten, nicht nur von ihrer Schülerseite. Dadurch erspürt man Potenziale sehr viel schneller.

Anna van der Linden, Lehrerin für Deutsch und Geschichte

 

Die Sinn-Stiftung hat mit dem geschichtsträchtigen Jägerhof bei Potsdam an der ehemaligen DDR-Grenze bereits einen Ort gefunden, an dem wir mitarbeiten können. Das NaturKulturGut Jägerhof ist Weltkulturgut im Schlösserensemble mit Sanssouci bei Potsdam. Dort renovieren Jugendliche gemeinsam mit Handwerkern das denkmalgeschützte Gebäude des berühmten Architekten Schinkel, richten eine Nähwerkstatt ein, wollen Tiere halten und können Naturerfahrungen im umgebenden Wald und auf der nahe gelegenen Havel machen. Auf dem Gelände können auch Permakultur und die Prinzipien von Blue Economy praktisch erforscht werden.

Grundgedanke beim Projekt Aktiv-Hof: das Lernen an vorhandenen Bedürfnissen

 

Die Lehrerinnen Annette Frauendorf und Anna van der Linden befassen sich intensiv mit der Aktiv-Hof-Idee, unterstützt werden sie dabei von einer Mitarbeiterin der Sinn-Stiftung und von interessierten Schülern, die sich an der Entwicklung eines Konzeptes beteiligen. In unserem Verständnis ist der Aktiv-Hof ein noch ungestalteter Raum, in dem vieles möglich ist und sich Ideen der Schüler, aber auch der Lehrer, Eltern und Kooperationspartner umsetzen lassen. Hier wird Lernen an Bedürfnissen unmittelbar möglich, dadurch, dass sich Themen aus der Umgebung heraus stellen und so Dinge gelernt werden können, die im Unterricht nie eine Rolle spielen. »Es ist eine Möglichkeit für die Kinder, ihre eigenen Interessen kennenzulernen und Stärken herauszufiltern«, sagt Annette Frauendorf. Und Anna van der Linden nennt ein Beispiel: »Wenn ich eine Schlafunterkunft bauen möchte, muss ich beim Bürgermeister einen Antrag stellen, mich beim Bauamt nach Vorschriften erkundigen, ich muss das Grundstück vermessen, Planungsrichtlinien lesen und verstehen, formale Briefe schreiben.« Das sind alles Dinge, die die Schüler sonst losgelöst vom Gegenstand lernen. Hier ist es mit einem konkreten Ziel verbunden, das Lernen wird nachhaltiger.

Das Lernen auf einem Aktiv-Hof ist gar kein Lernen mehr im herkömmlichen Sinn, sondern dort lebt man und kann einfach sein. Im Jetzt sein.

Annette Frauendorf, Klassenlehrerin

 

»Die grundsätzliche Überlegung ist natürlich: Wie organisiert man das Lernen außerhalb der Schule?«, sagt Anna van der Linden. Je nachdem, wie erreichbar ein solcher Hof ist, ließe sich dort an Projekttagen arbeiten, oder man müsste über einen längeren Aufenthalt nachdenken, etwa als Projekt Herausforderung. Eines steht fest: Wir wollen Potenzialentfaltungsräume eröffnen und den unterschiedlichen Schülertypen und Bedürfnissen gerecht werden. Wichtig ist: Der Aktiv-Hof soll nicht nur für Kinder mit Auffälligkeiten da sein, sondern für alle Schüler der esbz.

An der Montessori-Oberschule Potsdam kultivieren bereits seit drei Jahren alle Schüler der 7. und 8. Klassen eine Woche im Monat das verwahrloste Grundstück eines ehemaligen Stasi-Ferienheims am Schlänitzsee. Sie räumen auf, vermessen, bauen, pflanzen, ernten und kochen. Von solchen Projekten brauchen wir mehr!

Tipp:

Alle ins Ausland: Wie Heranwachsende Weltentdecker und Weltbürger werden

 

Wir wollen Schule gestalten als Ort der interkulturellen Begegnung, der interkulturellen Erfahrungen, des interkulturellen Lernens, des interkulturellen Verstehens, der interkulturellen Achtung.

 

aus dem Schulprogramm der esbz

 

Wer die Geschichte hört, wie unsere Partnerschaft mit Dhaka, Bangladesch, zustande kam, der mag uns kaum glauben. Im Frühsommer 2011 bekam die Schulleitung Besuch von der Leiterin des Goethe-Instituts in Dhaka. Sie erzählte von der Initiative »Schulen: Partner der Zukunft« (PASCH) vom Auswärtigen Amt, die darauf abzielt, Jugendliche in aller Welt für die deutsche Sprache und Kultur zu interessieren. Dafür werden Schulen gewonnen, die Deutsch als Fremdsprache unterrichten, wozu erst einmal Lehrer ausgebildet werden müssen. Das Goethe-Institut bietet diese Ausbildung kostenlos an. Die Leiterin des Goethe-Instituts in Dakha war nun auf der Suche nach Partnern in Deutschland, um den Nachwuchslehrern und den Schülern einen Austausch mit Muttersprachlern zu ermöglichen. Sie dachte dabei an E-Mail oder Skype. Wir dachten: Eine tolle Chance für unsere Elftklässler und unser Projekt »Alle ins Ausland«! Daraus könnten wir ein richtiges Programm entwickeln!

Transport und Kommunikation funktionieren in Bangladesch gar nicht, das ist Chaos. Man sollte Gelassenheit mitbringen.

Wakilur Rahman, Künstler aus Bangladesch, der zeitweise in Berlin lebt

 

Vier Wochen später besuchte die Schulleiterin die Oxford International School (OIS) in Dhaka, die größte Schule der Stadt, mit einem visionären, fortschrittlichen Direktor. Nach einem Vortrag vor dem Kollegium und der Schülerschaft war die ganze Schule begeistert von unserer Idee, Schüler aus Deutschland nach Bangladesch kommen zu lassen. Im Herbst fuhr Astrid Seidel, Englischlehrerin und Koordinatorin unseres Projektes Alle ins Ausland, für drei Wochen nach Dhaka, um das Programm zu entwickeln. »Unsere Schüler werden die Lehrerausbildung dort unterstützen, indem sie Hörtexte einsprechen, im Unterricht dabei sind, mit Schülern in kleinen Gruppen arbeiten. Die Lehrer dort sind noch sehr jung, die freuen sich über junge Leute, mit denen sie sich auf Deutsch unterhalten können.«

Bangladesch ist ein Land, in dem es kaum Tourismus gibt. Man sieht kaum Fremde auf der Straße, und wenn, sind das meist Leute von NGOs oder den Botschaften. Deshalb begrüßen unsere Gastgeber es sehr, dass wir kommen, um uns Land und Leute anzuschauen.

Astrid Seidel, Lehrerin

 

Zwei wunderbare Vorhaben entstanden bereits in den Anfängen unseres Austauschs mit dem Schulleiter: Seine Schule wird das Projekt Plant for the Planet übernehmen und das Projekt Verantwortung einführen. Mit »Education is the Key« haben wir gemeinsam ein Bildungsprojekt für Kinder aus den Slums erdacht, das es ihnen ermöglichen soll, am Nachmittag an der Oxford International School von Schülern unterrichtet zu werden. Während dieser Zeit müssen sie von ihrer Arbeit in den Sweatshops freigestellt werden. Das Geld, das ihren Familien dadurch fehlt, wollen wir in Deutschland durch Spenden und Arbeit aufbringen.

Sich mit dem Fremden anfreunden

 

Die Idee ist so simpel wie gut, die Umsetzung wird aber noch so manche Herausforderung mit sich bringen. Man muss dazu wissen: Ein solches Programm an einer Schule zu initiieren, auf die nur Kinder aus sehr reichen Familien gehen, ist sehr mutig. In Bangladesch ist es üblich, dass die Oberschicht Dienstboten aus den Slums hat. »Ich war mit dem Direktor in einer Deutschklasse, und er hat den Kindern auf Bangla gesagt: ›Das ist Frau Seidel aus Deutschland, und sie findet es merkwürdig, dass Kinder hier arbeiten und nicht in die Schule gehen können. Was sagt ihr dazu?‹«, erzählte unsere Koordinatorin. »Ein elfjähriges Mädchen hat daraufhin gesagt: ›Wieso, ich habe auch eine zehnjährige Maid. Die war noch nie auf der Schule. Wenn ich nach Hause komme, nimmt sie mir meine Tasche ab, zieht mir die Schuhe aus und macht mir Essen.‹« Die Zusammenarbeit wird allen Beteiligten einiges abverlangen. Wir sind sehr gespannt auf die weitere Entwicklung. Die erste Gruppe Elftklässler will im Februar 2012, während ihres fünfwöchigen Aufenthaltes an der OIS, ihr Bestes geben, das Projekt voranzubringen.

Berlin ist ein Dorf im Vergleich zu Dhaka. Hier auf eurem Schulhof kann man Vögel und Hasen beobachten, und wenn ich am Sonntagvormittag in Berlin an der Ampel stehe, bin ich manchmal der Einzige. Wenn du dort 100 Meter läufst, hast du Körperkontakt mit 100 Menschen.

Wakilur Rahman, Künstler

 

»Ich finde es interessant, eine ganz andere Kultur und Vorstellung vom Leben kennenzulernen«, sagt Tim beim Vorbereitungstreffen. »Das ist etwas ganz anderes als die anderen Auslandsaufenthalte.« Timothy rechnet mit einem ziemlichen Kulturschock: »Bangladesch ist ja eines der ärmsten Länder der Welt.« Er hofft, eine Fabrik besuchen zu können, in der Kinder arbeiten. »Ich möchte sehen, wie unsere Klamotten dort hergestellt werden.«

Seine Klassenkameradin interessiert hingegen, ob es stimmt, dass Frauen in Bangladesch immer noch unterdrückt werden. »Frauen haben dort weiterhin einen schweren Stand«, sagt Astrid Seidel. »Ich weiß, dass ich so manches Mal meine Meinung nur deshalb laut sagen durfte, weil ich ein blasser Gast aus dem reichen Europa war.« Nicolas erhofft sich von seiner Reise nach Bangladesch etwas Ähnliches wie vom Projekt Herausforderung: »Dass es eine krasse Erfahrung wird und ich da viel Mut sammeln kann.« Er freut sich darauf, Englisch zu sprechen, und auf ein Land, dessen Kultur ihm überhaupt nicht vertraut ist. »Wenn es anstrengend wird, muss ich halt damit leben. Nachher ist man einfach viel glücklicher, als wenn man gesagt hätte, ich mach es nicht. Ich kann mir vorstellen, dass es eine coole Zeit wird.«

Der Schulleiter wird die Gastfamilien briefen und ihnen zum Beispiel erklären, dass Mädchen bei uns einen anderen Status haben, dass das Verhältnis zwischen Jungs und Mädchen ein anderes ist und dass es keinesfalls beleidigend gemeint ist, wenn unsere Schüler versehentlich mit der linken Hand essen. Der Rest wird sich dann im Alltag zeigen, wenn sie aufeinander losgelassen sind.

Astrid Seidel, Projektverantwortliche

 

»Als ich aus Dhaka wiederkam, war ich erst mal skeptisch. Das ist schon harter Tobak«, sagte unsere Koordinatorin, die selbst schon viel gereist ist. Klima, Kleidung, Sprache, Essen, Verkehrschaos – alles wird ungewohnt sein. Bangladesch ist nicht nur weit weg, sondern in vielerlei Hinsicht eine Herausforderung. »Die Schüler müssen sich benehmen können, müssen damit umgehen können, dass die Dinge dort nicht wie bei Mutti sind«, sagt Astrid Seidel. Sie wird die Gruppe in den ersten drei Wochen betreuen, wozu auch tägliche Gespräche über das Erlebte gehören, die restliche Zeit bleiben die Schüler in der Obhut ihrer Gastfamilien. »Es ist nicht nur wichtig, dass man ohne Vorurteile in ein anderes Land fährt, sondern auch, dass man psychisch in der Lage ist, Eindrücke zu verarbeiten«, sagte Astrid Seidel und deutet damit auch die Notwendigkeit einer gründlichen Vorbereitung an.

Vertrautes gibt uns Menschen, zumal den Kindern, Sicherheit, von Vertrautem erwarten wir Schutz. Was jenseits des Vertrauten liegt, wird als das Fremde empfunden. Und das Fremde kann schnell als das Feindliche angesehen werden. Die Welt befindet sich heute in einem radikalen Veränderungsprozess. Nie zuvor waren die Lebenswelten der Menschen auf unserem Planeten derart verbunden und voneinander abhängig wie heute. In der Welt des 21. Jahrhunderts, im globalen Zeitalter, in der entgrenzten Welt, in der Welt der Wanderungsbewegungen, ist es kein erfolgreiches Lebens- und Überlebensmodell, sich nur dem Vertrauen anschließen zu wollen. Nie war es daher wichtiger als heute zu lernen, sich auch beziehungsweise gerade für nicht Vertrautes zu öffnen. Im 21. Jahrhundert gilt eine andere, eine aufschließende Erwartung: sich mit dem Fremden anzufreunden.

Das Motto der esbz lautet: protestantisch – mutig – weltoffen

 

Interkulturelles Verständnis, das für diese Öffnung Voraussetzung ist, lässt sich allerdings über den Kopf allein kaum befördern. Die traditionellen Formen und Inhalte des Lernens werden der neuen Komplexität und Dynamik gesellschaftlicher Verhältnisse in einer zusammenwachsenden Welt kaum gerecht. Wenn mir das Fremde zum Freund werden soll, wenn ich aus der Ent-Fremdung in die Be-Freundung hineinkommen will, dann muss ich in andere Kulturen eintauchen. Literatur, Filme, Internet können dabei hilfreich sein. Doch für das Verstehen und die Verständigung, für das Be-Greifen, die zivilisatorische Alternative zum An-Greifen, sind Realbegegnungen mit Menschen und ihren kulturellen Besonderheiten unersetzlich.

Einstimmiger Beschluss der Schulkonferenz war es daher, dass alle Schüler in der Pflichtschulzeit die Möglichkeit haben sollen, Lebens- und Lernzeit in einer fremden Kultur zu verbringen. Wer die Schule bereits nach der Sekundarstufe I verlässt, kann eine der Herausforderungen für einen Auslandsaufenthalt nutzen. In dieser Zeit sollen sich die Schüler möglichst in einem sozialen oder ökologischen Projekt engagieren und in einer Gastfamilie leben. Auf diese Erfahrung wird in vielerlei Weise eingestimmt und vorbereitet: In der 7. und 8. Klasse übernehmen die Schüler Verantwortung im Gemeinwesen, in der 8. bis 10. Klasse suchen und bewältigen sie jedes Jahr eine dreiwöchige Herausforderung außerhalb Berlins. Wir laden junge Menschen, die sich in einer anderen Kultur engagiert haben, ein, und sie erzählen von ihren Erfahrungen. Es ist Anspruch der Schulgemeinde, alles dafür zu tun, dass kein Schüler aus finanziellen Gründen an dieser Auslandszeit nicht teilnehmen kann.

Wie finden die Jugendlichen ihre Projekte? Manchmal durch schier unglaubliche Zufälle.

 

Einige unserer Elftklässler haben selbst Kontakte oder wollen lang ersehnte Visionen realisieren. Für andere bauen wir einen Ideenpool auf. Dazu nutzen wir alle unsere Netzwerke: das Kollegium, die Eltern, Projektpartner, Stiftungen, Institutionen, Studierende wie Dimitros, der selbst zweimal ein Workcamp in Südafrika mitgemacht und dort einen Kindergarten mit aufgebaut hat. Er hat so authentisch davon berichtet, das sich spontan eine Gruppe Zehntklässler gefunden hat, die sich im Herbst 2012 dort engagieren wollen. Dimitros wird sie in der Vorbereitung coachen.

Vielen, vielen Dank, dass ich auf der esbz die Möglichkeit habe, meine Idee zu verwirklichen. Das ist eine tolle Chance, die einem bestimmt nicht überall geboten wird!

Leoni, 11. Klasse

 

Antonia ist aufgeregt und glücklich, dass sie sich drei Monate auf Teeplantagen in Darjeeling engagieren kann und dabei durch die Teekampagne unterstützt wird. Agnes wird in Argentinien auf einer Permakultur-Plantage mitarbeiten. Schier unglaublich ist die Geschichte, wie Rosalie eine Familie in ihrem Wunschland fand: Am ersten Tag des neuen Schuljahres 2011/2012 stand unangemeldet eine Familie aus Tansania, die gerade eine Deutschlandreise machte, im Büro der Schulleiterin. Eines ihrer vier Kinder wollte gern einige Monate in eine deutsche Schule gehen und hatte im Internet die esbz gefunden. Die Schulleiterin bat die Familie, am Nachmittag zur Einschulungsfeier wiederzukommen, weil sich dort vielleicht gleich eine Familie finden würde, die ihren Sohn Christopher für drei Monate aufnehmen könnte.

Am selben Tag, auf dem Weg vom Gottesdienst in die Schule, sprach die Elftklässlerin Rosalie die Schulleiterin an, ob sie nicht einen Kontakt nach Tansania habe. Ihr Traum sei es, drei Monate dorthin zu gehen. Welch ein großartiger Zufall! Noch am selben Nachmittag lernten sich Rosalies Familie und die tansanischen Besucher kennen. Im Januar 2012 fuhr Rosalie, die zuvor fleißig Suaheli lernte, nach Tansania, und Christopher lebte zeitgleich bei Familie Wewerke in Berlin.

Für Leoni bieten die drei Monate »Alle ins Ausland« eine hervorragende Chance, ihr Projekt »Wolfskinder« zu realisieren. »Wolfskinder nennt man die Kinder, die gegen Ende des Zweiten Weltkriegs alleine oder in kleinen Gruppen vor der Roten Armee quer durch Deutschland geflohen sind«, schreibt die Schülerin in ihrer Projektbegründung. »Mich haben die Schicksale dieser Kinder so sehr fasziniert, dass ich eine Zeitzeugin gesucht und gefunden habe, die bereit war, mit mir über ihre Erlebnisse zu sprechen. Sie ist als Kind mit ihren Freunden von Tschechien nach Berlin geflohen und hat dabei Unglaubliches erlebt. Ich habe mir überlegt, dieses Thema kreativ zu interpretieren, und zwar in Form eines Films.« Leoni will – auch als besondere Lernleistung für das Abitur – selbst ein Drehbuch schreiben, ein Storyboard erarbeiten, Drehorte finden, Kostüme entwerfen, Sponsoren und Mitarbeiter organisieren, Schauspieler casten, Regie führen, vielleicht selbst eine Rolle übernehmen und den Film schneiden. Allein die Vorbereitung für all das wird sehr viel Zeit, Kreativität und Konzentration brauchen. »Die Schule gibt mir mit ›Alle ins Ausland‹ die Chance, mich vollkommen auf dieses Projekt einzulassen, mir die Originalschauplätze in Tschechien und Deutschland anzusehen, geeignete Drehorte zu finden und das Drehbuch zu beenden.«

Und Shana wird in ein kleines kolumbianisches Dorf reisen, wo sie nicht nur drei Monate lang die Arbeit der gemeinnützigen Organisation Fundación Viracocha unterstützen, sondern auch ihre eigenen Wurzeln entdecken will. »Ich bin in Kolumbien geboren. Mein Vater ist Kolumbianer und wohnt immer noch in San Agustín. Weitere Familienmitglieder von mir wohnen ebenfalls dort, die ich bisher noch nicht persönlich kenne«, erzählt sie. »Das wird, glaube ich, eine viel schwierigere Aufgabe für mich, als das Projekt zu bewältigen.« Dennoch freut sie sich auf die neuen Leute, die andere Kultur, die Sprache, Musik, Tänze, die Natur und darauf anzupacken. »Was ich dort genau machen werde, erfahre ich erst vor Ort. Vielleicht werde ich in der Küche helfen, im Garten, beim Aufbau des Bauernhofes, bei der Hausaufgabenhilfe. Ich bin offen für alles.«

Jeder Tag, den die jungen Weltbürger im Ausland verbringen, wird sie mit unterschiedlichen Bildern und Eindrücken beschenken. Sie werden Herausforderungen meistern, Sprachbarrieren überwinden, Konflikte lösen, Verhaltensmuster hinterfragen, mit Klischees konfrontiert sein und eigene überdenken. Mit dem Ausschwärmen in die Welt nehmen sie die Verantwortung mit, ihre Erfahrungen nach der Rückkehr mit der Schulgemeinde zu teilen.

Wir werden diese Erfahrungen auswerten und aufarbeiten, daraus lernen und sie in alle Lernfelder des Schullebens einfließen lassen. So rechnen wir damit, von Jahr zu Jahr weitere eigene Partnerschaften wie die mit Dhaka aufbauen zu können. Die esbz ermutigt die Schüler, sich ein Projekt im Ausland zu suchen, für das sie sich begeistern. Im Vordergrund steht dabei der Inhalt, nicht die Dauer.

Meine Austausch-Schule in Kanada ist schon gut, hier kann man Fächer wie Entrepreneurship, Umweltschutz oder Leadership wählen. Trotzdem frage ich mich, ob ich auf einer Schule wie dieser immer so ein Interesse an Schule hätte wie an der esbz.

Ben, 11. Klasse

 

Die Stiftung Welt:Klasse beispielsweise organisiert betreute Lernaufenthalte in Entwicklungs- und Schwellenländern. Vier Schüler fahren im Februar 2012 in Kooperation mit Welt:Klasse nach China. Sie arbeiten dort mit Jugendlichen der südchinesischen Provinz Yunnan in einem Wiederaufforstungsprojekt, sind in chinesischen Gastfamilien untergebracht, erkunden per Fahrrad die Region. Die esbz wird per Videokonferenz in die Projektwochen in China eingebunden. Der China-Gruppe ist es durch hohen Einsatz und die Beratung durch eine Fundraising-Expertin gelungen, in nur zwei Monaten mehr als 7500 Euro Sponsorengelder zu akquirieren.

Ben hat sich für den klassischen Weg entschieden und ist für ein Jahr an eine Highschool auf Vancouver Island, Kanada, gegangen. »Ich bin nicht gut im Sprachenlernen, aber ich will gerne viele können, weil es immer besser ist, mit Leuten in ihrer Muttersprache zu sprechen, da sind sie viel offener«, erklärte er. Ihm gefällt die Freundlichkeit der Kanadier und eigentlich auch seine Gastschule. Nach ein paar Wochen merkte er allerdings: »Es läuft gut, ich komme gut mit im Unterricht, es macht auch Spaß – aber es reicht mir nicht.« Und, was für die meisten Lehrer wohl unbegreiflich sein wird: »Ich vermisse meine Schule in Berlin, ich vermisse die Projekte.« Er ließ sich einen Termin bei der Schulleiterin geben und erzählte ihr vom Projekt Verantwortung. »Sie meinte danach: Da kam grade eine Welle der Begeisterung bei ihr an«, mailte er. In Kanada engagieren sich zwar sehr viele Menschen ehrenamtlich, aber in ihrer Freizeit. Ein solches Projekt in die Schule zu integrieren könnte eine ganz andere Wirkung entfalten, zumal Schüler in Kanada ihre gewählten Fächer jeweils ein Halbjahr lang fünf Tage die Woche haben. Die Schulleiterin rief direkt nach dem Gespräch einen Schüler in ihr Büro, der in der Leadership Group aktiv ist und Ben bei der Einführung von »Projekt Verantwortung« unterstützen soll. »An der Highschool gibt es auch eine Environment Group«, berichtet Ben. »Der werde ich auch noch von Plant for the Planet erzählen.«

Aus Bangladesch erhalten wir unterdessen wunderbare Nachrichten: Neun Schüler der esbz sind Ende Januar 2012 für fünf Wochen nach Dhaka geflogen, um dort die Deutschlehrer der Oxford International School zu schulen. Anfang Februar schickte uns unsere Kollegin Astrid Seidel, die die Schüler begleitete, eine Mail mit dem Betreff: »Heute ist ein Traum in Erfüllung gegangen!« Darin schreibt sie: »Heute wurden sieben Kinder aus den Slums in unserer Partnerschule hier in Dhaka unterrichtet. Es war einfach unbeschreiblich, die kleinen Jungen und Mädchen beim Lernen zu beobachten. Alle hatten sich sehr fein gemacht und riefen mit einer unvergleichlichen Begeisterung die Antworten der Lehrerin entgegen.«

Im Gespräch mit dem Schulleiter erfuhr unsere Kollegin, dass bereits seit Dezember vergangenen Jahres zehn Kinder zweimal pro Woche unterrichtet werden. Dass das Programm »Education is the Key«, das wir ja erst im Herbst 2011 bei unserem ersten Besuch in Dhaka konzipiert hatten, so schnell und so gut angelaufen ist, macht uns sehr glücklich. Und es macht Mut, das Projekt weiterzuverfolgen und fleißig Spenden dafür zu sammeln, damit die Kinder aus den Slums weiterhin lernen können.

Tipp:

  • Lernerfahrungen in Schwellen- und Entwicklungsländern ermöglicht die Stiftung Welt:Klasse; www.stiftung-weltklasse.de
  • IDEM (Identity through Initiative) ist ein Netzwerk, das Jugendliche dabei unterstützt, Initiativen zu verwirklichen, sich für Sozialprojekte zu engagieren sowie für die Mitarbeit in Workcamps in verschiedenen Entwicklungsländern; www.idem-network.org
  • Seit Anfang 2012 gibt es mit ENGAGEMENT GLOBAL eine zentrale Anlaufstelle für die Vielfalt des entwicklungspolitischen Engagements sowie der Informations- und Bildungsarbeit, initiiert vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung; Kontakt: Tel. 08 00 / 1 88 71 88; www.engagement-global.de
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Lernen vom Kopf auf die Füße gestellt: Wie Schüler Lehrer und Erwachsene fortbilden

 

Schüler schulen Lehrer? Und Eltern? Und coachen Manager? Sie fragen sich, was das denn bringen soll? An der esbz ist dieser Ansatz nicht abwegig, sondern die konsequente Fortsetzung dessen, was wir als next learning, als Neues Lernen verstehen: Wir vertrauen unseren Schülern und trauen und muten ihnen etwas zu. Wer kann besser Experte für Lernen sein als die Kinder und Jugendlichen selbst? Wer weiß besser, wie Schüler wirklich zum Lernen motiviert werden? Wir öffnen Räume für ein Lernen in der Lebenswirklichkeit und ein Wachsen an Herausforderungen. Und wir entwickeln gute, wertschätzende Beziehungen, denn Schule kann nur funktionieren, wenn alle zusammenarbeiten.

Wenn ich so einen Vortrag halte, geht's mir gar nicht darum zu sagen: Unsere Schule ist super, kopiert das alles. Ich möchte den Leuten einfach sagen: Traut euch was, das geht, das ist möglich, und fangt mal wieder an zu träumen, denn auch das verlernt man. Der Rahmen, in dem man sich bewegt, ist viel größer, als man denkt.

Shana, 11. Klasse

Schüler bilden Lehrer fort

 

Seit Februar 2010 haben Schüler der esbz an Schulen von Schwerin bis München (und natürlich ihrer eigenen!), in Seminaren, an Universitäten und auf Kongressen an die 3000 (teils angehende) Lehrer und etwa 500 Schulleiter fortgebildet. Die Resonanz? Nach jedem Termin dürfen wir uns über E-Mails wie die folgenden freuen: »Ich bin begeistert, mit welcher Ruhe, welchem Selbstvertrauen und Enthusiasmus Martha ihre Schule vorgestellt hat. Es war einfach nur schön, zu sehen, wie Schule gelingen kann. In mir rumort es. Dafür danke ich Ihnen.« – »Tolle, selbstbewusste Kinder, die zu ihrer Schule stehen, die aber auch Dinge anprangern, wenn sie nicht zufrieden sind – und alle schätzen es, hier leben, lernen, handeln und wachsen zu dürfen.« – »Wie selbstbewusst ihr für all unsere Fragen da wart, humorvoll und sehr kreativ im Rollenspiel, wie geduldig und offen ihr uns eure Prozesse und euer Schulleben miteinander dargebracht habt – ich war sehr beeindruckt und berührt. Es ist mir nicht leichtgefallen, danach zu gehen.« – »Solche Schüler wollen wir auch!« – »Für mich waren die Schülerbeiträge überzeugend und absolut authentisch. Sie machen mir Mut, auch skeptischen Kollegen gegenüber Kraft zu entwickeln und Durchhaltevermögen.« – »Es tut gut, eine Schule mit einem Lächeln auf den Lippen und der Überzeugung zu verlassen, dass auch unter widrigen Umständen ganz viel machbar ist, wenn die Haltung zu Schülern und Schule eine andere ist. Auch die Schulleiter, die dabei waren, wurden von Ihren Schülern, deren Kompetenz und Überzeugungskraft ›geknackt‹.« – »Wenn ich mal wieder niedergeschlagen bin, darf ich mich noch mal für die Fortbildung anmelden?« Wann haben Sie das letzte Mal Kollegen so von Schule schwärmen hören?

Als ich an die Schule kam, hatte ich keine Ahnung von Vorträgen. Als ich das erste Mal gefragt wurde, ob ich auf eine Fortbildung mitkommen will, meinte Frau Rasfeld: Ich zeig dir, wie das geht. Ich habe dieses Vertrauen gespürt. Bei dem Vortrag hab ich dann gemerkt: Du musst gar nicht nervös sein, denn du bringst denen was bei, die können was von dir lernen.

Ben, 11. Klasse

 

Dass wir Lehrerfortbildungen anbieten, war zunächst nicht geplant. Alles fing damit an, dass wir Anfragen von einzelnen Lehrern bekamen, die gerne an der esbz hospitieren wollten. Nicht nur Studenten und Referendare, auch erfahrene Kollegen. Viele wollten sich das Lernbüro und jahrgangsgemischte Lernen angucken, andere interessierten unsere Projekte Verantwortung und Herausforderung, und alle fragten sich, wie wir an der esbz ein solches Klima der Wertschätzung und des Vertrauens schaffen, in dem Kinder selbstmotiviert lernen. Bei jedem Hospitanten nahmen wir uns Zeit für ein persönliches Gespräch. Bei immer mehr eingehenden Anfragen war das dann nicht mehr zu bewältigen. Gleichzeitig freuen wir uns über das Interesse an unserer Schule und einem neuen Geist des Lernens. Die Lehrerfortbildungen einmal im Monat sind der Versuch einer Lösung für dieses Dilemma.

Die meisten Teilnehmer sind ziemlich skeptisch. Die denken, das kann nicht funktionieren. Ich hab das auch manchmal, dass ich denke, das kann gar nicht funktionieren, aber am Ende funktioniert's dann doch. Es gibt immer eine Antwort auf die Fragen.

Clara, 10. Klasse

 

Den Auftakt macht meist ein Vortrag der Schulleitung, danach gibt es verschiedene Formate: Vorträge von einem oder mehreren Schülern, Workshops (die wir je nach Teilnehmerzahl auch als »Zirkeltraining« organisieren), Rollenspiele, und zum Thema Herausforderung zeigen unsere Schüler gerne ihre kurzen Projektfilme. Dabei sprechen sie frei und grundsätzlich ohne Vorgaben seitens der Schulleitung, abgesehen vom Thema, um das es gehen soll. Die Schüler bereiten ihre Einsätze eigenständig vor, oftmals kurzfristig und trotzdem mit bewundernswerter Gelassenheit.

Genau diese Authentizität macht ihren großen Erfolg aus. Schüler erklären Lehrern, wie Lernbüro und Logbuch, jahrgangsgemischtes Lernen, Projekt Herausforderung und Klassenrat funktionieren, und lassen sie an ihren persönlichen Erfahrungen teilhaben. Was könnte glaubwürdiger oder überzeugender sein? Wenn sie an andere Schulen eingeladen werden, übernehmen sie oft selbständig die Absprachen und Organisation im Vorfeld. Dass sie das alles nicht umsonst tun, versteht sich von selbst. Mehr als 10 000 Euro für den Schuletat haben die Jugendlichen bisher eingenommen, davon konnten wir die Bühne und die Anlage für unser Forum sowie die Küchenzeile für das neue Schülercafé kaufen. Die Schüler haben die Möglichkeit, Zertifikate zu erwerben, und natürlich werden sie für ihr Engagement ausgezeichnet.

Ich denke, es ist sehr wichtig, auch anderen Leuten von unserer Schule zu erzählen. Wenn alle die Chance hätten, so zu lernen wie wir, hätten wahrscheinlich viel mehr Schüler Spaß an der Schule und wären besser auf das Leben vorbereitet.

Carl, 9. Klasse

 

Oft ist es die Schulleitung, die zu Vorträgen auf Kongresse eingeladen wird. Wenn wir stattdessen unsere Kinder schicken wollen, sind die Leute überrascht bis skeptisch – und wenn sie sich dann darauf einlassen, anschließend völlig begeistert. »Eine Frau hat gesagt, dass ihr bei unserem Vortrag fast die Tränen gekommen sind, weil sie so eine Schule schon ewig machen wollte«, erzählt der Neuntklässler Carl nach dem Kongress des »Archivs der Zukunft« in den Münchner Kammerspielen. Meist ergeben sich daraus wunderbare Begegnungen. Auf der Veranstaltung in München beispielsweise war auch die Schulaufsicht vertreten und zeigte sich sehr angetan von unseren Beiträgen.

Und anschließend erhielten wir gleich mehrere Anfragen von Leitern städtischer Realschulen, ob es nicht eine Fortsetzung geben könne. Es blieb nicht bei der Anfrage: Sechs mutige Schulleiter und ihre Kollegien taten sich zusammen und luden unsere Schüler zu einer großen Fortbildung nach München ein, um – wie sie schrieben – mit dem Konzept der esbz ihre Schulen zu inspirieren und das pädagogische Feuer zu entfachen. »Wir brauchen Visionen! Mein Eindruck ist, unsere ganze Energie fließt ins Reparieren. Ich würde diese Energie viel lieber konstruktiv einsetzen.« Inzwischen hat sich daraus eine schulübergreifende Arbeitsgruppe gebildet. Ähnliches geschah auch in Baden-Württemberg und in Niedersachsen nach Vorträgen unserer Schüler. Solche Reaktionen und positiven Rückmeldungen machen uns immer wieder Mut, dass es gelingen kann, Veränderungen in unserem völlig überholten Bildungssystem auszulösen.

Schüler schulen Eltern

 

Die Idee zur Elternschule entstand in unserem Strukturausschuss. Das ist eine Arbeitsgruppe von Eltern, Lehrern und Schülern. Immer wieder sagten uns Schüler, dass ihre Eltern die Schule gar nicht richtig verstehen würden. »Eigentlich müssten wir eine Elternschule machen«, sagte Bennet im Februar 2011 in einem Gespräch mit Vertretern der Zukunftsstiftung Bildung. Dorothea Kleihues, Mitgründerin und Gesamtelternvertreterin, hatte die Idee selbst auch. Sie beobachtete bei einigen Eltern eine gewisse Sorge, ob die Kinder auch wirklich das lernen, was sie lernen müssen oder brauchen. »Wir Eltern kommen ja alle aus dem traditionellen Bildungssystem, das hier ist eine ganz neue Welt. Dieses ›Wann schreibst du Mathe, wann schreibst du Chemie?‹ findet hier nicht statt. Da ist es wichtig, Vertrauen zu vermitteln und zu zeigen, dass alles in Ordnung ist.«

Erstmals zum Schuljahr 2011/2012 mussten also alle Eltern der neuen Siebtklässler in die Elternschule. Sogar Brita Wauer, die Vorsitzende des Elternvereins, brachte sich zum Schulwechsel ihres jüngeren Sohnes auf den neuesten Stand: »Diese Schule verändert sich ständig, im positiven Sinne – ich kann mich also nicht darauf ausruhen, dass ich schon viel weiß«, findet sie. Auch wenn es dann »doch nicht so viel Neues« für sie gab, sagt sie: »Ich fand es toll, wie ansprechend und gut strukturiert die Veranstaltung organisiert war und bin jedes Mal ganz stolz auf unsere Schule.«

Der Schülerblock war der stärkste, weil es natürlich irre ist zu merken, wie eloquent die sind, wie die das wirklich verinnerlicht haben. Das ist eine wahnsinnige Beruhigung für Eltern, weil die denken: Wenn mein Kind so wird, ist ja alles in Ordnung.

Dorothea Kleihues, Schülermutter

 

Die Elternschule war als Rundlauf organisiert mit drei Stationen: Vier Schüler stellten die Projekte Verantwortung und Herausforderung vor, die Lernbüros und das Logbuch. Zwei Lehrer erklärten im Rollenspiel, was im Tutorengespräch beziehungsweise Bilanz- und Zielgespräch passiert. »Das Rollenspiel war sehr gut vorbereitet«, erinnerte sich Elisabeth von Haebler, eine Schülermutter. »Da war viel reingepackt – wahrscheinlich ist nicht jedes Gespräch jede Woche so intensiv.« Und im Worldcafé haben Eltern die neuen Eltern gefragt, was sie sich für ihr Kind an der Schule wünschen, und sie darüber informiert, wie sie sich selbst einbringen können. »Mein fünfjähriger Sohn hat damals gesagt: ›Nach dieser Schule sind wir erwachsen‹«, erzählte eine Mutter.

Schüler coachen Manager in Design Thinking

 

Ein Teilnehmer sagte, die Arbeit mit den Schülern habe einen Kreativitätsstau aufgelöst. Viele der Ideen und Lösungselemente stammen von den Managern, aber ohne die Schüler wären sie nicht freigesetzt worden.

Guido Fiolka, Geschäftsführer der European Leadership Academy

 

Design Thinking ist eine Methode, mit der für komplexe Fragestellungen innovative Lösungen entwickelt werden. Es ist einer der wohl vielversprechendsten Ansätze für die drängenden Probleme unserer Zeit. Die Schulleiterin der esbz hatte die Methode am Hasso Plattner Institut (HPI) in Potsdam kennengelernt, als ein studentischer Jahrgang dort seine Ergebnisse präsentierte, und sich mit dem Institutsleiter, Prof. Uli Weinberg, über eine mögliche Zusammenarbeit ausgetauscht. Etwas später eröffnete sich für einige Schüler der esbz die Möglichkeit, an einem mehrtägigen Workshop des HPI teilzunehmen. Ohne übertreiben zu wollen: Es war ein echtes Erweckungserlebnis. »Nach dem ersten Tag wusste ich: Wow, das ist echt great«, sagt der Zehntklässler Arne. Als die esbz ein paar Monate später gemeinsam mit der European Leadership Academy (ELA) in Berlin ein Experiment wagte, bei dem Schüler Manager coachen und sie gemeinsam, in gemischten Teams, mit der Design-Thinking-Methode Lösungsansätze für vier konkrete Aufgaben erarbeiten sollten, meldete sich Arne sofort als Teilnehmer. Genau wie Leon, der in Potsdam erlebt hatte, wie weit er mit dieser Methode denken kann.

Der Manager-Workshop war ein zweitägiges Experiment, an dem 8 Führungskräfte, 16 Schüler der 7. bis 11. Klasse und ein am HPI in Design Thinking ausgebildeter Moderator teilnahmen. »Es wird eine enorme Kreativität frei, wenn die Schüler mit ihrer präkonventionellen Sichtweise mit Managern zusammenarbeiten, die durch das Training an unserer Akademie eine postkonventionelle Sichtweise haben«, resümiert Guido Fiolka, Geschäftsführer der ELA, beeindruckt. Die Akademie bietet Bildungsformate für Führungskräfte aus Politik und Wirtschaft, die ausschließlich das Thema Führung adressieren. Um Denkweisen und Konzepte im Management zu verändern, wird dort seit 2008 mit neuen Formaten experimentiert, die die Teilnehmer aus ihrer Komfortzone holen, wie er es beschreibt.

Ich habe die Methode kennengelernt und dass dabei nichts falsch ist und man Kritik erst mal zurückstellen sollte. Ich denke, das sind auch gute Regeln für andere Situationen. Beim Design Thinking gehört es außerdem dazu, dass man scheitert. Das habe ich jetzt auch für mich erkannt: Es ist nicht schlimm zu scheitern, das muss auch mal sein.

Paula, 7. Klasse

 

Die transformatorischen Prozesse, die die Programme der ELA herbeiführen möchten, sind dem Anspruch der esbz so nah, dass wir bei einem – wie so oft zufälligen – Kennenlernen auf einer Veranstaltung in der marokkanischen Botschaft schon nach kurzem Austausch die Idee für unseren gemeinsamen Workshop entwickelt hatten. »Der noch viel stärkere Impuls war allerdings die Begegnung mit Schülern der esbz«, sagt Guido Fiolka. Zum Glück waren auch auf jener Veranstaltung einige unserer Schüler dabei. Unser erstes Experiment wurde von den Teilnehmern einhellig als so gelungen beschrieben, dass daraus nun möglicherweise eine langfristige Kooperation zwischen der esbz und der ELA erwächst.

Ich habe es bei diesem Projekt so gemacht wie immer bei Schulprojekten: nichts erwarten und einfach mal hingehen und gucken, was passiert. Dass wir hier mit Managern zusammenarbeiten, hat mich nicht groß beschäftigt. Das war recht easy.

Leon, 10. Klasse

 

»Ich war sehr gespannt auf die Sichtweise der Schüler, die noch nicht mit den Konzepten über die Welt unterwegs sind wie wir Manager«, meinte Oliver Hirsch, einer der Teilnehmer. »Wir haben eine Sichtweise, wie Dinge zu sein haben und wie Dinge sind. Damit reduzieren wir freiwillig unseren Informations- und Handlungsspielraum.« Und tatsächlich beobachtete Roland Siebert, Gründer zweier Start-ups, wie sein Team die Dinge »einfach mal galoppieren« ließ, angetrieben durch die freien Kräfte der Schüler, und wie durch diese Vielzahl unbeschränkter Impulse Neues entstand. »Das ist für mich eine Kernerkenntnis aus diesem Workshop«, sagte er. »Denn im beruflichen Alltag verorten wir uns ständig und beurteilen Dinge danach, ob sie zielführend sind, insbesondere in jungen Unternehmen, wenn man nicht so viel Zeit und so viele Ressourcen hat.« Als eine andere Teilnehmerin von einem Projekt mit dem Arbeitstitel »Schüler coachen Manager« hörte, war sie ganz begeistert. »Für mich ist die Zusammenarbeit auch eine großartige Möglichkeit zu überprüfen, inwiefern das, was ich mache, ihnen nutzt. Das sind die Menschen, die in 10, 15 Jahren Märkte bestimmen, Schicksale bestimmen, Einfluss haben auf die Gesellschaft.«

Ich möchte gerne weiterhin mit den Schülern arbeiten, um das zu konkretisieren und darauf aufzubauen. Ich möchte auf jeden Fall in Kontakt mit dieser Energie bleiben.

Oliver Hirsch, Führungskraft

 

Gerardo Milsztein, preisgekrönter Filmemacher, hat als Fragestellungen mitgebracht: Wie kann man das Interesse von Firmen wecken (und sie als Geldgeber gewinnen) für einen Film über Gewaltprävention an Schulen? Drei Manager und vier Schüler tüftelten an einer Lösung. »Ich fand es klasse, was da an Ideen rausgesprudelt ist«, meinte Roland Siebert. »Man kommt da vom Hundertsten ins Tausendste, und plötzlich synthetisiert sich eine Verbindung heraus, die vorher nicht da war.« Die Präsentation ihrer Ergebnisse war sehr lebendig, die Siebtklässlerin Paula spielte eine Geschäftsfrau, die als Sponsorin gewonnen werden soll, weil sie sich mit der Filmidee identifiziert und diese für ihr eigenes Marketing nutzt. »Die Idee an sich war mir nicht neu«, sagt Gerardo Milsztein, »aber das Team hat sie mir so plastisch vorgestellt, dass ich mich emotional damit identifizieren konnte. Ich trage dieses Projekt schon lange mit mir, weil es schwer ist, dafür eine Finanzierung zu bekommen, und der Workshop hat mir die Courage gegeben, es noch einmal auf diesem Weg zu versuchen.«

Die drei Jungs in meinem Team haben das getan, was ich in der Schule in Argentinien vor 35 Jahren niemals tun durfte: den Eindruck vermitteln, nicht »richtig zuzuhören«. Sie waren zwar immer wieder präsent, verschwanden jedoch auch wieder, das hat mich an meine Grenzen gebracht. Aber die Spritzigkeit der Ideen und die Freiheit, mit der sie das Thema angegangen sind, auch das Selbstbewusstsein, das sie gezeigt haben, waren sehr bereichernd.

Gerardo Milsztein, Filmemacher

 

»Ich war beeindruckt, was da schon an Lösungen entstanden ist«, sagte Guido Fiolka. Üblicherweise arbeiten Design-Thinking Teams über mehrere Wochen oder sogar Monate an einer Fragestellung. Allein das ist ein beeindruckendes Ergebnis unseres Experiments. Noch wichtiger sind uns aber die Rückmeldungen, die unsere Schüler bekommen haben. Die Siebtklässlerin Paula etwa, ein eher introvertiertes Kind, war das einzige Mädchen in ihrem Team. Bereits am Nachmittag des ersten Tages ist sie »in die Energie gekommen«, wie es Roland Siebert beschrieb, »und ging erstaunlicherweise sehr nach außen«. Sie selbst sagte: »Ich hatte keine Schwierigkeiten, mich in der Gruppe zu Wort zu melden.«

Arne, der aufgrund seiner Vorerfahrung am Hasso Plattner Institut als Coach eingesetzt war, empfand es als größte Herausforderung, sein Team zusammenzuhalten. »Zwei Schüler waren nie da, wo ich sie gerade haben wollte, wenn ich nur zehn Sekunden nicht hingeschaut habe«, sagt er. Zwar wusste er schon vorher, dass er Ruhe und Gelassenheit mitbringt – aber von einer Führungskraft zu hören, er habe »großes Potenzial als Gruppenleiter«, ist eine großartige Anerkennung für den Sechzehnjährigen. Und er hat eine neue Stärke entdeckt: »Dass ich gut mit Erwachsenen zusammenarbeiten kann.« Auch Coach Leon hat fantastisches Feedback bekommen: »Alle meinten, ich hätte so eine Ruhe ausgestrahlt und immer genau gewusst, was zu tun ist, und es den anderen erklären können«, sagt er. »Meine Selbsteinschätzung war wesentlich schlechter.«

Das größte Lob kommt von Roland Siebert: »Ich erlebe die Schüler schon sehr in Führung. Sie waren in den Sessions immer die Ersten, die aus sich rausgegangen sind, Ideen geäußert haben.« Er sieht hier einen kausalen Zusammenhang mit dem freien Unterricht an der esbz. »Ich glaube, dass dort bereits Führungskompetenzen ausgebildet werden, die ihnen später zugutekommen. Während wir, die wir den alten Frontalunterricht erlebt haben, diese Fähigkeiten erst in Führungsakademien zu erlernen suchen, um uns für einen Alltag zu befähigen, der komplex, dynamisch, schnelllebig, politisch ist.«