Säule 2: Lernen, Wissen zu erwerben

 
Lernbüro und Logbuch: Lernen im eigenen Tempo, individuell und selbständig
 

Stellen Sie sich eine Klasse vor, die 26 Schüler hat und in der dennoch individuelle Betreuung möglich ist. In der schwächere Schüler die Möglichkeit erhalten, den Stoff zu üben, bis sie ihn verstanden haben, während die leistungsstarken zusätzliches Material bearbeiten – keiner langweilt sich, und keiner fühlt sich überfordert. Die Klasse arbeitet konzentriert, motiviert und selbständig. Und muss ein Schüler wegen Krankheit längere Zeit zu Hause bleiben, verpasst er weder Lehrstoff noch Klausuren und kann danach einfach in den Unterricht wieder einsteigen. Das klingt zu schön, um wahr zu sein? An der esbz funktioniert das System Lernbüro genau so.

Über innere Differenzierung und weil die Tutoren ihre Tutanden sehr gut kennen, kann man im Lernbüro unterschiedliche Anforderungen stellen.

Jenni Leonhard, Mittelstufenleiterin

 

Jeden Morgen wählen die Schüler der Jahrgangsstufen 7 bis 9, ob sie eine Doppelstunde lang Mathe, Englisch, Deutsch oder Natur & Gesellschaft (Geografie, Geschichte, Sozialkunde, Naturwissenschaften) lernen möchten. Jeweils drei jahrgangsgemischte Klassen mit je 26 Kindern (sogenannte Kleinteams) teilen sich diese vier Lernbüros, auf die sich die Kinder jeden Morgen selbständig verteilen. Aus drei Klassen werden so vier Lernbüros, was die Anzahl der Kinder pro Lernbüro reduziert.

Dort erwarten sie jeweils die Lehrer, und sie finden die sogenannten Bausteine mit dem Lehrstoff der Stufen 7 bis 9 vor, mit denen sie arbeiten können. Ein Baustein besteht aus einem Karteikasten mit Karten, auf denen das jeweilige Thema aufbereitet ist, mit Erklärungen und Aufgaben, oft mit Zusatzmaterialien, häufig mit Selbstkontrolle. Die Materialien für die Lernbüros haben die Lehrer der esbz selbst hergestellt, in Anlehnung an den Rahmenplan und an Schulbücher. Sie sind ähnlich aufgebaut wie Unterrichtseinheiten – zum Beispiel gibt es in Geschichte eine zum deutschen Kaiserreich –, mit dem Unterschied, dass die Schüler sie eigenständig erarbeiten und eine Selbstkontrolle durchführen.

Wenn Fragen auftauchen, wenden sich die Schüler zunächst an Mitschüler – das ist eine feste Regel an der esbz. Wir haben eigens auch Bausteinpaten ernannt, die in bestimmten Themen fit sind und anderen helfen können. Nur wenn das Problem auf diese Art nicht geklärt werden, hilft der Lehrer weiter. Durch dieses neue Verhältnis wird der (Be-)Lehrer ganz automatisch zum Coach. Und die Lehrer-Coachs machen nebenbei eine sehr schöne Erfahrung: Sie sind plötzlich immer gefragt, statt »da vorne zu nerven«. Die Schüler kommen zu ihnen und freuen sich, wenn sie Unterstützung bekommen. Hier hat der mentale Wechsel von »Du sollst« (der Lehrer steht vorne und gibt vor, was passiert) zu »Ich kann!« stattgefunden. Oder wie ein Schülervater einmal sagte: »Das Motto an der esbz hieß lange vor Obama ›Ich kann!‹.«

Wir sehen in den jungen Menschen nicht Schüler im tradierten Sinne, sondern engagierte junge Menschen mit Entdeckungsfreude und Gestaltungsmut, die Potenziale mitbringen und weit mehr können, als Erwachsene ihnen oft zutrauen. Die jungen Menschen lernen bei uns so individuell wie möglich, aber gleichzeitig immer auch gemeinsam.

Durch das Prinzip Lernbüro und Coach steht jedes Kind mit seinen Stärken im Mittelpunkt, es wird ernst genommen und darf ohne Versagensangst und mit Anspruch sein Potenzial entfalten. Vom Objekt, das mit Lehrstoff befüllt wird, wird es durch eine Vielzahl von Gestaltungs- und Entscheidungsmöglichkeiten zum Subjekt seines Lernprozesses.

 
  • Es kann täglich wählen, welches Fach es besucht.
  • Es kann nach seinem eigenen Tempo und Rhythmus lernen.
  • Es kann unterschiedlich viel Zeit in die einzelnen Fächer investieren.
  • Es kann auf unterschiedlichen Niveaus und Zugängen arbeiten, entsprechend seinen individuellen Fähigkeiten.
  • Es kann Aufgaben mit unterschiedlichem Schwierigkeitsgrad bearbeiten.
  • Es kann selbständig und im Team Bausteine erarbeiten.
  • Es kann selbst entscheiden, wann es im Stoff weit genug ist, um den Lernnachweis zu erbringen.

Aus der Hirnforschung wissen wir, dass Begeisterung eine Grundvoraussetzung für erfolgreiches und nachhaltiges Lernen ist. Wer, wie oben beschrieben, seinen individuellen Fähigkeiten entsprechend arbeiten darf und dabei die Erfahrung macht, dass seine Stärken gesehen und seine Schwächen gefördert werden, wird mit sehr viel mehr intrinsischer Motivation dabei sein.

Natürlich sind wir Erwachsenen geprägt von unserer eigenen Schulbildung. Umso wichtiger ist es, sich für Neues zu öffnen. Wir müssen weggehen vom Lehr-Paradigma zum Lern-Paradigma – da sind wir an dieser Schule einfach schon weiter.

Caroline Treier, pädagogische Leiterin

 

Je nach Aufgabe auf der Bausteinkarte haben die Schüler auch die Freiheit, ihren Lernort oder Lerninhalt selbst festzulegen. Wer beispielsweise in Deutsch gerade eine Ballade einstudiert, darf sich dazu auch auf sein Skateboard auf dem Schulhof stellen oder auf die Treppe setzen. Auch die Ballade ist frei wählbar und wird im Rahmen des regulären Lernnachweises der ganzen Klasse vorgestellt – so verhilft Wahlfreiheit zu mehr Abwechslung und neuem Wissen. Wer englische Konversation übt, tut dies nicht im Klassenraum, wo die Schüler möglichst still arbeiten sollen, sondern auf dem Flur oder einer Bank auf dem Schulhof. Gerade Jungs in der Pubertät, die oft Schwierigkeiten haben, längere Zeit still zu sitzen, werden durch dieses »mobile« Lernen ausgeglichener und »stören« weniger.

Viele Kinder müssen sich erst an das selbständige Arbeiten gewöhnen, daran, ihr Lernmaterial selbst zusammenstellen zu müssen oder ihre Fragen nicht sofort vom Lehrer beantwortet zu bekommen, sondern als ersten Schritt zur Hilfe die Selbsthilfe anzuwenden. Das ist einigen Schülern unbequem, sie müssen das aktive Handeln erst üben. Hier ist die Jahrgangsmischung von großem Vorteil, da die jüngeren Schüler sich an den älteren orientieren können. In diesem Prozess erhalten sie regelmäßige Unterstützung in den Tutorengesprächen, die ihre Klassenlehrer mit ihnen führen.

Wie funktioniert das individuelle Lernen und die Binnendifferenzierung?

 

Entsprechend dem Rahmenlehrplan ist eine bestimmte Anzahl von Bausteinen vorgeschrieben, die pro Schuljahr bearbeitet und erfolgreich abgeschlossen werden müssen. Bei manchen ist eine Reihenfolge vorgegeben, da sie aufeinander aufbauen, bei anderen haben die Schüler freie Wahl. Wie viel Zeit jedoch auf einen Baustein verwandt wird, liegt weitgehend beim Schüler. Wer beispielsweise in Englisch sehr gut ist und in Mathe Schwierigkeiten hat, hat die Möglichkeit, mehr Zeit im Mathe-Lernbüro zu verbringen, zusätzliche Übungen zu machen oder sich den Stoff nochmals erklären zu lassen, bevor er sich zum Test anmeldet. Die klassische Situation im herkömmlichen Matheunterricht ist: Einer hat es immer noch nicht verstanden, und die anderen sitzen da und langweilen sich. Oder aber der Langsamere bleibt zurück und hat binnen kürzester Zeit den Anschluss verloren – und die Motivation, sich weiter anzustrengen.

In Lehrerfortbildungen wird an dieser Stelle regelmäßig gefragt, ob man nicht für jeden Schüler einen individuellen Test entwickeln müsse, weil sie zeitlich versetzt schreiben. Nein, muss man nicht. Zum einen, weil bis zur Klasse 9 keine Noten vergeben werden und dies dazu führt, dass das Denken, besser als andere sein zu wollen, so gut wie ausgeschaltet ist. Den viel wichtigeren Grund nennt aber die Elftklässlerin Shana: »Klar könnte man sich die Ergebnisse weitersagen, das passiert vielleicht auch mal. Aber man merkt dann schon irgendwann, dass man sich damit selbst betrügt. Anfangs kann man sich vielleicht noch durchwurschteln, aber die Sachen bauen ja aufeinander auf, und irgendwann muss ich sie verstanden haben.«

Nicolas, der auch zum ersten Jahrgang gehört, wechselte im zweiten Halbjahr der 7. Klasse von einem Superschnellläufer-Gymnasium auf die esbz. »Weil ich vorher den Stoff so eingetrichtert bekommen hatte, konnte ich viele Bausteine ganz schnell machen. Wahrscheinlich war ich ein bisschen gelangweilt und hab dann allen möglichen Quatsch gemacht. Aber das hat sich alles ziemlich gut entwickelt. Den größten Unterschied sieht man von der 9. in die 10. Klasse, wenn man sich mein Zeugnis anguckt. Ich denke also, dass die Schule einen ziemlich guten Einfluss auf mich hat.«

In den vergangenen Jahren haben Eltern immer wieder die Sorge geäußert, ob ihre Kinder – bei all den vermittelten Metakompetenzen (die ja ein wichtiger Grund für die Wahl dieser Schule waren) – denn auch genug »Stoff« lernen. Im Jahr 2011 konnten wir uns nun zum ersten Mal mit anderen Berliner Schulen vergleichen: Unser erster Jahrgang hat die landesweiten zentralen Abschlussprüfungen geschrieben und dabei überdurchschnittlich abgeschnitten. Auch bei den VERA-8-Vergleichsarbeiten haben unsere Jugendlichen bisher weit überdurchschnittlich gut abgeschnitten. Im Februar 2012 erhielten wir die Ergebnisse der wissenschaftlichen Begleitforschung für das Pilotprojekt der Berliner Gemeinschaftsschulen. Untersucht wurde der Lernzuwachs in Lesekompetenz, Rechtschreibung, Englisch, Mathematik und Naturwissenschaften bei den Jahrgängen 7 bis 9 im Vergleich zu Schulen in Hamburg mit vergleichbaren Eingangsvoraussetzungen sowie vergleichbaren Berliner Schulen. In allen untersuchten Bereichen schnitt die esbz mindestens genauso gut ab, in vielen sogar signifikant besser.

Trotzdem wird uns die Frage, ob die Kinder dem späteren Leistungsdruck werden standhalten können, wenn sie bis Klasse 9 keine Noten bekommen, immer wieder gestellt. Dazu sagt Dorothea Kleihues, Gesamtelternvertreterin an unserer Schule: »Ich glaube, die größte Herausforderung für Eltern ist es, die Kinder auch mal zu lassen. Man muss auch mal zulassen können, dass die scheitern. Ich kann ja nicht mein Leben lang neben meinem Kind stehen. Je eher ich es schaffe, ihm den Raum zu geben, sich selbst zu entwickeln und zu lernen, wie teile ich mir das ein, wie arbeite ich am besten, umso besser.«

Andere Eltern beobachten an ihren Kindern, dass sie genau davon profitieren, nicht nur nach exakten Vorschriften und Regelungen arbeiten zu müssen, sondern nach ihrem Rhythmus und ihrer Verfassung lernen und entsprechend kreativ sein können. Eine Mutter, die Trapezkünstlerin ist, nimmt ihre beiden Töchter manchmal mit, wenn sie für ihre Engagements mehrere Monate am Stück im Ausland sein muss. Den Stoff können die Mädchen sich dank der Lernbüro-Bausteine auch unterwegs erarbeiten, auch Projektthemen, die Tutorengespräche finden per E-Mail oder Skype statt. »Weil ich meine Kinder immer wieder für eine Zeit aus der Schule nahm, haben mich anfangs viele Eltern gefragt, ob ich nicht Angst hätte, dass sie sitzen bleiben«, erzählte die Künstlerin. Sie sei froh, dass die Schule ganz anders mit dieser Situation umgehe und die Kinder immer bestärke, indem sie zum Beispiel ihre guten Englischkenntnisse hervorhebe, die sie durch die Auslandsaufenthalte erworben haben.

Während es für starke Schüler im klassischen Unterricht nur die Möglichkeit gibt, gleich eine ganze Klasse zu überspringen, können sie an der esbz aufgrund der Jahrgangsmischung auch in einzelnen Fächern Stoff einer höheren Klasse bearbeiten. Clara hatte vor Ende der Klasse 9 bereits alle Bausteine bearbeitet. »Meine Tutorin hat mich damals richtig gut beraten und mir vorgeschlagen, doch ins Ausland zu gehen«, erzählt sie. Clara entschied sich für Neuseeland, wo sie ein halbes Jahr bei einer Gastfamilie lebte und zur Schule ging. Für ihren auf Englisch gehaltenen Vortrag über ihre Erfahrungen in Neuseeland bekam Clara viel Beifall von der Schulversammlung.

Im Kollegium sprechen wir nicht mehr vom Unterrichten, sondern vom Lernen.

Caroline Treier, pädagogische Leiterin

 

Zur Binnendifferenzierung hat die esbz jetzt ein sogenanntes Lernpfadprinzip entwickelt, das es den Schülern ermöglicht, auf unterschiedlichen Wegen durch einen Baustein zu kommen. Es gibt einen Basisweg, den alle gehen. Die Schwächeren können zusätzliche Übungen machen, um sich ein Thema anzueignen, das sie nach zwei Aufgaben vielleicht noch nicht verstanden haben. Und die Stärkeren können über den Drei-Sterne-Lernpfad weitere Themenbereiche oder Aufgaben bearbeiten. »In Geschichte zum Beispiel könnte ein starker Schüler sagen, beim Thema Kolonialzeit interessiert mich Namibia besonders«, erklärt unsere Deutsch- und Geschichtslehrerin Jenni Leonhard. »Dann prüfen wir zusammen, was kann er machen, welches Material kann er benutzen, was genau muss er mir als Lehrer nachweisen, um seine Leistung zertifiziert zu bekommen.« Die Lernpfade sind so angelegt, dass die Schüler genau sehen, welche Schritte ihre nächsten sind, beispielsweise wann sie ihr Heft beim Tutor abgeben sollten, um ein Feedback zu bekommen. Außerdem gibt es seit diesem Schuljahr freie Bausteine, die den Schülern zusätzlichen Freiraum geben und den Tutoren die Möglichkeit, dafür weitere Zertifikate zu vergeben. Das kann ein aktueller Film sein, den ein Schüler sich in der Freizeit auf Englisch anschaut und zu dem er anschließend ein Paper verfasst. Weitere Englisch-Credits kann man sich übrigens in Werkstätten wie dem English Conversation Club holen, durch Projektpräsentationen in englischer Sprache oder in den English Day Camps, die wir in den Sommerferien gemeinsam mit Studierenden aus den USA anbieten. Rund 70 Schüler der esbz nehmen in jedem Jahr daran teil, machen eine Woche lang mit Muttersprachlern Sport und Kreativworkshops – und so manches Kind erzählt uns nachher erleichtert, es habe endlich »seinen Horror vor Englisch« verloren.

Auch für Projekte wie Lehrerfortbildung oder die Teilnahme am Kirchentag können die Jugendlichen anrechenbare Credits erhalten. Für Schüler mit besonderem Förderbedarf, mit LRS, Diskalkulie oder auch mit einer Schwäche in einem bestimmten Fach haben wir das sogenannte Lernbüro Plus eingerichtet, in dem es besondere Materialien gibt und eine Sonderpädagogin die Kinder unterstützt.

Gibt es im Lernbüro nur individualisierte Einzelarbeit?

 

Diese Frage wird uns ebenfalls regelmäßig gestellt. Im Lernbüro dürfen Schüler zu zweit oder in Teams zusammenarbeiten, für manche Bausteine ist Gruppenarbeit sogar vorgeschrieben, zum Beispiel bei Sprachübungen in Englisch. Naturgemäß arbeiten zunächst häufig befreundete Kinder zusammen, nicht wenige davon stellen aber im Laufe der Zeit oft fest, dass sie unterschiedliche Stärken haben. »Auf diese Weise lernen sie, dass ein Freund nicht zwangsläufig ein geeigneter Lernpartner sein muss oder, andersherum, ein Lernpartner förderlich sein kann, mit dem man außerhalb des Lernbüros nicht enger befreundet ist«, beschreibt Jenni Leonhard eine zusätzliche Kompetenz, die die Kinder bei dieser Art des Lernens erwerben. Impulse finden im Lernbüro trotzdem zwar statt, aber deutlich sparsamer dosiert als im Frontalunterricht: Es werden immer wieder Kurzeinführungen in neue Bausteine angeboten, es gibt den talk, mit dem das Englisch-Lernbüro täglich beginnt, oder einen Schülervortrag mit Feedback am Ende vom Deutsch-Lernbüro.

Wie wird der Leistungsstand der Kinder überprüft?

 

Jeder Schüler führt ein Logbuch, das ihn in seinem Entwicklungsprozess des selbständigen Lernens begleitet. Dieses Logbuch

 
  • dient der Planung, Kontrolle und dem Leistungsnachweis,
  • dokumentiert Ziele und Erfolgserlebnisse, Vereinbarungen und Rückmeldungen,
  • unterstützt die Kommunikation mit den Eltern,
  • ist Grundlage für das wöchentliche Tutorengespräch sowie das halbjährliche Bilanz- und Zielgespräch.

Anhand einer Übersicht sehen Schüler und Tutoren auf einen Blick, welche Bausteine im Laufe einer Woche, eines Monats und bis Schuljahresende erworben werden sollen und welche Lernfortschritte und Zertifikate bereits erreicht sind. Alle Zertifikate werden gesammelt und zusammen mit Kommentaren der Lehrer in einer Mappe aufbewahrt. Im Logbuch gibt es ein Wochenfeedback zur Arbeitshaltung, Regelrespektierung, Logbuchführung und zum Material- / Logbuch.

Und schließlich findet sich darin die sogenannte Stolzecke, in die die Schüler eintragen, worauf sie in dieser Woche selbst stolz sind. Das zu tun fällt manchen Kindern nicht leicht. »Gerade Schüler, die neu an unsere Schule kommen, denken oft, es ginge dabei um Höchstleistungen. Mit Schülern, die ein geringes Selbstwertgefühl haben oder extrem selbstkritisch sind, wird daher im Bilanz- und Zielgespräch vereinbart, dass sie regelmäßig die Stolzecke ausfüllen. »Sie müssen es schaffen, jede Woche etwas zu finden. Jemand, der sich immer nur ganz wenig meldet, darf zum Beispiel stolz darauf sein, wenn er sich zweimal gemeldet hat. Auch wenn das im Normalempfinden vielleicht wenig ist, aber für diesen Schüler ist das individuell ein ganz wichtiger Schritt«, sagt Jenni Leonhard.

Auf der ersten Seite des Logbuchs heißt es:

 

In unserer Schule legen wir Wert auf

deine Selbständigkeit und Eigenverantwortlichkeit.

Damit sich alle Menschen an unserer Schule wohlfühlen

und gute Leistungen erzielen können,

müssen die gemeinsam erarbeiteten

Rechte und Regeln respektiert werden.

*

Alle Menschen in unserer Schule haben ein Recht auf

konzentriertes Lernen und Arbeiten,

Respekt,

das Einhalten von Absprachen,

das Einhalten der Gesprächsregeln,

pünktlichen Beginn,

ordentliche Räume,

eine schöne Atmosphäre,

interessante Arbeitsaufgaben,

ein zeitnahes Lösen von Konflikten,

Wertschätzung der Arbeit,

positive Einträge in das Logbuch.

Januar 2008 – die Schülerinnen und Schüler des Gründungsjahrgangs

Tipp:

Das Logbuch der esbz kann unter dem Link Downloads von der Website geladen werden; www.ev-zentrum.de

 

Motivierende Leistungsbewertung: Wertschätzung und Förderung statt Defizitblick und Noten

 

Gute Beziehungen und Vertrauen, Anerkennung und Auszeichnung sind entscheidende Faktoren für Motivation, für Lernen und für das Engagement von Kindern und Jugendlichen. Lob ist anspornender als Sanktionen. Wir wissen es aus der Psychologie, und zahlreiche Studien belegen es: Was unsere Aufmerksamkeit erhält, wächst.

Gewöhnliche Schüler haben außergewöhnliche Fähigkeiten!

Andreas Schleicher, internationaler PISA-Koordinator

 

Unser herkömmliches System macht Lehrer, häufig gegen ihre Überzeugung, zu Defizitnachweisern. Die Qualität der modernen Schule zeigt sich hingegen in einer Mentalität von Schatzsuchern, die in allen ihre Potenziale entdecken und entwickeln sowie Gelegenheiten schaffen will, die Qualitäten in sinnvolle Kontexte einzubringen. Wenn jedoch alle wissen, dass gute Beziehungen wichtig sind, weil nachhaltiges Lernen sehr stark davon abhängt, und trotzdem keine Zeit für sie bleibt, dann sendet das eine katastrophale heimliche Botschaft aus, nämlich: Für das Wichtige ist an dieser Schule keine Zeit. Wenn man etwas für sinnvoll erachtet, wenn man etwas erreichen will, braucht es dafür Orte, Zeiten, Räume.

Ich beobachte voller Vertrauen, wie die Lehrer hier Begleiter sind. Die Kinder sind wie kleine Pflänzchen, die aufwachsen, und hier ist immer jemand bei ihnen, aber zerrt nicht an ihnen herum.

Iris Bussler, Schülermutter

 

An der esbz liegt der Kern für eine gute Beziehungskultur in den regelmäßigen Gesprächen mit dem Tutor. Die Klassenlehrer bekommen für die Gespräche mit ihren Tutanden ein angerechnetes Zeitkontingent von 90 Minuten, in der 10. Klasse eine Stunde. Während dieser Einzelgespräche hat der Rest der Klasse Studierzeit, macht also Hausaufgaben, Logbucheinträge, lernt Vokabeln. Wir erleben, dass die Kinder es als große Wertschätzung empfinden, dass ihr Lehrer Zeit für sie hat. Sie sagen auch nie: »Frau Soundso ist meine Lehrerin«, sondern: »Sie ist meine Tutorin«.

Durch die Tutorengespräche nehmen die Lehrer wirklich jedes einzelne Kind wahr, merken, wenn ein Schüler beispielsweise ein bisschen stiller oder auch unruhiger ist, und können dann nachfragen. »Die Lehrer wissen, wie ich ticke, auch was ich nicht so gut kann und wo man mich noch stützen muss«, sagt Martha aus Jahrgangsstufe 9. Und Nicolas, der zum Gründungsjahrgang gehört, meint sogar: »Die Lehrer an dieser Schule sind anders als an anderen Schulen. Sie sind uns viel näher. Auf dem Gymnasium, auf dem ich vorher war, wusste man den Namen, man wusste, wie der Lehrer aussieht, aber ansonsten hat man ihn nicht kennengelernt.«

Ich freue mich auf die Tutorengespräche am Freitag, sie sind auch für mich ein guter Wochenabschluss.

Jenni Leonhard, Mittelstufenleiterin

 

Im Tutorengespräch wird die Woche nachbesprochen und die kommende Woche gemeinsam strukturiert: Welche Lernbüros wurden besucht? Welche Bausteine bearbeitet oder abgeschlossen? Wurden die im vorigen Gespräch selbst gesetzten Wochenziele erreicht? Es ist eine wichtige Lernbegleitung – für den Tutanden wie auch für die Tutoren. Die Lehrer sind immer auf dem Laufenden, wissen, wo jemand gerade steht, und fühlen sich verantwortlich. Schließlich kann ein Kind sein Ziel auch mal aus dem Auge verlieren. Natürlich ist es Aufgabe des Tutors, den Lernfortschritt im Blick zu haben und verbindliche Vereinbarungen zu treffen. Beliebigkeit darf nicht Teil des Konzeptes werden. Wenn ein Schüler hinter seinen Möglichkeiten zurückbleibt, muss er auch mal angeschubst werden. »Für mich sind die Tutorengespräche wichtig, weil ich immer ein bisschen Druck brauche, damit ich Sachen erledige«, sagt Leonie, die in die 10. Klasse geht.

Wir versuchen uns hier von der Normierung, dem »Mittelfeld« zu lösen. Jedes Kind ist anders, jedes Kind hat seine nächste Entwicklungsstufe.

Aileen Rodewald, Sonderpädagogin

 

Wir beobachten immer wieder, dass Schüler sich sogar auch dann gerne mit ihrem Tutor treffen, wenn sie wissen, dass sie – wie sie es ausdrücken – »eins auf den Deckel bekommen«. »Auf einer anderen Schule würde ich vielleicht eine schlechte Note kriegen«, meint Martha. »Hier werde ich kritisiert, teilweise richtig hart, aber in so vielen Details, dass ich mich dadurch viel besser kennenlerne und ganz anders aufgebaut werde.« Ein Schüler formulierte einmal: »Tutorengespräche – das ist wie unten abgefedert und oben nicht gedeckelt!«

Wenn ein Ziel nicht erreicht wird, überprüfen die Tutoren, woran es liegt, und vereinbaren konkrete Schritte zur Verbesserung. Wenn jemand sich beispielsweise leicht ablenken lässt, überlegen wir, wie die Lernumgebung geändert werden kann. Die Schüler müssen dabei auch immer selbst Vorschläge machen. Es kann sein, dass die Schulwoche schlecht gewesen ist, der Tutand aber ein wunderbares Klaviervorspiel hatte – das wird natürlich in der Stolzecke des Logbuchs vermerkt. Auch bei persönlichen Schwierigkeiten holen sich die Kinder bei ihren Tutoren Rat, die Gespräche finden für sie sozusagen auf neutralem, sicherem Boden statt.

Und wenn man nun noch jemanden findet, der diese Leistung anerkennt, würdigt und wertschätzt, kann es sein, dass man von einem resignierenden Schwarzseher und Nichtstuer zu einem begeisterten Problemerkenner und Umgestalter wird.

Gerald Hüther, Hirnforscher

 

Zum Ende des Halbjahres sowie des Schuljahres – bei Kindern mit besonderem Förderbedarf öfter und in anderer Besetzung – kommen Tutor, Tutand und Erziehungsberechtigte zu einem sogenannten Bilanz- und Zielgespräch zusammen. Für uns sind Eltern die dritte Säule in unserem Konzept, neben dem Kind und uns Pädagogen, also der Schule. Nur im Zusammenspiel aller drei kann ein Kind optimal vorankommen. Gemeinsam werden das zurückliegende und das kommende halbe Jahr besprochen und in der Regel drei Ziele vereinbart. Diese müssen nicht unbedingt aus dem fachlichen Leistungsbereich sein, es kann sich auch jemand vornehmen, in seiner Freizeit mehr Sport zu treiben.

Alle Parteien sind dafür verantwortlich, zur Lösung oder Umsetzung beizutragen. Im Bilanz- und Zielgespräch helfen wir zum Beispiel auch Eltern und Kindern, einen Zeitrahmen für die Woche zu erarbeiten, oder unterstützen die Kommunikation im Elternhaus. Dorothea Kleihues beobachtet jetzt schon im fünften Jahr, wie sehr die Gespräche ihre Kinder in ihrer Entwicklung voranbringen: »Weil die Tutoren einfach formulieren: Was willst du machen? Wo gehst du hin? Diese Haltung macht den Kindern bewusst: Es ist meine Schule, meine Arbeit, ich mache das, es geht um mich. Das ist wirklich eine gleichwertige Ebene mit den Kindern.«

Eine Ziffer hat keinen echten Informationsgehalt und wirkt auch wenig wertschätzend. Es gibt an deutschen Schulen Lehrer, die 200 Schüler benoten müssen, ohne dass sie sie wirklich einschätzen können.

 

Bis zum Ende der 9. Klasse, wenn zum ersten Mal Noten vergeben werden, erhalten die Schüler Zertifikate über ihre erreichten Kompetenzen. Die Lehrer geben den Kindern dabei eine Rückmeldung, was ihnen gut gelungen ist und wo und wie sie sich noch verbessern können. Zum Schuljahresende erhalten die Jugendlichen zusätzlich zum Bilanz- und Zielgespräch einen ausführlichen Lernentwicklungsbericht.

Ein Highlight der Leistungsbewertung ist die Auszeichnungsversammlung am Ende jedes Halbjahres, bei der besonderes Engagement gewürdigt wird. »Ausgezeichnet wird jeder, der etwas Gutes vollbracht hat«, erklärt Lara aus Klasse 9. Vorgegeben für Auszeichnungen sind der oder die »Leistungsbeste« und der oder die »sozial Engagierteste« und – sehr wichtig – die »Aufsteiger des Jahres« im Leistungs- und Sozialbereich. Ansonsten sind die Vergabekategorien offen.

Entscheidend hierbei ist, dass die Mitschüler diskutieren und entscheiden, wer eine Auszeichnung wofür verdient hat. So bekommt die Leistungsbeste mit, weshalb Mitschüler sie so sehen, und der Aufsteiger des Jahres im Sozialbereich, der vielleicht immer noch manchmal nervt, aber sich sehr angestrengt hat, spürt, welche Achtsamkeit und Wertschätzung er dafür von seinen Mitschülern erfährt. Für so manchen war das die entscheidende Ermutigung zu »Mehr davon!« .

An dieser Schule muss man und will man viel reden. Wenn man nicht miteinander redet, kommt man hier nicht weit.

Clara, 10. Klasse, in der Lehrerfortbildung

 

Auch die Lehrer werden in ihrem Engagement wahrgenommen und ausgezeichnet, von der Schulleitung und von Kindern. Zum Schuljahresende feiern wir außerdem unser Verantwortungsfest, bei dem wir besondere Leistungen der Siebt- und Achtklässler in ihrem Projekt Verantwortung öffentlich würdigen. »Für mich hat das sehr viel mehr Aussagekraft, als wenn ich ein DIN-A4-Blatt bekomme mit ein paar Zahlen drauf«, sagt die Elftklässlerin Shana. »Auch die Eltern erfahren sehr viel, was für mich erst ungewöhnlich war, meine Mutter hat mir nämlich sehr viel Freiraum gelassen. Als ich an die esbz kam, hat sie plötzlich alles erfahren. Ich dachte erst, o nein, wie peinlich, aber dann fand ich es ganz cool.«

Die wertschätzende Bewertung wird vom Kollegium der esbz ständig weiterentwickelt. Neben den neu eingeführten offenen Bausteinen, die es den Tutoren ermöglichen, zusätzliche Leistungen ihrer Tutanden anzuerkennen, gibt es zusätzlich das sogenannte Ich- oder Talent-Portfolio, das alle, auch außerschulische Kompetenzen, Fähigkeiten und Interessen beinhalten soll, auf die ein Schüler stolz ist. »Unsere Schüler leisten unglaublich viel, das Portfolio soll ihre Schatzkiste werden«, erklärte dazu Caroline Treier, die das Projekt federführend entwickelt. »Ganz wichtig ist dabei, dass es von den Tutoren nicht bewertet wird, es liegt im Zuständigkeitsbereich des Jugendlichen.«

Ein Beispiel dafür, was ein Kind für sein Portfolio mitnehmen kann, sind die Klappkarten, mit denen Mandy Voggenauer in ihrer Zehnten arbeitet: Jeder Schüler darf darauf seine individuelle Lernernte nach einem Blue-Economy-Projekt zum Thema Lebensmittelproduktion reflektieren, kreativ und ohne Vorgaben. »Die Dokumentation ist für die Kinder enorm wichtig«, sagt Mandy Voggenauer, »weil sie oft denken, dass sie nur im klassischen Unterricht etwas lernen.« Ein anderes Beispiel ist die Dokumentation über ihren Auslandsaufenthalt in der Elften. Wir wollen dafür weitere Formen der Würdigung finden, die nicht benoten. Mit Noten verbinden sich Ziffern – und Ziffern werden den Leistungen, die unsere Jugendlichen bei ihrem Aufenthalt in einer anderen Kultur vollbringen, nicht gerecht. Wenn sie mögen, können sie sich zum Beispiel eine Person ihrer Wahl von außerhalb der Schule suchen, von der sie meinen, dass sie geeignet ist, ihr Tun zu würdigen. Das wäre dann die Organisation des fremden Blicks, der ja ein besonders vertrauter sein kann, jenseits des Tellerrands der Schule, aber vielleicht mitten aus dem Geschehen.

Innovationsfähigkeit ist lernbar – individuell und im System Schule

 

Eine Schule, die Innovatoren und Wandelversteher hervorbringen will, muss auch selbst offen für Neues bleiben und sich immer weiterentwickeln. Ein Grundsatz der esbz ist es, dass nicht nur die Schulleitung, sondern Lehrer, Schüler, Eltern und Partner der Schule gleichermaßen an dieser Entwicklung beteiligt werden. Denn »dadurch geschieht sehr viel, weil man mehr Kräfte hat, die mit am Rad drehen können«, ist eine Schülermutter überzeugt. Fest steht: Wer seine eigenen Ideen verwirklichen kann, ist mit mehr Herz und mehr Begeisterung dabei, als wenn er fremdbestimmt ist. Es ist außerdem eine Form von Wertschätzung für einen Ideengeber, wenn seine Anregungen aufgegriffen werden, Unterstützung finden, weitergesponnen werden.

Und wenn du einmal diese Energie spürst, dann wirst du immer mutiger, dann willst du immer weiter, und andere auch.

Ben, 11. Klasse

 

»Vom Verwaltetwerden zum Gestalten« heißt die Devise.

 

Wenn Begeisterung der Schlüssel für Lernen ist, dann ist Offenheit der Schlüssel für eine moderne, erfolgreiche Schule. Wir wollen unnötige Bürokratie vermeiden, denn sie wirkt in aller Regel blockierend. An der esbz erleben wir, wie diese Kultur der Offenheit Menschen ermutigt, einander auch mit Quergedachtem zu inspirieren und sich engagiert einzubringen, um Ideen wachsen zu lassen. Die Kinder werden in ihren Anregungen ernst genommen, und es gibt immer jemanden, der ihnen zuhört. Anna van der Linden, die gerade mit einer Kollegin und Schülern ein Konzept für einen Aktiv-Hof entwickelt, sagt: »Was ich als ganz große Stärke dieser Schule begreife, ist, dass man seitens des Leitungsteams viel Freiraum bekommt, um Projekte zu entwickeln. Wenn es Konzepte gibt, bekommt man auch ungewöhnliche Zeiträume zur Verfügung.«

Es wird viel umgesetzt von dem, was besprochen wurde, und zwar mutig, nicht ängstlich. Und wenn etwas nicht so läuft wie gedacht verändert man es noch mal. Flexibilität und Handeln sind zwei Schlüsselworte, die diese Schule kennzeichnen. Sie ist geprägt von einem Klima, das innovationsfreundlich ist.

Ich habe oft erlebt, dass die Schulleitung, wenn wir mit einer guten Idee kamen, diese sofort umgesetzt hat: Entweder notierte sie sich etwas dazu, rief jemanden an oder holte gleich einen Lehrer dazu.

Brita Wauer, Vorsitzende des Elternvereins

 

Blue-Economy-Fabeln sind dafür ein gutes Beispiel: Der Keim entstand bei einem ersten Zusammentreffen der Schulleitung mit Markus Haastert, Vorsitzender des Vereins ZERI in Deutschland (Zero Emissions Research and Initiatives) und einer der Vordenker der Blue Economy. Mandy Voggenauer griff das Thema nach einem Vortrag von Gunter Pauli beim Berliner Innovationskreis auf. »Ich habe das oft an dieser Schule, dass Dinge einfach zusammenpassen, dass ich das Gefühl habe: Das ist die konsequente Weiterführung, das soll so sein«, beschreibt sie selbst, wie aus diesem Keim ein Pflänzchen wurde. In weiteren Treffen, bei denen beide Seiten Möglichkeiten einer Zusammenarbeit ausloteten, ist daraus jetzt eine feste und sehr fruchtbare Engagement-Partnerschaft erwachsen.

Innovation heißt auch, interdisziplinär zu denken und zu netzwerken. Wie das in wenigen Monaten gelingen kann, zeigt beispielhaft auch unsere Arbeit mit Design Thinking – einer Methode, die hilft, für komplexe Fragestellungen innovative Lösungsansätze zu entwickeln. Bei einem Gespräch mit Ulrich Weinberg, dem Leiter der HPI School of Design Thinking in Potsdam, stellten wir fest, dass unsere Vorstellungen von der Notwendigkeit eines Paradigmenwechsels in der Bildung eng beieinanderliegen.

Längst haben zahllose Studien belegt, dass die Zukunftsfähigkeit einer Gesellschaft in erster Linie davon abhängt, wie kreativ und innovativ möglichst viele ihrer Mitglieder sind. Design Thinking setzt genau hier an: Es ist eine Ausbildung, die zur kreativen Entwicklung von praktischen und innovativen Lösungen für die Herausforderungen in unserer Gesellschaft befähigt. Mit dem Projekt Verantwortung und mit ihrer Ausrichtung als Agenda-Schule ist die esbz auf die Lösung von gesellschaftlichen Herausforderungen ausgerichtet und braucht schon deshalb eine Methode, die ihr dabei dienlich ist.

Entwickelt wurde Design Thinking um die Jahrtausendwende in der renommierten US-amerikanischen Design- und Beratungsagentur IDEO. Im Mittelpunkt dieser Methode stehen stets Menschen, ihre Bedürfnisse und Gewohnheiten.

Design Thinking: eine bahnbrechende Methode

 

Die Methode umfasst standardmäßig sechs Phasen, die ein interdisziplinäres Team durchläuft, um die Umsetzbarkeit einer Idee (eines Unternehmens, einer Einrichtung, einer Gruppe usw.) zu prüfen.

In Phase eins geht es darum, die Problemstellung genau zu verstehen. Das Team bemüht sich um eine möglichst präzise Definition der Problemstellung beziehungsweise der zu lösenden Herausforderung. Die Entwicklung innovativer Lösungen wird heute zumeist als Aufgabe von Spezialisten angesehen. In Wirklichkeit aber werden oft die kreativsten Lösungen von Menschen entwickelt, die mit Neugier und gesundem Menschenverstand sowie unabhängig von allzu viel Expertenwissen an eine Sache herangehen.

In der zweiten Phase betreibt das Team Feldforschung: Es geht zu jenen Menschen, für die eine Innovation entwickelt werden soll, fragt und beobachtet, ohne sich dabei von Annahmen leiten zu lassen. Dies geschieht so lange, bis es die Situation jener Menschen und das, was sie brauchen, wirklich erkannt hat. In dieser Phase muss durch viele unterschiedliche Blickwinkel auf die Problemstellung eine echte 360-Grad-Sicht entstehen. So erfuhr auch Muhammad Yunus erst durch die direkte Befragung der Ärmsten, was sie brauchen, um aus dem Teufelskreis der Armut herauszukommen, eine echte Innovation in der Armutsüberwindung. Denn im Unterschied zu allen Experten sagten die Betroffenen, sie bräuchten etwas Geld, um den für ihre Arbeit benötigten Rohstoff oder das Arbeitsgerät selbst anschaffen zu können, was ihnen ermögliche, am Ende von ihrer Wertschöpfung selbst – und nicht irgendwelche Ausbeuter – profitieren zu können. Erst durch diese hochkonzentrierte und völlig ergebnisoffene Befragung der Betroffenen erkannte Yunus, welche Art von Innovation er zur Armutsüberwindung entwickeln musste: ein funktionierendes Darlehenssystem für Arme.

In der dritten Phase des Design-Thinking-Prozesses entwickelt das Team aus den bis dahin gewonnenen Erkenntnissen eine »Persona«: die idealisierte visualisierte Zielperson, die die Lebenssituation sowie alle Eigenschaften der Gruppe verkörpert, für die die Innovation entwickelt werden soll. Ein entscheidendes Hilfsmittel ist hier die Visualisierung, die für Außenstehende oft lustig zu beobachten ist: Ein Teammitglied »verwandelt« sich durch Verkleidung in jene Person. Dies hilft dem Team dabei, die komplexen Zusammenhänge zu verstehen und nachhaltig im Blick zu behalten sowie ein gemeinsames Verständnis herzustellen und sich darüber im weiteren Verlauf erfolgreich austauschen zu können.

Erst jetzt folgt in der vierten Phase das, womit man sonst bei Innovationsprozessen beginnt: das Brainstorming. Dank der Vorbereitung in den drei vorangegangenen Phasen erhält das Brainstorming im Design Thinking eine gänzlich andere Qualität und lässt sich in der Regel auf 20 bis 30 Minuten beschränken. Das Team entwickelt so ein ganzes Panorama an Lösungsideen, aus dem es sich auf einen brauchbaren Lösungsansatz einigen kann.

Dieser Lösungsansatz wird in der fünften Phase erneut visualisiert, indem er in einem Prototyp (an)fassbar gemacht wird. Auch das sorgt bei Außenstehenden oft für Erstaunen: Mit Hilfe von »Bastelmaterialien«, von Pappe und Stoffen bis hin zu Knete und Legosteinen, verhilft das Team der erarbeiteten Lösung zu konkreter Gestalt. Geht es um eine Dienstleistung, so wird diese szenisch dargestellt.

Die sechste und letzte Phase ist dem Erproben und Überprüfen der Innovation mit Hilfe des »gebastelten« Prototyps gewidmet, und zwar durch jene Menschen, für die diese Innovation entwickelt wurde.

Im Gegensatz zu der in Europa weit verbreiteten Haltung, nach der Scheitern das Schlimmste ist, was einem passieren kann, wird Scheitern im Design-Thinking-Prozess als überaus wichtig, notwendig und wertvoll erachtet.

 

Ein wichtiges Prinzip der Methode ist, in jeder Phase des Entwicklungsprozesses alle bis dahin gewonnenen Erkenntnisse und Lösungsansätze immer wieder radikal in Frage zu stellen, ganz nach dem Motto: »Scheitere früh und oft!« Wer Scheitern vermeiden will, konserviert damit unvermeidlich seine bisherigen Denkmuster und kann diese umso schwerer überwinden. Doch genau darum geht es bei fast allen Innovationsentwicklungen: um das Aufbrechen bisheriger Denkschablonen.

Den Satz »Das geht nicht« gibt’s hier nicht so oft.

Ariane Konetzka, Koordinatorin Projekt Verantwortung

 

Für unsere Schule ergab sich bald nach dem ersten Kontakt eine Möglichkeit zur Zusammenarbeit mit dem Hasso Plattner Institut: Schüler wurden eingeladen, an einem mehrtägigen Design-Thinking-Seminar teilzunehmen. Sie waren begeistert. Umgekehrt machte Andrea Scheer, eine Absolventin des Instituts, ein halbjähriges Praktikum an der esbz. Gemeinsam mit Elias Barrasch und Sophia Klees entwickelt sie gerade das Konzept »Creative Confidence«, um dieser zukunftsweisenden Methode des interdisziplinären und prozessorientierten Arbeitens im Team auch in deutschen Schulen und Bildungseinrichtungen zum Einsatz zu verhelfen (in den USA ist sie schon sehr viel weiter verbreitet). Im Grundsatz geht es darum – wie die Konzeptschmiede es ausdrücken –, »vom Ego-System zum Eco-System« zu gelangen.

Creative Confidence versteht sich als Schnittstelle zwischen Bildungseinrichtungen und Organisationen aus Wirtschaft und Gesellschaft. Das Konzept sieht Schulen nicht isoliert, sondern als wichtiges Element in einem Thinktank, in dem es mittels experimenteller und innovativer Methoden in permanenter Interaktion mit unserer Welt steht. Andrea Scheer ist davon überzeugt, dass »die Einblicke, die Schüler dadurch in verschiedene Lebens- und Berufswelten erhalten, der Grundstein sind für wichtige Entscheidungen ihren späteren Lebens- und beruflichen Weg betreffend. Creative Confidence fördert die (lebens)unternehmerischen Fähigkeiten der Kinder schon während der Schulzeit.« Grundsätzlich kann es für eine Gesellschaft nur von Vorteil sein, wenn viele Kinder und nicht nur Abgänger von Eliteuniversitäten mit diesen Fähigkeiten ausgestattet werden.

Wie gestaltet sich die Arbeit im Creative Confidence für Schüler und Lehrer?

 

Gemischte Schülerteams erarbeiten gemeinsam mit Akteuren aus Wirtschaft und Gesellschaft neue Lösungen für anstehende Herausforderungen. Ausgangspunkt soll dabei die Lebenswelt der Schüler sein. Denn Aufgaben, die für einen selbst eine konkrete Bedeutung haben, schaffen eine viel stärkere Motivation als externe Kontrollmechanismen wie Noten. Dabei lernen alle Beteiligten von den jeweiligen Erfahrungen und Perspektiven der anderen.

Nach Ende eines Projekts, das je nach Fragestellung eine Laufzeit bis zu sechs Monaten hat, werden die Ergebnisse öffentlich präsentiert und daran anschließend implementiert, beispielsweise durch die Einrichtung einer Schülerfirma. Damit es nicht nur bei einer »kreativen Idee« bleibt, initiiert und begleitet Creative Confidence diese Implementierungsphase und unterstützt die Schüler dabei, ihre Projekte zu realisieren. Dank eines gut ausgebauten Netzwerkes kann hier bei Bedarf auf das Know-how von mittelständischen Unternehmen, Universitäten, Forschungseinrichtungen, Fachwerkstätten zurückgegriffen werden.

Auch Lehrer haben die Möglichkeit, eine neue Rolle einzunehmen: Als Teammitglieder können sie selbst an den Projekten mitarbeiten und dabei ihre Schüler aus einer ganz anderen Perspektive kennenlernen. Da Organisation und Durchführung der Projekte in den Händen des Creative-Confidence-Teams liegen, haben die Lehrer zudem die Möglichkeit, aus dem Lehr-LernZyklus auszutreten und ihre Schüler mit offenem Blick wahrzunehmen. Neben ihrer fachlichen Kompetenz benötigen die Lehrkräfte hierbei Wissen darüber, wie kreative und zwischenmenschliche Prozesse ablaufen und wie sie sie unterstützen können.

Schließlich gewinnen auch die externen Projektpartner aus Wirtschaft und Gesellschaft durch ihre Teilnahme am Projekt: Sie lernen eine neue Arbeitsform kennen, profitieren von einer frischen, unkonditionierten Sichtweise der Schüler und sind darüber hinaus direkt an der Nachwuchsförderung beteiligt. Eine vom Creative-Confidence-Team begleitete Dokumentation der Projektarbeit der Schüler liefert wertvolle Erkenntnisse, welche so in den Unternehmen selbst nicht möglich sind.

Die esbz wird zur Pionierschule für Design Thinking

 

Zunächst werden die neuen Creative-Confidence-Lernformate an der esbz, die damit zum Labor für Design Thinking an Schulen wird, erprobt. Nach dieser Erprobungs- und Weiterentwicklungsphase erhoffen wir uns eine rege Verbreitung des Konzepts an anderen Schulen. Sobald die Finanzierung gesichert ist, kann es losgehen, vielleicht noch in diesem Jahr.

Ein weiteres Projekt – der Design-Thinking-Workshop mit Managern der European Leadership Academy – ergab sich bei einer Veranstaltung in der marokkanischen Botschaft. Und über eine Veranstaltung im Berliner Betahaus, einem offenen Gemeinschaftsbüro für Kreative, kam es zu einem Kontakt zu einer weiteren Expertin für Design Thinking, die Kurse an der Berliner Hochschule für Technik und Wirtschaft (HTW) anbietet. Sie hat einige unserer Schüler eingeladen, im nächsten Semester an einer Werkstatt teilzunehmen. Außerdem dürfen 15 Schüler an einem Workshop mit Studierenden der HTW und Gaststudenten aus Barcelona zusammenarbeiten. Unser Design-Thinking-Netzwerk hat bereits begonnen zu wachsen.

Ich habe vorher in Kollegien gearbeitet, in denen man Anträge schreiben musste für die Gesamtkonferenz, um dort eine Idee vortragen zu dürfen, über die dann abgestimmt und die mit Glück ein halbes Jahr später umgesetzt wurde.

Aileen Rodewald, Sonderpädagogin

 

Als weitere Neuerung beschäftigt die esbz seit diesem Jahr eine Sozialpädagogin mit Zusatzqualifikation in Wildnispädagogik. Als Teil der Umweltbildung will Annika Mersmann Techniken und Fähigkeiten vermitteln, die Menschen dazu befähigen, sich in der Natur heimisch zu fühlen. Im Wildnispädagogikkurs Naturverbindung und Gemeinschaft macht sie den Schülern ein Lernangebot, das durch die Gruppe selbst gestaltbar, aber natürlich auch von äußeren Faktoren wie etwa dem Wetter abhängig ist. »Es ist wichtig, dass wir Freiräume haben, zeitlich und räumlich«, sagt Annika Mersmann. »Als stärkend empfinde ich dabei den Vertrauensvorschuss der Schulleitung.« Auch die pädagogische Leiterin Caroline Treier findet, dass man »als Lehrer hier ganz viele Freiräume hat. Wenn jemand überzeugt ist, dass etwas der genau richtige Weg ist, und spricht es ab, bespricht die einzelnen Schritte, dann habe ich es sehr selten erlebt, dass etwas hier nicht möglich ist.«

Es gibt so viele Ideen an dieser Schule, das ist unglaublich. Manche scheinen so unrealistisch zu sein, dass man denkt, dass man sie gleich wieder vergessen kann. Aber wenn man dranbleibt, kann was Gutes draus werden.

Clara, 10. Klasse

 

Das gilt auch für Schüler und Eltern. Familie Maier beispielsweise hätte an vielen anderen Schulen ein Problem. Die Eltern sind Artisten und haben immer wieder längere Engagements im Ausland. Einfach alleine zurücklassen können sie ihre Kinder nicht, sie im Ausland zur Schule zu schicken wäre aber auch schwierig. »Wir würden uns praktisch nie sehen – wenn die Kinder aus der Schule kommen, würden wir gerade zur Arbeit aufbrechen, wir arbeiten auch an den Wochenenden und haben nur Montag und Dienstag frei«, sagt Sabine Maier. Als die älteste Tochter auf die esbz kam, stand für die Familie gleich zu Schuljahresbeginn ein dreimonatiger Auslandsaufenthalt an. Wir besprachen gemeinsam das Problem und haben eine Lösung gefunden, unter anderem nahm die Tochter Bausteine aus den Lernbüros mit, entwickelte und dokumentierte im Ausland ihr eigenes Projekt und führte ab und zu Tutorengespräche per Skype oder E-Mail. Das hat auch das zweite Mal wunderbar geklappt. »Die spontane Reaktion damals hat mich sehr beeindruckt«, sagt Sabine Maier heute. »Das ist es, was ich an dieser Schule am meisten schätze: diese Offenheit und das Vertrauen, das uns entgegengebracht wird.«

Ben, der zum Gründungsjahrgang gehört, findet, dass es an anderen Schulen »oft gar nicht erlaubt ist, Fragen zu stellen oder eigene Projekte vorzuschlagen. An unserer Schule gehen die Lehrer richtig auf uns ein, wir können viel mitbestimmen, ich bekomme Anerkennung. Dieses Gemeinschaftsgefühl nimmt der Schule auch die Gefahr.«

Alle haben viel zu tun, aber nehmen sich die Zeit, egal was man für ein Anliegen hat.

Anna van der Linden, Lehrerin für Deutsch und Geschichte

 

»Die individuellen Entwicklungswege, die wir bei der Schülerschaft fördern wollen, bilden sich auch im Kollegium ab«, beobachtet Paul B. Schmidt, Lehrer für Praktisches Lernen, der in seinem ersten beruflichen Leben Metaller in einem Industriebetrieb war und jetzt parallel zu seiner Lehrtätigkeit als Coach und Mediator arbeitet. Er ist nicht der einzige Quereinsteiger im Kollegium der esbz – in Berlin ist wegen Lehrermangels an den Schulen inzwischen Quereinstieg endlich möglich. »Wir sind ziemlich heterogen, das hat schon eine bestimmte Qualität«, sagt er. »Es gehört hier zum Konzept, dass man einen bestimmten Anteil von Leuten mit anderen beruflichen Hintergründen und Ausbildungswegen einlädt mitzumachen.«

Diese Offenheit spricht ganz offensichtlich auch zukünftige Kollegen an, was für uns eine sehr schöne Bestätigung ist. Die Studentin der Sonderpädagogik und Arbeitslehre Alice Rathgeber hat, nachdem sie fünf unserer Schülerinnen bei ihrer Herausforderung begleitet hatte, anschließend der Schulleitung eine E-Mail geschrieben: »Ich möchte mich unbedingt weiter an dieser Schule engagieren. Danke fürs Mutmachen!«