Warum wir das Rad doch noch einmal neu erfinden sollten

 

Die bisherigen Ausführungen dienten dazu, eine Schule erfahrbar zu machen, die vieles anders macht als die meisten der uns vertrauten Schulen, eine Schule, die sich auf den Weg begeben hat, Schule so zu verstehen und zu gestalten, wie sie den Zukunftsherausforderungen einer hochdynamischen, sich selbst immer wieder neu erfindenden Gesellschaft besser gerecht werden kann. Die nächsten beiden Kapitel verlassen die bisher im Zentrum stehende Schule und wenden sich den Fragen zu: Gibt es in der Welt vergleichbare Bildungsinnovationen, aus deren Erfahrungen wir in Ergänzung zu den Erfahrungen der Evangelischen Schule Berlin Zentrum allgemeine grundlegende Erkenntnisse ableiten können, was das Wesen von echten, tiefgreifenden Bildungsinnovationen ausmacht? Und zum Zweiten: Was können wir daraus dann in Bezug auf eine systematische und grundlegende Bildungsinnovationsbewegung lernen – oder anders formuliert: Wie schaffen wir die zügige Umgestaltung möglichst vieler Schulen in eine Richtung, wie sie in diesem Buch als sehr real möglich aufgezeigt wurde?

Ein immer wieder von uns allen genutztes geflügeltes Wort lautet: »Wir sollten das Rad nicht zweimal erfinden.« Richtig – und falsch zugleich. Natürlich macht es keinen Sinn, etwas, das bereits existiert, ständig noch einmal erfinden zu wollen. Aber: Selbst bei noch so grundlegend erscheinenden Errungenschaften macht es sehr viel Sinn, sich von Zeit zu Zeit zu fragen, ob diese den Herausforderungen und Möglichkeiten der neuen Zeit weiterhin angemessen Rechnung tragen.

Ein Beispiel: Die Erfindung der Dezimalzahlen zur Ablösung beispielsweise des römischen Zahlensystems eröffnete allen Anwendungen der Mathematik, von den einfachsten Rechenoperationen im Alltag jedes Menschen bis zur kompliziertesten Zahlenakrobatik, entscheidende neue Spielräume. Über viele Jahrhunderte hinweg kam kein Mensch mehr auf den Gedanken, über ein intelligenteres und funktionaleres Zahlensystem zu grübeln. Das sogenannte arabische Zahlensystem, mit dem die gesamte Menschheit seit Generationen rechnet und das sich scheinbar in ihre Genetik eingewebt hat, erschien uns als eine nicht mehr hinterfragenswerte Errungenschaft. Bis vor relativ kurzer Zeit hätte es wohl auch wirklich keinen Sinn ergeben, über eine andere Option nachzudenken für mathematische Operationen. Doch plötzlich geschah etwas Unerwartetes: Es öffnete sich durch den technologischen Fortschritt ein neuartiges »Fenster der Möglichkeiten«, in dem sich sogenannte »intelligente Rechner« als Option an den Baustellen der Technologietüftler zeigten. Plötzlich erwies sich das gute alte Dezimalsystem als ein sehr hinderliches Instrument. Also machten sich die Menschen an eine Lösung dieses Problems. Und sie kamen erstaunlich schnell auf eine andere Lösung, die sich schlicht ein Muster aus der Elektronik abschaute. Eine Grundlogik der Elektronik ist »plus« / »minus«, »an« / »aus«. In die Sprache der Mathematik übertragen bedeutet dies: Wir reduzieren die Dezimalzahlen einfach auf »null« und »eins«, und schon sind die Elektronik und die Mathematik in nahezu unendlich weit erscheinender Weise »anschlussfähig«. Dieser genial einfache Geniestreich öffnete die »windows« zu den völlig neuen Welten der Computer- und Softwareentwicklung. Ohne diese partielle Neuerfindung des Rads der Mathematik wäre der Quantensprung zur digitalen Revolution schlicht nicht möglich gewesen.

Wir leben in einer Zeit, in der sich der Mensch den Zugriff auf sehr viele weitere analoge »Stellschrauben« in allen uns umgebenden und auch den in uns selbst liegenden Systemen erarbeitet hat. Diese neue menschliche Gestaltungskraft eröffnet – dank Transportmitteln, dank Computer, dank Haushaltsgeräten und sonstiger Maschinen, dank eines, im übertragenen Sinne, 24 Stunden geöffneten globalen Kaufhauses täglich neuer potenzieller Hilfsmittel zur potenzialreicheren Lebensgestaltung – jedem Menschen immer mehr Handlungsoptionen. Diese permanente Optionsexplosion bereitet der Menschheit endlos viele neue Chancen, aber auch ebenso viele neue Risiken und Gefahren. Wenn der Mensch die Lust auf die Entdeckung neuer Gestaltungsoptionen nicht verliert, und nichts spricht dafür, dass er diese Lust verliert, dann steckt der Mensch längst mitten in einer Verantwortung auf einer völlig neuen Ebene: Er muss für jedes Individuum sowie für das Miteinander von der Teamebene bis zur Menschheit als Ganzes die Kompetenz erwerben, das bisher veranstaltete Konzert von Grund auf zu verändern: Der Mensch kann es schaffen, mit anderen Noten, anderen Instrumenten, anderen Klängen einer veränderten Zuhörerschaft in einem völlig veränderten Klangraum, eine neue Welt aufzuführen, nämlich eine neue, gemeinsame verantwortungsbewusste Welt. Oder anders formuliert: Der Mensch hat sich selbst zu gesamtmenschheitlicher und gesamtsystemischer Verantwortung verurteilt, und zwar nicht einmal nur lebenslänglich, sondern systemlebenslänglich.

Die entscheidende Stellschraube zu der notwendigen Anpassung an die neue menschliche Gestaltungsverantwortung in dieser neuen Situation ist die Bildung. Weil wir eine völlig neue Bildung brauchen, müssen wir den Begriff der Bildung praktisch neu erfinden. Wenn wir dies nicht oder nicht schnell genug leisten, drohen uns serienweise Gefahren von systemischer Tragweite. Wenn Bildung weiterhin auf Wissensvermittlung setzt statt auf das Erlernen jener Kompetenzen, mit denen sich jeder Mensch permanent neues Wissen in jeder Lebensphase und in jeder Lebenswelt effektiv und kreativ aneignen kann, werden selbst unsere »wissensstärksten« Eliten immer lebensuntauglicher in einer Welt, die sich immer schneller wandelt und damit permanent neue Fähigkeiten verlangt. Wenn unsere Bildung weiterhin so praxisfern bleibt, fallen wir in kürzester Zeit noch mehr hinter jene Länder zurück, die in dieser Hinsicht schon sehr viel bessere Bildungsangebote haben. Unser Wohlstand ist dann im globalen Wettbewerb akut gefährdet, unsere Sozialsysteme werden immer weniger finanzierbar sein und zusammenbrechen, Depression und Hoffnungslosigkeit, die schon jetzt insbesondere auch unter den jungen Menschen sich ausbreiten, werden sich zur neuen Volksseuche unserer Gesellschaft entwickeln. Wenn unsere Bildung weiterhin so viele Verlierer produziert, die bestenfalls noch Arbeit in einem »Niedriglohnsektor« finden ohne Aussicht, ihr Leben aus eigener Kraft finanzieren zu können, dann schlittern wir munter weiter in eine neue Klassen-, wenn nicht Sklavenhaltergesellschaft, in der für einen kleinen Teil der Menschen unendlich viele Lebensgestaltungschancen vorhanden sind und für den großen Rest die Chancenlosigkeit immer aufwendiger »organisiert« werden muss.

Wir können sehr wohl lernen, auf diese Gefahren intelligent und verantwortungsvoll zu antworten. Nur: Wir müssen es wollen, und wir müssen das Notwendige tun. Auf alle Fälle dürfen wir uns nicht länger der Illusion hingeben, unser Bildungssystem sei im Großen und Ganzen zukunftstauglich und ein paar kleine Korrekturen würden ihm wieder zur erforderlichen Effizienz verhelfen. Die Anforderungen an Bildung haben sich radikal verändert und verändern sich weiter in dem Maße, wie sich Tempo und Tiefe des Wandels in unserer gesamten Gesellschaft verändern.

Wir haben in fast allen Bereichen der Gesellschaft eine regelrechte »Rulebreaker«-Kultur etabliert: In der Forschung, in den Thinktanks, in der Wirtschaft hat man verstanden, dass die Hinterfragung der etablierten Regeln und die Suche nach möglichen neuen Spielregeln den stärksten Motor für bahnbrechende Innovationen bedeuten. Wir brauchen eine Balance in der Rulebreaking- und Innovationskultur: Die weit entwickelte Innovationskultur in Forschung und Technik sowie in der Wirtschaft bedarf einer entsprechend schnell aufholenden Entwicklung einer Innovationskultur in gesellschaftlichen Fragen und Konzepten. Der Begriff, der sich hierfür etabliert hat, ist social innovation.

Soziale Innovationen betreffen jedoch keineswegs nur den klassischen sozialen Sektor. Nach Winfried Kretschmer sind darunter alle »Hebel, die Einzelne an der – abstrakten – Gesellschaft ansetzen können« im Sinne von »bewussten Akten der Veränderung« zu verstehen, also die Gesamtheit aller partizipativen Handlungen von Menschen, ihre aktive, kreative und verantwortungsvolle Mitgestaltung unserer Gesellschaft und Lebenswelten. Bedeutende soziale Innovationen in diesem Sinne waren zum Beispiel die Bürger- und Menschenrechte, die Demokratie, die Emanzipation der Frauen, aber auch Genossenschaften, Sozialversicherungen, Kindergärten, das Prinzip der Nachhaltigkeit, die Entstehung von Bürgerinitiativen, das Internet, social media, social business, Minikreditbanken usw.

Doch soziale Innovationen sind zeit- und strukturabhängig, das heißt, sie müssen den allgemeinen Entwicklungen immer wieder angepasst werden. Heute liegt der Schlüssel für die Entfaltung von sozialen Innovationen, für die Etablierung einer Kultur der social innovation und damit der Chance auf eine nachhaltige und verantwortungsvolle Weiterentwicklung von Wirtschaft, Technik und Gesellschaft insgesamt, bei der Bildung. Oder genauer: Es sind heute Bildungsinnovationen, die den neuen Rahmenbedingungen und Anforderungen gerecht werden.

Welch weitreichende gesellschaftliche Folgen eine Bildungsinnovation haben kann, zeigt ein Blick nach Kolumbien, wo in ländlichen Regionen Schulentwicklungsprozesse initiiert wurden, die ungeahnte Nachahmung fanden.

Eine Bildungsrevolution ausgerechnet aus Kolumbien

 

Am Anfang stand ein Forschungsauftrag in den 1970er Jahren. Eine Gruppe von Wissenschaftlern aus mehreren lateinamerikanischen Ländern sollte die Ursache für die seit etwa 1950 extrem beschleunigte Urbanisierung in allen Ländern Lateinamerikas herausfinden. Innerhalb von 30 Jahren hatte sich in manchen Regionen das Verhältnis von Land- zu Stadtbevölkerung von 90 zu 10 auf 10 zu 90 umgekehrt. Bei ungebremster Fortsetzung dieses Trends, so fürchtete man, würden diese Länder kollabieren.

Das Ergebnis der Untersuchung brachte eine große Überraschung: Das Problem lag in der Bildung. Je mehr Bildung die Menschen erwarben, desto mehr von ihnen zogen in die Städte. Irgendwann waren die ländlichen Regionen so ausgeblutet, dass auch die Schwächeren keine Perspektive mehr auf dem Land sahen und ebenfalls in die Städte – dort aber in die Slums – nachzogen.

Das Problem war, wie die Wissenschaftler herausfanden, weniger das absolute Maß an Bildung, sondern die Art von Bildung, die in den Schulen vermittelt wurde. Wie vermutlich in allen Ländern der Welt waren auch die kolumbianischen Schulbücher von Städtern geschrieben. Die Bücher reflektierten also in ihren Inhalten im Wesentlichen städtisch geprägte Denkweisen und Lebenssituationen. Traditionelles ländliches Wissen fand keinen Platz mehr im »modernen« Bildungssystem. Niemand hatte sich die Mühe gemacht nachzusehen, ob dieses traditionelle ländliche Wissen nicht wenigstens in Teilen auch weiterhin sinnvoll ist für die Schulung zur Lebenstauglichkeit auf dem Lande.

Die Forscher zogen aus ihren überraschenden Ergebnissen eine höchst ungewöhnliche Konsequenz: Nachdem niemand sich dazu berufen gefühlt hatte und wohl auch niemand mehr dazu in der Lage war, modernes Wissen auf ländliche Lebensbedarfe anzuwenden und dabei gleichzeitig traditionelles Wissen zu sichten und sinnvoll in ein zukunftsweisendes Gesamtkonzept von Bildung für die Landbevölkerung einzubeziehen, entschlossen sich diese Wissenschaftler, genau dies zu leisten. Entstanden ist ein Konzept, das ungewöhnlicher und innovativer kaum sein könnte. Bildung wurde hier derart radikal noch einmal von den Grundlagen her und in jede Facette hinein neu durchdacht, dass dies einer zweiten Erfindung von Bildung nahekommt.

Bei der gesamten Konzepterarbeitung war kein einziger Lehrer und auch kein Bildungsexperte beteiligt, die Gruppe bestand fast ausschließlich aus Naturwissenschaftlern. Ihnen war von vornherein klar, dass sie ihre Aufgabe nur dann gut bewältigen konnten, wenn sie mit den Menschen, für die sie neue Unterrichtsmethoden und -inhalte kreieren wollten, zusammenarbeiteten. Also luden sie Interessierte aus der Bevölkerung ein, mit ihnen zusammen ein neues Konzept zu entwickeln. Es begann ein Prozess des gegenseitigen Kennen- und Verstehenlernens. Insgesamt zwölf Jahre dauerte es, bis die Konzeptionsarbeit abgeschlossen werden konnte.

Um die Arbeitsergebnisse praktisch umsetzen zu können, wurde eine Stiftung namens FUNDAEC – »Stiftung für die Anwendung modernen Wissens auf ländliche Entwicklung« – gegründet. Deren Kernbereich ist die Ausbildung von Schülern vom 7. bis zum 12. Jahrgang mit dem Abschluss der staatlich anerkannten Hochschulreife. Gut 30 000 Abiturienten konnten dank FUNDAEC bis heute ausgebildet werden. Längst haben sehr viele private Gymnasien die FUNDAEC-Prinzipien, Curricula und Materialien übernommen, und FUNDAEC hat das Konzept auch auf den Vor- und Grundschulbereich sowie auf den Hochschulbereich bis zur Postgraduierten-Fortbildung ausgeweitet. Außerdem wird es von immer mehr Ländern Lateinamerikas, Afrikas und Asiens nachgefragt. Trotz bester Studienaussichten verbleiben mehr als 85 Prozent der FUNDAEC-Schüler in ihren ländlichen Regionen, werden oft bereits mit Erreichen der Volljährigkeit zu Bürgermeistern in ihren Dörfern gewählt und sehen ihre Mission in der Anwendung ihrer Kompetenzen dort, wofür sie ausgebildet wurden.

Im Unterricht selbst begegnet man weder Lehrern im klassischen Sinne, noch werden klassische Lehrmaterialien verwendet. Auch gibt es keine fixen Unterrichtszeiten, der Unterrichtsplan wird letztlich von den Schülern bestimmt, die Lehrer haben sich danach zu richten. Es gibt nicht einmal Schulgebäude. Jede »Schulklasse« ist für Schüler jeglichen Alters offen, so dass Klassen, in denen drei Generationen aus einer Familie unterrichtet werden, keine Seltenheit sind. Der Fächerkanon ist auf fünf Fächer reduziert, und ein beträchtlicher Teil des Lernens findet in Form von Mitarbeit im Dorf statt. Dennoch gab es unter den 30 000 Absolventen bis heute keinen, der sein Mathe-Abitur nicht mit Bravour bestanden hätte. Jeder FUNDAEC-Absolvent wird von jeder Hochschule in Lateinamerika mit Vorzug aufgenommen wegen seiner außergewöhnlichen Leistungen und Fähigkeiten. Lernunmotivierte, geschweige denn »Versager« gibt es hier nicht. Wie passt dies alles zusammen?

Zusammenhänge erkennen, interaktiv lernen

 

An den Potenzialentfaltungsschulen von FUNDAEC steht systemisches, ganzheitliches Denken im Zentrum jeglicher Überlegungen und jeglicher Konzepte. Dies ist auch der Grund, nur fünf statt zwölf oder mehr Unterrichtsfächer anzubieten. Der Fächerkanon umfasst Kommunikation, Naturwissenschaft, Mathematik, Technologie sowie Gemeinschaft.

Zur Kommunikation gehören nicht nur der Umgang mit der eigenen Sprache und der Zugang zur nationalen Literatur und Kultur. An den Entwicklungsschulen lernen die Schüler sehr viel über zwischenmenschliche Beziehungen, über Teambildung und Teamarbeit, über innere Kommunikation und deren Psychologie, über Sozialpsychologie und soziologische Zusammenhänge, also über Kommunikation auf allen Ebenen.

Naturwissenschaft wird nicht in Einzelfächer separiert, sondern es werden an konkreten Themen die physikalischen, chemischen, biologischen und ökologischen Aspekte im Zusammenhang behandelt. Naturwissenschaft wird dadurch ungleich lebendiger und das Verständnis von Natur in ihren Zusammenhängen ganzheitlicher, wodurch das Verständnis einzelner Fragen und Phänomene erheblich erleichtert wird, einschließlich der damit verbundenen Faktenaufnahme.

Auch Mathematik wird nicht in abstrahierten Lerneinheiten vermittelt, sondern in enger Verknüpfung mit den anderen Fächern als die Sprache der Abstraktion in der Beobachtung der Natur und des Lebens und ihrer Phänomene. So verstanden ist Mathematik nicht mehr lebensferne Zahlenakrobatik, sondern der Schlüssel zum systemischen Verständnis von Zusammenhängen.

Technologie ist die Ebene der lebenspraktischen Anwendung der erworbenen Erkenntnisse. Die Vermittlung von technologischem Wissen erfolgt wiederum nicht losgelöst vom Lebensumfeld, sondern ist konkret darin angesiedelt. Dies erleichtert das Verständnis der gelernten Zusammenhänge und der damit verknüpften Fakten erheblich. Zur Dimension der lebenspraktischen Anwendung grundlegender Erkenntnisse zählt auch die Vermittlung ökonomischen Denkens, was merkwürdigerweise in unseren Schulsystemen immer noch sträflich vernachlässigt wird. Die natürliche und gesamtheitlich integrierte Art der Vermittlung befeuert nicht die ökonomische Gier in noch jüngeren Jahren, wie manche befürchten könnten, sondern genau das Gegenteil ist der Fall: Ökonomisches Denken erhält seinen ausgewogenen und angemessenen Platz im Konzert neben und mit allen anderen Dimensionen des Lebens.

Bleibt schließlich noch das Fach Gemeinschaft. Dieses bietet vor allem die Brücke vom reinen Schülerdasein zur Rolle eines nützlichen und kreativen Mitglieds der Gemeinschaft. Hier erhalten die Schüler das Wissen und die Fertigkeiten, die erforderlich sind, um zu Gemeindeentwicklern und aktiven Akteuren in der Gemeinschaft zu werden. Sie lernen psychologische und soziologische Zusammenhänge, Kooperationsqualitäten und Teamgeist und nicht zuletzt die Werte, die dem individuellen und kollektiven Leben die größte Zufriedenheit, Balance und Entwicklungsdynamik schenken. Diese Wertevermittlung geschieht auf der Ebene der unmittelbaren Bedeutung für die Qualität des eigenen und des gemeinschaftlichen Lebens.

In jedem der fünf Fächer findet man mehrere »unserer« Schulfächer intelligent integriert, und sie enthalten sogar noch einige Fächer darüber hinaus. Leitmotiv ist immer und überall das Verständnis von Konzepten, die aus der Natur oder Kultur abgeschaut sind und in die Bewältigung des Lebens eingebaut werden können. So werden zum Beispiel biologische Phänomene nie als Kapitel oder Bruchstücke in einem abzuarbeitenden Steinbruch von Fakten- oder Teilbereichswissen geboten, sondern immer als Zugang zu weiteren Konzepten, die dabei helfen, kreative, aktive und verantwortungsvolle Mitschöpfer unseres eigenen Lebens, des Gemeinschaftslebens und letztlich des kulturellen Fortschritts der Menschheit zu werden.

Um Bildung derart neu zu konstruieren, war es unvermeidlich, alle Lehrbücher neu zu schreiben, selbst das Mathematikbuch, und in interaktive Lernbücher zu verwandeln: Jeder Schüler schreibt »sein« Lehrbuch aktiv mit. Auch seine wichtigen Lernschritte im Unterricht und seine Reflexionen finden darin Platz, werden dadurch Teil des Buches und geben dem Geschriebenen wie dem Schreiber mehr Bedeutung.

Der Lernprozess in den Lerngemeinschaften ist weniger ein permanenter Wettbewerb um die bessere und schnellere Auffassungsgabe, sondern ein kontinuierliches gemeinsames Arbeiten. An den Potenzialentfaltungsschulen findet competition in seinem ursprünglichen Wortsinne statt: als »gemeinsame Suche nach Lösungen« (unser Missverständnis von competition als Wettbewerb hat mit dessen ursprünglicher Bedeutung tatsächlich nichts zu tun). Die Hilfe für den Mitschüler (»Vorsagen«) ist nicht unter Strafe gestellt, sondern ein Element des Lernens: Ständig werden Klassen beziehungsweise Lerngemeinschaften in kleinere Teams aufgeteilt, die bestimmte Aufgaben gemeinsam erarbeiten und dann ihre Ergebnisse in der größeren Gruppe präsentieren.

Dies fördert gleichzeitig eine hohe Sozialkompetenz und eine hohe individuelle Kompetenz und Leistungsbereitschaft. Auch in den Klassen der Potenzialentfaltungsschulen gibt es herausragende Schüler – sogar mehr als an unseren Schulen –, aber es gibt fast überhaupt keine »schlechten« Schüler, und vor allem liegt das durchschnittliche Leistungsniveau der Klassen weit über dem »normalen« Durchschnitt bei uns. Die Schüler lernen schnell, dass sie als gute Teams viel effektiver lernen und zu Ergebnissen kommen, die sie als »Individuallerner« nicht erreichen würden. Solidarität wird nicht als noble moralische Pflicht erlebt und gelebt, sondern als das fraglos intelligentere Verhalten. Auch in diesem Sinne ist das neue Bildungssystem von FUNDAEC ganzheitlicher und integrativer als der Schulalltag in unseren Schulen. Ermüdende und meist doch zwecklose Appelle an ein besseres Sozialverhalten in der Klasse sind den Potenzialentfaltungsklassen völlig fremd.

Tutoriales System: Schüler werden zu Lehrern, Lehrer zu Lernbegleitern

 

Die Arbeit mit interaktiven Trainingsbüchern und Schülerteams mit begleitenden Tutoren statt mit Lehrern ist bei FUNDAEC aus einer Not heraus geboren. Es gab einfach nicht genügend Lehrer, die bereit waren, in die entlegenen Dörfer Kolumbiens zu gehen und dort zu leben, zumal weite Landstriche dieses Landes jahrzehntelang unter dem Terrorismus der FARC litten. Da Not erfinderisch macht, entwickelte FUNDAEC deshalb ein grundlegend neues Lehrerausbildungssystem mit einer grundlegend neu justierten Beziehung zwischen Lehrern und Schülern.

Die Arbeit mit interaktiven Trainingsbüchern erlaubte, dass geeignete Menschen aus den Dörfern zunächst nur darin ausgebildet wurden, kleine Schülerteams in der Arbeit mit einem interaktiven Trainingsbuch für einen Jahrgang zu begleiten. Ihre Fragen und Probleme in dieser Tutoren- statt Lehrerfunktion konnten sie in regelmäßigen begleitenden Kursen an dezentralen Standorten der Tutorenausbildungseinrichtung von FUNDAEC (deren »Pädagogischer Hochschule«) jeweils zeitnah und besonders praxisnah einbringen und gemeinsam mit dem dortigen Ausbildungsteam und mit anderen Tutoren bearbeiten. Die Tutoren konnten daher, durch den sehr frühzeitigen Praxiseinsatz in den Dörfern, sehr schnell die notwendigen Lernprozesse zur erfolgreichen Lernbegleitung durchlaufen.

Die Ausbildung der Lehrer beziehungsweise Tutoren ist ganz auf die unmittelbare Unterrichtspraxis ausgerichtet. Dadurch können sie sofort praktische Erfahrungen sammeln, und zwar sowohl in Bezug auf die eigene Beherrschung der vermittelten Inhalte als auch in Bezug auf Didaktik, Gruppendynamik, Menschenkenntnis und alle anderen Aspekte der zwischenmenschlichen Kommunikation als Transportmittel von Lernprozessen.

Hat die Lernpsychologie nicht längst erwiesen, dass niemand besser lernt als der, der das zu Lernende unmittelbar wieder an andere weitergibt? Die Tutoren der Potenzialentfaltungsschulen nutzen diese simple Erkenntnis und eignen sich dadurch den Lehrstoff viel schneller und sicherer an als ihre Kollegen an den pädagogischen Hochschulen der meisten »entwickelten« Länder. Und sie treten gleichzeitig noch drei Jahre früher ins Berufsleben ein. Sie alle haben zudem die Möglichkeit, ihre in der Praxis erfahrenen Defizite und Probleme bei der Umsetzung der didaktischen und kommunikativen Konzepte im Kreise der Hochschuldozenten und der anderen Tutoren-Studenten aufzuarbeiten. Auf diese Weise erhalten sie qualifiziertes Feedback, das sie weiterbringt und vor Dauerfrustrationen im Berufsalltag schützt. Nicht umsonst zeichnen sich diese Lehrer durch eine hohe Zufriedenheit und Selbstsicherheit aus. Auf diese Weise baute FUNDAEC das vielleicht effektivste und flexibelste Lehrerausbildungssystem der Welt auf.

Warum sollen Lehrer dadurch besser werden, dass sie ihre Eignung in der Praxis erst dann unter Beweis stellen müssen, wenn sie die lebenslängliche Erlaubnis zur Ausübung dieses Berufes erlangt haben? Wir sollten unser System der Lehrerausbildung angesichts der Erfahrungen aus Kolumbien überdenken.

Viele Schüler wechseln nach Abschluss ihrer Ausbildung selbst in die Rolle von Tutoren. So multipliziert sich das System besonders schnell und effektiv. Wer selbst auch lehrt, lernt noch besser und schneller. Das Bildungssystem von FUNDAEC baut so konsequent wie kein anderes auf dem tutorialen Lernen auf – und das mit sensationellem Ergebnis: Die Absolventen der ländlichen Potenzialentfaltungsschulen sind ihren gleichaltrigen Kollegen in den Gymnasien der Städte in nahezu jeder Hinsicht überlegen, vermeldet das kolumbianische Bildungsministerium.

Die Schüler stehen im Mittelpunkt

 

Die Schüler aus den Dörfern müssen nicht in entfernte Städte reisen, um eine Schule besuchen zu können, die Schule kommt zu den Schülern ins Dorf. Sobald sich eine Gruppe von zehn bis fünfzehn Lernwilligen findet, organisiert FUNDAEC die notwendigen Tutoren, und der Unterricht kann beginnen. Da die Lerngruppen meist nicht größer sind, ist auch kein eigenes Schulgebäude erforderlich. Räumlichkeiten für Gruppen dieser Größe finden sich in jedem Dorf, und oft kann der Unterricht auch im Freien stattfinden. Die Schüler einer Studiengruppe beraten, in welchem Rhythmus und zu welchen Zeiten sie sich zum Unterricht treffen möchten – vorgegeben ist lediglich das Gesamtpensum –, und die Tutoren müssen sich nach dem verabredeten Zeitplan richten. Auf diese Weise erlangt dieses Schulsystem eine hohe Flexibilität, stellt eine unmittelbare Integration mitten im Dorfleben sicher und spart nebenbei noch sehr viel Geld. Selbst die Labors sind mobil und werden in Koffern transportiert.

Der Metalehrplan für das Lernen des Lernens

 

In der sechsjährigen Ausbildung steht in jeder Jahrgangsstufe eine andere Metalerndisziplin für das Lernen des Lernens im Vordergrund.

Im ersten Jahrgang, der der 7. Klasse entspricht, ist es die Metalerndisziplin des Fragenstellens. In allen Fächern werden die inhaltlichen Lernschritte intensiv mit dem Formulieren von Fragen verbunden. Wer ein Jahr lang Fragenstellen gelernt hat, von den grundlegenden Sinnfragen des Lebens bis zum Wie und Warum von technischen Zusammenhängen, dem ist Neugier zur alles treibenden Kerneigenschaft geworden. Wer genügend Fragen in seinem Kopf bewegt, den führt eine Frage zur nächsten, und für ihn wird Motivation selbstverständlich. Fragen sind der Grundschlüssel zum Lernen. Diese Weisheit lehren alle Philosophien aller Zeiten und Kulturen. Warum also gibt es in unseren Schulen kein fächerübergreifendes Konzept, in dem alles Lernen von inhaltlichem Stoff mit dem Einstieg über Fragen beginnt?

Ab einer bestimmten Intensität führt die Kunst des Fragenstellens automatisch auch zur Herausbildung eines systemisch-ganzheitlichen Denkens, denn fortwährendes fragendes Kreisen um ein bestimmtes Thema führt geradewegs zu der Erkenntnis, dass es mehrere »richtige« und weiterführende Blickwinkel und Antworten geben kann und gibt. Das Metalernen des Fragens ist gleichzeitig ein Weg zur Kompetenz im Teamlernen, denn die Fragen richten sich immer in die Gemeinschaft.

Im zweiten Jahrgang folgt die Metalerndisziplin der Beschäftigung mit der Bedeutung der Begriffe. Was meint Natur, was bedeutet Gemeinschaft, was ist Solidarität, Atom oder Licht, und zwar jeweils nicht einfach aus einer Sichtweise, sondern immer aus unterschiedlichen Perspektiven und Lehrmeinungen.

Ein Jahr lang intensive Auseinandersetzung mit einer beträchtlichen Anzahl von grundlegenden Begriffen pflanzt in die Herzen und Köpfe aller Lernenden ein lebenslanges Interesse an der Bedeutung von Begriffen und einen sorgsamen und sehr bewussten Umgang mit Sprache und Begriffen. Die Ausdrucksfähigkeit wird erhöht, aber auch die Genauigkeit und Virtuosität des Denkens. Besucher der FUNDAEC-Schulen wundern sich immer wieder, wie sicher, selbstbewusst, präzise, strukturiert und sprachgewandt die Schüler bei ihren Präsentationen auftreten.

In den Industrieländern ist das Eindringen in die Tiefen unserer zentralen Begriffe in der Regel erst den Hochschulen vorbehalten, und dann auch nur in der jeweiligen Fachdisziplin, für die man sich entschieden hat. Warum begreifen wir nicht die Metalernfunktion unserer Begriffe und verwenden nicht viel früher viel mehr Zeit darauf, den Umgang mit ihnen zur Meisterschaft zu treiben? Das vermeintlich langsamere Lerntempo, das mit einer intensiven Beschäftigung mit Schlüsselbegriffen verbunden ist, zahlt sich in kürzester Zeit in einer deutlichen Verbesserung der Auffassungsgabe aus, und dies weit über die Schulzeit hinaus. Das intensive Eindringen in die Bedeutung von Begriffen trainiert schließlich auch die Fähigkeit, mentale Modelle zu erkennen und damit umzugehen.

Ab dem dritten Jahrgang lernen die FUNDAEC-Schüler, ihr Wissen in zunächst sehr kleinen und mit der Zeit behutsam komplexer werdenden Projekten umzusetzen, in Projekten, die dem Wohlergehen der Dorfgemeinde dienen. So werden die Kinder frühzeitig schrittweise und systematisch in die Erfahrung geführt, dass Wissen und damit Lernen einen praktischen Nutzen hat. Sie werden kleine Projektmanager und Entwicklungshelfer, und sie übernehmen sogar unternehmerische Verantwortung.

Was ist befriedigender und sinnstiftender, als die Früchte der eigenen Bemühungen zu sehen? Warum enthalten wir ausgerechnet unseren Kindern diese für jeden Menschen so existenziell wichtige Lebenserfahrung in der praktischen Anwendung ihres Wissens so lange vor und muten ihnen jahrelange Vertröstungen für die konkrete Übernahme von Verantwortung zu? Warum wechseln wir nicht endlich wieder von dem programmatischen »Lernen für das Leben« zum selbstverständlichen »Lernen im Leben und mit dem Leben und unmittelbar für das Leben«? Ein Lernprozess, der die Anwendung des Gelernten auf ein Irgendwann im Erwachsenenleben vertröstet, mutet Kindern und Jugendlichen eine sehr demotivierende Abstraktionsleistung zu und enthält ihnen die so natürliche und motivierende Freude der erfolgreichen praktischen Umsetzung und Nutzung des Gelernten vor.

Mit der Möglichkeit, Beiträge zu geben zum Wohlergehen der Familie und zum Fortschritt der Gemeinschaft, erhält Gelerntes erst die Dimension von Sinn. Dadurch, dass das Gelernte permanent im Sinne einer Verbesserung des Gemeinschaftslebens in praktische Anwendung überführt wird, erlangen die FUNDAEC-Schüler hohe Achtung in der Gemeinde, ein hohes Selbstwertgefühl, ein starkes Sinn- und Gemeinschaftsgefühl, erleben viel Lebensbezug und ein starkes Gefühl von Verantwortung. Und all dies sind die besten Treiber für ganzheitliche Lernprozesse und ganzheitliche Lernerfolge. Die FUNDAEC-Schulen ebenso wie die Evangelische Schule Berlin Zentrum geben keine der Qualitäten unserer heutigen Schulen auf, ergänzen sie jedoch um viele zusätzliche Qualitäten.