Das Lernen der Zukunft: Paradigmenwechsel als Antwort auf neue Herausforderungen

 

Ich denke, es gibt gute Gründe für die Annahme, dass das moderne Zeitalter zu Ende geht. Es gibt heutzutage viele Hinweise darauf, dass wir uns in einem Übergangsstadium befinden, es sieht so aus, als ob etwas auf dem Weg hinaus ist und als ob etwas anderes unter Schmerzen geboren wird. Es ist so, als ob etwas taumelt, schwankt, schwindet und sich selbst erschöpft – während sich etwas anderes, noch Unbestimmtes, langsam beginnt aus den Trümmern zu erheben.

 

Václav Havel

 

Die Zeit für einen grundlegenden Wandel in der schulischen Bildung ist reif – überreif. Das Umfeld für zukünftiges Lernen ist gekennzeichnet von wachsender Vernetzung – global, regional, lokal –, von wachsender Gefährdung – ökonomisch, ökologisch, sozial – und damit einhergehender wachsender Unsicherheit und Unvorhersehbarkeit. Wir gehen in eine gefährdete Welt vielfältiger Möglichkeiten, die sich von allem, was wir bisher kannten, radikal unterscheidet. Der auf Verwertungsmöglichkeiten ausgerichtete Blick auf die Menschen und den Planeten hat uns in den Zustand der Instabilitäten geführt. Der bisher praktizierte Weg einer sich immer weiter verschärfenden Konkurrenz auf allen Ebenen erweist sich zunehmend als nicht zukunftsverträglich. Unverzichtbar sind vielmehr Kreativität, Verantwortung, Individualität und Gemeinsinn, um die gemeinsamen Lebensgrundlagen und das friedliche Zusammenleben zu sichern. Angesichts von Globalisierung (Veränderung der Arbeitswelt, der Ökonomie und des gesamten darauf aufbauenden sozialen Systems), Individualisierung (Schwinden von Autorität und tradierter Steuerung), dem Rückbau sozialstaatlicher Daseinsvorsorge und der medialen Vernetzung wird die verantwortliche Handlungskompetenz und Selbstwirksamkeit der Individuen immer mehr zur unverzichtbaren Notwendigkeit. Die aktive Teilhabe der Zivilgesellschaft ist vordringlicher denn je. Dies will gelernt sein.

Die Zukunft, in die Kinder und Jugendliche hineinwachsen, zeichnet sich durch die Unwägbarkeiten und Turbulenzen in der Folge der sich verstärkenden Krisen der Ökonomie, der Ökologie und der Politik aus. Sicherheiten in Form von bewährten Bildungskarrieren relativieren sich angesichts der Dynamiken des 21. Jahrhunderts. Die Dienstleistungsgesellschaft stirbt. Wir befinden uns in einer rasanten technologischen Entwicklung, die, wie Gunter Dueck, Autor des Buches Professionelle Intelligenz, darlegt, die Hälfte der Jobs überflüssig machen wird. Den westlichen Gesellschaften drohen die entgegengesetzten Extreme Elite und Slum. Unsere einzige Alternative dazu ist, den Aufbruch in die Exzellenzkultur zu wagen. Dazu brauchen wir ein komplexeres Verständnis von Potenzial, von Wissen und von Lernen.

Der eiserne Vorhang unseres heutigen Zeitalters, glaube ich, ist das Gefängnis unserer kollektiven Verhaltensmuster in Institutionen. Wir sitzen so fest wie nie zuvor im Griff unserer Vergangenheit, unserer alten Muster. … Presencing heißt: die Wahrnehmung aus dem Gefängnis der Vergangenheit zu befreien und sie aus der Zukunft operieren zu lassen. … Presencing ist immer dann relevant, wenn die vergangenheitsgetriebene Realität Sie nicht mehr weiterbringt und Sie das Gefühl haben, ganz neu ansetzen zu müssen.[2]

Dr. Claus Otto Scharmer, Bildungsinnovator, Dozent und Mitbegründer des MIT Leadership Lab am Massachusetts Institute of Technology

 

Das 21. Jahrhundert mit seiner Komplexität verlangt ein radikales Umdenken, um Lösungen für die globalen Herausforderungen entwickeln zu können. Mit tradierten Mustern und Konformitätsdenken lassen sich die Herausforderungen nicht bewältigen. Visionsbewusstheit, Vorstellungskraft, vernetztes Denken, Innovationsgeist und Handlungsmut sind gefragt, um neue Modelle des Zukünftigen zu entwerfen. Auch unsere Bildungssysteme stehen zur Disposition. Bisher wird dort das Augenmerk kaum auf die Exzellenz jedes Menschen gerichtet – stattdessen herrschen Defizitgeist, Normierung und Standardisierung vor.

Schulen in Deutschland konzentrieren sich vor allem auf Wissensvermittlung, homogene Gruppen und die Förderung einseitig kognitiver Fähigkeiten. Die traditionellen Funktionen des gegenwärtigen Bildungssystems werden beschrieben mit den Stichworten Qualifikation, Selektion, Legitimation. Die Menschen werden von Anfang an und immerzu einem vorgegebenen Selektionssystem, das sich immerzu selbst zu legitimieren versucht, angepasst. Doch eine solche Bildung ist ausgerichtet auf arbeitsteilige Effizienzstrukturen in Wirtschaft und Gesellschaft, die den Vorgaben einer Industriegesellschaft entsprechen, welche im Verschwinden begriffen ist. Ihre Anschlussfähigkeit an die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts ist nicht mehr gegeben.

Warum kleben wir an diesen alten Mustern, warum geben wir uns mit »mehr vom Gleichen« zufrieden? Fehlt es an Vorstellungskraft, Visionen und Mut? Auch Dr. Claus Otto Scharmer sieht die Notwendigkeit zur Veränderung: »Es ›kracht‹ in allen gesellschaftlichen Bereichen«, stellte er bereits 2002 auf den Trigon Studientagen fest. »Alle wollen die Veränderung. Aber realisieren im Sinne von institutionellem Wandel – können wir sie nicht.«[3] Es fehle an der Fähigkeit zum presencing glaubt er. Darunter versteht er eine »neue Fähigkeit des Lernens …, das nicht auf der Reflexion der Vergangenheit basiert, sondern auf dem Erfühlen, Erspüren und dem In-die-Gegenwart-Bringen von zukünftigen Möglichkeiten.«[4]

Heute tritt an die Stelle von Vorstellungen über Bildungsbürger, Pflichterfüller oder Ressourcen im Konkurrenzkampf zunehmend ein Menschenbild, bei dem der Mensch als einzigartiger Potenzialträger Würde erfährt und Wirksamkeit erlebt. Wir brauchen eine Transformation vom Machbarkeitswahn im Ego-System zum nachhaltigen Eco-System natürlicher Systeme. Wir brauchen Innovationen, um die Probleme zu lösen, unternehmerische Initiativen, die nicht neue Bedürfnisse herauskitzeln, sondern auf vorhandene Herausforderungen mit ökologischer, ökonomischer, künstlerischer Fantasie antworten. Doch woher sollen diese kommen? Innovationsgeist und Kreativität scheinen abhandengekommen zu sein.

Innovationsgeist und Kreativität sind uns deshalb abhandengekommen, weil die meisten Menschen die Schule mit ihrem heimlichen Lehrplan der Anpassung 10, 12 oder 13 Jahre lang durchlaufen haben.

 

Wir sind überzeugt, dass ein zentraler Grund dafür im Bildungssystem liegt. Wir haben in der Bildung nicht nur ein quantitatives Problem (ca. 25 Prozent erreichen keine Ausbildungsreife), wir haben auch ein qualitatives Problem. Kreativität lebt von Begeisterung, und Begeisterung entsteht in Freiräumen offenen Denkens, wenn nicht alles vorherbestimmt ist, wenn man Träumen nachgehen darf. Kreativität braucht Raum zum Scheitern ohne Beurteilung. Stattdessen herrscht im Schulsystem die totale Orientierung auf Leistung mit ständiger Bewertung. Selbst wer im bestehenden System der vorrangigen Wissensvermittlung vermeintlich erfolgreich ist, wird dadurch in der vollen Entfaltung der in ihm schlummernden Potenziale gedeckelt statt zur Exzellenz gebracht. Querdenken, Unternehmungsgeist, Risikobereitschaft, Handeln werden eher nicht gefördert. Wenn der Schulalltag geprägt ist durch eine Hierarchie von Fächern, zerstückelt in Häppchen, wenn Konformität höher bewertet wird als Heterogenität und Fragmentierung statt Interdisziplinarität das Lernen bestimmt, wenn Lehrer den Unterricht vorherplanen mit Arbeitsblättern, deren Lösung im Lehrerhandbuch steht, dann folgt das dem heimlichen Lehrplan: »Tu das, was dir aufgetragen wird«. Dann werden die Grundbedingungen für Innovation, nämlich Autonomie, Selbstdenken, Urteilskraft, Persönlichkeitsstärke, Mut, maximale Interdisziplinarität, nicht nur vernachlässigt, sondern sträflich unterlaufen. Denn so wird ein innovationsfeindlicher Erfüllergeist geprägt.

Unsere Gesellschaft braucht aber immer weniger Pflichterfüller. Sie braucht vielmehr kreative Gestalter, autonome Denker, Menschen mit Verantwortung und Rückgrat. Deutschland braucht die Transformation zu einer Innovationskultur – und zwar auf breiter Basis, nicht hier und da ein Projekt. Denn das reicht nicht, um den Geist einer Gesellschaft zu wenden.

Es muss ein Aufbruch auf breiter Front her. Und jede und jeder wird dabei gebraucht.

 

Eine Gesellschaft hat so viele Talente, wie sie finden will. Das Potenzial einer Gesellschaft ist das Ergebnis der Bereitschaft, die Potenziale, die in allen Menschen vorhanden sind, tatsächlich wahrzunehmen und ihnen Gelegenheiten zu geben, sich zu entfalten. Das Bildungssystem in Deutschland organisiert dagegen das planmäßige Scheitern. Die frühe Selektion impliziert und stabilisiert den Defizitblick, auf den Lehrer in unserem derzeitigen System hin ausgebildet werden und ausgerichtet sind. Das Dilemma: Defizitorientierung und Potenzialentfaltungskultur sind zwei unvereinbare Haltungen. Dazu kommen geringe Durchlässigkeit und hohe Abbrecherquoten. Deutschland ist Weltmeister in Chancenungleichheit sowie beim Zusammenhang von sozialer Herkunft und Bildungsabschluss. Und obwohl wir zu den reichsten Ländern der OECD gehören, sind wir, was die Bildungsausgaben angeht, fast das Schlusslicht. Das sind Skandale. Zudem hält sich das System nur aufrecht mit 1,5 Milliarden Euro, die für privaten Nachhilfeunterricht jährlich aufgebracht werden. Für ein Unternehmen wäre das der Bankrott.

Schüler und Lehrer werden im System zu Erfüllern von Stoff und Leistung, und das im Gleichschritt, bezogen auf fremdbestimmte, vorwiegend kognitive Erwartungen, die in standardisierten Prüfungen und Tests sortiert werden. Das widerspricht nicht nur dem humanistischen Menschenbild, sondern auch der von den Kultusbehörden geforderten Individualisierung, das widerspricht einer Pädagogik vom Kinde aus, das widerspricht den neuen Erkenntnissen der Hirnforschung über Lernen, das fördert nicht die Metakompetenzen, die für die Herausforderungen der Zukunft so grundlegend wichtig sind. An diesem selektiven Ungeist leiden nicht nur viele Lehrer, sondern auch Kinder und Eltern.

Rund 30 Prozent der Kinder gehen mit Angst in die Schule. Angst beschädigt die Seele und ist Lern- und Kreativitätskiller. Das dürfen wir nicht zulassen. Lernen braucht verbindliche und vertrauensvolle Beziehungen. Vertrauen, Ermutigung und Wertschätzung sind zentrale Elemente einer Lernkultur, in der sich Potenziale entfalten können. Wer Lernprozesse begleitet, ist Dialogpartner, ermutigender Unterstützer, herausfordernder Begleiter. Er oder sie kennt die Heranwachsenden gut und glaubt an ihre Fähigkeiten.

Viele Schulen sind jedoch aufgrund ihrer Struktur eher Beziehungsverhinderungsanstalten, in denen Lehrer täglich alle 45 Minuten von einer Klasse in die nächste hetzen und in ständigem Wechsel täglich 100 und mehr Schüler unterrichten, von denen sie jeden einzelnen kennen und individuell fördern sollen. Innerlich aber zu wissen, nicht das Richtige zu tun, und dauerhaft gegen die innere Überzeugung zu handeln ist einer der stärksten Stressfaktoren, wie Studien zeigen. Selbst hoch engagierte Kollegen kapitulieren irgendwann vor dieser unmöglichen Aufgabe in den starren Strukturen. Die fatale Botschaft dieses Systems: Für das Wesentliche ist keine Zeit.

Die Folgen sind katastrophal – und dabei längst bekannt. Es ist doch paradox: Wir vertrauen Lehrern das Wichtigste an, das eine Gesellschaft hat – unsere Kinder. Viele Kinder bekommen viel Gutes in vielen Schulen durch viele gute Lehrer. Die andere, die weniger gute Wahrheit ist: Viel zu viele Kinder leiden an der Schule. Und es leiden nicht nur die Kinder. Es leiden auch die Eltern. Und es leiden viele Lehrer, die ihr Bestes geben und dennoch viel besser sein könnten, wenn unsere Schule nicht in ihrem Prinzip falsch wäre. Denn statt ihnen Anerkennung zu schenken und beste Arbeitsbedingungen, stecken wir sie in eine Box der beschränkten Möglichkeiten. Viele Lehrer macht dieses System krank, andere werden »nur« demotiviert.

Nur wer radikal neu denkt, wird auch neu gestalten. Wir brauchen einen radikalen Wandel unserer Lernkultur, einen Transformationsprozess unserer Bildungsinstitute. Deshalb: Keine Reparatur am alten System. Wir brauchen eine neue Denke, auch in unseren Schulen! Wir brauchen Mut zu Visionen.

Um mit Unsicherheit – dem Merkmal moderner Lebenswelten und der Zukünfte, in die wir und unsere Kinder hineinwachsen – souverän umgehen zu können, braucht es zweierlei: eine emotionale und soziale, früh sich stärkende Stabilität, die sich aus Selbstwirksamkeitserfahrungen, sozialer Unterstützung und dem Erleben von Sinnhaftigkeit des eigenen Handelns entwickelt. Und ein Sich-erproben-Können in offenen Lernfeldern und herausfordernden Lernlandschaften. Ermutigung also und Auseinandersetzung mit Risiko und Scheitern.

Vielleicht kennen wir die Schulen der Zukunft noch nicht. Doch eines steht fest: Ihre Keime müssen heute entstehen.

Es gibt hoffnungsvolle Anfänge, überall in Deutschland. Einen solchen Anfang macht auch die Evangelische Schule Berlin Zentrum (esbz), eine Gemeinschaftsschule, deren Lern- und Schulkultur in den folgenden Kapiteln näher erläutert wird.

Wir möchten damit inspirieren und ermutigen.