Säule 1: Lernen zu handeln

 

Lernen durch Engagement: Überfachliche Kompetenz und Selbstwirksamkeitserfahrungen für Heranwachsende

 

Vom Lernen in der Schule zur lernenden und handelnden Schule

 

aus dem Schulprogramm der esbz

 

Schulprogramme entfalten dann ihre Wirkung, wenn sich der schulische Alltag nach ihnen richtet. Wenn sich die esbz in ihrem Grundsatzbeschluss als Agenda-Schule versteht und es dort um »Verantwortungsübernahme durch Handeln« geht, dann sollte sich diese bei allen Mitgliedern der Schulgemeinde und bei den Partnern der Schule finden. Diesem Anspruch entsprechen in besonderer Weise Projekte, in denen es um das Lernen im Leben, das Lernen durch Engagement geht.

Denn: Die Lebenswirklichkeit ist prägender Lehrstoff. In den realen Erfahrungsräumen wird Verantwortung übernommen oder Indifferenz gelernt, hier wird Demokratiefähigkeit eingeübt oder eine (Un-)Kultur des Wegsehens. Hier können sich Achtsamkeit und Ehrfurcht, der Mut zu Visionen und die Kraft des Herzens bilden, hier entscheidet sich, ob das Leben mutig gewagt wird.

Einstellungen und Haltungen entwickeln sich in der bewusst gelebten Auseinandersetzung mit dem Leben innerhalb und außerhalb der Schulmauern. Damit Kinder den Mut entwickeln können, ihre außergewöhnlichen Fähigkeiten zum Leuchten zu bringen und Wegweiser für Potenziale, Berufung und Beruf zu finden, sind die Erwachsenen gefordert, Zeiten und Orte für eigenverantwortliches, selbstwirksames, zukunftsorientiertes Handeln zu schaffen, das heißt Möglichkeiten, in denen Visionen nicht nur gedacht, sondern auch umgesetzt werden können.

Wir müssen die Prioritäten der Schulkultur neu definieren: auf die (Selbst-)Kompetenz von Kindern vertrauen, Räume der Selbstwirksamkeit öffnen, Gelegenheitsstrukturen für Engagement in schulinternen Curricula nachhaltig verankern.

 

Entscheidend dabei ist, dass nicht »Als-ob«-Lernsituationen, sondern Aufgaben mit Ernstcharakter im Leben gestellt werden. Menschen wollen sich engagieren, sich einbringen, und sie wollen einen Sinn in ihrer Arbeit sehen. Der Wandel der Prioritätensetzung muss deshalb auf mehreren Ebenen stattfinden und braucht Unterstützung. Zum Beispiel durch die Kommune, die sich als Raum der Verantwortung für Heranwachsende öffnen und damit eine Identifikation mit dem Umfeld, in dem sie leben, ermöglichen sollte. Ein kluges und sehr wahres Sprichwort besagt: Um Kinder optimal zu erziehen, braucht man ein ganzes Dorf.

Diese Schule zeigt, dass es auch anders geht: dass man fast unmerklich lernen kann, indem man dem folgt, was man mit Freude tut.

Annette Geissler, Schülermutter

 

»Schule muss nicht wehtun und immerzu anstrengend sein«, meinte Annette Geissler mit Blick auf ihren Sohn, der in Jahrgangsstufe 8 geht. »Das ist für mich das Großartige an dieser Schule: Da wird nicht erst gelernt, gelernt, gelernt, bis der Kopf voll ist, sondern es wird immer gleich der Bezug hergestellt, was man damit anfangen kann.« Für den Sohn von Nadja und Martin Breibert war dies sogar der Hauptgrund, zur 11. Klasse auf die esbz zu wechseln: »Er meinte, entweder höre ich nach der Zehnten auf, oder ich suche mir eine Schule, in der ich selbst in die Verantwortung zum Lernen komme«, erzählen die Eltern. »Er wollte nicht mehr die ganze Zeit nur zuhören und sich nach den Lehrern richten, er will ernst genommen werden und mehr sein Ding machen.«

Interdisziplinäre Projektarbeit wird in jedem Curriculum gefordert. Autonom handeln und erfolgreich in heterogenen Gruppen agieren können sind zwei der drei zentralen Kompetenzen, die von der OECD zu Leitlinien ihrer Bildungsstrategie erklärt wurden. Viele Lehrer würden auch gerne Projekte durchführen – aber in 45 oder 90 Minuten ist das kaum möglich. Schule in ihrer derzeitigen zerstückelten Fachstundenstruktur ist nicht projektunterstützend, sondern projektverhindernd.

Dass Projekte ein gewisses kreatives Chaos gegenüber einem »geregelten Schulablauf« bedeuten, insbesondere in einer Schule im Aufbau, ist für Dorothea Kleihues, deren drei Kinder auf die esbz gehen, ein Lerngewinn: »Auch unser Leben ist sehr chaotisch, und vieles kann sich verbessern – so gesehen ist die Schule sehr realistisch.« Die Sorge mancher Eltern, ob Kinder auf diese Weise überhaupt »richtig« und genug lernen, teilt sie nicht: »Die Kinder verstehen plötzlich, was das, was sie in der Schule tun, mit der Außenwelt zu tun hat. Das hat diese Schule geschafft, und das ist eine enorme Leistung.«

Lernen durch Engagement und die nachhaltige Wirkung der Projektergebnisse stehen im Mittelpunkt.

 

Drei für alle verbindliche Formate für das Lernen im Leben hat die esbz in ihrem Curriculum verankert: Das erste ist das »Projekt Verantwortung«, bei dem sich alle Jugendlichen der Stufe 7 und 8 für jeweils ein Jahr eine verantwortungsvolle Aufgabe im Gemeinwesen suchen. Dafür bekommen sie mittwochs zwei Stunden Unterricht als individuelle Lernzeit geschenkt (nach der Mittagspause bis Schulschluss, um den für dieses Zeitfenster größtmöglichen Freiraum zu lassen). Ihre Erfahrungen präsentieren sie am Schuljahresende auf dem Verantwortungsfest, das im Forum gefeiert wird und auf dem besondere Schülerleistungen öffentlich ausgezeichnet werden.

Das zweite ist das »Projekt Herausforderung«, eine selbst gesuchte Aufgabe, die außerhalb Berlins zu bewältigen ist. Dafür bekommen die Schüler der Stufe 8, 9 und 10 dreimal, jeweils zu Schuljahresbeginn, drei Wochen Zeit. Im Anschluss daran werden alle Projekte auf dem »Campus Herausforderung« auf dem gesamten Schulgelände präsentiert.

Ich lerne total viel, ich lerne hier für mich. Ich hab ein anderes Selbstbild, kann selbstkritisch sein, bin sehr selbständig. Ich weiß, wofür ich stehe und was ich will. Und hier kennen mich die Leute, sie sehen meine Entwicklung – das ist eine zweite Familie für mich. Das kann man nicht ersetzen.

Martha, 9. Klasse

 

Und im Jahrgang 11 gehen alle Jugendlichen für mindestens drei Monate ins Ausland, im Idealfall engagieren sie sich dort in einem sozialen oder ökologischen Projekt. Nach ihrer Rückkehr arbeiten die Jugendlichen ihre Erfahrungen gemeinsam auf und teilen sie in vielfältiger Weise, wie zum Beispiel durch eine Ausstellung, mit.

Ein weiteres wichtiges Format ist der Projektunterricht. Jeden Donnerstag ab 10.30 Uhr bis Schulschluss arbeiten die Jugendlichen der Jahrgänge 7 bis 9, betreut durch ihre Klassenlehrer, über mehrere Wochen an einem fächerübergreifenden Thema. Je nach Aufgabe tun sich auch die drei Klassen eines Kleinteams arbeitsteilig zusammen. Das Lernen vollzieht sich zeitlich konzentriert (epochal) und verständnisintensiv (exemplarisch) unter einem Oberthema. Innerhalb dieses Rahmens werden Inhalte und Anforderungen der Rahmenpläne abgedeckt. Die Jugendlichen verfolgen eigene Forscherfragen und lernen unterschiedliche Zugänge, Methoden und Präsentationsformen kennen. Im Unterschied zum Lernbüro liegt beim Projektunterricht der Schwerpunkt auf Teamarbeit. Die Ergebnisse werden von der Gruppe verantwortet und zu Ende eines jeden Projekts den Mitschülern, Eltern, Lehrern und Partnern der Schule oder der Öffentlichkeit vorgestellt. Dabei geht es nicht nur darum, einseitig die Präsentationsfähigkeit der Schüler zu trainieren und zu bewerten. Alle Beteiligten sind bei diesem Prozess Lehrer und Lerner zugleich und können voneinander lernen.

Mit dem wöchentlichen Projektdonnerstag in allen Klassen der Jahrgänge 7 bis 9 hat die esbz eine Gelegenheitsstruktur geschaffen, in der auch die Zusammenarbeit mit außerschulischen Experten oder das Arbeiten an anderen Lernorten möglich ist. Das alles kann kurzfristig und ohne großen Aufwand organisiert werden, weil intern sich außer den Schülern nur die Klassenlehrer damit befassen müssen. Beispielsweise beschäftigt sich eine Klasse mit Protestformen und hat einen Flashmob zu einem selbst gewählten Thema – in diesem Fall die Belästigung durch Telefonate im öffentlichen Raum – organisiert und auf dem Alexanderplatz durchgeführt.

Kinder unterschiedlicher Klassen können sich zusammentun und ein eigenes Projekt kreieren oder sich für ein Projekt mit einem außerschulischen Partner zusammenfinden wie beim Archäologieprojekt, in dem interessierte Jugendliche gemeinsam mit Archäologen Geschichtsforschung betrieben, eine Kirchengrundmauer freilegten und historische Schätze bargen. Am Tag des offenen Denkmals stellten sie in Vorträgen ihre Ergebnisse vor und erklärten der interessierten Öffentlichkeit die archäologischen Befunde. Eine andere, wiederum aus verschiedenen Klassen zusammengesetzte Schülergruppe hat beim Begegnungsprojekt mit dem Titel »Der rote Faden« mit alten Menschen in berührenden Dialogen deren Biografien erfahren, die Lebensgeschichten als roten Faden bildlich dargestellt und der Schulgemeinde präsentiert. Nicht nur die alten Menschen waren bei dieser Vorstellung oft den Tränen nahe. Ohne dass dadurch größerer organisatorischer Aufwand entsteht, kann bei Bedarf auch ein ganzer Tag für eine Exkursion verwendet werden.

In diesem Jahr haben sich mehrere Klassen zusammengetan, um das Projekt Schul(hof)gestaltung in Angriff zu nehmen. Die Ideen haben die Schüler entwickelt und selbständig Teams gebildet: Eine Gruppe richtet ein Schülercafé ein, eine andere baut Sitzgelegenheiten aus Schubkarren, und eine dritte legt einen Steingarten und Komposthaufen an. Als zusätzlichen Anreiz gibt es noch einen Wettbewerb, bei dem die Schüler Pflanzkübel mit Kräutern bepflanzen und später die beste Ernte gewinnt. »Unser Essen wird teilweise frisch in der Schulküche zubereitet«, erklärt Mandy Voggenauer, die den Wettbewerb mit Pflanzkübeln der Prinzessinnengärten, einem Gemeinschaftsgarten-Projekt in Berlin-Kreuzberg, organisiert hat. »Die Kräuter, die die Schüler anbauen, können die Köche dann für das Schulessen verwenden.«

Eine andere Klasse will ihr Klassenzimmer streichen, Regale und einen Computertisch bauen und hat dafür drei Teams gebildet: die Spendensammler (die Geld für die Materialien auftreiben müssen), die Möbelgruppe (die sich Hilfe in der Holzwerkstatt holt) und die Maler. Eine Wand soll zum Dschungel werden, dafür erhält das Team kompetente Unterstützung von Thorsten Brill, einem Schülervater: »Ich erzähle ihnen etwas über die psychologische Wirkung von Farben und zeige praktische Dinge, etwa wie der Farbbedarf berechnet wird und wie man so ein Vorhaben strukturiert«, sagt der gelernte Illusionsmaler. »Aber das meiste machen sie alleine.«

Weitere Projekte der esbz sind die Lehrerfortbildungen durch Schüler, die sich großer Nachfrage erfreuen, und natürlich die Sprachbotschafter, ein Peer-Education-Projekt für sozial benachteiligte Grundschüler, das die Jugendlichen der esbz als Projekt Verantwortung und als Werkstatt wählen können. Auch Projekte mit außerschulischen Partnern wie beispielsweise das Design Thinking Coaching für Manager können aufgrund der offenen Struktur der esbz kurzfristig und unkompliziert realisiert werden.

Anja Niesler ist Mutter eines hochbegabten Sohnes und glücklich über die besonderen Lerngelegenheiten, die ihm die Projekte an der esbz bieten: »Mein Sohn blüht immer dann auf, wenn es schwierig wird und komplex.« Als Neuntklässler konnte er am ersten Design Thinking Workshop teilnehmen, den die Schule in Zusammenarbeit mit dem Hasso Plattner Institut in Potsdam durchführte, an dem diese Methode zur Lösung komplexer Probleme und Entwicklung neuer Ideen studiert werden kann. »Er hat mir nachher vorgeschwärmt: Ich kann davon gar nicht mehr lassen, mein Gehirn wird benutzt, ich fühl mich lebendig!« Aber auch Shana, die von sich selbst sagt, sie sei nicht die schlechteste Schülerin, aber auch nicht die beste, liebt den Projektunterricht, insbesondere die Lehrerfortbildungen: »Das ist eine Stärke, die ich an mir gesehen habe, die ich hier super ausleben kann. Vielleicht kann ich es sogar mal in meinem Beruf anwenden«, sagt sie. »Dafür bin ich der Schule sehr dankbar.«

Wir müssen uns von diesem 45-Minuten-Takt-Fachunterricht lösen und den Kindern (Frei-)Räume bieten, ihre Fähigkeiten einzubringen, zu entwickeln und vor allem zu erkennen. Wir schicken sie in eine Welt, in der sie sich durchsetzen müssen – dafür brauchen sie kooperative Fähigkeiten, um in einer Gemeinschaft zu leben – Flexibilität, keine Starre, um sich Neuem zu stellen –, und Selbständigkeit, vor allem im Umgang mit Problemen, Schwierigkeiten und Hürden, die ihnen das Leben bietet.

Jenni Leonhard, Mittelstufenleiterin

 

Ermutigt durch die esbz, hat die Grundschullehrerin Sabine Weiche auch in ihrer Klasse Projektarbeit eingeführt. »Ich habe gelernt, dass ich den Kindern Vertrauen entgegenbringen muss«, sagt sie. »Je mehr sie gemerkt haben, dass sie sich engagieren können, dass sie etwas bewirken können, umso mehr wollten sie es auch tun.« Eigenständig haben sich ihre Sechstklässler eine Kampagne gegen klimaschädliche Heizstrahler in Straßencafés ausgedacht und damit eine Diskussion in ihrem Bezirk angestoßen, in die sich sogar der Bezirksrat einklinkte. Einige Cafés schalteten daraufhin die Strahler aus, und die Kinder erhielten für ihr Engagement gleich zwei Auszeichnungen. »Das sind ganz starke Kinder geworden«, sagt Sabine Weiche. »Sie haben gemerkt, dass sie ganz viel können und nicht nur Menschen sind, die man auf Noten reduzieren kann.« Einige ihrer Schüler besuchen inzwischen die esbz.

Lernen durch Engagement kann als Unterrichtskonzept in allen Schulformen und Klassenstufen und in vielen Lernformaten eingesetzt werden: im Fachlernen, im Projektlernen, in Arbeitsgemeinschaften oder Werkstätten, in Wahlpflichtkursen oder in ganz eigenen Zeitfenstern wie dem Projekt Verantwortung.

 

Schulen haben den Auftrag, überfachliche Kompetenzen zu fördern. Das Problem dabei ist, dass dies häufig im Rahmen eines Methodencurriculums geschieht, in dem die Schüler sich das Lernen, Projektmanagment, Teamarbeit, Präsentation, Rhetorik usw. abstrakt begrifflich, abgekoppelt von Realsituationen mit Arbeitsblättern und Übungen aneignen sollen. Dieses isolierte Als-ob-Lernen ohne Anbindung an authentische Aufgaben ist wenig nachhaltig. Lernen durch Engagement dagegen ist an konkrete Erfahrungen gekoppelt. Selbstorganisation, Selbststeuerung, die Entwicklung personaler Kompetenzen sind hier integral verankert. Hinzu kommt die wichtige ethische Dimension: Gemeinsinn, Verantwortungsbewusstsein, Werteorientierung lassen sich nicht unterrichten, genauso wenig komplexe Metakompetenzen wie strategische Handlungsplanung, Folgenabschätzung, Problemlösungskompetenz, Flexibilität, Frustrationstoleranz, Impulskontrolle. Die Hirnforscher nennen diese Befähigungen exekutive Frontalhirnfunktionen. Auf diese Metakompetenzen wird es in Zukunft deutlich mehr ankommen als auf all das in der Schulzeit auswendig gelernte Wissen.

Kriterien für Lernen durch Engagement sind nach Anne Sliwka, Professorin für Erziehungswissenschaften und Prorektorin der PH Heidelberg,

 
  • ein echter Bedarf,
  • die Verknüpfung mit curricularen Inhalten,
  • die Reflexion der Erfahrungen,
  • die Zertifizierung der erworbenen Kompetenzen,
  • und die öffentliche Anerkennung der Jugendlichen.

In zahlreichen Studien werden die positiven Wirkungen von Lernen durch Engagement beschrieben: Abbau von Vorurteilen, Verbesserung der Problemlösefähigkeit, Förderung von Kooperationsfähigkeit und ethischem Denken, eine stärkere Identifikation mit der Schule sowie eine höhere Engagementbereitschaft im Erwachsenenalter.

Zur Initiierung, Implementierung und Institutionalisierung bedarf es an der Schule und im Schulumfeld unterstützender Strukturen, denn die Wirkqualität von Lernen durch Engagement hängt von Qualitätskriterien der Umsetzung ab. Besondere Bedeutung kommt dabei Netzwerken zu, die unterstützen und einen Rahmen für kollegialen Austausch schaffen. Am bundesweiten Netzwerk Lernen durch Engagement beteiligen sich rund 100 Schulen, Kompetenzzentren und Kooperationspartner, die Lernen durch Engagement umsetzen und ihre Erfahrungen austauschen. Dort wird eine Fülle von Praxismaterial und Literatur bereitgestellt, und Schulen erhalten auf Wunsch kompetente Beratung und Begleitung bei der Einführung.

Projektarbeit und Öffnung von Schule:
Neue Medien,
Blue Economy und Co.

 

Die Werkstätten der esbz bieten Schülern ab der 7. Klasse Wahlmöglichkeiten ihren Neigungen und Stärken entsprechend, beispielsweise den Kurs »Let’s go shopping – fairer Konsum« von unserer Kollegin Barbara Stockmeier oder die Schreibwerkstatt von unserer Mittelstufenleiterin Jenni Leonhard, die sehr gut ankommt. Die Erzieherin und Koordinatorin Anne Pesch pflegt gute Kontakte auch zu Eltern und außerschulischen Partnern und entwickelt neue Angebote. Beispielsweise bietet der Johanniter-Jugendclub Filmbearbeitung an, und in Zusammenarbeit mit dem Musik-Wahlpflichtkurs entsteht jetzt ein Musikvideo. Und in der Werkstatt Internationaler Kinderclub besuchen zehn Mädchen, die sich selbst »The Big Sisters« nennen, jede Woche ein Asylbewerberheim und spielen mit Kindern, die gerade erst nach Deutschland geflohen sind.

Ein weiterer Werkstatt-Kurs ist das »Praktische Lernen«, das die esbz dank einer sehr gut ausgestatteten Holzwerkstatt anbieten kann. Beispielsweise wird in der Holzwerkstatt eine Jolle, die ein Vater der Schule geschenkt hat, von Schülern restauriert und wieder segeltauglich gemacht. »Man lernt an der Uni ja nicht, welche Sprache auf dem Bau gesprochen wird oder wann Holz bricht – man lernt vielleicht die mathematische Berechnungsformel dafür«, unterstreicht Paul B. Schmidt die Bedeutung praktischer Erfahrung. Als nächstes großes Projekt will der Kurs die Bühne in der Aula zur Theaterbühne umbauen.

Die Öffnung von Schule und die Zusammenarbeit mit außerschulischen Partnern entwickelt sich auch im Bereich neuer Technologien. Mit Unterstützung der Telekom entsteht gerade ein Open Media Lab. Unter Federführung der Künstlerin Peggy Sylopp sollen damit Räume geschaffen werden, in denen Kinder sich spielerisch-kreativ auf Basis von Bildungskunst mit Technik beschäftigen. Das geschieht in Zusammenarbeit mit Lehrern (Mathematik, Kunst, Naturwissenschaften, Praktisches Lernen), aber auch externen Partnern wie Universitäten oder potenziellen Ausbildungsbetrieben. »Ich will eine werkstattähnliche Situation, in der man Ideen aufnehmen und prozessual bearbeiten kann«, erklärt die Künstlerin. »Ich will nicht vorgeben: Wir bauen jetzt ein Mobile mit Solartechnik, sondern: Wir haben die und die Technik, welche Ideen habt ihr dazu?« Durch dieses freie, experimentelle Arbeiten ohne Produktdruck gelingt eine unbefangene Annäherung an ein Thema, das für viele Kinder, vor allem Mädchen, angstbehaftet ist und als viel zu kompliziert oder unsexy gilt. »Mädchen werden durch die ästhetische Komponente angesprochen«, beobachtet Peggy Sylopp. »Jungs fragen mich als Erstes, ob ich hacken kann. Das entspricht überhaupt nicht der Herangehensweise von Mädchen. Die möchten eher, das etwas Schönes dabei herauskommt, und um dieses Ziel zu erreichen, lösen sie auch technische Probleme. So baue ich den Unterricht auf.«

Wenn man Technik als Wissensgebiet, nicht nur als Konsumobjekte begreift, geht man ganz anders damit um. Technik ist dann nicht mehr diese »magic box«, der man hilflos ausgeliefert ist.

Peggy Sylopp, Künstlerin

 

Beim Creative Computing beispielsweise finden die einen spielerisch einen Einstieg in Theorie und Praxis des Programmierens, andere probieren 3-D-Effekte oder Bildbearbeitung aus. »Das unterscheidet sich grundsätzlich von einem Programmierkurs nach Anleitung«, meint Sylopp. Beim ersten Technik-Campus an der esbz hat beispielsweise das DAI-Labor (Distributed Artifical Intelligence) der TU Berlin humanoide Roboter präsentiert. Die kamen gerade bei den Mädchen sehr gut an, weil sie so »niedlich« sind. Das Angebot wird sich sukzessive erweitern und soll für Schüler aller Jahrgangsstufen offen sein. Einen Computerraum gibt es bereits, der nun auch mit Werkzeug und Elektronikbauteilen, Widerständen, Kondensatoren, Chips usw. ausgestattet wird, aber auch mit Materialien für den Modellbau, zum Nähen und Basteln. Peggy Sylopp will auch MINT-Slams veranstalten, bei denen Schüler unterhaltsame Zehn-Minuten-Vorträge aus den Themenbereichen Mathematik, Information, Naturwissenschaften und Technik (MINT) halten. Über den besten Vortrag wird per Applaus entschieden. »Da könnten zum Beispiel die Kids, die bei der Herausforderung ein Floß gebaut haben, erzählen, wie sie das genau gemacht haben.«

Ich achte immer darauf, Rahmenplaninhalte in Projekte zu integrieren und den Kindern dadurch nicht weniger zu geben, sondern noch ein Sahnehäubchen draufzusetzen.

Mandy Voggenauer, Lehrerin für Naturwissenschaften

 

Um den Schülern komplexe Zusammenhänge wirklich deutlich machen zu können, braucht man, so unsere Kollegin für Naturwissenschaften Mandy Voggenauer, »immer einen Aufhänger, mit dem man in den Unterricht reingehen und den Bezug vom Lehrstoff zur Lebenswelt herstellen kann. Und dann schaut man: Wie kann ich damit praktisch handlungsorientiert arbeiten?« So arbeitet sie seit langem schon mit den 36 Fabeln der Blue Economy, in denen die Themen dieses Konzepts auf die Welt der Kinder übertragen und vermittels Illustrationen und Geschichten anschaulich gemacht sind. Blue Economy ist ein von Gunter Pauli entwickeltes Konzept, das die Grundgedanken der Green Economy weiterentwickelt, ein Plädoyer für das Prinzip »Mache mehr aus weniger!« Umwelt- und Klimaschutz werden weitergedacht: Emissionen und Abfälle sollen soweit möglich reduziert und vermieden und das, was als »Müll« unvermeidbar anfällt, als Ressource begriffen werden, die nicht verschwendet werden darf, sondern mittels von der Natur inspirierter Innovationen in den Produktionskreislauf zurückgespeist wird. Aus Abfällen, die bislang die Umwelt und uns Menschen belasten, entstehen so neue Nähr- und Rohstoffe. Statt künstlicher Knappheit und Engpässen gewinnen wir ein Plus an Arbeitsplätzen und Wertschöpfung. Produktion und Konsum werden schließlich wahrhaft nachhaltig.

In einer der Fabeln zur Blue Economy unterhalten sich beispielsweise eine Kuh und ein Pilz darüber, wer in kurzer Zeit mehr Protein produziert. Beiläufig werden darin auch Themen wie Tierhaltung, die Entwicklung von Mensch und Nutztieren, der klimaschonende Umgang mit Ressourcen angesprochen, aber auch die handfeste Frage geklärt, wie der Magen einer Kuh funktioniert.

Mandy Voggenauer setzt diese Fabel in ihrer Zehnten ein, mit der sie gerade über Massentierhaltung und mögliche Alternativen spricht. »Wir wollen den Pilz auch züchten«, erzählt sie. »Wir werfen täglich Tonnen Kaffeesatz weg. Kaffeeabfall ist aber ein idealer Nährboden für die Pilzzucht. So lernen Kinder: Abfall ist Ressource für neue Produkte. Und anschließend stellen wir Materialien her, mit denen Siebt- und Achtklässler, die in ihrem Projekt Verantwortung in Kindergärten gehen, mit den Kindern das Pilzzuchtexperiment wiederholen können.« Markus Haastert, Vorsitzender des Vereins ZERI in Deutschland (Zero Emissions Research and Initiatives, www.zeri.org) und einer der Vordenker der Blue Economy, ist zum festen Engagementpartner der esbz geworden. Sie könnte damit zur Pionierschule werden, an der aus dem ökonomisch, ökologisch und gesellschaftlich visionären Konzept ein Lernbaustein für die nächste Generation wird.

Tipp:

Die 36 Blue-Economy-Fabeln und weitere Materialien für den naturwissenschaftlichen Unterricht sind (auf Deutsch und Englisch) erhältlich unter www.zeri-germany.de/institut/bildungsinitiativen.

 

Projekt Verantwortung: Spüren, wie es ist, gebraucht zu werden

 

In der 7. und 8. Klasse bekommen die Schüler zwei Stunden Lernzeit pro Woche geschenkt für ein festes zivilgesellschaftliches Engagement.

 

aus dem Schulprogramm der esbz

 

Ein funktionierendes Gemeinwesen ist auf die Verantwortungsübernahme von Bürgerinnen und Bürgern angewiesen. Gemeinsinn und Verantwortung sind die Grundlagen einer demokratischen Gesellschaft. Eine Gesellschaft, die dieser Herausforderung nicht gerecht wird, zerstört ihre eigene Basis. Verantwortung lernt man aber nicht aus Büchern oder durch moralische Appelle, sondern indem man Verantwortung übernimmt. Und nur wer selbst Anerkennung für verantwortungsvolles Handeln erfahren hat, wer sich als Person gebraucht und wertgeschätzt fühlt, wird auch anderen Menschen für ihr Engagement Respekt und Anerkennung entgegenbringen.

Die Schüler übernehmen Verantwortung, nehmen Dinge in die eigene Hand und spüren, was das für Folgen hat – im positiven Sinne. Was es für die Mitmenschen, für die Kinder bedeutet, dass sie das machen. Dazu braucht es von allen Beteiligten ganz viel Sensibilität und Mut, sich darauf einzulassen. Ich denke, das ist es, was wir alle brauchen, um gut miteinander leben zu können.

Anna-Lilja Edelstein, Koordinatorin Projekt Sprachbotschafter

 

Da wird mir etwas zugetraut, da spürt man, wie Verantwortung ist …

 

Gemeinsinn stiftende Erfahrungen geschehen konkret in der Auseinandersetzung mit Menschen, Anliegen, Situationen. Hier besteht in Deutschland noch Entwicklungs- und Handlungsbedarf, denn Partizipation von Kindern und Jugendlichen ist, obwohl ein wichtiges Handlungsfeld, in dem sich Einstellungen junger Menschen zur Politik und Demokratie bilden, in unserem Land noch wenig ausgeprägt. Das unausgeschöpfte Engagementpotenzial lässt sich, wie Studien zeigen[9], auf fehlende Anlässe und Gelegenheitsstrukturen zurückführen.

Wo Kinder und Jugendliche verantwortlich mitwirken können und die Erfahrung wächst, dass ihr Engagement wichtig ist, entsteht Sinn und sinnvolles Tun: »burn for« statt »burn out!« Doch die formalisierten Bildungssysteme sind völlig unzureichend mit den Kommunen und ihren politischen, ökonomischen und sozialen Akteuren vernetzt. Diese örtlichen Bezüge zurückzugewinnen und dadurch Erfahrungen aus erster Hand zu ermöglichen ist essenziell, denn sie bilden in einer zunehmend virtuellen Erfahrungswelt und virtuell vernetzten Gesellschaft ein unerlässliches Gegengewicht im Sinne von »global denken – lokal handeln«. Aus diesem Anspruch erwächst der Schule die Aufgabe, Räume für zivilgesellschaftliches Engagement zu eröffnen und das Lernen von Verantwortung im Schulcurriculum zu verankern.

Ohne das Projekt Verantwortung hätte ich mich niemals getraut, Co-Trainerin zu werden.

Daria, 7. Klasse, Sportprojekt Power-Kids

 

Laut dem Sozialbericht für Deutschland aus dem Jahr 2011[10], einer Studie der Bundeszentrale für politische Bildung, ist das zivilgesellschaftliche Engagement von Jugendlichen seit 1999 langsam, aber kontinuierlich gesunken. »Zu den Ursachen zählen eine gestiegene räumliche Mobilität und die Verringerung der zeitlichen Freiräume durch Veränderungen im Zeitregime von Schule und Studium«[11], heißt es dort. Beachtliche Teile des Engagements seien außerdem durch relativ kurzfristige Ein- und Austritte gekennzeichnet. Zugleich wird dem zivilgesellschaftlichen Engagement »angesichts der zunehmenden Individualisierung, des demografischen Wandels und des Verlusts sozialer Bindungen«[12] eine wachsende Bedeutung beigemessen, da es helfe, »Fähigkeiten zum Kompromiss und zu einem zivilen Umgang herauszubilden«[13], die für den gesellschaftlichen Zusammenhalt unverzichtbar sind.

Gemeinschaft endet nicht am Schultor. Wir stellen uns unserer Verantwortung auch über die Schule hinaus.

 

Verantwortung und zivilgesellschaftliches Engagement zu übernehmen gehört zu den zentralen Elementen der Lernkultur an der esbz. Im Projekt Verantwortung, das als zweistündiges Schulfach im Curriculum verankert ist, übernehmen alle Siebt- und Achtklässler eine Aufgabe im Gemeinwesen. Bis zu den Herbstferien bereiten sich die Siebtklässler intensiv auf das Projekt vor. »Wir erarbeiten gemeinsam: Was ist Verantwortung? Wo habe ich schon Verantwortung übernommen? Welche Stärken und Schwächen habe ich, was kann ich gut?«, erklärt Projektkoordinatorin Ariane Konetzka.

Mir bedeutet das ganz viel. Die Kinder mögen mich, die mögen, dass wir kommen. Die Kinder warten auf uns. Wir sind ihnen wichtig. Sie fragen: »Könnt ihr nicht jeden Tag kommen?« Das fragen die uns!

Nirosha, 7. Klasse, Projekt Vorlesen in der Grundschule

 

Zusätzlich erkunden die Schüler und Schülerinnen als Gemeindedetektive ihr Umfeld, erproben sich im Vorstellungstraining, überlegen, wie sie ihre Erfahrungen dokumentieren können. Manche erzählen schon beim Aufnahmegespräch, wo sie sich engagieren wollen, andere brauchen noch Anregungen. Diese bekommen sie auf einer Börse, bei der Mitschüler, die schon ein Jahr Projekt Verantwortung hinter sich haben, ihre Projekte vorstellen, sowie außerschulische Kooperationspartner wie Senioreneinrichtungen, Naturschutzverbände, die Johanniter-Jugend, Kirchengemeinden, Bibliotheken, Vereine ihre Arbeit und Engagementmöglichkeiten präsentieren. Wir arbeiten inzwischen mit über 80 Partnern im Gemeinwesen zusammen. Das Projekt, das angelehnt ist an das schon 1999 an der Gesamtschule Essen-Holsterhausen entwickelte Vorbild, wurde vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend als Bildungsleuchtturm Berlin zertifiziert.

Ihre Aufgabe suchen sich die Kinder selbst. Die Schule stellt Unterrichtszeit, Lehrerwochenstunden zur Betreuung und zur Fortbildung, eventuell benötigte Räume und Materialien zur Verfügung. »Beim Service Learning, also Lernen durch Engagement, merken die Kinder: Ich kann etwas bewegen und verändern, mein Wirken, meine Existenz sind wichtig«, meint unsere pädagogische Leiterin Caroline Treier.

»Es geht darum, dass die Kids etwas machen, was sie machen wollen«, unterstreicht eine Schülermutter, die die Kinder bei ihrer Suche beratend unterstützt. Allerdings könne es auch passieren, dass ein Schüler im Laufe des Projektes merke, dass er kaum oder gar keine Verantwortung übernehmen kann, weil es von den Strukturen her nicht funktioniert, sagt die Koordinatorin des Projekts, Ariane Konetzka. Während des Schuljahres wird der »Unterricht im Leben« in der Klasse daher regelmäßig reflektiert. Das ist auch deshalb wichtig, weil die Jugendlichen durch die Kombination von Erleben und Reflektieren die Erfahrungen bewusst verarbeiten und diese so auf eine höhere Ebene der allgemeinen Erkenntnis gehoben werden können. Reflexion erweitert das Handlungsspektrum.

Ich habe gelernt, öffentlich zu sprechen. Ich möchte das Projekt »stillen Kindern« empfehlen, denn ich bin jetzt auch in der Schule mutiger geworden und melde mich viel öfter.

Sandra, 7. Klasse, Museumsprojekt Kids führen Kids

 

Einmal im Halbjahr besuchen die Tutoren die Jugendlichen im Projekt. Dabei wechselt die Rolle: Die Lehrer sind die »Neulinge«, und die Schüler zeigen und erklären, was sie machen. Und wie bei der Schulversammlung auch wird auf diese Weise die Klassensituation aufgebrochen, und es entsteht ein neues Lernformat als bereichernde Erfahrung.

Alle Jugendlichen dokumentieren in einem Verantwortungsbuch ihre Erfahrungen. Darin können sie einen Brief schreiben, das wichtigste Wort der Woche notieren, einen Comic zeichnen, ein Stimmungsbild malen, festhalten, was ihnen am wichtigsten erscheint. Nach dem ersten Jahr sollen die Kinder ihren Verantwortungsbereich vergrößern, indem sie den Einsatzort wechseln oder noch mehr eigenständig gestalten. Am Ende jeden Jahres feiern wir ein Verantwortungsfest mit allen Jugendlichen, ihren Eltern und den Partnern, bei dem besondere Projekte vorgestellt und besonderes Engagement öffentlich gewürdigt wird. Alle bekommen ein Zertifikat, in dem bescheinigt wird, wofür und in welcher Intensität sie Verantwortung übernommen und welche Kompetenzen sie erworben haben.

Ich möchte gerne den Kindern Mut geben, an sich selbst zu glauben und nicht an sich zu zweifeln. Das möchte ich noch hinbekommen.

Memmet, 8. Klasse, Projekt Hausaufgabenhilfe im Flüchtlingsheim

 

Sarah beispielsweise wurde ausgezeichnet, weil sie, zusätzlich zu ihrem Projekt Verantwortung in einem Kindergarten, im Reitverein in der Reittherapiegruppe für Behinderte mithalf. »Das ist ihr Berufswunsch, und sie hat da wirklich ein Händchen dafür«, sagt ihre Mutter Karin Benkmann stolz. Weil der Kurs um 18 Uhr stattfindet, fährt Sarah, die inzwischen in der 10. Klasse ist, immer noch jeden Montag direkt nach der Schule in den Verein und ist erst nach 20 Uhr wieder zu Hause. »Montag ist wirklich ein harter Tag. Aber die Therapeutin ist ganz begeistert von ihrer besonderen Art, mit den Patienten und den Pferden umzugehen.«

Für unsere Koordinatorin Ariane Konetzka ist eine solche dauerhafte Motivation ein wichtiges Ziel des Projekts Verantwortung: »In einem weiteren Schritt geht es darum zu sehen, was für schöne Momente daraus längerfristig entstehen können. Das ist natürlich ein Ziel, das weit über die Schule hinausgeht.« Julius beispielsweise hat in einem Seniorenheim zwei alte Menschen betreut. »Zuerst haben die Kinder ein bisschen gemeckert: Was sollen wir denn da?«, erinnert sich seine Mutter. »Aber dann war er so angetan, dass er immer von diesen alten Menschen erzählt hat, was sie erlebt haben. Er fand das so wichtig, dass er sogar in den Ferien hingegangen ist.«

Napirai ist jetzt in der 8. Klasse und besucht jede Woche eine Kreuzberger Kita, wo sie mit den Kindern ein Theaterstück entwickelt. »Das hab ich schon mal gemacht, letzten Sommer, als ich in einem Ferienlager in Frankreich war«, sagt sie selbstbewusst. Als die Dreizehnjährige den Erzieherinnen ihre Idee vorstellte, gab es nur positive Reaktion. »Die Kinder denken sich die Geschichte aus, und ich überlege mir, wie wir daraus ein Stück machen«, erklärt sie. »Das wollen wir dann vor den Eltern aufführen.«

Einige Jungs in meiner Klasse haben sich überlegt, dass sie gezielt für Jungs in der Kita Angebote machen wollen, denn die Erzieher dort sind ja meist Frauen.

Jenni Leonhard, Mittelstufenleiterin

 

Ihr Klassenkamerad Lukas musste ziemlich suchen, bis er einen Projektplatz gefunden hatte. Erst wollte er in einem Puppentheater mitarbeiten, »aber die haben mir nicht geantwortet«. Dann interessierte er sich für einen Fahrradladen, was auch nicht klappte, weil es kommerziell war. Jetzt hilft er in einem Seniorencafé der Kirche und findet es »ganz schön spannend«, was für Geschichten die alten Leute zu erzählen haben. Alle sitzen gemeinsam um einen großen Tisch, und Lukas verteilt Kaffee und Kuchen. »Da helfen auch Leute, die ganz normal arbeiten«, sagt er, »denen hab ich gesagt, setzt euch doch mal dazu, ich mach das. Darüber haben sie sich gefreut.«

Gerade bei den Siebtklässlern ist immer wieder zu beobachten, wie sie sich durch diese Projektarbeit verändern. »Wir haben ein paar Schlusis dabei«, erzählte uns Jenni Leonhard, »die dann plötzlich am Ende der Stunde, bevor sie zu ihrem Projekt fahren, ganz kribbelig dastehen und sagen, sie müssten gleich los. Die dann plötzlich unbedingt pünktlich sein müssen und auch wollen.« Wichtig dabei ist auch, dass die Kinder im Projekt erleben, dass Dinge auch schiefgehen können. Beispielsweise wollen sie mit Kindern einer Grundschule eine Aktion machen, für die sie rausgehen müssen, und plötzlich hat die Erzieherin, die ihnen eigentlich ihre Begleitung zugesagt hatte, doch keine Zeit. Durch solche Erfahrungen lernen die Kinder, mit Enttäuschung umzugehen – oder auch flexibel und kreativ zu sein, um Hindernisse zu beseitigen. Als Jenni Leonhard ihre Tutanden in der Nachmittagsbetreuung einer Grundschule besuchte, stellte sie fest: »Die Kinder haben dort Regeln eingeführt, die sie von ihrer Schule kennen, zum Beispiel die erhobene Hand, um für Ruhe zu sorgen. Und sie haben auch neue Zeichen erfunden.«

Es ist auch schon passiert, dass sich jemand mit einer Lese-Rechtschreib-Schwäche im Kindergarten getraut hat vorzulesen. Die Kinder waren total begeistert, und plötzlich haben die sich auch getraut, hier in der Schule vorzulesen.

Shana, 11. Klasse

 

Unsere Erfahrungen zeigen, dass im Projekt Verantwortung Kreativität, Planungs- und Organisationskompetenz, Kooperations- und Kommunikationsfähigkeit, Selbstbewusstsein, Mut, Durchhaltevermögen, Verständigungsbereitschaft, die Sensibilisierung der Wahrnehmung von sich selbst und anderen sowie Verantwortungsgefühl gefordert, gefördert und gestärkt werden. Die Jugendlichen erleben neben der Lust an Eigenverantwortlichkeit vor allem die Anerkennung und das in sie gesetzte Vertrauen durchgängig als prägende Erfahrung. Lernen im Projekt Verantwortung heißt, sich einzulassen auf Fremdes, sich einzusetzen, sich auszusetzen und sich auseinanderzusetzen in der persönlichen Begegnung mit Menschen, in der Begegnung mit sich selbst.

Das Projekt Verantwortung ist ein Win-win-win-win-Projekt.

 

Für die Jugendlichen bedeutet das Projekt Verantwortung Kompetenzentwicklung, Lernmotivation und positive Identifikation mit Schule und Gemeinde. Die begleitenden Lehrer erfahren durch das Projekt Professionalisierung in der Arbeit mit externen Partnern und können Netzwerke mit vielfältigen Synergieeffekten und Erfahrungen mit projektorientierter, kooperativer Kultur bilden. Für die Kommune sind verantwortliche und aktive Bürger, Beteiligung und soziale Kohäsion der Gewinn. Generell erhält das Projekt und damit die Schule hohe Anerkennung durch Eltern und die Öffentlichkeit.

Es gibt inzwischen viele Schulen, die, angeregt und ermutigt durch uns, Ähnliches tun – in Berlin und in anderen Städten. Nach einem Workshop beim Bildungstag in Aachen bekamen unsere Schüler eine E-Mail von Heike Luckhard, einer Lehrerin an der Gesamtschule Aachen-Brand: »Ich finde dieses Projekt Verantwortung so gut, dass ich schon meinen Chef und eine Mutter meiner Klasse überzeugen konnte, es auch bei uns – in meiner Klasse – zu versuchen«, schrieb sie und stellte unseren Schülern einige Fragen zur praktischen Umsetzung. Shana, 9. Klasse, antwortete darauf: »Liebe Schüler /- innen, dieses Projekt ist eine große Chance, eure Stärken zu nutzen, zu zeigen und dafür viel Anerkennung und Respekt zu bekommen und an euren Schwächen zu arbeiten, ohne dass ihr dabei nach dem strengen Leistungssystem bewertet werdet. Seid offen, flexibel, fantasievoll, ideenreich und habt Mut, mit kleinen Schritten raus in die so vielfältige und bunte Welt zu gehen und Verantwortung zu übernehmen. Das Projekt wird nicht von Anfang an perfekt strukturiert sein, und es wird noch viele Hindernisse geben. Deswegen ist es wichtig, dass ihr euch gegenseitig unterstützt und weitermacht, auch wenn es mal nicht so einfach ist. Verantwortung ist nicht nur eine große Last, sondern es kann auch wahnsinnig viel Spaß machen, wenn man seine eigenen Ideen mit einbringt oder auch andere um Rat fragt, wenn es mal nicht so gut läuft. Ich wünsche euch ganz viel Spaß und spannende, neue und lehrreiche Erlebnisse.«

Kurze Zeit nach dem Bildungstag startete Heike Luckhard das Projekt in ihrer eigenen Klasse, bald wollte auch die Parallelklasse einsteigen. Das Echo aus der Gemeinde war sehr positiv, und zum Schuljahresende erhielten 60 stolze Teilnehmer Zertifikate vom Schulleiter. Das Projekt war zunächst im Fach Religion angesiedelt, im neuen Schuljahr ist es auf praktische Philosophie ausgedehnt, wodurch Schüler aller sechs Klassen des 10. Jahrgangs teilnehmen können. Das Interesse bei den Jugendlichen ist sehr groß, auch viele Kollegen finden das Projekt gut und sind grundsätzlich dafür, es ins Schulprogramm aufzunehmen. Viele schrecken allerdings vor den Belastungen der Betreuung zurück, denn die Schüler sind nicht nur im Zeitrahmen der Schulstunde tätig, sondern teilweise auch abends oder am Wochenende. »Anders als in der esbz haben wir (noch) einen festen Stundenplan mit dem üblichem Fächerkanon, und daher muss der feste Platz für das Projekt noch gefunden werden«, sagt die Initiatorin.

Tipp:

  • Zivilgesellschaftliches Engagement bei Jugendlichen wird derzeit in vielen Kontexten gefordert und gefördert. Die Bundesregierung hat am 6. Oktober 2010 die Nationale Engagementstrategie beschlossen. Die Koordinierungsstelle Nationales Forum für Engagement und Partizipation begleitet die Umsetzung. Hierfür wurden 2011 drei Dialogforen eingerichtet, eines davon – zum Thema Engagement als Unterrichtsmethode: Schule wird Lernort für Partizipation und gesellschaftliche Verantwortung – findet sich unter www.forum-engagement-partizipation.de.
  • Die Bertelsmann Stiftung arbeitet im Programm »jungbewegt« daran, dass sich Kitas und Schulen zu Orten der Engagementförderung entwickeln und in Kommunen gemeinnütziges Engagement anerkannt und langfristig gefördert wird. Auf www.jungbewegt.de findet sich für Kitas und Schulen gutes von der Primarstufe bis zur Sekundarstufe II aufbereitetes Material für Projekte und Evaluation. Interessant ist auch die Initiative zur Jugendpartizipation mit Wirkung.
  • Am Netzwerk »Lernen durch Engagement« beteiligen sich rund 100 Schulen und Partner, die vielfältig im Austausch unterstützt werden. Es wird eine Fülle von Praxismaterial und Literatur bereitgestellt, Schulen erhalten auf Wunsch kompetente Beratung und Begleitung bei der Einführung. Hilfreiche Veröffentlichungen dazu: Seifert; Seifert / Zentner; Sliwka / Frank (siehe Literaturverzeichnis); www.servicelearning.de
  • Die Diakonie entwickelt im Programm »Freiwillig engagiert sein« für alle Schulstufen Arbeitshefte: www.diakonie.de/unterrichtsmaterial-7979.htm
  • Weitere Anregungen, Materialien, Kooperationspartner, Fortbildungen: www.ev-zentrum.de, www.degede.de, www.mitarbeit.de, www.buergergesellschaft.de, www.b-b-e.de
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Projekt Herausforderung: An die eigenen Grenzen stoßen und darüber hinauswachsen

 

In der 8., 9. und 10. Klasse stellt sich jeder Jugendliche – individuell oder in der Gruppe – einer dreiwöchigen Aufgabe außerhalb Berlins, die für ihn persönlich eine Herausforderung darstellt.

 

aus dem Schulprogramm der esbz

 

Eines wissen wir ganz sicher: Die Zukunft ist unsicher. Darauf müssen wir unsere Kinder vorbereiten. Sie werden mit Fragen umgehen müssen, auf die es noch keine Antworten gibt, und Lösungen finden müssen, für die unbekannte Wege einzuschlagen sind. So befand auch Andreas Schleicher, internationaler PISA-Koordinator, anlässlich des »Bildungsdiskurs« der Stiftung Mercator am 22. März 2011 in Essen, es sei an der Zeit, über die »Schule 2.0« nachzudenken: »Sie bereitet auf ein gesellschaftliches und berufliches Leben vor, das wir heute noch nicht kennen, auf Technologien, die erst morgen erfunden werden, und hilft, Herausforderungen zu bewältigen, von denen wir heute noch nicht wissen, dass es sie gibt.«[14]

Ich hab gemerkt, ich kann Energien verwenden, die ich gar nicht hab. Ich kann über meine Grenzen hinaus und dann noch weiter. Das war unglaublich.

David, 10. Klasse

 

Aber wie soll uns das gelingen in einer Schule, die traditionell angelegt ist auf Sicherheit? In der der Tag in Stundenhäppchen zerstückelt ist und vom Lehrer so durchgeplant, dass von vornherein feststeht, was am Ende herauskommen soll? Die Antwort ist eigentlich ganz einfach: Wenn unsere Kinder wirklich fürs Leben lernen sollen, dann müssen wir das Leben in die Schule holen. Und Schule muss rausgehen ins echte Leben, dann stellt das Leben die Fragen. Lernen im Leben stellt die Weichen dafür, ob in der »Generation Unsicherheit« Sicherheitsbedürfnis und Delegation von Verantwortung vorherrschen oder Kreativität, Verantwortungsbereitschaft und produktiver Umgang mit Scheitern.

Herausforderungen haben uns geprägt, weitergebracht, mentale Modelle verändert, uns Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten gegeben, zu Anstrengung und Ausdauer, zu Neuem befähigt.

 

Dass Herausforderungen bilden, wissen wir aus der Entwicklungspsychologie, aus der soziokulturellen Forschung, der Hirnforschung, der Motivationsforschung, der Resilienzforschung, wir wissen es von den großen Pädagogen und aus unserer eigenen Lebenserfahrung. Sich Ziele zu setzen, eine Vision zu haben und zu verfolgen, Herausforderungen zu bestehen und dabei Erfahrungen von Selbstwirksamkeit zu machen, das fördert Entdeckungsfreude, Erlebnisfähigkeit, Unternehmungsgeist, Wagemut, Risikobereitschaft, Verantwortungsgefühl, Selbstbewusstsein.

Erfahrungen von Selbstwirksamkeit sind prägende Lebenserfahrungen, die psychologisch und neurophysiologisch Motivation freisetzen, mehr davon zu bekommen. »Use it or loose it« – so lautet die Grundregel unseres Gehirns. Visionen, Ziele, innere Bilder sind ausschlaggebend dafür.

Herausforderungen gehören in die Schule: Das 21. Jahrhundert braucht eine Vielfalt von Talenten und Persönlichkeiten. Es braucht außergewöhnliche Individuen. Es ist daher wichtig, jungen Menschen so oft wie möglich die Gelegenheit zu geben, zu entdecken und zu experimentieren – ästhetisch, sportlich, wissenschaftlich, kulturell und sozial. Die Kinderrechtskonvention und die Schulgesetze der Länder fordern die größtmögliche Förderung aller Potenziale der Kinder und Jugendlichen – und gleichzeitig wissen wir, dass in der Schule mit ihrer traditionellen Unterrichtskultur nur etwa 30 Prozent des menschlichen Lernens stattfinden und ein Großteil der Potenziale nicht ausgeschöpft wird. Trotz vielfältiger wegweisender nationaler und internationaler Expertisen und Empfehlungen ist das informelle »Just-in-time-Lernen« bisher nicht wirklich in Schule integriert.

Kästchen in Arbeitsblättern auszufüllen ist nichts, was Menschen als besonders sinnhaft empfinden.

 

Um junge Menschen nicht als Schülerinnen und Schüler im tradierten Sinne zu sehen, sondern als engagierte junge Menschen mit Gestaltungsmut, die einen Schatz von Potenzialen mitbringen, dazu braucht es Mut. Wir müssen Möglichkeiten schaffen, in denen Kinder eigene Erfahrungen machen können, statt ihnen nur im Klassenzimmer Wissen einzutrichtern. Menschen lernen durch Begeisterung und wenn sie in ihrem Handeln einen Sinn erkennen. Wir müssen unseren Kindern etwas zutrauen und zumuten.

Das Projekt Herausforderung ist die wohl intensivste Aussage, wofür diese Schule steht und wofür Schule stehen sollte. Das sind Momente, die man bewahrt! Die Momente, die ich mir bewahrt habe, kamen nicht aus der Schule.

Frans Dikmans, Schülervater

 

Schule muss Kindern und Jugendlichen Räume bieten, um sich ausprobieren und eigene Grenzen austesten zu können, um Fähigkeiten zu entdecken und vor allem auch Fehler machen zu dürfen. Die Hirnforschung bestärkt uns darin: »Selbstvertrauen und Zuversicht sind Fähigkeiten, die in den Menschen wachsen müssen – nicht von außen, sondern von innen«, sagte Gerald Hüther im Gespräch mit dem Kollegium der esb am 6. Mai 2011. »Jeder Mensch muss in sich selbst Mittel suchen, in die ihn umgebende Welt aufzubrechen. Nur so kann er die Erfahrung machen, Schritt für Schritt an neuen Herausforderungen zu wachsen.« Dabei baut sich sein Gehirn um. Die Hirnforscher nennen das experience dependent plasticity.

Wir brauchen einen Paradigmenwechsel von der passiven Belehrung zur aktiven Erfahrung. Deshalb haben wir ein Schulfach eingeführt, das wir Herausforderung nennen. Dafür bekommen unsere Schüler in der Stufe 8, 9 und 10 am Anfang des Schuljahres drei Wochen Zeit, um eine Aufgabe zu meistern, die sie sich in den Wochen und Monaten vor den großen Ferien selbst gesucht und eigenständig vorbereitet haben. Jedem stehen 150 Euro zur Verfügung, davon müssen Unterkunft, Fahrtkosten und Verpflegung gezahlt werden. Drei Wochen auf dem Zeltplatz oder in einer Pension kann man sich davon natürlich nicht leisten, das heißt, die Jugendlichen müssen kreativ werden: irgendwo anklingeln, ihre Hilfe anbieten, mitarbeiten. Manche suchen sich eine Aufgabe für sich alleine – die Achtklässlerin Loukie hat zum Beispiel in drei Wochen einen 300-seitigen Roman geschrieben. Und Henriette ist auf einen Bauernhof in Südfrankreich gefahren, obwohl sie gar kein Französisch sprach, und hat dort für ihre Unterkunft und Verpflegung gearbeitet. Der Großteil der Schüler tut sich jedoch zu kleinen und größeren Teams zusammen.

Wer an keinem festen Ort ist, weil zum Beispiel eine Radtour oder Wanderung zur Aufgabe gehört, wird von Erwachsenen begleitet – das können Lehrer sein, Studenten, jemand aus einem freiwilligen sozialen Jahr, wir hatten auch schon ehrenamtliche Helfer aus der Wirtschaft, zum Beispiel eine Hotelmanagerin oder eine PR-Frau. »Die Begleiter gehören zur Gruppe, aber halten sich raus«, erklärt Shana auf einer Lehrerfortbildung. »Es soll ja unsere Herausforderung sein.« In der 8. Klasse fuhr Shana mit fünf anderen Mädchen mit dem Fahrrad nach Hiddensee, um Dünen abzuplaggen. Eine herausfordernde Aufgabe, die sich die Mädchen in Zusammenarbeit mit der Universität Greifswald im Vorfeld organisiert hatten. Nach einer Woche radelten sie wieder zurück. »Unterwegs haben wir uns auch mal verfahren, ich glaube, weil wir die Karte falsch herum gehalten haben. Unsere Begleiter, zwei Studentinnen, haben aber nichts gesagt. Erst als es dunkel wurde, haben wir es gemerkt, weil wir mitten in der Pampa waren und kein Haus mehr kam.« Natürlich ist es Aufgabe der erwachsenen Begleiter, Situationen einzuschätzen und, wenn nötig, einzugreifen. Aber wir müssen den Jugendlichen auch vertrauen und etwas zutrauen. Nur wenn sie wirklich Verantwortung für sich und ihr Handeln übernehmen, können sie Erfahrungen von Selbstwirksamkeit machen.

Ich finde es großartig, dass die Schule solche Räume anbietet, mit Naturwissenschaften ins Leben zu gehen. So viel Unterrichtsinhalt könnte ich nie in eine Stunde bekommen, wie ich auf Herausforderung nebenbei besprochen habe.

Mandy Voggenauer, Lehrerin für Naturwissenschaften

 

Eine der wichtigsten Erfahrungen – die übrigens beinahe alle während ihrer Herausforderung auf die eine oder andere Weise machen – hat eine Begleiterin, Alice Rathgeber, wunderbar beschrieben: »Während der Reise gab es Tausende von diesen Überraschungseimomenten. Die Türen öffnen sich, sobald man auf dem Weg ist.« Die Studentin der Sonderpädagogik und Arbeitslehre ist im verregneten Sommer 2011 mit fünf dreizehn- und vierzehnjährigen Mädchen an die Ostsee geradelt. »Wir haben in Pfarrheimen geschlafen und einmal sogar in einer Kirche, direkt unter den Glocken, das war echt schön. Einen Abend hatten wir die Fähre verpasst und wussten nicht, wohin. Aber dann haben wir Leute auf einer Yacht kennengelernt, die uns den Schlüssel für ihr Clubhaus gegeben und uns sogar noch einen Topf Kartoffeln gekocht haben. Die leckersten Kartoffeln meines Lebens!« Schöner kann man nicht lernen, dass es sich lohnt, sich auf Neues einzulassen und Unsicherheiten auch mal auszuhalten.

Besonders berührend war ein Erlebnis der Gruppe, die 18 Tage auf Korsika gewandert ist, neun Schüler und zwei unserer Lehrerinnen. Die Neuntklässlerin Anni hatte sich für die Wanderung neue Stiefel gekauft, aber nach ein paar Tagen klaffte in einer Sohle ein großes Loch. »Ich bin praktisch auf dem Boden gelaufen, ich hätte genauso gut barfuß gehen können.« Das war ein Problem für die Gruppe, deren Route durch die Berge im Inselinneren führte: In den Dörfern, durch die sie alle paar Tage mal kamen, gab es nur winzige Tante-Emma-Lädchen. Während die elf noch überlegten, ob sich die Sohle irgendwie reparieren ließe, passierte etwas Unglaubliches: »Wir sind in ein Dorf gekommen und wollten unseren Müll wegschmeißen, den wir gesammelt hatten. Als einer von uns in die Mülltonne guckte, lagen da zwei Wanderschuhe drin. Die waren so gut wie neu und haben mir gepasst.« Anni lächelt noch immer, wenn sie davon erzählt. Und Jasper, der dabei war, sagt: »Wir sind ja hier auf einer evangelischen Schule, und in dem Moment dachten wir: Da oben, da ist jemand, der passt auf uns auf.« Auch für Shanas verirrte Radelgruppe nahm der Tag damals ein gutes Ende: Sie hat den Weg aus dem Wald gefunden und ihr Etappenziel erreicht – wenn auch mit ordentlichem Umweg.

Den Mädels wurde vorher gesagt: Redet mit keinem und passt bloß auf, dass euch keiner wegfängt. Aber es ist nichts vorgefallen! Es war super, was wir für hilfsbereite Menschen kennengelernt haben.

Sarah Klug, Lehramtsstudentin und ehrenamtliche Begleiterin

 

Zum Teil sind diese drei Wochen für die Eltern eine größere Herausforderung als für die Kinder selbst. Zumindest beim ersten Mal, wenn die Schüler in der 8. Klasse, also 13, 14 Jahre alt sind. Das Konzept finden viele Eltern zwar gut, etliche haben aber auch Sorge, dass die Herausforderung doch zu gefährlich sei und die Kinder noch viel zu klein. Bei der zweiten Herausforderung hat sich das dann geändert. Denn die Jugendlichen kommen von der ersten Herausforderung verändert zurück: selbstbewusst, geerdet, gewachsen. So erlebte es auch die Lehramtsstudentin Sarah Klug, die mit vier Mädchen entlang der Elbe, von Brandenburg nach Hamburg, wanderte. Sie erinnert sich, wie erleichtert, aber vor allem wie stolz die Eltern waren, als sie ihre Töchter bei ihrer Rückkehr vom Zug abholten. »Mich einfach so loszuschicken war für meine Mutter nicht leicht«, erinnert sich auch Shana. »Aber bei der zweiten hat sie gesagt, das schaffst du locker, mach, was du willst.«

Manche Eltern bestehen darauf, dass ihr Kind sich jeden Abend meldet, und sei es nur mit einem per SMS verschickten Smiley, wenn das nächste Etappenziel erreicht und die Unterkunft gefunden ist. Andere akzeptieren, wenn der Nachwuchs auf drei Wochen Funkstille besteht. Annette Geissler musste schon schlucken, als ihr dreizehnjähriger Sohn diesen Wunsch am Abend vor der Abreise äußerte. »Für ihn war es offenbar auch eine Herausforderung, sich jetzt ein bisschen von seinem Elternhaus abzunabeln«, sagt sie. »Und als er wiederkam, war das einfach toll. Er hat so gestrahlt und war so begeistert!« – »Ich muss nicht ständig nachfragen, wie geht’s dir denn«, findet Frans Dikmans, der einen Sohn und eine Tochter in der Mittelstufe hat. »Ich vertraue in das, was sie tun. Und wenn es unterwegs nicht gut geht, melden sie sich schon.«

»Wenn man drei Wochen eine schwere Zeit gehabt hat, die richtig anstrengend war, dann ist das ganze Leben danach einfacher«, fasst Nicolas, der inzwischen in der 11. Klasse ist, die Erfahrung für sich zusammen. Deshalb hatten er und die vier Jungs, mit denen er auf seiner letzten Herausforderung an die Ostsee geradelt ist, vorher auch nur die Route herausgesucht, alles andere, auch die Übernachtungen, organisierten sie spontan. Als zusätzliches Handicap kamen für Nicolas »ein ziemliches Schrottfahrrad und jede Menge Gepäck« dazu – und die meiste Zeit schlechtes Wetter. Trotzdem, oder besser gesagt, deswegen freut er sich schon auf die nächste Herausforderung.

Genau so muss Pädagogik funktionieren: dass man mit Ernsthaftigkeit und Begeisterung und viel Zeit an einer Sache arbeitet und dadurch Intensität entsteht und Vertrauen und Beziehung. Ich bin sehr dankbar, dass ich das erleben durfte.

Oliver Meyer-Krahmer, Musiklehrer

 

»Ich bin dieses Jahr auf Korsika gewandert, 18 Tage lang«, erzählte Clara auf einer Lehrerfortbildung. »Ich kann mir eigentlich keine Steigerung mehr vorstellen, aber die gibt es bestimmt. Im Jahr davor sind wir nach Rügen geradelt und haben dort auf einem Bauernhof gearbeitet. Da dachte ich auch schon, es gibt keine Steigerung mehr.« Unser Lehrer für Praktisches Lernen, Paul B. Schmidt, hat zum zweiten Mal eine Segel-Herausforderung auf der Ostsee angeboten. In diesem Jahr ist er mit neun Schülern auf einer 13-Meter-Yacht von Greifswald nach Südschweden und über Dänemark und Hiddensee wieder zurück gesegelt, nur der Jüngste in der Gruppe konnte vorher schon segeln. »An einem Tag hatten wir Windstärke 7 bis 8 und ordentlich Wellen«, erzählt er anschließend. »Da haben viele einen Moment der Angst überstanden und waren richtig stolz hinterher.«

Das, was die Jugendlichen in den drei Wochen Herausforderung erleben, wirkt weit über diese Zeit hinaus. Vier Freundinnen haben sich zum Beispiel irgendwo in Brandenburg eine Bleibe gesucht, dort ein Label ausgedacht, eine eigene Kollektion entworfen und genäht und schließlich alle Stücke fotografiert und in drei Tagen und Nächten einen ungewöhnlichen Katalog erstellt, den sie auf unserem anschließenden »Campus Herausforderung« präsentierten. Die Mutter eines der Mädchen trug auf unserem Schulball ein Kleid aus dieser Kollektion, das aussah, als sei es von einem Designer entworfen. »Luca näht weiter und hat sogar schon einen Auftrag entgegengenommen«, erzählte sie sichtlich stolz.

Von großer Wirkung war auch die Musik-Herausforderung, die unser Musiklehrer Oliver Meyer-Krahmer in diesem Jahr angeboten hat. Neun Jungs, die schon ein Instrument spielten, meldeten sich dafür. Die Gruppe zog sich in ein kleines brandenburgisches Dorf zurück und probte jeden Tag acht Stunden. »An manchen Tagen hatte ich einfach keine Lust, Gitarre zu spielen, aber ich hab’s trotzdem gemacht, weil meine Band das brauchte, weil ich das brauchte, weil ich da was lerne«, erzählt David aus der Zehnten. Und Anja Niesler kann kaum glauben, dass ihr Sohn Leon plötzlich gerne und freiwillig Klavier spielt. »In der Band sind coole Typen, die kriegen super Feedback, und die spielen auch richtig gut – das ist intrinsische Motivation pur.« Oliver Meyer-Krahmer hat aus diesen drei Wochen eine »ganz große Zufriedenheit« mitgenommen: »Ich konnte endlich mal dem gerecht werden, was jede Pädagogik immer fordert: Nach drei Wochen, in denen wir jeden Tag acht Stunden zusammen geprobt haben, kenne ich jeden Einzelnen so gut, dass ich jederzeit mit ihm über seine Stärken und Schwächen sprechen kann. Das war für mich pädagogisch sehr erfüllend.«

Vorher war das Instrument immer eine Pflichtübung. Seit der Musik-Herausforderung spielt Leon freiwillig Klavier, geht freiwillig zum Unterricht und gern zu den Bandproben.

Anja Niesler, Schülermutter

 

Nach nur drei Wochen ist aus neun Jungs, die sich vorher zum Teil untereinander nicht kannten, eine Band geworden, sie spielen zusammen wie erfahrene Profis. Sogar erste eigene Lieder haben sie schon geschrieben. Auf unserem »Campus Herausforderung« ist »Rosehip« aufgetreten, und nicht nur die Schüler, auch unsere Lehrer und Eltern haben sich anstecken lassen und mitgerockt. Drei Wochen später ist die Band bei einem Kongress im Bregenzer Festspielhaus vor 1600 Leuten aufgetreten – die Jungs mussten neun Zugaben geben. Rosehip ist eine klare Bestätigung der Hirnforschung: Gib begeisterten jungen Menschen Zeit für ihre Sache und einen Meister an die Seite, und du erreichst Leistungen, die traditioneller Unterricht nicht hervorbringen kann. Die Bandprobe haben wir jetzt als zweistündige Werkstatt im Stundenplan untergebracht, und auch nach der Schule kann sich Rosehip in einem Raum im Keller unserer Schule treffen.

Unter uns »Männern« wurden natürlich viele Sprüche geklopft. Aber an einem Abend hab ich gesagt: Lasst uns mal ernsthaft reden, welche Stärken seht ihr bei den anderen? Daraufhin haben sie sich so aufrichtig und überhaupt nicht schmalzig Dinge gesagt, die es genau getroffen haben, das war wirklich berührend.

Oliver Meyer-Krahmer, Musiklehrer

 

In einem positiven Sinne anders als in der Schule findet bei den Herausforderungen auch Fachlernen statt. »Auf der Herausforderung hab ich gemerkt: So viel Unterrichtsinhalt könnte ich nie in einer Stunde vorbereiten, wie ich hier so nebenbei besprochen habe«, berichtete Mandy Voggenauer, die gemeinsam mit unserer Französischlehrerin Annette Frauendorf die Wanderung auf Korsika begleitet hat. Schon in ihrem Unterricht arbeitet sie fast ausschließlich in Projekten, durch die die Schüler die Inhalte des Rahmenlehrplans und mehr lernen. Aber auf Korsika eröffneten sich ganz neue Möglichkeiten, mit Naturwissenschaften ins Leben zu gehen. Die Gruppe wanderte in den Bergen und kam nur ab und zu durch kleine Dörfer. Alles, was die Jugendlichen brauchten, mussten sie im Rucksack mitnehmen. Weil die Flüge einen Großteil des 150-Euro-Budgets aufgebraucht hatten und um Gewicht zu sparen, gab es jeden Tag Müsli mit Pulvermilch und Traubenzucker zum Frühstück und Nudeln mit Tütensuppe zum Abendessen. Alleine das war schon eine Herausforderung. Zum Glück wuchsen überall auf der Insel Brombeeren, die die Kinder immer sammelten. »Einer von den Jungs hat dann in einem Dorf eine Tüte Mehl gekauft und wollte versuchen, Kekse zu backen«, erzählte Mandy Voggenauer später. »Er hat es mit Traubenzucker und Wasser angerührt und aus zwei aufeinandergestellten Blechtöpfen und dem Gaskocher einen Backofen gebaut. Das hat gut geklappt!«

Daraufhin haben sich andere aus der Gruppe überlegt, dass sie ja aus Brombeeren und Zucker Marmelade kochen könnten. Und weil nach dem Essen noch was übrig war, fragten sie die Lehrerin: Können wir das jetzt noch behalten, oder wird das schlecht? »Daraufhin haben wir über Konservierungsstoffe gesprochen, erst über Zucker, später auch Salz und über den osmotischen Druck, mit dem es zusammenhängt, dass ein Bakterium abgetötet wird.« Ein Schüler setzte sich noch dazu und meinte: »Findet hier wieder eine Chemiestunde unter freiem Himmel statt?«

Für Mandy Voggenauer ist »Lernmotivation nicht: Ich habe Interesse an etwas, sondern: Ich finde eine zu meinen Interessen passende Herausforderung und muss mich anstrengen, etwas zu erreichen, das auch schiefgehen könnte. Ich finde es großartig, dass die Schule solche Räume anbietet, die auch meine eigene Motivation enorm steigern.« Dass sie im nächsten Jahr wieder eine Herausforderung begleitet, steht für Mandy Voggenauer schon fest. Am liebsten möchte sie wieder wandern und dann aber versuchen, komplett von der Natur zu leben.

Mittlerweile arbeiten wir daran, Universitäten und Lehrerausbildungsseminare von der Bedeutsamkeit der Herausforderungen für eine zukunftsfähige Lehrerausbildung zu überzeugen, auch um angehende Pädagogen als Begleiter für unser eigenes Projekt Herausforderung immer wieder neu zu gewinnen und um gute Voraussetzungen für die Multiplikation für andere interessierte Schulen zu schaffen. Erste Kontakte haben wir schon geknüpft, zum Beispiel über eine Seminarleiterin, die mit ihrem Hauptseminar bei uns eine Lehrerfortbildung mitmachte und die Idee künftig in ihre Seminare tragen und umsetzen will.

So wie die esbz die Prinzipien »Verantwortung« und »Herausforderung« in der Schule umsetzt, so muss es doch möglich sein, auch in der Lehrerbildung zu arbeiten.

Josef Sampl, Rektor der PH Salzburg

 

Wenn in Zukunft Universitäten und Lehrerausbildungsseminare diese Chance erkennen und das Begleiten eines Projekts Herausforderung vor- und nachbereiten, anerkennen und zertifizieren, bekäme das Ganze eine völlig andere Dynamik. Dann wäre das Lernen im Leben Teil der Lehrerausbildung. Die PH Salzburg will hier eine Pionierrolle übernehmen: Sie will ein Ausbildungscurriculum »Bildung durch Verantwortung – Lernen durch Engagement« entwickeln, in dem die Studierenden über ihr Fachwissen hinaus gesellschaftlich verantwortlich handeln und sich dabei persönlich weiterentwickeln.

Bei einer Herausforderung lernt man als Begleiter etwas, das viele, selbst erfahrene Lehrerinnen und Lehrer nicht können, weil es in der Ausbildung gar nicht vorkommt: den Umgang mit Jugendlichen, nicht mit Schülern. Man lernt, wie junge Menschen denken, lebt Begeisterung, aber auch Tiefen mit, spürt mit, wie junge Menschen wachsen an Grenzerfahrungen. Das sind Erfahrungen aus erster Hand, die kein Lehrbuch oder Seminar ersetzen kann. Paul B. Schmidt, der als Koordinator der Herausforderung für die ehrenamtlichen Begleiter verantwortlich ist, weist immer wieder darauf hin, wie wichtig diese Unterscheidung für eine moderne Pädagogik ist und auch für die Authentizität der Lehrer selbst. »Es geht um Kinder und Jugendliche und ihre Entwicklung. Wenn man nicht den gesamten Menschen im Blick hat, ist man ganz schnell wieder in konventionellen Mustern.« An unserer Schule verstehen sich die Lehrerinnen und Lehrer nicht als Belehrer, sondern als Coachs und Begleiter, die die Kinder in ihrem individuellen Lernprozess unterstützen. Eine wichtige Voraussetzung dafür sind gute, vertrauensvolle Beziehungen. Dieser Paradigmenwechsel lässt sich bei Herausforderungen ganz wunderbar erfahren, und die neue Rolle kann dort trainiert werden.

In diesem Jahr hatten wir schon einige angehende Lehrerinnen als Begleiter dabei, und ihre Rückmeldungen beim Reflexionsabend haben uns in unserer Erwartung bestätigt. »Ich fand es beeindruckend, wie sozial die Mädels miteinander waren. Ich dachte vorher, die sind 15 Jahre alt, die werden sich bestimmt nur anzicken«, erzählte eine Begleiterin, und eine andere, die mit zwei Jungs unterwegs war, berichtete davon, wie offen, witzig und unkompliziert die Teenager waren. »Wenn ich mit Erwachsenen unterwegs bin, erlebe ich es immer so, dass alles nach Plan gehen muss«, sagte eine dritte Begleiterin. »Die Mädels haben nie ein Drama draus gemacht, egal ob wir einen Platten hatten oder die Gangschaltung kaputtging.« – »An einem Abend saßen wir zusammen, hatten gekocht und gegessen und anschließend ein Team-Meeting«, erzählte Mandy Voggenauer von einem Moment, der ihr richtig ans Herz ging. »Und dann hat einer von den größeren Jungs den Kleinsten, den wir dabeihatten, Leon, gelobt, und alle haben angefangen zu klatschen.« Manchmal dauert der Gruppenprozess. Dann, wenn zum Beispiel anfangs einige nicht teilen wollen und sagen: »Ich geb doch nicht einen Euro fürs Frühstück, wenn ich nur ein halbes Brötchen esse und die anderen ein ganzes.« Für solche Gruppen ist die Erfahrung »Wir sind eine Gruppe geworden, die zusammenhält und teilt« dann von besonders hoher Qualität.

Das Projekt Herausforderung macht nicht nur die Kinder mutiger und stärker, sondern auch die Begleiter. Ein Beispiel ist die Sonderpädagogik-Studentin Alice Rathgeber, die von ihrem Umfeld davor gewarnt wurde, allein mit fünf Schülern loszuziehen. Fast hätte sie sich abschrecken lassen von all den Überlegungen, was da alles passieren könnte. Im Nachhinein, sagt sie, war es gut, diese Angst zu spüren, die sie später als von anderen aufgestülpt erkannte. Jetzt sagt sie: »Meine Erlebnisse an der esbz sind die besten Energie-Kraftstrotz-Katapulte der Welt! Ich bin total froh, dass ich Lehrerin werde und die Möglichkeit habe, Dinge zu verändern.«

Tipp:

  • Auf der Website der esbz haben wir Material, Checklisten, Filme und mehr online gestellt: www.ev-zentrum.de
  • Inspirierende Herausforderungsprojekte macht auch die Gesamtschule Winterhude in Hamburg. www.herausforderung.net
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Wie Schüler große Visionen umsetzen

 

Wenn man im Leben keine Vision hat, nach der man strebt, die man verwirklichen möchte, dann gibt es auch kein Motiv, sich anzustrengen, sagt der Psychologe und Philosoph Erich Fromm. Menschen brauchen Visionen. Sie bringen Klarheit und Richtung in das Handeln und Denken. Von einer Vision eingenommen zu sein ist wohl eines der ältesten und natürlichsten Prinzipien, mit denen Menschen sich selbst und andere antreiben. Doch Visionen brauchen Fahrpläne, sagte der Philosoph Ernst Bloch – gerade eine große Vision braucht auch die kleinen Schritte zur Realisierung. Das gilt für das Projekt Plant for the Planet, das von einem neunjährigen Jungen gegründet wurde, und das gilt auch für die 100 000 Bäume, die Schüler der esbz gepflanzt haben, und für ihr Engagement als Klimabotschafter.

Thank you that so many of you care about the future. For us, future is 80, 90 years. For you, future is 20, 30 or 40 years.

Felix Finkbeiner, 12, Gründer von Plant for the Planet, auf dem Vision Summit 2009

 

Im Juni 2008 hatten wir Felix Finkbeiner zum Sommerfest unserer Partner-Grundschule eingeladen. Der damals Zehnjährige erzählte, wie er vor einigen Jahren für ein Schulreferat über den Klimawandel bei seiner Recherche auf die kenianische Friedensnobelpreisträgerin Wangari Maathai stieß, die in ihrem Heimatland mit anderen Frauen mehr als 30 Millionen Bäume gepflanzt hatte, um der Entwaldung und Bodenerosion entgegenzuwirken. Weil ihn das so beeindruckt hatte, schloss er sein Referat mit dem Appell: Alle Kinder dieser Erde sollten in ihrem Land eine Million Bäume pflanzen! Sein Aufruf »Stop Talking! Start Planting!« ging dann um die Welt, und bis Ende 2011 sind bereits in 72 Ländern Bäume von Kindern gepflanzt worden, in einigen davon, darunter Deutschland, ist die Millionenmarke schon erreicht.

Man sollte seine Idee verfolgen, auch wenn sie vielleicht unrealistisch scheint. Als ich damals gehört habe, dass wir 100 000 Bäume pflanzen, hab ich gedacht: Ja, klar, macht mal schön. Und nächste Woche pflanzen wir tatsächlich den hunderttausendsten.

Clara, 10. Klasse

 

Der starke Eindruck, den Felix auf dem Sommerfest bei uns hinterlassen hatte, veranlasste uns, nach den großen Ferien mit allen Klassen ein mehrwöchiges Schulprojekt zum Thema Wald zu starten, bei dem es um Waldsterben und Abholzung, Regenwälder und Klimaschutz ging. Die Kinder gestalteten einen Baumraum, schrieben einen Baumsong, den die Band einübte, entwickelten einen Comic und ein Theaterstück, machten Infostände auf dem Alexanderplatz, betrieben Aufklärung an Grundschulen und vieles mehr. Die erste Etage unseres damals noch sehr öden Plattenbaus wirkte bei der Präsentation wie ein grünes Labor.

Auf einer Schulversammlung, zu der wir Felix erneut eingeladen hatten, beschlossen wir, 100 000 Bäume für mehr Klimagerechtigkeit zu pflanzen. Unser schriftlich festgehaltenes Versprechen haben wir am 16. Oktober 2008 vor dem Reichstag feierlich dem Bundesumweltministerium übergeben. Unser fester Glaube daran, dass Kinder Dinge beeinflussen und ändern können, hat uns in den drei Jahren, die wir brauchten, um es einzulösen, Fantasie, Energie und Durchhaltekraft gegeben. Wir haben nicht nur Bäume gepflanzt, sondern auch andere Kinder davon überzeugt, sich Plant for the Planet anzuschließen. Die 40 Schüler unserer Schule, die sich zu Klimabotschaftern haben ausbilden lassen, haben ihr Wissen in drei Klimaakademien an über 200 Grundschüler weitergegeben, die ihrerseits nun als Klimabotschafter wirken. Eine Klimaakademie dauert einen Tag. Den Teilnehmern wird erklärt, woher der Klimawandel kommt und was er bewirkt, was Bäume damit zu tun haben und warum sich die Kinder einschalten müssen. Lena aus der 7. Klasse macht ihre Motivation fürs Bäumepflanzen so deutlich: »Die Erwachsenen sagen immer viel: ›Ja, wir wollen was machen, das soll besser werden.‹ Wir Schüler machen tatsächlich etwas.« Und der gleichaltrige Anatol stellt fest: »Bäume sind wichtig für uns Menschen, weil sie das Kohlendioxid in Sauerstoff umwandeln. Wenn es keine mehr gibt, werden wir irgendwann einfach aussterben. Wegen unserer eigenen Fehler.«

In der Akademie erarbeiten die Schüler auch Methoden der Öffentlichkeitsarbeit und wie man andere zum Mitmachen motiviert. Sie lernen, einen Vortrag zu halten, und tauschen sich über Tipps fürs Spendensammeln aus, denn jeder Setzling kostet einen Euro. Als Gast ist immer ein Förster dabei, der meistens mit Fragen gelöchert wird. Und schließlich werden Bäume gepflanzt. »Danach fühlt man sich richtig gut, weil man weiß, man hat etwas getan«, sagt Lara-Luna, die mit elf Klimabotschafterin wurde und seitdem »bestimmt 500 Bäume« gepflanzt hat. Weil die Neuntklässlerin schon so lange dabei ist, konnte sie bei unserem Pflanz-Endspurt ihre Setzlinge aus den Jahren zuvor begutachten. »Die waren schon einen Meter hoch, das war toll zu sehen!« Und die Achtklässlerin Johanna erzählt nach einem Pflanznachmittag stolz: »Wir haben zu zweit 43 Stück geschafft!«

Die zuständigen Behörden sollen dafür Sorge tragen, dass jede Schule bei der Erarbeitung eigener Umweltarbeitspläne unter Beteiligung von Schülern und Lehrern unterstützt wird.

Agenda 21, Kapitel 36.5

 

Unsere Schüler sind durch ihre Ausbildung zum Klimabotschafter tatsächlich so etwas wie kleine Diplomaten geworden: Sie halten an Schulen und Universitäten Vorträge und auf großen Veranstaltungen wie dem Vision Summit oder der Tagung für nachhaltige Entwicklung für Schulleiter in Berlin. Im Vorfeld des Klimagipfels 2009 in Kopenhagen haben unsere Klimabotschafter 80 verschiedene Botschaften in Berlin besucht und mit vielen politischen Botschaftern persönlich gesprochen.

Martha und Max, zwei Siebtklässler, haben im September 2009 auf der Eröffnungsveranstaltung der weltweiten UN-Klimawoche in Hamburg gesprochen. »Mir war gar nicht klar, was da auf uns zukam«, erzählt Martha. »Auf dem Weg vom Bahnhof dorthin sahen wir schon riesige Plakate, auf denen Klimawoche stand, und als wir reinkamen, waren überall Kameras und wichtige Leute. Ich war so aufgeregt. Und dann war das so unglaublich toll, da sind Leute aufgestanden und haben geklatscht.«

Ben und Tara, damals in der 9. Klasse, wurden sogar nach Kaliningrad eingeladen, um auf dem deutsch-russischen Umweltgipfel zu sprechen. »Klar war ich ein bisschen aufgeregt davor«, sagt Ben, »aber das ist eine gute Aufregung. Ich glaube, wenn man das nicht mehr ist, dann ist man nicht mehr richtig an dem Thema interessiert.« Karoline, Szesima und Max haben an dem Buch Baum für Baum mitgewirkt und sind Mitglieder des Kinderrates der Plant for the Planet Foundation, der aus 22 Kindern besteht und sich zweimal im Jahr trifft.

Wir sind nicht naiv und glauben, dass wir allein mit Bäumepflanzen die Welt retten können. Nein, wir mischen uns auch ein und demonstrieren und halten Vorträge.

Mia, Stella, Karoline und Szesima, 9. und 10. Klasse

 

Unsere Schüler haben auch eigene Projekte entwickelt, um den Klimaschutzgedanken weiterzutragen. Clara, Anna, Annie und Paula haben als Projekt Verantwortung einen sogenannten Klimakoffer entwickelt, mit dem man in Grundschulen bei einem gemeinsamen Frühstück erklären kann, wie durch den Umgang mit Lebensmitteln das Klima geschützt werden kann. »Die Kinder konnten immer zwischen zwei verschiedenen Lebensmitteln wählen, zum Beispiel ein Block Käse zum Abschneiden oder kleine, in Folie eingepackte Stücke«, erklärt Clara. »Danach haben wir ausgewertet, was jeder genommen hat, und erklärt, warum das gut oder klimaschädlich war.«

Friedericke hat sich als Projekt Herausforderung eine Klimabotschafter-Radtour ausgedacht: Sie hat zusammen mit zwei anderen Schülern Kinder und Jugendliche in Ostfriesland zum Bäumepflanzen aufgerufen. »Ich hatte vorher 20, 30 Schulen angemailt, ob sie an unserem Vortrag interessiert sind«, erzählt Friedericke, »aber es meldeten sich nur zwei zurück.« Davon ließen die drei sich aber nicht abschrecken und fuhren trotzdem. »Unterwegs hat sich dann immer mehr ergeben«, erzählt sie. »Wir haben einfach bei Schulen geklopft und bei der Kirche gefragt, ob wir in den Konfirmandenkursen unser Projekt vorstellen können.« An sieben Schulen erzählten sie schließlich von Plant for the Planet. »In den Grundschulen haben die Kinder gleich gesagt: ›Das ist ja toll, wir pflanzen auch 100 000 Bäume!‹«

Um unser eigenes Pflanzversprechen einlösen zu können, mussten wir 100 000 Euro zusammenbekommen. Dafür haben unsere Schüler auf Märkten mit Passanten »Glücksrad« gespielt und ihnen von Plant for the Planet erzählt, sie haben selbst gemachte Buttons und Lesezeichen, unsere Mutkarten (das Markenzeichen der esbz: ein visitenkartengroßes Kärtchen, das jedes Kind von uns zur Einschulung als Mutmacher erhält) und jede Menge Kuchen verkauft. Sarah, die mit ihrer Mutter in der Arbeiterwohlfahrt aktiv ist, sammelte dort auf großen Veranstaltungen bei den geladenen Honoratioren Spenden. »Man muss die Quellen nutzen, die man hat«, sagt ihre Mutter. Allein auf diesem Fest hat die Zehntklässlerin 300 Euro gesammelt. Und für einen Vortrag bei einer Tagung des Geflügelzüchterverbandes bekamen Sarah und Tara sogar einen Scheck über 5000 Euro, um damit 5000 Baumsetzlinge kaufen zu können. Ein wirksames Werbemittel ist auch die Mutkarte, die Unternehmen ihren Mitarbeitern zu Weihnachten überreichen und damit jeweils einen Baum sponsern.

Am 25. November 2011 haben wir auf dem Schulhof die letzten drei der 100 000 Bäume der esbz gepflanzt. Dank der tatkräftigen Mithilfe einiger engagierter Grundschullehrerinnen, insbesondere Katharina Jacob von der Grundschule am Insulaner und Sabine Weiche von der Grundschule an der Marie, wachsen jetzt 79 997 neu gepflanzte Bäume in Berlin, vorwiegend im Kinderwald Pankow, 20 000 Bäume haben wir dem Schulprojekt »Forikolo« in Sierra Leone geschenkt. Zum Dank für unser Engagement haben die Berliner Forsten uns drei bereits drei Meter hohe Esskastanien geschenkt. Elmar Lakenberg, Leiter der Berliner Forsten, überreichte sie mit den Worten: »Irgendwann tragen die Früchte, die ihr dann als Maronen verkaufen könnt – für die nächsten Projekte, die ihr finanzieren möchtet.«

Sprachbotschafter bringen Lernfreude

 

So wie wir mit unserem Programm Klimabotschafter und Bäumepflanzen zu mehr Klimagerechtigkeit beitragen wollen, leisten wir mit unserem Programm Sprachbotschafter einen Beitrag zu mehr Bildungsgerechtigkeit. Wir haben in Deutschland die Situation, dass ein Viertel der Jugendlichen die Schule nach zehn Jahren ohne Ausbildungsreife verlässt. Der überwiegende Teil dieser Jugendlichen kommt aus sozial benachteiligten Familien oder hat einen Migrationshintergrund. Das ist eine enorme Benachteiligung und hat dramatische Konsequenzen für unsere Gesellschaft – sozial, gesellschaftlich und auch ökonomisch. Darauf, dass die Politik es richten wird, wollen wir nicht länger warten.

Es ist zwingend erforderlich, dass Jugendliche aus allen Teilen der Welt auf allen für sie relevanten Ebenen aktiv an den Entscheidungsprozessen beteiligt werden, weil dies ihr heutiges Leben beeinflusst und Auswirkungen auf ihre Zukunft hat. Zusätzlich zu ihrem intellektuellen Beitrag und ihrer Fähigkeit, unterstützende Kräfte zu mobilisieren, bringen sie einzigartige Ansichten ein, die in Betracht gezogen werden müssen.

Agenda 21, Kapitel 36

 

Probleme kann man nicht mit derselben Denkweise lösen, durch die sie entstanden sind, sagte uns schon Albert Einstein. Altes Denken führt über unbefriedigende Reparaturmaßnahmen kaum hinaus, schafft nur die Reform der Reform der Reform … Wie aber können wir uns aus altem Denken, altem Handeln, alten Mustern lösen, und wie könnte die dringend benötigte neue Denkweise aussehen?

Bessere frühkindliche Bildung, mehr gut ausgebildete Erzieher und ähnliche Maßnahmen sind wichtig – zeigen aber keine wirklich neuen Denkweisen. Der Weg in eine Gesellschaft der Potenzialentfaltung kann nur durch gelebte Innovationskultur entstehen: Stellen Sie sich vor, Kinder und Jugendliche machen sich auf in die Grundschulen und Kitas in sozialen Brennpunkten, um dort Kinder zu unterstützen. Welche Lernrevolution würde das auslösen!

Würde sich nur ein Drittel der Schulen am Sprachbotschafter-Programm beteiligen, die Weichen könnten frühzeitig anders gestellt und die komplexe Problematik maßgeblich behoben werden – durch Kinder und Jugendliche!

Margret Rasfeld, Schulleiterin

 

Die Kinder in den Brennpunktschulen erfahren durch dieses Programm Zuwendung und erleben, dass Menschen an sie und ihre Fähigkeiten glauben. Den engagierten Jugendlichen ihrerseits wird die Gelegenheit gegeben, sich selbstwirksam zu erleben und Kindern aus anderen Lebenswelten zu begegnen. Strahlende Augen und von Herzen kommende Zugewandtheit entfalten dabei ihre starke Wirkkraft.

Warum ist das so enorm wichtig? In Deutschland sind gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit und soziale Kälte, wie die Langzeitstudie Deutsche Zustände[15] des Soziologen Wilhelm Heitmeyer zeigt, besorgniserregend verbreitet. Die Hauptursache dafür ist die fehlende persönliche Begegnung. In einer Gesellschaft, in der Segregation vorherrscht, das heißt, in der Menschen verschiedener Herkunft und unterschiedlichen sozialen Status in Wohnvierteln separiert sind, in der sich Menschen tendenziell eher abgrenzen als miteinander kooperieren und leben, ist es elementar wichtig, schon im jungen Alter Begegnungen zu ermöglichen. Denn fehlende Begegnung ist die Hauptursache dafür, dass wir »andere« – seien es nun Menschen anderer Nationalität, mit einem anderen sozialen Hintergrund, aus einer anderen Altersgruppe oder Menschen mit Behinderungen – als Fremde empfinden. Außerdem könnte damit zugleich der Auftrag, Kindern und Jugendlichen Aufgaben zuzutrauen und sie an der Lösung der großen gesellschaftlichen Fragen ernsthaft zu beteiligen, erfüllt werden. Ein Jahr nach dem Start des Programms gibt es an der esbz bereits über 50 Sprachbotschafter.

Zu ihnen zählt Sarah: Sie geht in die 8. Klasse und besucht einen Nachmittag pro Woche für zwei Stunden den Hort einer Kreuzberger Grundschule, wo sie eine Werkstatt zum Thema Wasser anbietet. Für einen dieser Nachmittage hat sie das Thema Haie vorbereitet. Vier kleine Jungs sitzen um sie herum und kommentieren munter ihren Vortrag: »Dem Pinocchio-Hai wächst bestimmt ’ne lange Nase, wenn er was Falsches blubbert!« – »Ich hasse Wal- und Haifänger!« Dann dürfen sie selbst einen Hai malen, und auch ein eben noch unkonzentrierter Knirps paust sorgsam den Raubfisch von Sarahs Vorlage ab, die anderen zeichnen frei Hand. Die Dreizehnjährige verteilt großzügig Lob. »Nächstes Mal machen wir ein Experiment«, verspricht sie den Jungs.

Meine Tochter Mia war in einer Grundschule in Kreuzberg mit hohem Migrantenanteil und hat im Deutschunterricht mitgearbeitet. Die Deutschlehrer wollten das erst nicht – aber nachher waren sie ganz happy.

Dorothea Kleihues, Schülermutter

 

Im Nebenzimmer proben Elias und Charlotte mit einer Mädchengruppe Improvisationstheater. Ihre einzige Requisite ist ein Stück Teppich. Und in der Hortküche kochen Coco, Anna Clara, Magdalena und Lara-Luna mit Erst- und Zweitklässlern unterschiedlicher Nationalitäten Spaghetti mit Tomatensauce. »Letzte Stunde haben wir über Italien gesprochen, und die Kinder durften den Schiefen Turm von Pisa nach ihrer Fantasie malen«, erzählt Coco. »Nächstes Mal ist Frankreich dran, und dann backen wir Crêpes.« Während die Nudeln kochen, beschäftigt Lara-Luna die Kinder mit einem Quiz: Was kommt in die Sauce? Woraus sind die Nudeln? »Die sind ganz schön wild und hören auch nicht so gut«, sagt sie. »Aber ich glaube, mit der Zeit werden sie vertrauter mit uns und wir können konzentrierter zusammenarbeiten.«

Die Erzieherin Aysel findet, dass das Programm noch besser läuft, als sie es sich vorgestellt hatte. »Mittwochs sind die Kinder richtig aufgeregt, weil sie wissen, heute kommen die Jugendlichen wieder. Die Jugendlichen aus der esbz sind sehr selbstbewusst und auch sehr selbständig.« Es geht bei dem Programm jedoch nicht in erster Linie darum, Sprache zu lehren, unsere Schüler als kleine Nachhilfelehrer einzusetzen. Es geht darum, Beziehungen aufzubauen, und Beziehungen entstehen über Sprache, über Kommunikation. Und beides, Sprache und Beziehungen, sind die Basis für erfolgreiches Lernen. Unsere Vision ist, dass es 2016 bundesweit 10 000 Sprachbotschafter gibt.

Aus eigener Erfahrung kann ich sagen: Wenn man acht oder neun ist und da kommt ein Vierzehnjähriger, dann ist das eine Autoritätsperson. Manchmal machen die Kleinen schon Späße mit uns, aber nichts Schlimmes, das ist ganz normal.

Leo, 8. Klasse

 

Im Moment arbeiten wir deshalb daran, eine Struktur zu schaffen, die in ganz Berlin beziehungsweise bundesweit in dieser Weise funktionieren kann. Flexibilität ist die große Herausforderung dieses Projektes: Jede Schule funktioniert auf ihre eigene Art und Weise, hat ihre eigene Unterrichtsorganisation. Es gibt daher keine Standardlösung, wie sich Projekt- und Partnerschule miteinander verknüpfen lassen.

Wenn sie Fragen haben oder etwas nicht verstehen, dann helfen wir ihnen. Nachher können die das immer ganz gut. Manchmal verzweifeln die Kinder, wenn sie eine Aufgabe nicht schaffen, und dann machen wir ihnen Mut.

Lennart, 7. Klasse

 

Unsere Projektkoordinatorin Anna-Lilja Edelstein findet, dass sich das Programm in Religion oder Ethik anbieten würde oder als Wahlpflichtkurs oder Arbeitsgemeinschaft und dass es mindestens eines engagierten Lehrers bedarf, der Teile seiner Unterrichtsstunden für die Projektorganisation verwendet. An Ganztagsschulen bieten sich besonders viele Spielräume. Es könnte aber auch eine Schülerfirma dafür gegründet werden, die dann die Werbung, die Buchhaltung und die Organisation der Trainings übernimmt und Kontakt zu bestehenden anderen Schülerfirmen aufnimmt. »Und ich würde die Funktion einer Beraterin übernehmen«, meint Anna-Lilja Edelstein.

Der große Vorteil des Programms ist, dass es ganz simpel gestrickt ist. Sind die Strukturen zwischen der Projekt- und der Partnerschule einmal geschaffen, läuft das Programm ohne großen Aufwand. Die Schüler bekommen zu Schuljahresbeginn eine Einführung, die ihnen den Zugang zu ihrer Aufgabe erleichtert. »Da haben wir Projektideen gesammelt und für Spiele, die wir kennen, Anleitungen geschrieben«, erzählt der vierzehnjährige Leo. Zur Vorbereitung gehört aber auch ein Methodentraining, durch das die Schüler lernen, wie sie sich Aufmerksamkeit verschaffen und wie sie so mit den Kindern sprechen, dass sie auch verstanden werden. Eine Entwicklungspsychologin erarbeitet mit ihnen, warum ihr Besuch für die Grundschüler so wichtig ist und warum ihr Engagement auch sie selbst weiterbringt. Im weiteren Verlauf des Schuljahres gehen die Schüler in die Grundschulen und bereiten sich eigenständig auf ihren wöchentlichen Einsatz vor. Begleitend führen sie ein Projekttagebuch. Der verantwortliche Coach, ein Lehrer, eine Erzieherin, ein FSJler, eine Mutter, bietet über das Schuljahr verteilt Reflexionsstunden an und besucht sie mehrmals an der Partnerschule.

Ich glaube, wenn Menschen von früh auf lernen, miteinander umzugehen und aufeinander zuzugehen, dann kann Bewegung geschaffen werden, und die Kontaktaufnahme fällt einem später nicht mehr so schwer. Dafür müssen wir in der Schule Räume schaffen – wo sonst soll das passieren?

Anna-Lilja Edelstein, Projektkoordinatorin Sprachbotschafter

 

Die Achtklässler Leo, Manuel und Niels haben schon zum zweiten Mal Sprachbotschafter als Projekt Verantwortung gewählt. Im ersten Jahr haben sie mit Erst- und Zweitklässlern gearbeitet, in diesem Jahr bieten sie für eine 4. Klasse eine freiwillige Lernwerkstatt nach dem Unterricht an. Manuel arbeitet jede Woche mit einem autistischen Jungen zusammen. »Der braucht ziemlich viel Hilfe in der Schule«, erklärt er. »Er nennt mich immer Kumpel und ich ihn auch, da freut er sich.« Zum achten Geburtstag hat Manuel ihm eine Kleinigkeit geschenkt. »Da hat er sich so gefreut, dass seine Augen ganz groß wurden.«

Leo und Niels sind als Ansprechpartner für alle anderen Kinder da. Wenn die beiden kommen, hat der Lehrer die Hausaufgaben des Tages an die Tafel geschrieben, Mathe ist fast immer dabei, manchmal Deutsch oder Englisch. »Einmal hat die Lehrerin einem Mädchen, das nicht so gut Deutsch kann und nicht so gut in der Schule ist, ziemlich lange was erklärt, und sie hat es trotzdem nicht verstanden. Dann hab ich es versucht, und bei mir hat sie es dann verstanden«, erzählt Leo, und man sieht ihm an, wie stolz er darauf ist.

Gelesen, gespielt und Mathe gelernt, das hat Spaß gemacht. Könnt ihr nicht jeden Tag kommen?

Grundschulkind einer Sprachbotschafter-Partnerschule

 

Sophia ist in der 7. Klasse und hat Sprachbotschafter als Projekt Verantwortung und Werkstatt gewählt, so dass sie einmal pro Woche für vier Stunden an eine Grundschule gehen kann. »Ich arbeite ziemlich gerne mit Kindern«, erklärt sie. Sie will lernen, gut mit Kindern umzugehen und Dinge richtig erklären zu können. Am Vormittag ist sie mit fünf weiteren Sprachbotschaftern in einer jahrgangsgemischten 1. und 2. Klasse. »Wir kriegen von der Lehrerin ein Arbeitsblatt oder Heft und die Namen der Schüler. Die rufen wir dann auf und gehen mit denen in einen anderen Klassenraum.« Manchmal sind die Sprachbotschafter auch im Unterricht dabei. Am Nachmittag begleitet Sophia die Kinder in den Hort, wo sie zusammen malen oder spielen. »Wenn ich komme, kommen ziemlich viele angestürmt und wollen mir was erzählen. Und ein kleiner Junge will mich immer umarmen.«

Am besten klappt’s mit den Erstklässlern, die sind noch ziemlich offen. Die Zweitklässler sind ein bisschen zurückhaltender. Und die Drittklässler sind oft ein bisschen vorlaut und wollen angeben.

Lennart, 7. Klasse

 

Erstmals in diesem Jahr haben vier Schüler das Sprachbotschafter-Programm als Herausforderung gewählt. »Ich weiß, dass es für sie nicht einfach war, sich darauf einzulassen, jeden Tag von 9 bis 15 Uhr an der Grundschule zu sein und sich mit den Kindern zu beschäftigen«, erzählt Anna-Lilja Edelstein. Zwei Schülerinnen haben beispielsweise bei den Lernstandserhebungen der Erstklässler am Anfang des Schuljahres mitgeholfen, die dadurch viel schneller abgeschlossen werden konnten. »Am Ende haben sie ganz tolles Feedback bekommen und waren traurig, wieder zu gehen. In dieser Zeit sind sie wirklich mit den Schülern zusammengewachsen.«

Haltungen sind das Ergebnis von Erfahrungen. Erfahrungsprozesse zeichnen sich dadurch aus, dass sie unter die Haut gehen. Alles wird emotional und kognitiv verankert.

Gerald Hüther, Hirnforscher

 

Und schließlich gibt es die oben beschriebene Klasse, deren Siebt- und Achtklässler fast geschlossen Sprachbotschafter als Projekt Verantwortung machen. Jeden Mittwoch besuchen 14 Kinder den Hort einer Kreuzberger Grundschule und bieten in kleinen Gruppen verschiedene kreative Projekte an. Ihre beiden Klassenlehrerinnen haben sie die ersten Wochen dorthin begleitet und werden sie im Laufe des Schuljahres noch einige Male besuchen.

Durch diese Öffnung von Schule zum Gemeinwesen wird deutlich, was Schule alles leisten kann. Das Programm Sprachbotschafter ermöglicht gelebtes soziales Lernen: Die Kinder spüren das Interesse der Älteren, die Älteren übernehmen Verantwortung und spüren, was es für die Kleinen bedeutet, wenn sie da sind. Dadurch entstehen Beziehungen, es stoßen aber auch Lebenswelten aufeinander. »Aber Kinder können noch viel natürlicher miteinander umgehen als Erwachsene.«

Wie die Schüler ihr Herz da reinstecken – das verändert auch das eigene Bewusstsein. Das verändert, wie man später in der Gesellschaft ist, und, ja, das klingt jetzt so groß, aber es verändert auch die Gesellschaft selbst.

Anna-Lilja Edelstein, Projektkoordinatorin Sprachbotschafter

 

Weil das Interesse an unserem Sprachbotschafter-Programm immer größer wird – bald wird es beispielsweise auch in Düsseldorfer Schulen starten –, arbeiten wir inzwischen daran, dass unsere ausgebildeten Sprachbotschafter das Training für neue Sprachbotschafter übernehmen. Es soll komplett als Peer Education durchstrukturiert sein, und auch die Eltern der Kinder an den Partnerschulen sollen stärker einbezogen werden. Trotz vorhandener Sprachbarrieren – die Partnerschulen liegen ja in sogenannten Problemkiezen, und die Eltern sprechen zum Teil wenig Deutsch – kann auf ganz natürlichem Weg die Teilhabe funktionieren. Beispielsweise können die Eltern dort bei einem Theaterstück, das Schüler mit den Kindern planen, Kostüme nähen oder andere Aufgaben übernehmen. Außerdem möchten wir das Programm an die Universitäten bringen, um Ehrenamtliche zu finden, die beispielsweise Schülergruppen begleiten, gemeinsam Inhalte erarbeiten oder auch evaluieren. Bald wollen wir auch versuchen, Grundschulkinder als Sprachbotschafter für Kitas zu gewinnen. Im Frühjahr 2012 ist das erste Feriencamp geplant, zunächst als Pilotprojekt für eine Woche, um Erfahrungen zu sammeln.

Wir wollen das Programm in Berlin und bundesweit verbreiten. Auch hier ist unsere Vision: 10 000 Sprachbotschafter bundesweit bis 2016!

Was ist das Besondere und Innovative am Projekt Sprachbotschafter?

 
  • Vision: Sprachbotschafter verfolgt eine klare Vision: Mehr Bildungsgerechtigkeit, Chancengleichheit, Integration.
  • Muster brechen: Sprachbotschafter ist eine starke Innovation, weil es alte Denk- und Lösungsmuster bricht.
  • Peer Coaching: einfach, sinnhaft, wirkungsvoll. Kinder und Jugendliche setzen ihre Verantwortungsbereitschaft, ihre Kreativität und ihre Gestaltungskraft ein, um Jüngere zu unterstützen. Die Erwachsenen trauen und muten ihnen das zu.
  • Begeisterung: Lernen braucht Begeisterung, Begeisterung braucht Bedeutsamkeit.
  • Partizipation: Jugendliche werden an der Lösung der großen gesellschaftlichen Herausforderungen beteiligt.
  • Win-win-win-win: für die Grundschulkinder, für die jugendlichen Coachs, für die Grundschullehrer, für die Gesellschaft.
  • Entlastung statt Belastung: Grundschullehrer erleben die Sprachbotschafter als deutliche Unterstützung.
  • Neue Formen der Begegnung: Hier kommt eine Begegnung ansonsten voneinander abgeschotteter Kultur- und Lebenswelten zustande, die für den Zusammenhalt in einer multikulturellen Gesellschaft existenziell wichtig ist. Verständigung und Verstehen und soziale Verantwortung werden gestärkt.
  • Wertschätzung – die Grundbedingung für Motivation und Lernen: Die Grundschulkinder erleben intensive persönliche Zuwendung, Interesse und Empathie älterer Jugendlicher und finden in den Sprachbotschaftern Bezugspersonen mit Zeit.

Tipp:

  • Sprachbotschafter ist Leuchtturmprojekt der GLS Zukunftsstiftung Bildung und wird gefördert. www.zukunftsstiftung-bildung.de
  • Bei Interesse, sich bei Sprachbotschafter zu engagieren (z. B. als Begleiter, Trainer, Multiplikator), oder um weitere Informationen zu erhalten, melden Sie sich bitte bei Anna-Lilja Edelstein (Projektleitung): [email protected]
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Menschen mit Botschaften kommen in die Schule – von Zeitzeugen bis zu Nobelpreisträgern

 

Menschen brauchen Vorbilder, denen sie sich anschließen können und die ihnen zeigen: Alternativen sind möglich! Eine Gesellschaft, die sich selbst Gehalt und Halt geben will, braucht Orte und Zeiten der Begegnung. Begegnungen, die berühren, zum Nachdenken anregen, mit Neuem konfrontieren, Gewohntes in Frage stellen, aufregend sind und auch mal verunsichern. Begegnungen, die immer auch Chancen zu neuen Erfahrungen und Erkenntnissen, zum Lernen eröffnen. Insbesondere für Heranwachsende sind persönliche Begegnungen mit Vorbildern prägende Erfahrungen, die für das Verstehen und die Verständigung durch nichts zu ersetzen sind.

Haltungen und Einstellungen, innere Bilder sind wirkmächtig. Sie haben die Kraft, das Gehirn, den Menschen und damit die Welt zu verändern. Leider leben wir in einer Kultur der schlechten Nachrichten. In den Medien geht es vor allem um Katastrophen und Skandale, Konsum und seichte Unterhaltung. Wie inspirierend und ermutigend könnte es sein, wenn Schulen von ihrem Geist her Botschafter für gute Nachrichten sind! An der esbz wollen wir daher Gelegenheiten für die Begegnung mit Menschen schaffen, die etwas bewirken in ihrem Leben.

Aha-Erlebnisse und positive Bestärkung

 

Zu unseren Gästen gehörte Klaus Werner, der mit seinem Weltbestseller Schwarzbuch Markenfirmen[16] zu den bekanntesten Autoren der alternativen Globalisierung zählt. An einem mitreißenden Abend hielt er seinem Publikum – die versammelte Schulgemeinde – den Spiegel vor, machte die Zusammenhänge zwischen internationaler Wirtschaftspolitik und unserem Alltag bewusst und zeigte, was jeder von uns der Macht der Multis entgegensetzen kann. Sein Schüler-Workshop am nächsten Tag war komplett ausbucht.

Der jüdische Zeitzeuge Sally Perel erzählte uns, wie er sich als sogenannter Volksdeutscher in der Hitlerjugend versteckte und so das Dritte Reich überlebte. Die neunzehnjährige Sahra Khodja erzählte von ihrer Kindheit in Afghanistan, wo die Taliban ihre Eltern töteten. Die Geschichte ihrer Flucht, die sie sieben Monate lang zu Fuß bis nach Deutschland führte, berührte und brachte uns den sonst so fernen weltpolitischen Konflikt ganz nah. Trotz ihrer schweren Lebensgeschichte machte uns Sahra sogar Mut: Obwohl die Taliban sie gezwungen hatten, die Grundschule abzubrechen, hat sie in Deutschland die Fachoberschulreife geschafft. Jetzt möchte sie Kinderärztin werden, um anderen helfen zu können.

Wir durften auch einen Auftritt des »Circus Halli Galli« der Bonner Christophorusschule für Körperbehinderte erleben: Die Akrobatik der Kinder war so erstklassig, dass ehrfürchtige Stille in unserer Turnhalle herrschte, die nach der Vorstellung in tosenden Beifall überging. Anschließend waren die kleinen Zirkuskünstler umringt von unseren Schülern – keine Berührungsängste, sondern nur spontane Begeisterung.

Auch Jugendliche, die ein Jahr in einer fremden Kultur verbracht haben, waren mit ihren Botschaften schon bei uns und berichteten von ihren Erfahrungen. Bald können durch unser Programm »Alle ins Ausland« unsere eigenen Schüler solche Menschen mit Botschaften sein.

Der mehrfach preisgekrönte Jugendbuchautor Lutz van Dijk, Gründer der Initiative »Pädagoginnen und Pädagogen für den Frieden«, stellte uns sein Buch Themba vor. Er hat uns so beeindruckt, dass er im Mai wiederkommen wird, um mit uns über sein neues Buch Niemand wird mich töten zu sprechen: Es erzählt die Geschichte eines südafrikanischen Jugendlichen, der aus schwierigsten sozialen Verhältnissen stammt und HIV-positiv ist, aber tapfer für ein besseres Leben kämpft.

Auch Frances Moore Lappé war in unserem Forum. Sie ist für ihren Kampf gegen den Hunger in der Welt und für ihre unermüdliche Arbeit, die wahren politischen und wirtschaftlichen Ursachen des Hungers aufzudecken, mit dem Alternativen Nobelpreis ausgezeichnet worden.

Mein Besuch an eurer Schule war das Highlight meines Deutschlandbesuches. Bitte sagt den Schülern, wie beeindruckt ich von ihnen war, wie sehr ich den Austausch mit ihnen genossen habe. Und haltet mich auf dem Laufenden, wie sich eure Vision eines neuen Lernens und einer wachsenden Umwelt entwickelt.

Frances Moore Lappé, Alternative Nobelpreisträgerin

 

Eine ganz besondere Begegnung war für uns der Besuch des Friedensnobelpreisträgers Muhammad Yunus im Jahr 2008 in Berlin. Er kam zum Vision Summit, um seine Idee des Social Business in die Welt zu tragen. Das bekannteste Beispiel für sein Prinzip, soziale Probleme mit unternehmerischen Mitteln zu lösen, ist die von ihm gegründete Grameen Bank, die ausschließlich an ganz arme Menschen Mikrokredite vergibt, um damit eine Existenzgrundlage zu finanzieren. Millionen Menschen konnten sich so aus der Armut befreien.

Als wir unseren Schülern von der Arbeit von Muhammad Yunus erzählten, wollten sie ihn unbedingt kennenlernen und ihm eine Reihe von Fragen stellen. Da sich die Leiterin der esbz und der Organisator des Vision Summit kannten – es sind die beiden Autoren dieses Buches –, ließ sich dieser Wunsch leicht realisieren: Die Schüler erhielten die Gelegenheit, beim Vision Summit ihre vorbereiteten Fragen unmittelbar an Muhammad Yunus zu stellen. Dieser zeigte sich positiv überrascht von der Ernsthaftigkeit und dem echten Engagement dieser Jugendlichen. Sie wollten von ihm wissen, welche Ereignisse und Erlebnisse ihn in seiner Kindheit und Jugend am meisten auf das vorbereitet haben, was später zu seinem Lebenswerk wurde, und was wir im Westen von ihm lernen können. Aber auch, welches das schönste Vorhaben war, für das die Grameen Bank einen Kredit gab. Am meisten freute Muhammad Yunus sich über die Idee eines Schülers, eine Aktion zur Förderung von weiteren Mikrofinanzorganisationen zu initiieren und möglichst viele andere Jugendliche dafür zu interessieren.

Das »konkreteste« Ergebnis dieser Begegnung ist das 2009 erschienene Buch Armut gehört ins Museum[17] über das Leben und Wirken von Muhammad Yunus, das wir gemeinsam mit der Jugendbuchautorin Petra Schäfer-Timpner umsetzten und in das die Fragen unserer Schüler eingeflossen sind.

Entscheidend für das Projekt, Menschen mit Botschaften in die Schule zu bringen, ist nicht die Prominenz von diesen Besuchern, sondern deren authentisch vermittelte Botschaft. Zwischen der Vermittlung der Idee der Kleinkredite für die Armen in Bangladesch in irgendeinem Schulfach und der Begegnung mit jenem Menschen, der diese Idee in die Tat umgesetzt hat, liegen Welten. Dasselbe gilt für die abstrakte Diskussion über die Lage von Frauen in Afghanistan und die unmittelbare Begegnung mit einer solchen. Warum nutzen wir die Begegnung mit Menschen mit Botschaften nicht viel mehr als eine ebenso einfache wie wirksame Methode, die Lerntiefe und Lernmotivation an unseren Schulen radikal zu verbessern?