Leseprobe »Die Heuschrecke«
03.08. 20 Uhr, Wohnung Simon Stark, Ottensen
Es war ein verdammt harter Tag für Simon Stark gewesen. Als er gegen zwanzig Uhr endlich die kleine Einzimmerwohnung im Schanzenviertel aufschloss, begrüßte ihn niemand außer seiner alten Freundin – der Stimme der Sucht.
Seit Monaten hatte er keinen Tropfen angerührt und er wollte auch in Zukunft trocken bleiben, aber aufgeben würde diese Stimme nie.
Simon stellte die Sporttasche ab, in der seine von der Reha verschwitzten Klamotten lagen, und ging direkt ins Schlafzimmer. Er öffnete seine Hose, zog noch schnell das Handy aus der Gesäßtasche und deponierte es auf dem Nachtschrank. Er zog die Hose aus, während er sich auf die Bettkante setzte. Eilig löste er die Befestigungen seiner Beinprothesen und seufzte erleichtert auf, als er sie ablegte.
Er trainierte jeden Tag hart und ohne Rücksicht auf seinen inneren Schweinehund, denn er war dankbar, dass er diese Wunderwerke der Technik hatte, die es ihm sogar ermöglichten, wieder ohne fremde Hilfe Treppen zu steigen. Mit diesen Hightech-Prothesen, die seine amputierten Unterschenkel ersetzten, würde er eines Tages sogar einen Marathonlauf absolvieren können, hatte man ihm gesagt, und Simon hatte beschlossen, genau das auch zu erreichen.
Die Prothesen legte er sorgsam neben sich auf die leere Seite des Doppelbettes. Eines Tages würde dort eine Frau ihren Platz finden, hoffte Simon. Auf irgendein Ziel musste man ja hinleben.
Er legte sich erschöpft auf den Rücken und wäre augenblicklich eingeschlafen, wenn sein Handy nicht in diesem Moment geklingelt hätte.
Er nahm es und warf einen Blick aufs Display, um zu entscheiden, ob er den Anruf annehmen oder der Mailbox überlassen würde. Als er sah, wer ihn da anrief, verbesserte sich seine Laune schlagartig.
»Hey Sophie, schön, dass du anrufst. Was gibt es? Braucht ihr mich?«
Während er Sophie Palmer mit halbem Ohr zuhörte, glitt sein Blick versonnen über das unberührte Laken zu seiner Linken, und er ertappte sich dabei, wie er sich vorstellte, dass Sophie dort lag, statt am Telefon mit ihm zu sprechen.
»Simon?«
Das Traumbild zerfloss und ließ einen Schmierfilm aus Scham und Selbstmitleid zurück.
»Ja? Entschuldige, ich war … abgelenkt.«
»Du bist wahrscheinlich völlig fertig von der Reha. Wenn du nicht kommen kannst, ist das in Ordnung.«
Aber davon wollte er nichts wissen.
»Mir geht es großartig. Ich bin in fünfundvierzig Minuten im Büro. Muss nur noch schnell duschen.«
»OK, du weißt am besten, was du dir zumuten kannst. Ich freue mich. Bis dann.«
»Bis dann«, antwortete Simon und legte auf.
Sophie sehen zu können, war der einzige Grund, der ihn heute noch dazu bringen konnte, sich die Prothesen wieder an die Stümpfe zu schnallen und die Schmerzen zu erdulden, die sie ihm nach einem so langen Tag bereiteten.
***
04.08. gegen 8 Uhr morgens Wohnung Simon Stark
In den Büroräumen von Hilfebus e.V. ging es mittlerweile wieder beinahe so geschäftig zu wie vor dem Anschlag, der im letzten November fast die gesamte Mannschaft ausgelöscht hatte.
Als Simon durch die Eingangstür trat und den leeren Tresen sah, an dem einst Sarah gesessen hatte, lief der immer gleiche Kurzfilm in seinem Kopf ab. Eine Kamerafahrt durch Trümmer und über blutüberströmte Leichen hinweg, mit einem Schwenk auf Sarahs totes Gesicht mit den gebrochenen Augen und dem Blut, das ihr aus dem Mund lief.
Geduldig wartete er, dass es vorbei ging, und nahm dann den Platz hinter dem Tresen ein, der jetzt seiner war.
Wenigstens hatte er den Irren getötet, der dafür verantwortlich war. Auch wenn er seine Beine bei diesem Kampf eingebüßt hatte, war es dennoch das Beste, was er in den letzten Jahren getan hatte.
Außer ihm war um diese Zeit noch niemand im vorderen Teil des Büros. Vielleicht waren schon ein oder zwei Ehrenamtliche in der Teeküche, um später mit dem Bus auf Tour zu gehen. Sophie selbst telefonierte gerade. Das konnte Simon an der Leuchtdiode neben ihrem Namen auf dem Zentraltelefon sehen, das an seinem Arbeitsplatz stand. Wenn sie auflegte, würde er zu ihr gehen und Bescheid geben, dass er da war.
Bis dahin lehnte er sich zurück und entlastete die pochenden Beinstümpfe etwas, während seine Gedanken auf Wanderschaft gingen. Es war schon verrückt, wie das Leben so lief. Da wurde man Soldat, weil man tatsächlich glaubte, etwas bewirken zu können, musste dann auf die harte Tour lernen, dass der Krieg eben doch nur war, was er war, nämlich ein organisiertes Massentöten, um schließlich als gebrochenes Wrack auf der Straße zu enden. Und heute saß er hier und machte einen Job, der anderen Obdachlosen half, ein klein wenig würdiger zu leben.
Das Licht neben Sophies Namen erlosch. Simon stand auf und stakste den Flur entlang, während ihm seine neuen Druckstellen, die ihm die Prothesen beschert hatten, zu schaffen machten.
Die Tür zu Sophies Büro stand wie immer offen, aber Simon blieb im Türrahmen stehen und klopfte gegen die Zarge, um sich bemerkbar zu machen. Kurz blitzte wieder ein Bild in seinem Kopf auf. Die Tür, wie sie aus der Verankerung gerissen in Sophies Büro lag, und die bewaffneten Männer, die hereingestürmt waren, um sie zu töten. Heute deutete nichts mehr auf die Tragödie hin, die sich in diesen Räumen abgespielt hatte, doch er würde sie ebenso wenig vergessen wie Sophie. Ein Wunder, dass sie überhaupt wieder hier arbeiten konnte.
»Da bist du ja«, begrüßte sie ihn strahlend. Bei ihrem Lächeln wurde Simon sofort warm. Er strahlte zurück und trat ein.
»Wie geht das Training voran?«, wollte sie wissen. »Immer noch so anstrengend?«
Simon winkte lässig ab.
»Alles auszuhalten. Die Hauptsache ist, dass ich Fortschritte mache. Bald kann ich dich auf Händen durchs Büro tragen.«
Als er sich das bildlich vorstellte, konnte er plötzlich ihre Körperwärme spüren und ihren Geruch erahnen, den er aufsaugen würde, wenn er sie tatsächlich auf Händen trüge. Simon spürte, dass er einen roten Kopf bekam und räusperte sich verlegen.
»Die Inspektion für den alten Bus ist nächste Woche fällig. Ich melde ihn gleich mal in der Werkstatt an«, versuchte er, abzulenken, doch Sophie war nicht dumm. Sie merkte selbstverständlich, was ihre Anwesenheit mit ihm machte. Zum Glück war sie aber auch taktvoll genug, sich nicht unangenehm berührt zu zeigen.
»Danke Simon, du bist ein Schatz. Aber setzt dich doch kurz mal. Ich brauche deinen Rat.«
Neugierig kam er ihrer Aufforderung nach und sah sie gespannt an. Dass sie seine Hilfe beanspruchte, war nicht ungewöhnlich, aber einen Rat hatte sie in der ganzen Zeit, seit er hier arbeitete, noch nie von ihm gewollt.
»Worum geht es? Schieß los.«
Sophie machte ein ernstes Gesicht und rutschte unbehaglich auf ihrem Stuhl hin und her.
»Ich wollte dich eigentlich nicht damit belästigen, aber mir fiel sonst niemand ein, der so einschlägige Erfahrungen hat wie du.«
»Erfahrungen welcher Art?«, hakte Simon nach.
»Na ja, mit gewissen Bedrohungsszenarien.«
Er sah sie verständnislos an. Worauf wollte sie hinaus? Was für ein Bedrohungsszenario meinte sie? Und was war das überhaupt für ein Wort?
»Du musst schon deutlicher werden. Hat irgendjemand Ärger? Bedroht man dich etwa?«
Allein bei dem Gedanken geriet Simon in Wut, doch Sophie schüttelte schon den Kopf.
»Nein, es geht nicht um mich, keine Sorge. Aber es geht um unsere Klienten – die Obdachlosen. Eigentlich betrifft es nur die auf St. Pauli, aber die massiv.«
Simon war ganz Ohr. Wenn seine Brüder und Schwestern auf den Straßen Probleme hatten, ging ihn das persönlich an. Er war immerhin einige Zeit einer von ihnen gewesen.
»Erzähl mir, worum es geht«, drängte er Sophie und lehnte sich noch ein Stück weiter zu ihr hinüber.
»Ich muss vorweg sagen, dass es Straßengerüchte sind. Aber ich glaube diesen Gerüchten, weil ich schon zu oft erlebt habe, dass an solchen Geschichten etwas Wahres dran ist. OK, folgende Situation: Seit ein paar Wochen kommt es rund um die Reeperbahn offenbar gehäuft zu Übergriffen auf Obdachlose an ihren Schlafplätzen. Man könnte meinen, es sind einfach wieder mehr Idioten mit zu viel Testosteron unterwegs, weil es draußen wärmer wird, aber das scheint nicht der Punkt zu sein.«
»Was dann?« Simon kannte die Gefahren der Straße. Wer obdachlos war und sein Nachtquartier unter freiem Himmel hatte, musste immer mit Gewalt rechnen.
»Sie wurden bedroht«, antwortete Sophie.
»Man hat ihnen gesagt, sie sollten sich an ihrem Platz nicht wieder blicken lassen, sonst würden sie wieder Schwierigkeiten bekommen. Ein paar Leute haben sich nicht daran gehalten und prompt wurden sie erneut zusammengeschlagen. Letztlich sind dann nach und nach alle von denen, die attackiert worden sind, von St. Pauli verschwunden. Alle anderen leben seither in Angst und verstecken sich nachts.«